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Jeder Mensch braucht jemanden,
der einem hilft weiterzumachen, wenn er keine Kraft mehr hat.

Ich hatte keine Kraft.
Ich hatte keinen dieser Menschen.

Bis DU da warst.



4. Juli 2011 1

„René“, Dads tiefe Stimme klingt vorsichtig, soweit man das aus dessen müden Gemurmel erkennen kann. Er macht eine Pause. Ich warte.
Mein Blick ist immer noch trotzig aus dem Fenster gerichtet. Und während ich auf die unschöne Lärmschutzwand starre, die sich am Rande des Pannenstreifens entlang zieht, frage ich mich, wie die grauen Gehirnzellen meines Vaters wohl arbeiten und ob sie wohl gut damit klar kommen, dass seine missverstandene Tochter… - ach egal.
Irgendwann spricht Dad jedenfalls: „Es tut mir leid…“
„Was.“, fahre ich dazwischen, „WAS tut dir leid?!?“ Ich schleudere ihm die Worte ins erschrockene Gesicht. Lasse von der nicht weiter bemerkenswerten Aussicht durch die schlecht geputzte Fensterscheibe ab und durchbohre ihn mit meinem wütenden Blick. „Dass du mich zu Mom schickst? Bloß weil sie mich ihren neuen, tollen Freund vorführen will???“ Bei dem Wort Freund wird mir wie erwartet übel.
Plötzlich erwachen die verschlafenen Falten. Über John’s Gesicht zieht sich eine grimmige, unsymmetrische Grimasse: „Quatsch. Deine Mom will dich nicht vorführen!“ Ich schweige. Thm.
„Sie hat sich geändert“, Dad klingt glücklich… und plötzlich traurig zugleich, „Er hat sie geändert“ Pause.
Das stimmt mich nachdenklich.
Wie ein kleines Kind streue ich noch unbewusst Salz in eine offene Wunde: „Und warum konntest du das früher nicht?“
Dad ist verwirrt und runzelt die Stirn: „Was meinst du?“
„Sie verändern?“ Mittlerweile ist meine Stimme nur mehr ein Flüstern. Ein Flüstern, dass in der Musik, die im Auto gespielt wird, untergeht…
Ich weiß nicht, ob Dad meine Frage absichtlich überhört hat oder ob er einfach nicht antworten möchte, aber er gibt keinen üblichen Kommentar zu meiner Frage ab und hält seine Augen konzentriert auf die Straße gerichtet.
Vielleicht will er sich mit dem Inhalt meiner Worte heute auch einfach nicht auseinandersetzen.
Nun lenkt er auf die Autobahnabfahrt zu: Wielsberg Nord.
WILLKOMMEN am Arsch der Welt.

Es dauert nicht lange, dann sind wir da.
Dad parkt im ausgebrannten Rasen vor der neu renovierten Villa. Mom wartet schon. (Sie sieht noch immer genau so aus, wie auf den wenigen Bildern, die sie mir per Post geschickt hat: Kleiner Körper, mittellange braune Haare und die dazu gehörigen, vor Freude strahlenden Augen. Helene ist extrovertiert, glücklich und hübsch.) Ihren neuen (reichen) Freund hält sie fest an der Hand.
„Wow, nicht schlecht. Dein zukünftiges zu Hause“, Dad überspielt seinen Neid mit übertriebener Begeisterung. Ich starre auf das Riesending vor mir.
In Berlin hatten wir nur diese kleine, baufällige Wohnung mitten in der Stadt. Eine Bruchbude…
Aber das. Das ist ein Schloss!
Und dennoch fühle ich jetzt schon, wie ich unseren alten Unterschlupf vermissen werde. Es war ein wahres zu Hause – das hier:
ein Käfig. Es lässt sich hier unmöglich aushalten. Ich sehe wie Mom ihrem Neuen – Johannes – etwas ins Ohr flüstert. Dann bewegt sie sich zu uns.
Dad und ich sitzen noch immer im Auto. „Tja… w-o-w“, ich gebe mir keine Mühe einen Hehl aus meinem Desinteresse und meiner geradezu überschwänglichen Begeisterung zu machen und greife zur Türschnalle.
Doch Dad hält mich zurück.
Ich erwarte etwas Liebevolles, wie „Du schaffst das!“ oder „Hals und Beinbruch!“ (das wäre typisch für ihn gewesen). Oder einfach nur eine kleine, schwerfällige Umarmung. Das wäre schon toll. ^^
Stattdessen, und das hätte ich nie von ihm gedacht, fällt er mir in den Rücken: „Mach‘ s ihr nicht zu schwer“ Punkt. Punkt. Punkt.
Er setzt mich hier aus und stellt dann auch noch Anforderungen. Anforderungen die meine Mutter, die mich außerdem sowieso nie haben wollte, schützen sollen!
In dem Moment gräbt sich ein Loch in meine Brust und frisst mein Herz auf.
Solange, bis nichts mehr davon übrig ist. John weiß nicht einmal, was er da gerade angerichtet hat. Stumm steige ich aus und Mom will mich umarmen, doch ich blocke ab, will sie nicht an mich heran lassen.
Kalt drücke ich sie zur Seite, marschiere zum überladenen Anhänger. Es klickt und eine Anhängerseite springt auf. Das nach Benzin riechende, orange, durchlöcherte Abdecktuch fliegt zu Boden. Die Motorcross jault auf. Und ich fahre.
Im Rückspiegel erkenne ich die überraschten Gesichter der neuen Erziehungsberechtigten und das Kopfschütteln meines enttäuschten Dads.
Ich kann nicht behaupten, dass es mir Leid tut.

Sanfter Sommerwind streicht mir die Haare zurück, weht die einzelnen Strähnen aus meinem ausdruckslosen, eingeschnappten Gesicht. Der Himmel ist blau, geziert mit den Morgenstrahlen der Sonne, aber das hilft mir halt auch nicht weiter.
Der Kalender schreibt den 4. Juli 2011, hier, der letzte Montag im Schuljahr.
Normalerweise habe ich heuer mein Semester an der HLW schon beendet, aber ich werde mich heute trotzdem fürs nächste Jahr anmelden. Schließlich habe ich ja gerade nichts Besseres zu tun und bin sowieso gezwungen das letzte Halbjahr als Minderjährige hier in diesem Kaff zu verbringen. Es ist egal. Alles ist besser, als zu diesem Liebespärchen und dessen scheiß Schloss zurückzukehren.
Das Schulzentrum ist nicht schwer zu finden. Wie den auch? – In einer Stadt mit der Größe eines Fußballfelds.
Die lästigen Ampeln werden selbstverständlich übersehen und die Autos mit Leichtigkeit überholt.
Da ist das Sportzentrum, daneben der kleinste Winzling von Schulhaus, den ich jemals gesehen habe. Der Parkplatz ist bereits voll geparkt, überall wimmeln durchgeknallte Jugendliche.
Die einen rauchen, die anderen amüsieren sich, während wieder andere fast im Gehen einschlafen, aber was es auch immer ist – sie stehen mir alle im Weg.
Irgendwann habe ich dennoch eine freie Parklücke entdeckt. Ich hupe wie eine Verrückte, doch erst als ich mein Visier öffne und beginne Dampf abzulassen, schleichen sie zur Seite. Es ist besser das vereinzelte Murren zu ignorieren.
Der zerkratze Helm wird versperrt und ich mische mich unter die schlecht verteilten Menschenmengen.

Auf dem Weg zum Direktor stelle ich schnell fest, dass sich der Großteil der Schüler beim Buffet ansammelt.
Schon komisch, beim Warten auf das Essen sind die Leute aus verschiedenen Schulzweigen irgendwie alle gleich: ungeduldig, laut und jeder hält eine Brieftasche oder lose Scheine und Euromünzen in der Hand.
Doch je weiter sie sich vom Buffet entfernen – manche die Stiege nach oben, andere die nach unten benutzen – distanzieren sich die Schüler der verschiedenen Fachrichtungen und Klassen.
Es wird gegeneinander gespielt. Gegeneinander gearbeitet. Das spürt man.
Allerdings will ich mich nicht lange mit dieser Tatsache auseinandersetzen. Es ist nicht mein Problem. Es ist eures.
Tja. Und dann lande ich im Direktorium. Schön. ;)
Ich platze in den viel zu geräumigen Raum hinein. Anscheinend kümmert sich niemand darum, dass ich nicht geklopft habe, wie es angebracht gewesen wäre. „Grüß Gott“, eine überschwängliche, geradezu höfliche Begrüßung.
Warten.
„Grüß Gott!“, die Wiederholung klingt jedoch schon eher wie eine Frage.
Ist hier jemand?!
Das erübrigt sich allerdings, ich bemerke die Sekretärin hinter einem hohen Tresen – sie telefoniert und wirkt leicht verärgert. Anscheinend regt sie etwas auf.
Ich räuspere mich. Die große Frau, die wirklich zu oft im Solarium gewesen ist (das sieht man an der kaputten, dunklen Haut), nimmt mich dennoch nicht wahr. Anscheinend hat sie auch kein Interesse an eventuellen neuen Bewerbern.
Spielerisch setze ich zum Hustenanfall an. Zuerst leise…, dann schon unhöflich laut.
Endlich legt sie den altmodischen, ausgeblichenen Hörer zur Seite.
Sie starrt mich feindselig an: „Kopierpapier ist einen Raum weiter“
Kaum verlässt der Satz ihren strengen Mund, auf dem dick roter Lippenstift aufgetragen ist, widmet sie sich wieder ihrer Tätigkeit am PC.
Ihre Finger streichen geübt über die Tastatur.
Eine Sekunde lang habe ich meinen Faden verloren. Das Tippen irritiert.
„Ähm… ich bin nicht wegen Papier da“
Der Kopf hebt sich.
„Meine Anmeldung soll noch bestätigt werden“
Zuerst werden die Augen der Frau groß, dann verformen sie sich zu giftigen Schlitzen und zum Schluss umgibt sie wieder diese fadisierte Aura.
Ohne jedes weitere Wort steht sie auf, schreitet auf ihren hochhakigen Schuhen zur Türe, die einen anderen Raum mit dem Sekretariat verbindet.
(Erst jetzt wird mir ihre Größe bewusst. Das lange, gehekelte Kleid, indem sie sich so toll findet, ist definitiv schon ein paar Jahre alt und lässt sie nicht gerade kleiner aussehen.)
Die Frau öffnet die Tür und spricht: „Da ist eine Neue“

Freundlich.
Darauf eine männliche Stimme: „Ahh… Frau Petrich!“
Ein herzlicher, verwirrter alter Mann, der Direktor, kommt mir entgegen:
„Herzlich Willkommen“ Er schüttelt mir kräftig die Hand – eine volle Minute lange.
Ein Blatt Papier wird mir überreicht.
„Hier unterschreiben“, der Mann mit dem grauen Lockenkopf zeigt auf eine leere Zeile und ich nehme einen der blauen Kugelschreiber und kritzle meinen Namen.
„Perfekt. Sie starten nächstes Jahr in der 4B, eine sehr verantwortungsbewusste Klasse, wie ich finde, Sie werden da bestimmt…“ Der Herr schwafelt noch eine Weile und ich nicke zustimmend, mit dem Risiko einen Hexenschuss einzukassieren.
„… noch irgendwelche Fragen?“
Hm. „Wo kann ich mich hier für die Fußballauswahl der U21 eintragen lassen?“ …
Auf einmal beginnt der Alte zu lachen. Sehr laut sogar.
Es fehlt gerade so viel, dass er nicht erstickt und vor mir auf den Boden sackt.
Was ist daran denn bitteschön so witzig? Es ist eine normale Frage… Oder?!?
Es dauert, dann bringt der Direktor endlich wieder etwas über seine Lippen:
„Es gibt hier kein Damenfußball“ Der Spott in seiner Stimme ist unüberhörbar.
Fast bin ich beleidigt. „Ich spiel bei den Jungs“, werfe ich lässig ein und ziehe die Augenbrauen herausfordernd hoch. -.-
Lachen. Noch mehr Lachen…

Dann zeigt mir der Direktor meine Klasse für das nächste Schuljahr.
Es wundert mich, dass er sich überhaupt wieder eingekriegt hat.
Und ich bin genervt. Sehr. Schließlich ist man bemerkenswerte 17 und nicht mal dann wird man ernst genommen.
3B… ,das nächste Jahr 4B. Meine Zukunft.

„Guten Morgen!“
Alle Schüler bemühen sich aufzustehen oder tun zumindest so.
„Ich möchte euch eure neue Mitschülerin vorstellen, René.“, der Direktor fordert mich auf einzutreten.
„Hei“, ich hebe zur Begrüßung die Hand und erzwinge ein Lächeln, worauf ein kleiner Papierflieger gegen meinen Kopf donnern will, so als hätte ich durch meine bloße Anwesenheit ein Magnetfeld um mich bewirkt. Dank meiner trainierten, schnellen Reaktionsfähigkeit fange ich den Papierangreifer mit einer Hand geschickt ab.
Große Augen begegnen meinem Blickfeld und versuchen schnell wieder auszuweichen.
„Schön, dass ihr mich so gut aufnehmt“, bemerke ich mit einem sarkastischen, gegensätzlich höflichen Lächeln. Der Flieger wird zerknüllt und fällt zu Boden.
Hm. Somit habe ich mir anscheinend Respekt verschafft, aber ich bin mir fast sicher, dass nächstes Jahr alle Schüler Abstand zu mir bewahren werden. Toll!
Ich sehe noch immer die großen Augen der Mädchen und höre nachträglich das Gelächter der Burschen verstummen.
„Tja, dann setzen sie sich mal zu uns“, die Meldung der Professorin klingt beschwichtigend, sie will die Spannung zwischen meinen neuen Kollegen und mir lockern.
Leider muss sie feststellen, dass sie ins Fettnäpfchen getreten ist. In der Klasse ist kein einziger freier Platz. „Ou... Dann müssen wir wohl erst einen weiteren Tisch herein stellen“, sie ist verlegen. Gemurmel ist zu hören.
Und dann brodelt etwas in meinem Bauch bis hinauf zum Herzen, strömt in alle vier Gliedmaßen und letztendlich in den Kopf. Ich glaube das ist Wut.
„Ach kein Problem, das macht doch nichts“, da klinge ich noch herzlich falsch und dann schieße ich meine Worte in die Klasse: „…ich will hier sowieso nicht rein. Weder in dieses scheiß Kaff. Noch in diese scheiß Schule. Mit euch bescheuerten Leuten!“ Luft-hol-Pause.
Ich drehe mich um. Gehe.
Ich hätte nicht herkommen dürfen.

Endlich liegt das stickige Schulgebäude hinter mir.
Ein kleiner Nachgeschmack von typischen Lehrern und kleinen Miststücken bleibt dennoch an mir haften.
Der Zündschlüssel wird umgedreht. Aufgezwungenes Jaulen.
Meine Motorcross stirbt ab.
Ein weiterer Versuch. Weitere Versuche.
Tank ist leer. Super!
Einen Moment lang bin ich stinksauer, doch dann hebt sich eine Seite meiner Lippen zu einem unmöglichen Grinsen. Typisch Ich – mein Leben.
Lustlos bewege ich mich zur Alternative hin, die Haltestelle. Und nachdem ich eine überreife Kirsche von einem alten Baum pflücke und danach beinahe kotzen muss, lege ich mich auf die darunter stehende Parkbank.
Meine blaue Röhrenjeans wird schnell von der Sonne aufgewärmt und die Hitze dringt auch gleich durch meine leichte, weiße, fast edle Bluse.
So nebenbei will ich bemerken, dass ein weißer Hut mein Outfit ergänzt und ich diesen nun hervorragend als Sonnenschirm nutze.
Dann schließe ich die Augen und das Weiß des Huts wird zu Schwarz.
Ich denke nach und wünsche mir die alten Zeiten zurück. Die bessere Zeiten.

Eine Weile lange ist es still – naja, abgesehen von dem Lärm der Klassen, die gerade ihren Wandertag starten. Und dem schwülen Wind, der in die Bäume fährt und deren Blätter rascheln lässt.
Es ist heiß, sommerlich und die Sonne prallt erbarmungslos auf meine Haut.
Ich kann nicht sagen, wie lange ich hier noch so regungslos liege.
Irgendwann höre ich jedenfalls laute Automusik.
Rapper Sido: Du musst auf dein Herz hören…
Ganz versunken singe ich es leise mit. Es ist eines meiner Lieblingssongs.
…hör wie es schlägt, wie es fleht, wie es schreit…

Quietschende Reifen. Und dann wird gehupt.
Es reist mich aus meiner Versunkenheit. Das ist unerwartet.
Erschrocken setzte ich mich auf.
Ich blinzle einem Auto entgegen, die Sonne blendet und dann erkenne ich einen schwarzen, aufgemotzten Lamborghini. Vier, fünf Jungs starren zu mir rüber.
Die Musik verschwindet in den Hintergrund.
„He, Kleine“, eine tiefe, süßliche, ironische Stimme, die hinter dem Steuer sitzt.
Ich überdrehe die Augen.
„Auf wen wartest du?“ Höre ich da tatsächlich etwas Neugierde heraus?
Doch da bemerke ich das Schmunzeln seiner Begleiter. Und werde wütend.
Alles von vorhin kommt wieder hoch: „Ich warte bis mich die Straßenbahn aus diesem elenden Kaff holt!“
Meine Worte kommen zu schnell, ich muss nach Luft schnappen.
Da bricht ein großes Lachen im Lamborghini aus.
Ein geschnittenes: „WAS?“, springt aus mir hervor.
Lächerlich. Alles auf meine Kosten.
Unerwartet klopft mir jemand auf die rechte Schulter.
Ich drehe meinen Kopf zur Seite.
Es ist die Hand einer alten Frau gewesen: „Kindchen, hier gibt‘ s keine Straßenbahn“
Ich starre die eigentlich sehr herzliche Frau an, ich habe sie früher nicht bemerkt und dann schaue ich zum Auto. Es fährt mit Gelächter von 0 auf 100 weg.
Du musst auf dein Herz hörn…, hör wie es lebt, wie es lacht, wie es weint…
Die Musik geht im Straßenlärm unter.
Auch wenn du‘ s willst, da misch ich mich nicht ein.
Wie du es machst wird es schon richtig sein!

Und dann springe ich auf. Renne los.
Ich weiß nicht wohin. Am liebsten würde ich mich einfach irgendwo mitten auf die Bundesstraße legen. Mich hält nun gar nichts mehr hier.
Ich habe keine Eltern (zumindest nicht die, die es wert wären, als Eltern bezeichnet zu werden), keinen Treibstoff, kein Geld…, keine Straßenbahn!!!
Was will man mir noch nehmen???
Meine Füße treiben mich voran. Die Sportschuhe sind beinahe zu klein. Sie reiben.
Es schmerzt. Dennoch jage ich durch die Stadt.
Blind. Ohne links und rechts zu sehen.
So als hätte ich Pferdeklappen an den Seiten meiner Augen.
Die Beine jucken. Die Muskeln ziehen sich krampfhaft zusammen.
So verspannt bin ich.

Als ich über eine verstaute Straße mitten in der Stadt renne, werde ich beinahe von einem LKW gestreift. Das aufgeregte Hupen erinnert mich an vorhin.
Zu meinem Glück stolpere ich auch noch über die dämliche Gehsteigkante.
Knapp kann ich mein Gesicht vom Asphalt fern halten und mich mit meinen verschwitzten Händen abstützen.
Da sticht mir ein kleiner, grüner Zettel ins Auge.
Zwei Worte sind besonders wichtig: Barfrau gesucht!
Und plötzlich kommt Hoffnung auf.
Doch wo ist diese Bar? Die Hoffnung minimiert sich wieder.
Ich blicke zufällig nach vorne oben.
Dort ragt ein eher neueres Gebäude mit der leuchtenden Aufschrift: Kleine Halte.
Meine Lippen formen ein Lächeln.

Die Bar ist auch innen ziemlich neu eingerichtet und modern ausgestattet.
Die helle Wandfarbe ist im Kontrast zu den braunen Sesseln und den Lederstühlen. Insgesamt gibt es ein gemütliches, schickes Lokal ab. Schön.
Ich lasse meine Augen noch eine Runde schweifen.
„Hai“, meine Begrüßung.
Eine attraktive Frau mit langem, rot gefärbtem Haar hinter der Theke blickt auf. Sie wischt gerade die Thekenplatte sauber.
„Was brauchst‘ denn?“, sie ist gelangweilt oder vielleicht einfach nur erschöpft vom langen Arbeiten am Wochenende.
„Wo ist der Chef?“, ich mache mir nicht die Mühe ihre Frage zu beantworten.
Sie legt das Putztuch zur Seite. „Ich bin der Chef“
Tja.
Ich lege ihr den Zettel selbstbewusst vor die Nase.
Wenn man einen Job in einer Bar will, gibt es neue Regeln.
Regel Nummer 1: Zeig Härte.
„Ich such einen Job“, meine Miene bleibt ernst, mein Körper aufrecht.
„Das ist nichts für kleine Kinder“ Die junge Frau winkt ab und dreht sich um.
Regel Nummer 2: Gib nicht auf.
„Wenn doch?“
Das bewirkt, dass sie sich mir noch einmal zuwendet.
„Sag, wie alt bist du?“
„Alt genug“
Die Barkeeperin sieht mich zweifelhaft an.
Ich gebe zu: „17“
„Das Gesetz erlaubt es nicht…“
„Das Gesetz sind wir!“ Unsere Blicke schneiden aneinander.
„Hm“, sie denkt nach, beugt sich vor. Sie ist eine von denen.
„Wie heißt du?“
„René“
Ihr Gesicht ist ganz nah. Sie mustert mich. „Was kannst du?“
Eine eindringliche Frage.
Regel Nummer 3: Lüg.
„Alles“
Spitzbübisches Lächeln. „Dann zeig mal, was du drauf hast“

Ich werde dazu verdonnert, denn ganzen Laden zu polieren und für eine Party zu dekorieren.
Die Chefin geht inzwischen mit ihrem Freund aus.
Der Laden gehört kurzzeitig nur mir. Dann bricht der Abend an.
„Daina, wo hast du denn dieses Wildhäschen aufgetrieben?“
Frau Chefin ist zurückgekehrt. Ihr Freund hält sie bei der Hand.
Wildhäschen?
Ich hänge die letzte Dekorationsschleife auf.
„Das ist doch keiner meiner Hasen – dass ist die Aushilfe“, der verächtliche Ton.
Sie küsst ihn noch ein letztes Mal: „ Geh schon“
Der Typ verschwindet aus der Bar.

Drei Sekunden später tanzen 3 wirklich gut aussehende, aufreizend gekleidete Mädchen herein.
„Leute, kommt“, Daina ruft alle zusammen.
Unschlüssig bleibe ich auf meinem Platz. Bin ich auch gemeint?
„Du auch“ Somit ist die Frage geklärt.
Wir versammeln uns im Kreis.
„Ab Acht steigt die große Party. Eure einzige Aufgabe ist es, Spaß zu haben. Macht, was die Kunden wollen und bringt mir Geld!“ Es klingt beinahe wie ein Anfeuern beim Fußball.
„Layla, Nissi, kümmert euch um René“ Frau Chef zeigt auf mich.
„Und Ann, du machst die Musik klar“

Layla und Nissi nehmen mich freundlich an.
„Gehst du noch in die Schule?“
„Ja“
„Wirklich?“ Nissi klingt überrascht: „Hab dich noch nie gesehen“
„Das liegt daran, dass ich erst heute Früh hergezogen bin“, kurz überflutet mich Trauer.
„Das erklärt dann alles“, meint Layla.
Jetzt bin ich verwirrt: „Was erklärt das?“
„Deine Sprache… und ich denke, wir hätten so einen Volltreffer wie dich nicht übersehen“
Nissi nickt zustimmend.
„Einen Volltreffer?“ Ich ziehe die Augenbrauen zusammen.
Die beiden lachen.
Wir gehen durch eine Tür.
„Schau dich an, du bist wunderschön“ Ich höre tatsächlich Bewunderung, will diese aber nicht Annehme und wechsle das Thema: „Wohin gehen wir?“
Ein Raum wird betreten.
„Zu dem hier“

Nissi zeigt auf ein Kleid, dass die Ausstellpuppe in der Mitte trägt.
Es ist modern, eng, es glitzert. Es ist weiß, kurz, sexy und schlichtweg eine unwiderstehliche Verführung.
Das nicht nur für jeden Mann, sondern auch jede Frau würde alles dafür geben, es nur einmal an ihrem Körper zu tragen, den weichen, sonderbaren Stoff zu fühlen, der dehnbar jede Bewegung zulässt. Ein Designerwunder.
„Wow… es ist…“
„Wunderschön… und Daina leiht es dir für diesen Abend.“
„Weißt du…“, Layla zögert, „Daina macht so was nie…“
„Sie muss etwas in dir sehen, was…“ Nissi macht eine Pause und bricht ab.
„Enttäusch sie nicht“

Wahrscheinlich ist das eine Warnung gewesen.
Die zwei wollen mich nur schützen. Ich spüre, dass sich eine lange Freundschaft entwickeln kann. Ich habe ein gutes Gefühl.
Mittlerweile habe ich mich auch schon in das edle Kleid reingequetscht und in meinem Gesicht mit Mascara, Eyeliner und Co gemalt.
Meine neuen Freunde haben mich dann noch in weiße Netzstrümpfe und High Hills gesteckt.
Eine eng anliegende Bandkette schmückt meinen Hals, dazu passende Ohrringe.
Die Haare locker hochgesteckt, ein paar Strähnen fallen herab.
Der Spiegel zeigt mir, dass ich trotz dem aufreizenden Stil noch leicht unschuldig und zuckersüß aussehe, wie die anderen meinen.
Zurück in der Bar haben sich schon die ersten Leute angesammelt. Die Musik läuft. Die bunten Lichter bereiten Stimmung.
Das Einzige, was mir Unbehagen bereitet ist ein Blick. Der tötende Blick von Ann.
Irgendwas sagt mir, dass sie mich nicht leiden kann. Ganz und gar nicht.
In dem Moment winkt uns Daina zur Theke.
„Schick“ Ein Kompliment ihrerseits. Da taucht auch Ann auf. Sie beäugt mich skeptisch und mit einem Funken Neid, denn sie sehr wohl versucht zu verstecken, erfolglos.
Sie weiß, dass ich weiß, dass sie mich aus tiefem Herzen hasst. Ann unterstreicht meine Gedanken, indem sie mir eine leere Bierflasche fast grob in die Hand drückt: „Das hier…“ Sie zupft an meinem Kleid, „ist auch eine Verpflichtung“
Und los geht’s!

In meiner ersten Stunde hinter der Bar ist ziemlich viel los.
Aber der Stress wird durch jede Menge teurem Alkohol ersoffen. Die Partytiere zahlen.
Jede Minute bekomme ich ein Kompliment. Oft wegen des Outfits, der Schminke, aber auch wegen des angeblich „heißen“ Körpers. Sogar mein Lipgloss wird gelobt. Wo gibt’s denn so was?
Und jede zweite Minute höre ich eine bescheuerte Anmache oder einfach nur das Wort „Bitch“
Was soll’s. Jeder Job hat Vor- und Nachteile.
Doch eines steht fest, dieser ist das Beste, was mir hier passieren kann.

Die nächste Stunde vergeht. Die Leute werden langsam etwas beschwipst.
Ich jedoch fühle mich noch immer gut. Besser als je zuvor.
Auch Layla und Nissi machen Party. Und sie werden sogar dafür bezahlt.
Sie haben schon ziemlich viel intus und sie tanzen Freestyle mit einem Kick von Dirty Dancing.
So sieht es zumindest aus. Und egal was sie auch machen, es kommt bei den Leuten gut an.
Ein paar Gläser Malibu Orange und Co später tanzen sie wieder hinter die Theke.
„Hey, René. Man. Jetzt bist du dran!“, sie zerren mich an den Armen.
„Was?“, mir entringt sich ein hysterischer Lacher, „ich?“
„Ja, klar, komm schon!“
Mein nicht vorhandenes Selbstbewusstsein meldet sich: „Nein.“ Ganz bestimmt nicht.
„Doch“
So schnell kann ich mich nicht einmal umdrehen, da hat Nissi schon ein Mikrofon in der Hand: „Alle mal herhören, René ist noch unschuldig und sie möchte es gerne ändern. Feuert sie mal ein bisschen an!“
„René, René,…“, lautes Rufen.
Die ganze Bar bebt. Ich trinke mein Bier auf Ex aus.
Und plötzlich bin ich bereit für ein Abenteuer. „Na, gut“
„Woooooooooooouuuu“, begeistertes Klatschen. Dann Discomusik.
Und ich leg los. Lasse alles hinter mir.
Alles, was mich in letzter Zeit so aufgewühlt hatte.
Bloß die Tanzfläche, die Musik, die Lichter, das Publikum. Und ich im Mittelpunkt.
Mein ganz persönlicher Moment.

Früher wollte ich immer Tänzerin werden, schon als ich im Kindergarten war.
Ich hatte alles. Das Talent, die Unterstützung der Eltern.
Sogar das Geld für das Training hätte gereicht.
Das Problem war nur, dass ich immer viel zu schüchtern, geradewegs zu still war.
Freunde hatte ich nie. Ich war zu anders.
Allein war ich nicht stark genug.
Bis jetzt.

Ich schließe die Augen. Diese Erinnerung gibt mir Kraft. Sie macht mich stark.
Die Musik spricht zu mir. Der Alkohol hat mein Blut aufgeheizt, meine Sinne betäubt.
Er hat meine Leidenschaft entfacht und mich über meinen Schatten springen lassen.
Es dauert noch etwas an, dann ist es vorbei.
Unter Jubel mische ich mich wieder hinter die Theke.
Meine Augen fangen eine grimmige Miene von Ann und einen zufriedenen Gesichtsausdruck von Daina ein.
Layla und Nissi gesellen sich zu mir.
„Wow. Wo hast du so Tanzen gelernt?“
„Bei dem Dad, der mich bei Mom, wie einen nackten Pudel, ausgesetzt hat“, ich zucke nicht einmal mit der Wimper.
Die beiden starren mich mitfühlend an.
„Das spielt keine Rolle.“, ich lasse das Thema fallen, „Alkohol, das Schwein, hat’s in sich“
Da ist die gute Stimmung wieder.
Wir stoßen an.

Um zwölf rechne ich mit Daina ab und verschwinde vorzeitig. Es ist besser so.
Ich kann ohnehin kaum mehr laufen.
Zur Tür raus kommen mir die Typen vom Vormittag entgegen: „Hei, ist das nicht das Straßenbahngirl?“ Eher eine Feststellung. Gelächter.
„Ja das bin ich, Schlappschwanz“ Ich drängle mich an ihnen vorbei. Sie sehen etwas entgeistert aus. Zu meinem Unglück muss ich mich an einem von ihnen festhalten. Sie lachen.
„Die ist ja total fett“ Dämlich.
Im Schweigen stolpere ich weiter. Meine Ohren sind in Taubheit gehüllt.
Ich muss mich bemühen einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Die Realität holt mich langsam ein. Das Loch in meiner Brust wächst wieder.
Es schmerzt. Mich will niemand. Nicht mal meine Eltern.
Die Typen in der Bar haben auch nur mein Äußeres gelobt.
Keiner kennt mein Inneres. Das was ich wirklich bin.
Keiner will es kennen.


Ich verzweifle, setzte mich auf den Asphalt. Winkle meine Beine an, verschränke die Hände vor der Brust, drücke fest zu. Muss das Loch schließen…
Ein erbärmlicher Anblick.
Erste Tränen laufen mir über die geröteten Wangen.
Scheiß Alkohol. Scheiß Leben.
Scheiß Dad!!!
Er ist schuld. Das versuche ich mir einzureden.
Doch ich weiß, dass ich das eigentliche Problem bin.

Ich stecke mir eine Zigarette in den Mund. Ich habe sie von einem meiner Gäste.
Wenn ich den Schmerz schon nicht ertränken konnte, würde ich ihn versuchen zu ersticken.
Doch das Feuer fehlt.
Eine Stimme reist mich aus der Taubheit.
„Kleine…“ Es ist keine Frage, es ist eine Feststellung. Die erleichterte Feststellung mich gefunden zu haben.
„Steh auf“, der King dieser nervenden Jungs. Nur, dass er dieses Mal echt besorgt klingt und… lieb.
Er will mir seine muskulöse Hand reichen.
Ein Gefühl der Nacktheit trifft mich: „Nein“ Stur bleibe ich an Ort und Stelle. Der Junge weiß, dass ich nicht gleich nachgeben werde. Anstatt einen Streit anzuzetteln setzt er sich zu mir auf den harten Boden.
Ich zittere, das wirft die nächste Frage auf: „Ist dir kalt?“
Meine Erwiderung kommt zu spät. Der Typ legt mir seine Lederjacke um.
Sie riecht zu meinem Bedauern herrlich und ich kann nicht wiederstehen, ich muss den Duft mindestens einmal tief einatmen.
Der köstliche Geruch hellt meinen wirren Kopf wieder etwas auf.
Nun kann ich die Umrisse der schwarzen Gestalt etwas genauer ausmachen.
„Wie heißt du?“
„Mathias“
„Warum tust du das?“
„Was denn?“
„Warum bist du jetzt so nett?“, ich denke an gerade eben, als ich aus der Bar getorkelt bin.
Schweigen. Nach einer Weile: „Ich weiß es selber nicht so genau“
Mathias Stimme ist so unglaublich ehrlich.
Etwas später: „Sag mal, willst du nicht endlich aufhören deine Brust zu zerquetschen?“
Damit habe ich nicht gerechnet, empört blicke ich in die Konturen seines Gesichts.
„Was denkst du denn von mir?“ Diese Frage macht mich verlegen.
„Du weißt wie das gemeint war“, setzt er nach, „wenn du so weiter machst, erstickst du“ Ein Schauer läuft ihm über den Rücken und ich weiß nicht wieso.
„Ich will aber nicht“
Das gibt ihm ein Rätsel auf. „Du willst nicht“, er wiederholt.
„Es tut weh“ Eine Klage. Diese Tatsache lässt meinen Körper beben.
„Was tut weh?“
„Das Loch“ Ich gebe alles Preis. Aber er versteht es nicht.
„Du bist betrunken, ich fahr dich nach Hause“

Ich will mich wehren. Für ein „Lass mich“ fehlt mir beinahe die Kraft.
Starke Arme tragen mich zu irgendeinem Parkplatz, ich spüre die bequemen Autositze unter meinem Körper. Es wird Gas gegeben und ehe ich mir meiner Situation bewusst werde, höre ich die Autotür auch schon wieder aufspringen.
Ein Licht leuchtet.
Die Arme nehmen mich erneut hoch. Schritte.
Zuerst wird mir nicht bewusst, dass mich der Typ, dessen Namen ich schon wieder vergessen habe, wirklich zu Hause absetzten will.
Und dann erklingt die schrille Stimme meiner Mom. „René“ Sie hängt mindestens zehn weitere E an den Namen. „Reneeeeeeeeeeeeeeee!“
„Mein Gott, wie siehst du denn aus?“, ruft sie schon vom Weiten.
Sie kann nur das aufreizende Kleid und die Strümpfe gesehen haben.
Dann sieht sie den Jungen: „Und wer sind Sie? Was haben Sie mit meiner Tochter gemacht?!?“
Jetzt wird sie hysterisch.
„Alfred“, sie ruft ihren neuen Lover.
Und schon ist sie bei uns.
„Ich habe sie auf der Straße aufgegabelt. Sie sah so aus, als bräuchte sie Hilfe“
Sie wirft meinem Retter einen giftigen Blick zu: „Lassen Sie meine Tochter los“
Selbst ich habe die nächste Antwort nicht erwartet: „Nein“
„ALFRED!“, meine Mom hyperventiliert.
„Sie würden sie nicht halten können“, ein sicheres Auftreten.
„Mom, lass gut sein“, endlich bin ich soweit mich auch zu Wort zu melden, auch wenn mir niemand Aufmerksamkeit schenkt.
Der Junge schreitet geschickt an Mom vorbei. Er will mich tatsächlich in mein eigenes Heim tragen.
„Was ist denn?!?“, das ist Alfred. Er klingt genervt.
Anscheinend hat er gerade geduscht. Der Mann guckt nämlich mit Bademantel aus dem Türfenster.
Mom bleibt zurück.
Die Tür wird geöffnet.
„Wo ist ihr Zimmer?“
Alfred wirkt hilflos oder fassungslos oder einfach gleich beides.
Er zeigt auf die teure Wendeltreppe: „Rauf, die erste Tür links“

5. Juli 2011 2

Die erste Nacht… in meinem neuen Bett.
Ohne Frage. Es ist bequem. Die Zimmertemperatur nicht zu warm, nicht zu kalt.
Wahrscheinlich würde es auch noch herrlich riechen, wenn ich nicht diesen Restalkohol schmecken und den Kneipengestank riechen würde.
Hier hört man keinen Lärm, die Wände sind abgedichtet.
Das perfekte Haus.
Bloß für mich nicht!!!
Und ich schlafe beschissen.
Stundenlang zwinge ich meine Augen, sich zu schließen.
Mich hier wegzuwünschen.
Aber.
Es geht nicht.
Irgendwann habe ich keine Kraft mehr. Und sterbe.

Ok. Scherz.
Ich schlafe.

„Aufstehen!!!“, die Stimme von unten aus der Küche.
Ich blinzle. Was, wieso?
Wütend drücke ich den Kopfpolster gegen meine Ohren.

Eine Viertelstunde später: „Aufstehen!!!“
Dieses Mal ist die Stimme ganz nah.
Ich schleudere den Polster aus dem Bett.
Mom steht in der Tür. „Was???“, fauche ich sie an.
„Du musst deine Koffer noch auspacken“, sie bleibt ruhig.
Das stachelt mich noch mehr an: „Aber nicht jetzt!“
„Doch. Andre Leute müssen auch um halb Sieben zur Arbeit.“, der strenge Ton, „Und wenn gewisse Töchter denken, sie können selbst am Montag ohne Erlaubnis bis in die Nacht hineinfeiern, dann können sie am nächsten Arbeitstag auch früh aufstehen“ Ihre Worte wollen mich schlagen.
Ich weiche aus: „Ich hab gearbeitet“
„Das sieht man“ Ihr Blick gleitet auf das Kleid, die Netzstrümpfe, die High Hills und letztendlich auf mein fertiges Gesicht. Sie glaubt mir nicht.
„Schäm dich“, sie dreht sich um, „Ich dachte nicht, dass du es so nötig hast“
Bei diesen Worten, hätte ich sie am liebsten erschlagen. Klar, sie ist meine Mutter, aber sie ist so abgrundtief unfair.
„Schäm du dich doch“, Wuttränen quellen aus meinen verschmierten Augen. Was für eine Sauerei.
„Der wievielte Scheich ist das denn schon?“
„Das ist kein Scheich, dass ist Alfred“, fährt sie dazwischen. Sie verschwindet.

Eine Minute lange bleibe ich noch liegen, dann zwingen mich die Kopfschmerzen ins Bad, um ein Aspirin zu holen.
Ich muss die Schuhe ausziehen, meine Füße haben schon Blasen.
Ohne High Hills fühle ich mich gleich viel besser.
Im Bad trifft mich beinahe der Schlag, als ich das verronnene Schminkdesaster erblicke.
Und die Haare. Oh mein Gott, die Haare!!!
Der ganze Glanz von gestern ist ruiniert.
Ausgelaugt schlucke ich das Aspirin. Wasser wird nachgespült.
Ich hasse Kopfschmerzen.
Das Kleid fällt zu Boden und die Strümpfe werden langsam ausgezogen.
Der Rest geht in den Wäschekorb.
Auch wenn es Sommer ist, ist mir gerade verdammt kalt und ich steige in die Dusche.
Brennheißes Wasser entspannt meinen verkrampften Körper.
Meine Beine zittern etwas. Das Wasser tut gut.
Ich versuche mich an nichts zu erinnern. So fühle ich mich besser.

Genau kann ich nicht sagen, wie lange ich da noch unter der Dusche stehe.
Mom meldet sich nicht mehr. Vielleicht habe ich sie zu sehr beleidigt oder sie hört einfach das Duschwasser rinnen und ist mit meinem Aus-dem-Bett-sein zufrieden.
Weiter beschäftige ich mich damit nicht.
Die Mühe, zurück ins Zimmer zu laufen und Wäsche zu holen, mache ich mir nicht.
Der Bademantel wird umgeworfen. Das muss reichen.
Die Haare sind notdürftig zusammengebunten. Der Spiegel bestätigt mir die dunklen Augenringe immer wieder.
So laufe ich nach unten. Ich bin hungrig.

Mom sitzt am viel zu großem Tisch und liest ein Frauenmagazin.
Als ich in den Raum stürze, schaut sie auf.
„Der Direktor hat angerufen“ Noch mehr Probleme.
Ich öffne beiläufig den Kühlschrank: „Ach ja, hat er gesagt, dass doch noch ein Platz für das verstoßene Entchen übrig ist?“ Die Wut von vorhin lodert auf.
„Ach Schätzchen, du bist doch kein verstoßenes Entlein“
Sie kommt zu mir: „Komm, ich mach dir Frühstück“
Ich setze mich an den Tisch. „So fühlt es sich aber an“
Dann lassen wir das Thema fallen.

Sie stellt mir einen Kaffee hin.
Ich rühre um.
„Was war gestern?“, fragt sie nach einer Weile.
Ich will ihr nichts von meinem neuen Nebenjob erzählen. Schweigen.
„Gut. Dann erzähl mir halt von deinem Freund. Wie heißt er?“
„Ich hab keinen Freund“
„Wer war dann der junge Mann vor unserem Haus?“, Mom ist verwirrt.
„Weiß nicht“
Der Kaffee schmeckt ekelhaft.
„Wie?“
„Ich kenne ihn nicht“
Mom will etwas sagen.
Da unterbreche ich sie: „Ist da Milch drin?“
„Du lässt dich von einem Wildfremden nach Hause fahren?!?“ Schon wieder diese Panik.
„Hallo! Ist im Kaffee Milch drin?“
„Ja, was tut das zu Sache?“, so aufgelöst habe ich Mom erst gestern gesehen, „Weißt du was dir passieren hätte können???“
„Ähm. Tja. Wahrscheinlich hätte mich jemand entführt oder bis zum Tode vergewaltigt“ Mom wird bleich, aber ich rede weiter: „Aber das spielt keine Rolle. Ich war sowieso besoffen. Ich hätte sowieso nichts mehr gemerkt.“ Kurze Pause.
„Allerdings spüre ich heute schon wieder, wenn man mich killt“
Mom hält sich am Tisch fest: „Wer will dich umbringen?“

„Du“
Kreidefärbig steht sie mir gegenüber. Sie kennt sich gar nicht mehr aus.
„Ich habe eine Milchunverträglichkeit“
Ein arger Blick.
„Da ist Milch drin.“
Jetzt scheint sie zu verstehen. Alles ist vergessen. Mom hat wirklich Angst.
„Kindchen. Das tut mir leid“, der Kaffee wird weggeräumt, „Seit wann denn?“
Ihre Augen sind groß.
„Seit heute“

Bleib locker… alles nur Spaß.
Mom setzt sich wieder.
Anscheinend bekommt sie gleich einen Nervenzusammenbruch.
Ich jedoch beachte sie nicht weiter und mache mich zum weg gehen fertig.

McWorld’s.
Das ideale Kettenrestaurant zum Frühstücken.
„N‘ Latte und ne‘ Apfeltasche, bitte“
Ich nehme das kleine Tablett und suche mir einen freien Platz. Hier ist’s ziemlich voll.
Hm… das ist der Kaffee, denn ich liebe.
Auch die Apfeltasche duftet köstlich.
Genüsslich beiße ich in den warmen Teig.
Schritt für Schritt arbeite ich mich vor, kaue sorgfältig. Solch ein Geschmack soll nicht verschwendet werden. Außerdem will ich mich nicht mit der Füllung bekleckern.
Das Essen lässt alles hinter mir.
Naja. Bis dieses Gemunkel zu mir durchdringt.

„Woa, Mathi, schau dir die an“
Ich spüre einen Blick von der Seite, konzentriere mich aber auf die Apfeltasche oder tue zumindest so.
„Die von gestern?“ Die Stimme kommt mir bekannt vor.
„Jep.“
„Da kann eine“ Gelächter.

Mathias. Es fällt mir wie Schuppen von den Augen. Ich erinnere mich.
Er ist es, der mich gestern mit seinen Kumpels beleidigt hat.
Er ist es, der mich gestern heil nach Hause gebracht hat.
Er ist es, der mich gerade schon wieder beleidigt!

„Die bläst dir doch glatt einen…“
Und plötzlich ist das Lachen nicht mehr zu ertragen.
Schon bin ich bei dem, der diese letzten Worte, auf mich los gefeuert hat.
„Blass du ihm doch einen!“, ich drücke ihm die leckere Apfeltasche ins erbärmliche Gesicht.
Stille.
„Für dich ist der Latte zu schade, Mathias“, keife ich in die andere Richtung.
Und ich gehe.

Mein nächstes Ziel am Tagesplan: Die Schule.
Irgendwie dann aber wieder doch nicht. Eigentlich ja nur die Eintragungsliste.
Volleyball…
Basketball…
Man, ist diese Liste schlecht bestückt.
…und Fußball.
Volltreffer!
Heute, 13:30 Auswahl für die Sommermeisterschaften
Ich schaue auf mein Handy. Mir bleibt nicht mehr sehr viel Zeit.

An der nächsten Tanke bleibe ich stehen und fülle eine leere Flasche mit 91ger Treibstoff voll.
Ich packe sie in meine Umhängetasche.
Dann renne ich zum Orio, das neue und wahrscheinlich größte Einkaufszentrum weit und breit – zumindest in einer Kleinstadt, wie dieser.
New Yorks. Der perfekte Laden.
Er würde seinen Zweck erfüllen.
Und ab geht es in die Männerabteilung.
Ein Riesen-T-Shirt ist nicht schwer zu finden, aber bei den Hosen blieb ich an einer Röhrenjeans hängen. Die weiten Hosen rutschen zu sehr.
Punkt 2 ist eine rote Markenkappe.
Zuletzt suche ich mir noch die perfekten Fußballschuhe aus.
Im Laden nebenan krame ich noch alles, was ich an Schminke und Deo finde hervor.
Zufällig bemerke ich auch noch eine geeignete Sporttasche.
Denn aufgeklebten Schnauzer erspare ich mir jedoch.
Vor einem dieser Kabinenspiegel beginnt meine Verwandlung und ich muss feststellen, dass das Maskieren mir viel Spaß bereitet.
Doch dann werde ich von einer Angestellten unterbrochen.
Ich drehe mich um, theatralisch tief und gechillt: „Was is‘ das Problem?“
Da wird sie verlegen: „Tut mir leid, ich dachte, hier wäre noch immer diese… dieses Mädchen“
Sie kauft mir mein Kostüm tatsächlich ab: „Tja, falsch gedacht“
Ich funkle sie mit meinen braunen Augen an, anscheinend haben diese im Gesicht eines Jungen entschieden mehr Wirkung.
Verwirrt dreht sie sich um. Und verschwindet hinter den Kleiderständern.
Ha, ha, ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so viel Mühe hatte, ein Lachen zu unterdrücken.
Hier bestimmt nicht.
Als ich mich wieder eingekriegt habe, gebe ich mein altes Zeug an der Kassa ab.
„Ich komme das Zeug nachher wieder abholen“ Männliche Stimme – aber abgegebene Frauenkleider, meine alten.
Die Verkäuferin, ist dieselbe, die mich in der Kabine gestört hat, verdutzt lugt sie unter ihrer strengen Brille hervor. Sie ist mittleren Alters und anscheinend hat sie noch immer keinen blassen Schimmer, wie sie Respekt verdienen kann.
Stumm nimmt sie die Sachen entgegen: „Passen Sie gut drauf auf“
Es ist kein lässiger Spruch, es ist eine Warnung.
Sie nickt. Dann mache ich mich auf den Weg zu meiner Motorcross.

Das neue Outfit ist ungewohnt. Ich studiere sämtliche männliche Wesen, die an mir vorbei ziehen.
Dazu fällt mir nur ein Grundsatz ein: „Sei abartig. Sei ein Tier“ Und geh, als hättest du Eier zwischen den Beinen…
Muss ja keiner wissen, dass es nicht so ist.
Leider hält mich dann noch ein Schmuckladen auf. Oder besser gesagt, diese Kette mit meinem Namen. Ich muss sie einfach kaufen.
Ungeschickt stecke ich sie, unter den neugierigen Augen der Leute, in meine Hosentasche.

Breit grinsend setze ich mich auf mein Moped. Der Tank ist bereits aufgefüllt.
Bereit, den Jungs beim Fußball mal richtig einzuheizen.

Viel zu früh bin ich da. Das kann ich wohl meiner irren Fahrweise verdanken.
Der Sportplatz ist noch geschlossen, dass zwingt mich, den Weg über den Zaun zu nehmen.
Ich muss schon sagen. Ich habe noch nie in meinem Leben eine so winzige Sportarena gesehen.
Irgendwo liegt ein vergessener Fußball. Der passt mir perfekt zum Aufwärmen.
Vor dem Tor dehne ich meine einzelnen Muskelpartien und laufe mich warm. Dann beginne ich den Ball immer wieder von mehr und mehr Entfernung ins Tor zu schießen. Verwickelt mit sämtlichen Kunststücken wird das gleich viel interessanter.
Die Übungen ringen mir jedoch nichts an Kraft ab, erst vor kurzem habe ich meine Kondition wieder trainiert.
„He Rotkäppchen, hör auf zu tanzen und verschwinde von unserem Spielfeld“ Ich drehe mich um. Der Sportplatz hat sich inzwischen in Leben verwandelt. Die Stimme kommt von einem dieser Typen, die mir am Nächsten sind, dem Anschein nach meine neuen Spielkameraden. Na, super! Raues Gelächter.
„Wieso. Angst, dass ich besser tanze als ihr?“ Ich hebe eine Augenbraue.
Der Bullige an der Front tritt näher: „Wir tanzen nicht“ Grimmige Miene. „Wir sind hier, um zu spielen“
„Ich auch“, ich gebe nicht nach.
„Tz. Du?“, jetzt klingt er schon beleidigend verwundert.
Das macht mich sauer. „Naja, es gibt Leute, die wollen Fußball spielen“ Ich schieße denn Fußball ein weiteres Mal kunstvoll ins Netz. Dann blicke ich wieder in das übermüdete, rostbraune Gesicht. Starre in die olivgrünen, gewöhnlichen Augen. Sie sind zusammengekniffen.
„…Und dann gibt’s Leute“, ein nächste spannungsgeladene Pause, „die können Fußball spielen“
Ich sehe, wie der Typ seine Kontrolle verliert. Die Augen werden größer. Der Mund zieht sich zu einer strengen Linie zusammen. „Du meinst du kannst uns schlagen?“ Die Bedrohung schwingt mit jeder Silbe mit. Er stoßt mich mit seinen kräftigen Händen etwas zurück.
Ich halte mein Gleichgewicht ohne Probleme. „Das tu ich doch schon“
Der Große sieht erniedrigend zu mir herunter. „Du glaubst tatsächlich, du bist besser als wir?“
Ein weiterer Stoß, dieses Mal muss ich mir mehr Mühe geben, mich zu halten.
„Das weiß ich“ Eine gewagte Antwort.
„Du haltest dich für den Größten?“, ich weiß es ist die letzte Frage.
Das bin ich. Und plötzlich klingt die ganze Lächerlichkeit in diesen Worten mit: „Na wenigstens hab ich die hier“ Mit zwei Fingern fahre ich schnell andeutungsweiße über das, was eigentlich zwischen meinen Beinen hängen sollte. Spitzbübisches Grinsen.
Vorsichtshalber, aber sicher weiche ich etwas zurück. „Du…“ Mit Ärger muss mein Gegner feststellen, dass ihm kein Wort einfällt, das schlimm genug ist.
Seine Hand feuert in mein Gesicht. Schnell drehe ich es zur Seite.
Er verfehlt mich um eine Haarbreite, dass bringt ihn aus dem Gleichgewicht.
Wieder hebt er seine Hände gegen meine Visage. Auch seine Kumpels kommen bedrohlich näher.
Und dann laufe ich. Geschickt, schnell. Und ein kleinwenig angeberisch und vernichtend.
Die ganze Mannschaft ist gegen mich aufgehetzt. Zu meinem Verblüffen bereitet mir das schamlose Freude. Früher bin ich nie wirklich streitsüchtig gewesen… aber man, das fühlt sich gerade so gut an.
Ich kann mich so richtig entladen.
Da wird mir auch klar, dass es gar nicht Fußball ist, dass mich hierher gelockt hat, es ist nur der Wunsch, mich einmal so richtig auszupowern. Ich will den Schweiß riechen, den Schmerz der Anstrengung spüren, die Blasen von gestern an meinen Füßen.
Ein Adrenalinstoß versetzt mich in Hochstimmung…
Es berauscht mich. Betört mich. Das laute Atmen. Die Herausforderung die elektrisch durch die Luft jagt – und dann ist es vorbei.
Mir wird schwarz vor Augen.
Eine Faust trifft mich an der Schläfe. Jemand verfehlt die Gürtellinie, die einem eigentlichen Mädchen wohl nicht so viel gemacht hätte und eine eiserne Hand erwischt dadurch meinen ungeschützten Bauch, was umso schlimmer ist.
Die Erregung der Ektase verliert ihren Glanz. Ein bitterer Nachgeschmack bleibt kümmerlich zurück, aber vielleicht ist es auch das Blut, dass meine Schläfe hinunterrinnt, zwischen meinen Lippen hindurch findet und meiner Zunge dieses abartige süßliche Zeug kosten lässt.
Ein Tritt nach dem anderen folgt. Jetzt, da ich nicht mehr fähig bin, auszuweichen, bin ich hoffnungslos ausgeliefert. Durch den Schmerz spüre ich das Loch nicht mehr.
Im Dunklen warte ich, bis man mich zu Tode geprügelt hat – und nichts ist mir lieber, als das.
Nichts hält mich mehr hier.

Gerade als ich ungeduldig werde – was meine Todesuhrzeit betrifft – höre ich die nur allzu vertraute Stimme. Die Stimme, die ich hasse und irgendwie dann aber doch wieder ganz in Ordnung finde.
„Schert euch zum Teufel“…
„Schlagt eine Jüngeren, nur weil ihr für die echten Gegner zu feige seid“
Gemurmel ertönt. Ein paar Leute treten den Rückzug an.
„Was geht dich das an?“, der Typ versteht Mathias Fürsorge nicht, als er mich wieder mal auf seine Arme ladet. Da sind wir ja schon zwei – die das nicht verstehen.
Mathias wechselt das Thema: „Mach Platz“ Er drängt sich durch die Mengen.

Ich muss nicht sehen, um zu wissen, dass die paar Zuschauer, die gekommen waren, ziemlich brüskiert sind. Im Grunde muss ich gar nichts sehen. Ich kann meine Augen beruhigt geschlossen halten. Das Gefühl der Sicherheit hält mich. Und um ehrlich zu sein, ich frage mich warum. Liegt es daran, dass Mathias mich schon einmal gerettet hat?
Ein dumpfes Klingen in meinen Ohren verschiebt die Antwort auf einen anderen Zeitpunkt.
Ich spüre dennoch, wie sich die Temperatur um mich herum ändert, wir sind in einem Raum. Einer Umkleidekabine, nehme ich an.
Mathias legt mich am harten Boden ab, nicht dass es eine andere Möglichkeit gäbe.
Die Bänken sind viel zu schmal, als dass ich mich ernsthaft darauf erholen hätte können.
Auf einer gleichbleibenden, nicht leicht wankenden Unterfläche ist es viel leichter sich wieder zu fangen. Auch wenn… wenn mir diese Hände unter mir fehlen.
Wieder weiß ich nicht warum.
Ich beschließe Mathias nicht warten zu lassen, all der Mut kommt zurück.
Mit einem Ruck setze ich mich auf – zu schnell, mir wird wieder schwindlig. Mathias stützt mich. „Dich hat’s ja arg erwischt“, stellt er fest, Er reicht mir einen Beutel Eis, ich habe gar nicht bemerkt, dass er irgendwann weg gegangen ist. „Danke“
Das Eis kühlt meine Schläfe, sie ist etwas angeschwollen. Nun fällt es mir leichter zu denken.
Ich räuspere mich, um meiner Stimme weiterhin einen männlichen Klang zu verleihen. Meine Tarnung darf nicht auffliegen. „Ich bin ein echter Gegner“
Mir sind seine Worte von früher wieder eingefallen.
Er schürzt schmunzelnd seine Lippen: „Klar“ Er mustert mich und ich bin fast schon etwas beleidigt, aber immerhin ist meine Maske noch in Bestform.
„Du bist gut, aber du hast noch etwas Training nötig“ Ich nehme die Kritik kommentarlos entgegen.
„Warum gerade Fußball mit den Spasten?“
„Wie meinst du das?“, ich bin verwirrt, ob von den Dellen in meinem Körper oder seiner Frage ist mir nicht ganz klar.
„Warum willst du unbedingt Fußball spielen?“
Jetzt wird mir alles klar: „Du traust mir das nicht zu“
Mathias sieht unergründlich aus, dann begreift er. „Doch, na klar… Aber…“ Dann bremst er sich: „Du kannst doch locker auch Basketball machen“
„Basketball“, ich runzle die Stirn.
Der Kerl interpretiert das falsch: „Verstehe. Du willst lieber einer von den hirnlosen Fußballern sein“
„Das mein ich nicht“, ich überlege kurz, „Wie… mit meiner Größe?“
Fragend warte ich. Ich bin für gewöhnlich ein Mädchen, naja, außer jetzt gerade. Ich bin nicht sonderlich groß. Meine 1,65 m würden nicht reichen.
Ein Lächeln umspielte Mathias volle Lippen. Er ist hübsch, sehr hübsch…
„Im Gegensatz zum Fußball braucht man hier etwas im Kopf“ Er klingt stolz.
„Oje“, überflüssiger Weise mache ich eine Schnute. Zu meinem Glück sieht er das Mädchen in mir nicht und muss sogar lachen.
„Auch unsere Mannschaft hat ihre Sommerspiele. Unser kleinster und bester Partner ist zu den Gegner übergewechselt.“ Seine Stimme ist traurig. Ich wette die beiden sind gute Freunde gewesen – wenn nicht die besten. Er nimmt seinen Faden wieder auf: „Wir haben nicht genügend Spieler, um uns zu qualifizieren. Ich kann dir alles Nötige beibringen. Steigst du ein?“
Er ist zu hübsch.
„Was?“, dumm, wie ich bin, habe ich mich von der Mimik verzaubern lassen. Ich drücke meine Finger fest zusammen. Ich muss mich zusammenreißen.
„Komm schon. Ich weiß, dass du das Zeug dazu hast“, bemerke ich da wirklich ein nachdrückliches Flehen?
„Gut. Ich bin dabei“, sage ich ohne weiter zu überlegen.
„Kannst du laufen?“
Er reicht mir freundschaftlich die Hand.
„Klar“

In dem Moment – also, als er mir die Hand reicht und ich ihn voller Bewunderung unkontrolliert anstarre – sehe ich es zum ersten Mal.
Das unfassbar strahlende Blau seiner Augen.
So tief wie das Meer, so still wie ein kleiner Teich.
Hypnotisierend.
Bloß ein kleiner Sprenkel ist, in beiden Augen Spiegelgleich, karamellfarbig, beinahe Gold.
Sie sehen bedrohlich aus. Die kleinen Feuer, die die klare See durchbrachen…
„Sicher?“, Mathias schalkhafte Besorgnis bereitet dem schweigenden Schmachten ein Ende.
Kurz benebelt. Dann bin ich wieder voll und ganz da.
Ich verdrehe die Augen. Er lässt mich los und geht vor.
Zögernd gehe ich ihm nach, ich muss fast rennen, um ihn einzuholen.
„Wohin gehen wir?“
„Zum Training“
Er scheint abwesend.
„Warte hier“
Kurz ist er verschwunden. Ich vernehme ein lautes Surren.
Mit schrillem Laut bremst dieser schwarze Lamborghini einen Zentimeter vor meinen neuen Sportschuhen. Ich halte die Luft an. Das ist ziemlich knapp gewesen – zu knapp für meinen Geschmack.
In dieser Schrecksekunde habe ich mein Gesicht nicht kontrolliert und muss natürlich mit einem weiteren schalkhaften Grinsen rechnen.
Dann schüttelt Mathias seinen Kopf. Da fällt mir nun auch sein schönes, glattes Gesicht auf. Der Bart ist natürlich gut abrasiert. Die schwarze, nicht zu kurz geschnittene Haarbracht umgibt die einmalige Gesichtsform.
„Steig ein“ Er hat die Geduld verloren.

Es wundert mich, wie lange es dauert, bis wir in der Schulsporthalle sind – insbesondere wegen der kleinen Entfernung. Ich bin heute Vormittag doppelt so schnell dort gewesen.
Da bemerke ich, dass es wahrscheinlich an Mathias Fahrstil liegt.
Im Gegensatz zu mir bleibt er bei allen roten Ampeln – auch bei denen, die gar nicht nötig sind – stehen, er achtet auf Fußgänger und überholt absolut niemanden. Die Geschwindigkeitsanzeige geht nicht einmal über die erlaubte Grenze.
Ich erinnere mich an gestern, dem Tag, an dem seine Kumpels und er sich noch mit dem schnellen Auto angegeben haben.
„Du fährst ziemlich…“, ich muss nachdenken, „verkehrsbewusst“
Meine Feststellung. Fragend schaue ich ihn an, doch sein Blick bleibt konzentriert auf die Straße geheftet.
„Ist das schlimm?“, die Stimme ist ruhig. So ruhig, dass ich weiß, dass dahinter noch mehr steckt.
„Nein“, sage ich mit voller Überzeugung. Damit gibt er sich zufrieden.
Dann sind wir da.

Auch wenn die Sporthalle doppelt so groß ist, wie die gesamte Schule, ist sie im Gegensatz zu meiner früheren ein verdammt kleiner Winzling.
Ich muss fast ein Stöhnen unterdrücken.
Die Luft ist stickig, der Boden beinahe durchgetreten.
„Hier, zieh die an“, Mathias wirft mir ein Trainingstrikot zu und marschiert dann selbstsicher in den Gang hinaus. Vor mir betritt er die Umkleidekabine.
Schnell fliegt sein T-Shirt zur Seite und entblößt ein gigantisches Sixpack. Ich muss mich dazu zwingen wegzusehen, vergeblich. Der Gedanke, dass die Bluejeans auch gleich folgen würde, macht es nicht gerade leichter.
„Worauf wartest du?“, Mathias sieht mich mit einen verwirrten Blick an. Sein hübsches Gesicht lenkt ab. Es dauert, bis ich wieder ganz bei Sinnen bin.
Da kommt mir der Grund, weshalb ich mich unter keinen Umständen hier umziehen kann.
„Ich muss mal“, mehr fällt mir im Moment nicht ein.
Mathias verdreht seine Augen, nur schwer kann man erkennen, dass sich die goldenen Dolche auch mitbewegen. Das fasziniert mich.
„Raus und dann links“, er hat meine Faszination falsch gedeutet. Sau gehabt!
Zu meinem Pech befindet sich das Mädchen WC auf der gegenüberliegenden Seite.
Ich kann unmöglich wieder umkehren und womöglich an Mathias vorbei laufen.
Mir muss wohl vorerst das Männerklo dienen.
Ich trete ein. Nicht, dass ich das erste Mal in einem Männerklo stehe, aber der Geruch haut mich fast um. Einfach abartig – selbst für mich, einem falschen Jungen.

Es kostet mir all meine Kraft, diese Umgebung zu ignorieren und mich mit der ganzen Konzentration, die ich zu aufbringen im Stande bin, zu verwandeln.
Der Einfachheit halber versperre ich alle unnötigen und vielleicht auch die nötigen Fragen in einem Schrank irgendwo im letzten Eck meines Gehirns.
Basketball ist nun wichtig, nicht die Hormone, die aus der Pubertätszeit rätselhafter Weise zurückkehren.
Mathias wartet bereits. Er hat nicht damit gerechnet, dass ich mich woanders umgezogen habe.
„Ich hätte dir schon nichts weg geschaut“, sagt er erstaunt und mit einem unvergleichlichen Schmunzeln auf den Lippen.
Das macht mich verlegen, worauf keiner mehr etwas zu sagen weiß.
Er holt einen Basketball. „Na los!“

Als das Training beginnt, kommt mir der Turnsaal plötzlich viel größer, stickiger und besonders anstrengender vor, nicht so wie früher. Aber vielleicht liegt es auch nur daran, dass auf mich ein abgefahrenes, umfangreiches Sportprogramm wartet – mit der Tatsache, dass ich absolut keine Ahnung von Basketball habe. Auch das rot-schwarze, übergroße Trikot macht mich nervös.
Es zwingt mich viel zu wenig anzuhaben, es entblößt meine Statur.
Vielleicht bin ich stark, aber man hat mir meine Muskeln noch nie wirklich angesehen. Ob männliche Muskeln anders aussehen, als die der Frauen?
Panik durchzuckt mich, als mir klar wird, dass ich meine Beine erst vor ein paar Tagen rasiert habe, hoffentlich fällt das nicht auf.
Eine Sekunde lange – vielleicht auch zwei – stehe ich bewegungsunfähig da, wie der letzte Volltrottel.
Gerade als ich überlege, einfach davon zu laufen, fliegt unerwartet ein harter Basketball meinem ungeschützten Gesicht entgegen.
Etwas geschockt, wobei ich mir nicht sicher bin, wieso, fange ich ihn ohne Probleme auf. Naja, das Gewicht überrascht mich natürlich und ich torkle einige winzige Zentimeter zurück, aber ich habe ihn definitiv.
„Gut reagiert“, Mathias Stimme klingt nun wie die eines strengen Trainers, eines unheimlich süßen strengen Trainers. Für diesen Gedanken gerade könnte ich mich am liebsten Ohrfeigen.
Ich werfe ihm den Ball zurück.
„Wenn du ihn wegwirfst, musst du gezielt zu einem anderen Teammitglied spielen, oder später dann auch in den Korb. Du musst dein Ziel immer zuerst vor Augen haben, dann reagieren“, erklärt er mit den einfachsten Worten, die er findet.
Der Basketball kommt wieder zu mir.
„Beim Fangen, streck deine Finger etwas nach außen, das beugt Verletzungen vor, und streck den Daumen nie zu weit vom Rest deiner Finger weg“
Ich nicke. Der Ball fliegt zurück.
„Nie zu hoch und zu weit werfen, Engpässe sind am günstigsten, wenn du den Ball in deiner Mannschaft behalten möchtest“
Wieder stimme ich zu. Dann kommt Mathias zu mir und zeigt, wie ich meine Hände beim Wurf am besten halte. Mit meiner ganzen Konzentration versuche ich ihm dabei zuzuhören, aber seine Berührung lässt mich erschaudern, sie ist so warm, glatt und …geborgen. Sie überrascht mich, noch mehr aber, meine innere Regung darüber. Es kostet mir viel Mühe, meine Gefühle, oder was auch immer das nun ist, im Zaum zu halten.
Viel zu früh lässt mich Mathias wieder los.
Ich bin mir nicht sicher, wie lange das hin und her spielen schon geht, wahrscheinlich eine halbe Ewigkeit, aber es ändert sich nicht viel.
Zunächst wird der Ball beim Werfen einmal im letzten Drittel – kurz vor dem anderen – auf den Boden geprellt. Wieder dauert es eine lange Zeit, bis Mathias etwas Neues einbringt.
Die Nächste Übung beim hin und her spielen ist, dass man auf einem Fuß steht. Zuerst frage ich mich, ob ich nicht verarscht werde – das sind Dinge aus dem Kindergarten – aber dann sehe ich Mathias Ernsthaftigkeit und Willen bei der Sache und bin mir auf einmal sicher: Er weiß, was er tut.
Vielleicht nicht immer, aber in diesem Moment gibt es daran keinen Zweifel.
Sein Willen und sein Eifer machen mich etwas neidisch. Aber wahrscheinlich ist es auch seine Anmut und Schönheit und vor allem seine Stärke, selbst bei den einfachsten Übungen.
Ich frage mich, ob man seine gigantischen, aber schönen Muskeln selbst beim Blumengießen aus einiger Entfernung ausmachen kann und ich komme zu dem Entschluss, dass ich mir dessen sogar sicher bin.
Während ich nachdenke oder vielleicht auch einfach nur bewundere geht das Training weiter.
Es bleibt hängen, dass es vor allem darum geht, mich an das Gewicht und die Größe des Balls zu gewöhnen, dass meine Scheue von diesen Dingen zurückgeschraubt wird. Und auch das Gleichgewicht, die Koordination werden ausgiebig geübt.
Selbst Ausdauertraining bringt sich unter und mit der Zeit spüre ich auch schon die ersten Muskelkrämpfe.
Vielleicht ist der eigentliche Sinn der Sache auch, dass Mathias meine Willenskraft testen will, aber wenn er meint, ich bin jemand, der gleich aufgibt, hat er sich geschnitten.
Ich bin schon immer eine Kämpferin gewesen, wenn auch keine sonderlich gute. Wenn ich etwas will, dann kriege ich es auch… das einzige Problem, das ich allerdings immer hatte und dieses mich bis auf alle Zeiten verfolgen wird ist, dass mir alles was ich einmal wollte, wofür ich gekämpft habe, kurz vor dem Ziel, nicht mehr wichtig ist, nicht wichtig genug.
Ich weiß, dass es auch beim Basketball so sein wird, aber ich weiß auch, dass das noch eine Weile dauern kann.
Mittlerweile sind wir bei richtig schweren Übungen angelangt.
Die Liegestützen zwischen dem Werfen werden immer mehr erschwert.
Zuerst sind sie noch normal. Eine Liegestütze, dann werfen. Eine Liegestütze, dann werfen.
Dann: Eine Liegestütze mit nur einer Hand, dann werfen. Eine Liegestütze mit nur einer Hand, dann…
Nach einer qualvollen, nicht endenden Dauer werden die beiden Übungen auch noch auf einen Basketball ausgeführt.
Scheinbar macht es Mathias überhaupt nichts aus, er zeigt nicht den Funken von Müdigkeit oder Anstrengung. Im Gegenteil, er scheint sogar mit den Gedanken irgendwo anders zu sein.
Was er wohl denkt?
Naja, egal, jedenfalls verlässt mich allmählich die Kraft, die Lunge schmerzt von meinen hektischen Atemzügen, die nie genug Luft liefern können.
Kurz frage ich mich, wie ich wohl aussehe, aber Mathias Versunkenheit lässt nicht darauf schließen, dass man mir meine Weiblichkeit anmerkt.
Qualvolle Zeit später – und es fühlt sich an wie Jahre – verweigert mir mein Körper den Dienst, zumindest glaube ich das. Ich muss was sagen: „Ähm, können wir mal eine kleine Pause einlegen?“
Mathias scheint weit weg, er braucht etwas um sich wieder zu sammeln, dann ist er voll und ganz da: „Hm. Ich dachte, du fragst gar nie“ Ein Lächeln zuckt um seine Lippen, mit einem Satz steht er.
Es beruhigt mich ein wenig, dass er auf eine an geschaffene Pause meinerseits gewartet hat, aber dann überkommt mich Ärger, warum ich nicht schon früher um eine gebeten habe.
Tja und da ich nun schon den harten Mann markiert habe, springe ich auch auf und muss mich zu meiner Enttäuschung an Mathias festhalten.
„Vorsicht“, mein Trainer klingt etwas besorgt, als habe er mir zu viel zugemutet.
„Es geht schon“, dann weiß ich wieder, wo oben und unten ist.

„Hier“, draußen im Gang reicht mir Mathias eine Cola.
Ich lehne ab: „Nein, danke… ich geh mal wieder…“
Tja, ich muss nicht weitersprechen. „Klar“, ich meine zu sehen, dass er seine Augen überdreht, als ich mich umdrehen will. „Warte, zieh die an“
Wieder landet ein Berg Wäsche in meinen Händen. Diesmal ist es kein Trikot, es ist ein bequemer Jogginganzug oder wie auch immer man diese zusammenpassenden weiten Hosen und das T-Shirt dazu nennt.
Meine Augen fallen beinahe aus dem Kopf. „Heißt das, dass das Training noch nicht vorbei ist?!“
Ich habe meinen letzten Gedanken tatsächlich ausgesprochen. Und er klingt schockierender und zugleich ängstlicher, als ich das jemals beabsichtigt hätte.
Meine Pupillen werden groß und starren in das verschwitzte und dennoch Model reife, leicht gerötete Gesicht von meinem Trainer.
Er kann sich das Grinsen nicht verkneifen: „Tut mir leid, aber ich verspreche, dass es körperlich fast keine Anstrengung mehr erfordert“ Er hält inne: „Na gut, zumindest nachdem wir uns ausgedehnt haben“
Dehnen?!?
Ich weiß nicht mehr ganz genau, aber ich muss definitiv ein Stöhnen unterdrücken.
Noch immer benommen und fast mechanisch eile ich auf die Jungs Toiletten. Einerseits damit Mathias mein verzerrtes Gesicht nicht sehen kann, andererseits damit eine erneute Verwandlung möglich ist.
Ich werde sterben… ich bin mir so sicher.
Oder es würde sich zumindest so anfühlen!!!

Schockiert – vom bevorstehenden Selbstmord oder aber auch von meinem Anblick – schaue ich in den kleinen Spiegel.
Ich schaue aus wie ein Schwein. Ein angeranztes, kurz vor dem Schlachthof stehendes, durchdrehendes Schwein.
Kein Wunder, dass Mathias sich so zusammenreisen muss, wenn er mich nicht auslachen will.
Für einen Augenblick bin ich ziemlich fertig.
Das Spiegelbild wird noch schlimmer.
Aber dann wird mir klar, dass Mathias nicht über mein Aussehen – das zu meinem Glück nicht wie ein Schwein, sondern trotz meiner Angst, immer noch wie ein Junge aussieht – sondern über meine Worte oder meinen Beinahe-Anfall gegrinst hat.
Meine Erleichterung wird durch den nächsten prüfenden Blick in den Spiegel getrübt.
Die normalerweise entspannte Maske meines Gesichts, die ich nur abnehme, wenn ich wirklich alleine bin und mich der Trauer und dem Loch in mir hingebe, sieht ziemlich hektisch aus.
Hektisch und überanstrengt. Überanstrengt und voller Schweiß.
Und der Schweiß läuft meine Wangen, wie Tränen, hinab und hinterlassen ein unerträglichen Gestank. Ich wage nicht, die Kappe vom Kopf zu nehmen, die paar kurzen Haarsträhnen, die an meiner Haut kleben, sehen schon schlimm genug aus.
Das bisschen Schminke, das ich verwendet habe, um mir ein paar männlichere Gesichtsstrukturen zu zaubern, hat zu meinem Verblüffen gehalten.
Die schwer braunen Augen sind noch immer von gestern gekennzeichnet. Tiefe blaue Augenringe brennen sich unter dem Make-up in die Haut, immer tiefer, als würden sie sich für immer in die reine Haut fressen und das ganze Gesicht verunstalten.
Dann halte ich es nicht mehr aus, ich drehe den Wasserhahn kalt auf und halte es unter das eisige Wasser. Meine Haut lodert auf, wie Feuer – aber es tut eigenartig gut.
Mir gefällt das Gefühl. Nachdem ich mein Gesicht vom Waschbecken losreißen kann und das verlangt mir viel Mühe ab, trinke ich hastig.
Ich habe keine Lust auf Cola. Ich mag sie nicht. Und ich mag generell keine schrecklich süßen Getränke dieser Art. Aber das Wasser ist so unwiderstehlich gut – auch wenn es aus dem Männer WC kommt und das bereitet mir Sorgen.
Es schmerzt zwar wie Salz in meiner Speiseröhre, aber der Schmerz vergeht und legt sich wieder.
Gierig, fast im Rausch, schlucke ich hastig hinunter. Mehr… noch mehr!
Als ich mich wieder unter Kontrolle habe, bemüht um meine Fassung, ziehe ich mich um.
Ein letztes Mal halte ich auch meine Unterarme unters eisige Wasser. Man sagt doch, dass dadurch das Blut gekühlt werde. Es hilft tatsächlich und gleich fühle ich mich um vieles besser.
Wasser ist ein Geschenk des Himmels.
Und in diesem Moment scheint es, als ist es mein persönliches Geschenk.
Ich bin unendlich dankbar dafür.

Dann bin ich zurück. Mathias hat sich kein Stück von seiner Stelle bewegt oder vielleicht ist es auch nur Zufall und er ist gerade wieder zurückgekommen – wo auch immer er gewesen sein soll – jetzt steht er wieder ungefähr da, wie früher.
Er zeigt keinen Schimmer von Ungeduld. Es kann sein, dass er glaubt ich habe ein paar Minuten für mich gebraucht, um mich hinzulegen, zum Beispiel, aber vielleicht bin ich auch gar nicht so lange weggewesen. Ich komme zu der Entscheidung, dass es egal ist. Schließlich bin ich doch jetzt hier. Und das ist gut so.
Mathias hat dieselbe weite Hose an, wie ich. Auch das T-Shirt ist ähnlich. Die neuen Klamotten prahlen zwar nicht so mit seinen vorhandenen Muskeln, aber sie sind doch da.
Das einzig deprimierende an der Sache ist, dass er im Gegensatz zu mir, aussieht wie ein Rapper oder ein Hip-Hop Tänzer oder auch beides, ich dagegen schaue höchstwahrscheinlich bloß irgendeinem Kind auf der Straße ähnlich.
Den Gedanken daran muss ich verdrängen.
Nun stehen die Dehnübungen an. Zu meinem Verdruss stelle ich fest, dass ich für gewöhnlich gelenkiger bin, aber dann wird mir klar, dass es am einseitigen Sport liegen muss.
Gut, dass mein Trainer an solche doch wichtige Nebensächlichkeiten denkt, denn was, wenn ich in meiner Arbeit wieder einmal aufgefordert werde, zu tanzen?
Wenn man vom Teufel spricht. Schon klingelt mein Handy.
Es ist kein neues Exemplar, noch nicht einmal mit Touch, aber es hält sehr viel aus und das ist mir nur recht.
„Darf ich?“
Mathias nickt.
Ich renne hinaus in den Gang. Hier habe ich es liegengelassen – nur deswegen, weil ich es hasse, Handys am Körper zu tragen und weil es mich beweglich etwas einschränkt.
Kurz muss ich nach Luft schnappen.
Es ist Daina.

„Hallo“, während ich sie leise begrüße laufe ich ein Stück den Gang hinunter, damit niemand mithören kann.
„Wo bleibst du?“, sie zischt die Frage beinahe.
Ich will gerade etwas sagen, doch sie kommt mir zuvor.
„Es ist halb Neun“, eine unheilvolle Pause, „Wir haben in der letzten Schulwoche für die Maturanten dauergeöffnet, weißt du noch?“ Ihre Stimme wird mit jedem Wort tiefer.
Ich schlage mir auf die Stirn. Wie kann ich das nur vergessen haben?
„Scheiße… ich habe das irgendwie verschwitzt. Ich bin gleich da“
„Das will ich hoffen“, eine Drohung? Dann ist die Leitung unterbrochen.
Als ich in die Turnhalle will, kommt mir Mathias schon entgegen. „Du musst nach Hause“
Es ist seine falsche Feststellung. Ich nicke trotzdem. Die perfekte Ausrede…
„Gut, ich bring dich heim“
„Nein!“, sage ich etwas zu laut. Ich überlege kurz: „Ich muss noch was erledigen. Könntest du mich am Bahnhof absetzen?“
„Natürlich“ Er grinst.

„Danke“, verabschiedete ich mich von Mathias und stürme aus dem Auto.
„He wart mal“
Entsetzt drehe ich mich um.
„Morgen um Acht, nicht vergessen“
„Klar“, ich muss ein Stöhnen unterdrücken. Eine lange Arbeitsnacht steht vor mir und morgen muss ich trotz verfrühter Ferien früh raus. Toll.
Das Auto fährt und ich bewege mich im Laufschritt, der immer mehr ins krampfartige Rennen übergeht.
Kurz vor der Bar nehme ich die Kappe ab und öffne die Haare.
Layla wartet ungeduldig auf mich.
„Na endlich“ Sie sagt das so, als wäre ich lebenswichtig.
„Daina dreht fast durch“ Dann scheint sie mich zu mustern: „Um Himmels Willen, wie siehst du denn aus?“, sie verdreht die Augen, „Wir gehen hinten rein. Wir haben noch bis neun Zeit“
Die Party ist schon voll im Gange, aber ich weiß genau, dass unsere Chefin mir genau diese Frist gibt.
Kurz frage ich mich, was ich nun eigentlich anziehen soll. Aber Layla reist mich gnadenlos mit.
Sie schubst mich beinahe in die Dusche. „Beeil dich!“
Wir haben nicht mehr viel Zeit. Eine gute halbe Stunde.
Absichtlich dusche ich nur mit kaltem Wasser und in Höchstgeschwindigkeit. Es geht jetzt nicht um Entspannung, es geht um Sauberkeit.
Als ich fertig bin, wirft mir meine Kollegin unpraktische Unterwäsche zu. Ich habe nicht mal eine halbe Minute um zu verarbeiten, dass ich gezwungen bin einen viel zu eng wirkenden Tanga und ein dazu passendes Oberteil anzuziehen.
Irgendwie finde ich mich dennoch damit ab. Layla wirft mir eine kurze Jeans und darunter eine fast durchsichtige Strumpfhose mit Schlangenmuster zu. Mit aller Gewalt quetsche ich mich in ein passendes, auffallend enges Tank Top hinein. Dieses Mal gibt es Lackstiefel dazu.
Ein dazu abgestimmter Hut soll meine noch nicht ganz getrockneten Haare verbergen.
Die Strähnen, die dennoch darunter hervorlugen, als würden sie heute nichts verpassen wollen, werden mit Lockenstab gewaltsam zur Form gezwungen.
Etwas Mascara. Schon geht’s los.

Als ich hinter der Bar bin wirft mir Ann verstohlene Blicke zu und meine Chefin ignoriert mich.
Es dauert heute ziemlich lange, bis der Laden richtig auftaut und abgeht.
Im Grunde läuft sonst aber alles gleich ab, wie gestern.
Nissi fragt mich irgendwann, wo ich so lange gewesen bin.
„Beim Training“, sage ich kurz angebunden, nicht aus Unhöflichkeit, sondern weil ich mir nicht sicher bin, welche Einzelheiten ich gefahrlos erzählen kann.
Zu meinem Glück wirkt einer unserer Gäste interessiert. Er hat Nissi’s Frage mitbekommen.
„Welches Training?“, fragt er mit rauer Stimme. Er ist nur mehr halb da, ich kann ihm also erzählen, was ich will.
„Tanztraining“
„Und was tanzt du so?“ Ich muss mir nicht vormachen, was in dieser Frage liegt.
„Alles, was gewünscht ist“ Er scheint die Herausforderung zu riechen.
„Und für wen tanzt du?“
„Für mich“, erwidere ich kühl.
„Würdest du auch für mich tanzen?“, jetzt wird er aufdringlich.
Ich hebe die Augenbrauen und will etwas sagen.
„Klar, wird sie“, das ist Daina.
Der Gast lächelt spielerisch.
Ich werfe meiner Chefin einen dieser Wie-bitte? -Blicke zu.
„Du schuldest mir noch einen Extra-Auftritt“, erklärt sie schmunzelnd. „Bring mir Geld“
„Was ist dir das Wert, wenn ich auf die Bühne komme und eine Mitternachtseinlage starte?“
Ich versuche meine braunen Augen zum Glitzern zu bringen. Ihn damit zu verführen.
Er legt etwas auf den Tisch. Einen Hundert Euroschein?
Da will ich noch mehr raus holen. „Und wie viel ist das deinen Freunden wert?“
„Frag doch mal nach“, schlägt er gerissen vor.
Und das tue ich tatsächlich.
„Wenn hier am Tresen über 200 Euro zustande kommen, werde ich für euch tanzen“, sage ich dieses Mal durch den Lautsprecher.
Natürlich kommt mehr Geld zusammen – wie erhofft.
Und dann wiederholt sich meine gestrige Show.
Ich muss zugeben, es ist etwas schwerer. Wahrscheinlich liegt es an dieser unbequemen Unterwäsche oder vielleicht hat es auch den Grund, dass ich den ganzen Nachmittag und Abend wie eine Halbwahnsinnige trainiert habe.
Deshalb setze ich heute mehr auf Unterhaltung und kleine Dinge, bis ich mich schließlich nicht mehr halten kann und versuche dem großen Auftritt gerecht zu werden.
Wieder befinde ich mich beinahe in Trance und bevor ich mich in der Musik verlieren kann, tanze ich dem Schluss entgegen.
Der Geldstapel ist inzwischen angewachsen. Um vieles.
Ich knalle das Geld vor Dainas Tresen hin. „Das dürfte reichen“
Meine Chefin grinst. Fast so, als habe sie von Anfang an damit gerechnet, dass ich Geld bringen könnte.
„Behalt es, es ist dein Verdienst, durch dich haben wir ohnehin schon einen gesteigerten Gewinn“, zufrieden wendet sie sich wieder den Gästen zu.
In dieser Nacht habe ich zum ersten Mal seit langem, keinen Drang dazu, mich zu zudröhnen.
Na klar, ein bisschen Alkohol braucht man immer im Blut, um eine Show, wie meine abzuziehen, aber immerhin spüre ich mich heute noch.
Ich bin sogar so vernünftig, ein Taxi anzurufen, aber es kann auch sein, dass es eigentlich nur daran liegt, dass ich absolut zu müde bin, um nach Hause zu laufen.
Die Nummer wird gewählt.

Daheim brennt noch ein schwaches Licht.
Eigentlich soll ich mich nicht darüber wundern, dass man auf mich wartet.
Immer will man etwas gegen mich in der Hand haben.
Aber was sollen sie schon sagen? Oder was können sie tun?
Gar nichts. Und das wissen sie auch – glaube ich.
Ich gehe in mein Zimmer. Die Stiege hinauf und auch den restlichen Weg halte ich immer eine Hand an der Wand gestützt. Schließlich will ich mein Gleichgewicht in meiner Müdigkeit nicht überstrapazieren.
Irgendwann räuspert sich jemand hinter mir.
Unwillig wende ich mich meiner Mom zu.
Ich runzle die Stirn: „Was?“
Mom mustert mich. Natürlich sticht ihr mein aufreizender Aufzug in die Augen.
„Wird das jetzt jeden Tag so sein?“
Sie sieht mich mit ihren schönen, aber müden Augen an und schließt in ihre Frage meine Abwesenheit des ganzen Tages, mein Aussehen, wenn ich spät nachts nach Hause komme, ein.
Mich würde es nicht wundern, wenn sie denkt, dass ich den ganzen Tag damit verbringe, irgendwo im Park oder im Einkaufszentrum herumzulungern und dann abends voll Party mache.
Sie würde sowieso nie verstehen, dass ich gearbeitet habe, dass ich nun auch Basketball spielen will.
Dass ich mich als Junge verkleiden muss und mein teures Ausgehoutfit meine eigentliche Arbeitsmontur ist und dass sie mir keinen Cent kostet.
Nein, sie wird es auch nicht verstehen. Und genau deshalb werde ich ihr nicht zumuten, es falsch zu interpretieren.
Ich zucke mit den Schulter: „Schön möglich“
Abweisend wende ich mich zum Gehen.
Mom seufzt: „Gut. Wir reden morgen“
Es ist eine Drohung. Ganz sicher.
Ich schleiche in mein Zimmer, anders als gestern wende ich mich aus meiner Arbeitsmontur und suche auch die Teile vom Vorabend zusammen. Die Klamotten lege ich in Wasser mit etwas zu viel Waschpulver ein. Für die Waschmaschine sind sie zu schade und ich will sie heil zurückbringen.
Dann lege ich mich schon halb im Traum ins viel zu bequeme Bett und schließe die Augen.
Die Nacht senkt sich über mich.

6. Juli 2011 3

Als der Wecker klingelt und ich benebelt mit meiner Hand verzweifelt versuche den Off-Knopf zu finden, bin ich beinahe überrascht. Es ist bereits Mittwoch. Ich habe hier tatsächlich schon zwei vollständige Tage am Stück verbracht. Und ich atme noch immer – hier.
Tja, ich habe damit gerechnet, spätestens am Morgen des zweiten Tages hier abzuhauen und vor allem als mich der Gedanke schon in der ersten Stunde in Wolfsberg dazu verführte. Schlussendlich bin ich aber immer noch hier. Und ich kann nicht leugnen, dass ich auch hier schon ein paar Glücksmomente erlebt habe. Doch zurzeit kann ich nicht genau sagen, wem ich die meisten dieser Augenblicke zuschreiben kann. Der Bar? Dem Trainer? Oder liegt es wirklich an der Stadt?
Das letzte schockiert mich so sehr, dass ich mich nach dem Lichtschalter ausstrecke. Genug gegrübelt.
Ich springe aus dem Bett und muss zu meinem Verdruss feststellen, dass es nicht einen einzigen Laut von sich gibt. Es ist komplett lautlos, leblos, fremd, absolut nicht vertraut, tot.
Diese nächste Reihe von Gedanken lässt meine Stimmung erbarmungslos sinken.
Mein Blick wird wie ein Anker auf das Bett geworfen. Er verhakt sich.
Irgendetwas, was vertraut ist, muss ich doch zurückholen können, oder?
Mit einem Mal, fällt mir etwas ein.
Gleich ist die Decke bis zum Kopf des Betts hochgezogen, der Polster wird dort, wo eigentlich die Füße liegen, eingerichtet.
Ich gehe ein kleines Stück zurück, um meine Tat zu betrachten, ich habe nicht viel verändert.
Aber genau das wichtigste für mich. Seit Mom aus Berlin weggezogen ist und ich noch bei Dad leben durfte, habe ich aus Protest dasselbe getan.
Es strahlt Vertrautheit aus, das macht mich glücklich. Ich bin stolz drauf.

Zunächst stürme ich ins Bad. Zu meinem Erschrecken stopft Mom gerade meine Abendgarderoben in die Waschmaschine!!! „Was machst du da?!?“, die Worte klingen müde, aber bissiger als beabsichtigt.
„Deine Wäsche waschen?“, sie versteht meine Reaktion nicht.
„Die ist schon gewaschen“, ich schubse sie unsanft von der Waschmaschine weg und hole alles wieder heraus.
„Du hast sie eigenweicht?“, jetzt scheint sie zu verstehen.
Schnell Chaker. „Nein, mein Dad“ Sarkasmus in seiner vollendeten Form.
„Gut. Wenn du meine Hilfe nicht willst“, sie wartet auf eine Reaktion, doch ich drehe stumm die noch nasse Wäsche aus und werfe sie in einen leeren Korb, dann spricht sie weiter, „Dann wäscht du deine Sachen in Zukunft selber“
„Hab ich vor“, murmle ich dahin. Entschlossen stelle ich den Korb in meinem Zimmer ab.
Ich muss nicht lange überlegen. Geschwind suche ich einen leeren Wäscheständer. Vom Keller transportiere ich ihn in mein Privatreich. Im Zimmer hänge ich dann alles zum Trocknen auf. Ohne nur einen Blick dem Wetter draußen zu widmen, und öffne das Fenster.
Ein Blick auf die Uhr bestätigt mir, dass ich schon spät dran bin.
Mom versperrt mir den Weg, als ich in Eile die Stiege runter stolpere – immer zwei oder drei Stufen auf einmal.
„Können wir reden?“ Als sie meinen Blick sieht bessert sie sich aus: „Wann können wir reden?“
„Ich wüsste nicht, worüber ich mit dir reden sollte“, blocke ich resigniert ab.
„Aber ich weiß, worüber ich reden will“, sie lässt nicht gleich locker.
„Aha“, das Wort von schmerzendem Desinteresse.
Sie beachtet es gar nicht: „Gib uns eine Chance. Gib mir eine Chance“
Ich denke an meine Kindheit. Mom hat meinen Vater nicht ohne Grund verlassen.
Als ich zur Welt kam, als sie gerade mal erst 16 war, habe ich die Zeit ihres Lebens zerstört.
Sie war hübsch, vielleicht sogar hübscher als ich jetzt. Und sie konnte jeden haben, wirklich jeden.
Ausnahmslos. Und vielleicht kann sie das heute noch.
Dad hat immer erzählt, dass er Mom liebte und liebt. Sie hat ihn auch geliebt, aber sie hat sich gewehrt, seine Liebe tatsächlich zu erwidern. Sie wollte kein Leben in Ketten. Und das will sie wahrscheinlich auch im Alter von 33 Jahre nicht.
Dad liebt Mom und er liebt mich und für uns beide hat er auf seine Jugendzeit, Kindheit verzichtet.
Mom konnte damit nicht mithalten. Sie war viel zu flatterhaft und wollte noch so viel sehen, eingeschlossen die ganzen nackten Körper ihrer unzähligen Freunde.
Dad hat mich zu sich genommen. Mom hat sich verabschiedet.
„Und du erwartest tatsächlich, dass ich dir irgendwann vielleicht doch verzeihe?“, die Worte sind abgehärtet, eine Maske. Ich dränge mich an ihr vorbei. Zieh meine Sportschuhe an.
„Ich erwarte nicht, ich hoffe“, höre ich noch. Dann bin ich weg.
Mir ist klar, wie sie das gemeint hat. Sie würde ihre Hoffnung nicht so schnell aufgeben.

Auf dem Weg zum Moped, dass ich eine Viertelstunde von meinem Käfig entfernt geparkt habe, führe ich mein Kostümieren durch. So viel zum Thema: Multitasking Talent der Frauen. Ich bin der lebende Beweis.
Als ich dann jedoch meine neuen Freunde von gestern – also die, die mich fast ins Koma geprügelt hätten – erblicke schießt mir was durch den Kopf. Ein toter Beweis.
Verstohlen starre ich auf die andere Seite. Da steht meine Motorcross.
Ob sie beim ersten Mal starten laufen würde? Bin ich flink genug?
Adrenalin wird ausgeschüttet und vermischt sich statt mit der Angst mit reinem Egoismus und Wohlgefallen.
Dummerweise steuere ich nicht mein Moped an, sondern die, die auf mich warten.
„Wenn das nicht der Kleine von gestern ist“
„Er lebt noch“ „Nicht mehr lange“ Ein Stimmengewirr.
„Wenn das nicht die Loser von gestern sind“, spreche ich hinein.
„Du wagst dich tatsächlich nochmal hierher“, der Chef tritt hervor.
„Nein, ich bin hier“, schnauze ich zurück.
„Und warum?“, gespieltes Interesse.
„Naja, ich hab gestern was vergessen“
Jetzt wird der Typ hellhörig. „Und was?“
Ich sage das Unvernünftigste, was ich je sagen konnte. „Ich wollte mal sehen, ob du wirklich kastriert bist“ Und dann trete ich einen Schritt vor – ehe jemand reagieren kann – und trete ihm genau an dem Punkt unter der Gürtellinie, der Schmerzen verursacht. *lach*
Das Unvernünftigste, was ich je tun konnte.
Und dann renne ich.

Dieses Mal habe ich mehr Glück.
Noch bevor mir jemand ein Haar krümmen kann, fahre ich mit meiner Motorcross und den Mittelfinger weit ausgestreckt, davon.
Mit Höchstgeschwindigkeit komme ich sogar pünktlich zum Training.
Dennoch dehnt sich Mathias schon. Er wirft mir bequeme Sportsachen zu, wendet sich mir aber in die andere Richtung.
Ein Grinsen ziert dennoch mein Gesicht.
Als ich zurück bin, vernehme ich irgendeine Meditationsmusik. Sie kommt mir sogar bekannt vor.
Mathias sitzt an einen unbestimmten Platz im Turnsaal.
„Ich hoffe, du hast dich schon aufgewärmt“, sagt er, als ich näher komme.
Ich schlucke: „Kann man so sagen“
Dann dreht sich mein Trainer zu mir um.
Die Miene unergründlich.
„Kann man so sagen“, er lässt die Worte auf seiner Zunge zergehen. Der Anblick schmerzt fast, ich weiß nicht mal, warum. „Ich hab dich gesehen“, er macht reinen Tisch.
„Warum machst du so was?“
Ich weiß sofort, worauf er anspielt.
„Hm… ich glaube, ich weiß es selber nicht“, muss ich eingestehen, für ihn und insbesondere für mich selbst. Ich habe wirklich keine Ahnung.
Und überhaupt. Was hat er heute Morgen schon am Sportplatz getrieben?
Er gibt mir die Antwort: „Ich war laufen“
Tja.
„Es geht mich nichts an, wenn du da draußen bist und dein Leben auf Messers Schneide stellst“, redet er weiter, „aber es geht mich was an, wenn du diese lebensmüde Energie mit hier in den Raum schleppst“
Prüfend sucht er meinen Blick. Die blauen Augen schnüren mir die Luft ab. Erwürgen mich. Halten mich fest. Fast gewalttätig. Und doch ist es nicht bloß ihre nackte Schönheit die mich zwingt, mich nicht zu wehren, gegen den harten Griff, sondern die Intensivität, die Entschlossenheit sind die Dinge, die mir Fesseln anlegen. Fesseln mit spitzen Dornen. Allerdings Dornen die mich schützen. Dornen die ihre Messer nur nach Außenstehenden ausstrecken. Außenstehenden, die mir was anhaben wollen.
Und die kleinen Flammen im Wasser wirken wie Klippen. Ein kleiner Verrat würde reichen und man würde mich hinab stoßen. Da bin ich mir sicher.
Doch wenn ich treu bleiben würde, würden Hände mich schützend festhalten und vor dem tödlichen Sprung bewahren.
Für eine ewig dauernde Weile weiß ich nicht was ich sagen soll oder antworten oder vielleicht soll ich auch einfach nur den Mund halten. Ungeduldig warte ich.
Mathias zieht die Fesseln seiner Augen zurück.
„Geh raus und nimm die schlechte Energie mit dir“

Jetzt bin ich schockiert. Darf ich nicht mehr zum Training???
„Und wenn du sie aus dir raus geschaffen hast, komm wieder“
Ein weiterer Blick trifft mich. Wie in Trance stehe ich auf und erledige, was mir befohlen wurde.
Eine Sekunde lange zweifle ich an meiner Zurechnungsfähigkeit, aber dann bin ich mir sicher, dass mein Trainer mir etwas zeigen will, wofür er mein ganzes Vertrauen braucht.
Etwas Neues wartet auf mich. Das bereitet mir Vorfreude.
Ich konzentriere mich wirklich. Und für gewöhnlich bin ich ziemlich gut darin mich zu beruhigen und Unerwünschte Dinge auf später zu verschieben.
Um das besser zu meistern, stelle ich mich auf ein Bein und versuche mich bei einer Standwage.
Das lenkt ab, bald geht es mir besser.
Gerade als ich wieder rein gehen möchte, steht Mathias schon in der Tür.
„Geschafft?“
Ich nicke ernst und frage mich, wann der Zeitpunkt käme, wo ich ihn über das Folgende erste Fragen stellen kann, bis ich schließlich feststelle, dass dieser Moment, gar nie kommen würde, der Meister würde mir schon alles erklären, wenn die Zeit reif ist.

„Du wirst dich sicher Fragen, was das mit Basketball zu tun hat…“, wir gehen den Gang entlang in die Turnhalle. Ich sage nichts und er erwartet auch keinen Kommentar und fährt fort, „Demnächst wird es um Atemübungen und Konzentration gehen. Um Körperbeherrschung und vor allem Energie“
Kurze Pause. „Allerdings kannst du mit Energie nur arbeiten, wenn du daran glaubst“ Er sieht mich an. „Der Glaube ist der Schlüssel zu allem. Es sind keine Grenzen bekannt.“ Ich nicke stumm. So etwas habe ich schon mal gehört.
Und außerdem ist es unmöglich seinem Blick zu trotzen.
Er wendet sich ab und geht vor in den Turnsaal. Ich komme nach.

„Such dir den Platz aus, der dir am meisten gefällt. Den Platz, an den es dich zieht“
Schweigend folge ich seinen Anweisungen und ich frage mich, ob ich meine Stimme nach diesem Teil des Unterrichts überhaupt noch finden werde.
Ich sehe nicht nach, wohin Mathias geht. Ich schließe einfach die Augen und fühle.
Und ich bin mir sicher, dass dieser Turnsaal sonst nie so viel Spannung geladen hat. Doch heute zuckt sie fast körperlich spürbar durch den großen Raum.
Nachdem ich meinen Sinnen freien Lauf gelassen habe, bin ich bereit, ihnen zu folgen.
Fast scheint es mir, als würde ich durch den halben Saal laufen und plötzlich stolpere ich über irgendetwas Großes.
Schockiert öffne ich die Augen.
Das sitzt Mathias.
Er hat sich denselben Platz geschnappt. Allerdings vor mir.
Man sieht, wie er gerade in sich hineinlacht, obwohl er es gut zu verbergen versucht.
„Wir können uns den Platz auch teilen“ Einladend rückt er ein Stück zur Seite.
Beschämt setze ich mich einen halben Meter neben ihm.
Dann ist Ruhe.
Nur die Musik ist ein leises, beruhigendes Hintergrundgeräusch.
Mathias leise, samtene Stimme sagt etwas, aber mir kommt es so vor, als würde ich lediglich auf den schönen Klang hören. Ein Klang, der sich still der Musik anpasst. Ein Klang, der die exakte nicht auffallende Tonhöhe trifft. Das verwundert mich. Kurz.
Dann bin ich wieder da und der Unterricht kann beginnen.

Es ist eine Reihe von Atemtechniken. Oft Körperbeherrschung, wobei man manchmal die kleinsten Muskeln, die man vorher noch gar nie gekannt hat, anspannen und wieder lösen muss. Eigentlich ganz simpel. Wenn man aber nur den betroffenen Muskel anspannen darf und wirklich nur diesen, ist es etwas ganz anderes.
Weiterer Programmpunkt sind einige Gleichgewichtsübungen. Zuerst sind sie kinderleicht und dann fast nicht machbar – zumindest ohne Übung.
Das schwierige daran ist, dass man immer ruhig bleiben muss, auch wenn etwas nicht so funktioniert, wie man es gern hätte.
Und noch andere Dingen sind zum Beispiel: die Energie wahrnehmen und sie durch sich selbst fließen zu lassen – um sich, in sich.
Das ist die größte Herausforderung, immerhin bin ich dabei, etwas nicht sichtbares, nicht hörbares, nicht riechbares, nicht tastbares zu erahnen, erspüren. Das klingt vielleicht jetzt etwas verrückt, aber mit ein bisschen Übung und der richtigen Anleitung geht das.
Zuerst muss ich mich besonders zusammenreißen. Immerhin sitzt ein sehr hübscher junger Mann neben mir und oft unterlaufen mir Fehler der Ablenkung, indem ich vielleicht einfach nur für eine halbe Sekunde die Augen öffne. Dann hat Mathias mir ein Tuch umgebunden. Und das hilft.
Die Zeit vergeht so schnell, als hätte mich jemand in Trance versetzt, aber es ist einfach interessant. Interessant und neu.

Dann ist Mittag. Mein leerer Magen erinnert mich daran, dass ich heute das Frühstück ausfallen lassen habe.
Das belustigt Mathias. „Komm, wir legen ne Mittagspause ein“
„Nichts lieber als das“, kommentiere ich und springe vom Boden auf.
Ich habe gemeint, nach den wenigen Übungen und gleichbleibenden Dingen total steif zu sein, aber so ist es nicht, ich fühle mich gut, lebendig und bin nicht einmal müde.
Nur hungrig. Und Pausen bedürftig.
In Trainingsgewand lassen wir die Schule hinter uns.

„Wo gehen wir essen?“, frage ich unbestimmt.
„Ins Alloon“
Ich muss schlucken.
„Magst du kein Chinesisch?“, wieder einmal stelle ich fest, wie aufmerksam er ist und wie wenig ihm entgeht.
„Ich hab noch nie so was gegessen“, gestehe ich.
„Dann wird’s höchste Zeit“, in dem Moment sind wir bei seinem protzigen Lamborghini.
Und steigen ein.

„Wo hast du das alles gelernt?“, noch immer bewundert über sein Wissen und Tun und Lehren sowohl von gestern, als vor allem auch von heute.
Mathias versteht: „Du wirst lachen…“
„Nein, versprochen. Werde ich nicht“, in meinem Gesicht liegt eine zarte Schicht puren Ernstes.
Plötzlich huscht ein Schatten über sein Gesicht: „Im ernst… das hab ich noch niemanden erzählt“
Resigniert. „Ja, ok gut. Du musst nicht, wenn…“
Mathias unterbricht mich: „Aber ich will, das mein Schüler es weiß, dass er alles weiß“
„Doch im Gegenzug musst du mir etwas versprechen“
Ich nicke. Was er wohl will?
„Solltest du auch einmal einen Schüler haben, der würdig ist, mein Training zu kennen, dann erzähl ihm auch alles, aber verlange ihn dasselbe Versprechen ab. Außer Meister und Schüler darf keiner davon wissen. Denn nicht jeder Mensch, ist gut“
„Das heißt ich bin auserwählt?“, platze ich hinein, „Kann nicht jeder Basketball spielen?!?“
Als ich das ausspreche komme ich mir so bescheuert vor. Jeder, aber wirklich jeder kann Basketball spielen. Auserwählt. Sonst noch was???
„Doch, doch. Jeder kann Basketball spielen“, meine Reaktion belustigt ihn, „Aber das heutige Training ist kein Basketball“ Jetzt wird er wieder ernst: „Es ist eine Lebensphilosophie, fast kann man es als eine Religion bezeichnen“
Jetzt bin ich still und lausche weiter: „Du kannst sie für jede Tätigkeit verwenden. Auch fürs Nichts-tun. Weißt du… egal, ob Basketball, Fußball, Tanz, Musik, Kunst und was es sonst noch gibt. Sie haben alle etwas gemeinsam. Sie sind auf eine gewisse Art ein zu Hause. Etwas das man auf Dauer braucht, was man nicht gleich aufgeben kann, wenn man es einmal ernst gemeint hat. Sie sind eine wichtige Grundlage des Lebens. Schon immer. Denn durch sie werden auch Familien gegründet. Die Fußballmannschaft. Unsere Mannschaft. Der Tanzverein. All das“
Kurz ist Mathias in Gedanken versunken, dann findet er sich wieder: „Ohne Frage, sie sind ein zu Hause. Ich wünschte nur, sie wären bessere Nachbarn“
Noch bevor ich über diese gut gewählten Worte nachdenken kann, geht ein Grinsen über des Trainers Gesicht: „Du hast noch immer nicht gesagt, dass du dein Versprechen haltest“
Zuerst weiß ich nicht wovon er spricht: „Ach so. Ja. Ich schwöre.“
Es kostet mir Überwindung es ernsthaft über meine Lippen zu bringen, weil ich über meine peinlichen Daueraussetzer schon selber lachen muss.
Dann ist es still. Ich bin mir sicher, dass ich nicht die Zeit habe, mir über die neuen Erkenntnisse große Gedanken zu machen, deshalb speichere ich jedes einzelne seiner Worte sorgfältig ab, damit ich irgendwann darauf zurück kommen kann.
Und schon betreten wir das chinesische Restaurant.

Wir bestellen das Buffet: 7 ¤.
„Warum Chinesisch?“, frage ich, als wir in der Warteschlange stehen.
„Keine Ahnung. Chinesisch ist gut. Du musst dich nur trauen“
Ich schlucke, um meine Angst vor dem Unbekannten Essen zu verbergen: „Hm. Und ich hätte jetzt wieder einen bemerkenswerten Vortrag erwartet“
„Tja, denn gibt es natürlich auch. Aber ich denke nicht, dass du das hören willst“, er lächelte zerknirscht.
Damit gebe ich mich zufrieden.

Ich bin fast schon beleidigt, als ich sehe, dass Mathias sogar mit Stäbchen essen kann.
Vorsichtig und zugleich unauffällig schnuppere ich an dem, was ich mir auf ein Teller gehäuft habe.
„Sag bloß, du hast Angst zu kosten“, der Trainer sieht mich missbilligend an.
Ich schürze die Lippen.
„Zuerst groß die bösen Jungs ärgern und dann nicht einmal den Mumm, ein neues Essen auszuprobieren“ Er schüttelt den Kopf. „Los jetzt“
Zu meinem Verdruss muss Mathias mir auch noch mit den Stäbchen helfen.
Es ist eine endlos lange Tortur. Aber ich sehe, wie meine Reaktionen ihn zum Lachen bringen. Mathias ist schon lange kein Trainer mehr, er ist mehr als das. Er ist ein guter Freund – der Einzige.
Irgendwann wurde mir das Stäbchenspiel zu peinlich. Auch wenn es sich gut anfühlt, schicke ich Mathi zurück an seinen Platz.
Es ist falsch. Falsch als Junge, einem anderen Jungen so nahe zu sein.
Schließlich muss ich meine gespielte Männlichkeit aufrechterhalten und das ist im Wesentlichen nicht immer einfach, besonders nicht, wenn der eigentliche Kumpel, locker der Schwarm sein hätte können.
Die Stäbchen werden mir zu blöd und ich esse einfach mit den Fingern.
„Du bist unmöglich“
Ich sage nichts dazu. Das Essen schmeckt tatsächlich und ich bin ohnehin schon am Verhungern gewesen. Lange Zeit sagt niemand was.
Erst nach meiner dritten Portion frage ich: „Und, willst du mir jetzt endlich sagen, wo du das alles gelernt hast?“
„Ja“, Mathias legt die Stäbchen sachte zur Seite, „Früher war alles noch anders“
Er überlegt, vielleicht muss er sich einfach wieder an etwas zurück erinnern.
„Als ich noch ein kleiner, pubertierender Junge war, da war das Leben noch nicht so einfach. Ich war etwas stärker, fast schon richtig dick, unsportlich, ohne jede Muskelmasse. Und… ohne Freunde. Egal was ich auch tat, immer wurde über mich gelacht. Lange ertrug ich das im still Schweigen“
Ich muss mich zusammen reißen, um nicht auf Mathias perfekten Körper zu starren, ich kann mir nicht vorstellen, dass er irgendwann in seinem Leben einmal nicht ganz so vollkommen war, wie jetzt.
„Irgendwann, als ich schon völlig zerstört war und nicht mehr viel von dem kleinen, witzigen Rabauken übrig geblieben war, vertraute ich mich meiner Mutter an. Wahrscheinlich hätte sich jeder andere an seinen Vater gewendet, aber ich hatte Angst vor ihm. Ich wusste nicht, wie er reagieren würde, wenn ich seinen Stolz verletzte“
„Meine Mutter jedoch. Sie war völlig entsetzt darüber, was ich ihr die ganzen Jahre verschwiegen hatte. Die vielen Tränen, die geflossen waren. Sie wollte sofort, dass ich vom Fußballverein, in dem ich als Opfer am Schlimmsten dran war, ausstieg. Als sie jedoch mit meinem Vater darüber sprach, wurde dieser Fuchsteufelswild. Er zwang mich förmlich zum Fußball spielen. Sein Sohn war nicht fett. Sein Sohn war stark. Und er würde spielen“, Mathias schüttelt den Kopf, als ob er die Vergangenheit somit verscheuchen kann, „Auch mein kleiner Bruder wurde gehänselt und dazu gezwungen, dafür gerade zu stehen“
Ich versuche mir gerade vorzustellen, wie sein kleiner Bruder wohl aussieht. Ob er nun genauso schön ist? Welch ein beschämender Gedanke. Aber es ist halt irgendwie ein Mädcheninstinkt. Schlimm eigentlich…
Mathias senkt den Kopf: „Er hat sich ein Jahr später umgebracht“
Meine Augen werden groß. Was?!?
Gerade eben habe ich ihn mir doch noch vorgestellt und jetzt muss ich feststellen, dass es ihn gar nicht mehr gibt???
Auch wenn Mathias meinen Schock spürt, spricht er schnell weiter: „Und Mom wurde Alkoholabhängig. Und sie zog mich mit in ihre Sucht. Sie wollte mir nie etwas Böses. Unter dem Einfluss, unter dem sie stand, fand sie, das Alkohol wohl die beste Lösung für alle Probleme wäre – auch für meine.“
Ich merke, dass Mathias jetzt etwas auslässt, aber ich frage auch nicht nach: „Irgendwann habe ich mich losgerissen. Oder besser gesagt. Jemand hat mich losgerissen. Ich kam in Therapie“ Er sieht mich mit großen, blauen Augen an, sie verschlagen mir die Sprache und unterstreichen seine unfassbare Lebensgeschichte. „Zwei lange Jahre. So viel Zeit brauchte es, um mich wieder einiger Maßen hinzukriegen. Da war ich Fünfzehn.
Während der Therapie wurde ich durch das Internet und eine einfühlsame Krankenschwester auf die Lehre aufmerksam, die mich heute noch begleitet. Die Lehre, die ich dir versuche beizubringen. Ich habe den Namen vergessen, aber ich habe nicht vergessen, wie sie mir geholfen hat, als ich wieder angefangen habe zu trainieren. Allerdings Basketball. Wie sie mir geholfen hat, wieder zu leben“
Mathias Augen scheinen aufzuflackern. Ich weiß, er ist nun wieder hier in der Zukunft angelangt.
„Komm, wir fahren“ Das ist das Stichwort.
Und wir gehen zurück zum Training.

Während der Fahrt denke ich über all die neuen Erkenntnisse nach, wobei ich mich immer wieder in die selbst auferlegten Schranken weisen muss.
Mathias ist nicht nur ein großartiger Trainer, der ein Händchen für etwas andere, gewöhnungsbedürftige, aber wirkende Methoden hat, er wird immer mehr zu einem großen Bruder für mich. Zu dem Bruder, den ich nie hatte.
Seine Geschichte ist unheimlich traurig. Noch immer kann ich mir schwer vorstellen, wie der Typ neben mir jemals nicht schön hätte sein können. Dieser Gedanke bringt mich dazu, dass ich ihn gezielt aufmerksam mustere.
Um unbemerkt zu bleiben, verharre ich nur kurz auf seinem Gesicht.
Wieder fällt mir diese einmalige Form auf. Sie besteht aus eigentlich streng gezogenen Linien, die allerdings so abgerundet sind, dass man es beinahe gar nicht bemerkt. So, als hätte ein Künstler bewusst zuerst lediglich die wohl überlegten Striche mit Lineal gezeichnet – so gerade sind sie – und anschließend tausendmal nachgemalt, um die Rundungen zu schaffen, wie ich sie heute sehen kann.
Mathias hat außerdem auch einen sehr bemerkenswerten Teint: braun gebrannt, aber auch nicht zu dunkel, mit dem gewissen Etwas von einem leichten Aprikosenschimmern – aber vielleicht bilde ich mir letzteres auch nur ein.
Den Anblick der ungewöhnlichen Augen verbiete ich mir. Er würde mich verraten. Lebhaft erinnere ich mich aber an dessen tiefes Blau und natürlich an die feurigen Dolche. An die Klippen…
Sie sind es, die mich immer davon abhalten, den Rest seines Gesichts, seines Körpers zu bewundern.
Dass Augen solche Kraft haben?
Zur Sicherheit übersehe ich sie jetzt einmal. Mein Blick wandert weiter.
Er streift an der glatten Stirn vorbei, die dunklen, aber nicht zu dichten Augenbrauen, die blass violetten Augenlider. Fast habe ich die Kontrolle verloren, weil der Wunsch, noch mal in diese Augen zu sehen, einfach unnatürlich groß ist.
Aber ich kann mich halten. Vorbei an der Nase – die maßgeschneidert ins Gesicht gesetzt wurde – und seitlich den eher kleineren, aufmerksamen Ohren, über die sauber rasierte Haut bis zu meinem nächsten Ziel: die Lippen.
Ein unmöglich nachmischbares, blasses Rot. Sie sind voll, schön geformt – wie eigentlich ziemlich alles -, liegen leicht und sanft aufeinander, sind nicht im Geringsten ausgetrocknet und scheinen weich, wie eine Feder, die ins Kissen einer Königin gestopft wird… Als hätte irgendein Narr brutal diese Lippenbracht einem göttlichen Engel unbarmherzig herausgeschnitten und sie in dieses herrliche Gesicht genäht, ohne jede Spur dieses Gewaltakts zu hinterlassen.
Na gut, vielleicht ein bisschen zu melodramatisch. Verlockend sind sie trotzdem.
Am Kinn fallen mir wieder diese sonderbaren strengen Rundungen auf.
Im Gesamten sehen die einzelnen Details noch besser aus, wahrscheinlich liegt es daran, das alles so gut zusammenpasst, als wäre alles einzeln abgestimmt worden.
Rabenschwarze Haare umrunden das Kunstwerk. Sie sind nicht zu kurz, aber auch nicht übertrieben lang. Ab und zu fallen ein paar Strähnen ins Gesicht. Ein gut gewählter Haarschnitt, meiner Meinung nach, er verleiht noch mal das gewisse Etwas. Und wenn die Sonne durch das halb geöffnete Autofenster scheint, glänzen die von den Strahlen getroffenen Partien.
Nun wird es Zeit den Hals hinunter zu gleiten. Er endet am Ansatz breiter Schultern, die sich unter dem T-Shirt abzeichnen. Auch die starken Muskeln werden teilweiße angedeutet. Die bemerkenswerten Proportionen.
Nicht schlecht…
Und dann wird meinem stillen Staunen ein Ende bereitet.
Nun beginnt das harte Üben.

Dieses Mal werde ich wieder in Trikots gesteckt. Rot-Schwarz.
Mathias findet es auch nicht mehr komisch, wenn ich mich statt bei ihm, in der Kabine in den Männertoiletten umziehe. Vielleicht denkt er ja, ich würde mich für meine wenige Muskelmasse oder für irgendeine Verletzung schämen oder was auch immer, wenigstens nervt er damit nicht.
Jedenfalls geht es zum Aufwärmen wieder darum, mich an den Ball zu gewöhnen, ein paar Dinge werden von gestern wiederholt und der Trainer zeigt mir, wie ich die meditativen Dinge vom Vormittag einbringen kann und wie sie mir helfen.
Zuerst benötige ich allerdings viel Zeit um mich dran zu gewöhnen, am Anfang scheint es wie der doppelte Aufwand, allerdings senkt sich dieser mit jeder Sekunde. Und es wird leichter. Viel leichter als gestern, als würde ich plötzlich nur mehr die halbe Anstrengung und Kraft verbrauchen.
Das liegt vor allem an der Atemtechnik. Wenn man nämlich Sport treibt, vergisst man oft regelmäßig und gleichmäßig Luft zu holen, was in anderen Fällen kein Problem ist, aber man verliert insbesondere bei ausdauernden Dingen viel Energie, wenn man sinnloser Weiße unbewusst die Luft anhält.
Nachdem ich sozusagen richtig Atmen gelernt habe, kommt Lektion Zwei: Dribbeln.
„Der Ball darf nie höher als bis zu den Hüfen schnellen, sonst verlierst du die Kontrolle, halt ihn immer bei dir – etwa wie einen Hund, der versucht sich los zu reißen, um einer Katze nachzujagen…“
Ich muss lachen. Schöner Vergleich.
Während die Stunden vergehen, wird der Turnsaal allerdings immer mehr zu einem großen Hindernispark. Ein Hindernispark auf Zeit.
Langsam dribbeln – schnell dribbeln, joggen – laufen, sogar Springen wird miteingebaut. Und überall sammeln sich Gegenstände, an denen ich mich und den Ball vorbei schaffen muss. Allerdings darf der Ball nie in die Hand genommen werden.
Das Training wird immer anstrengender und steigert sich rasant, die neue Methode kann ich hier leider noch nicht anwenden, dazu muss ich mich auf noch zu vieles konzentrieren.
Und dann ist es auch wieder vorbei.
„Ich geh dann“, ich muss los.
„Bis morgen“
„Jep“ *grins*

Heute komme ich nicht zu spät. Daina ist überrascht. Vielleicht hält sie mich ja wirklich für einen verantwortungslosen Fratz.
„Du schon hier?“
„Immer“, ich schürze meine Lippen.
Frau Chefin kommt zu mir rüber. Sie hat ihre Haare einer Tortur mit dem Lockenstab unterzogen, ich rieche die massenhaften Haarmittel über mehrere Meter weit, vielleicht ist es aber auch das strenge Parfüm. „Ich hab mir was überlegt“, schwätzt sie drauflos.
Schnell werde ich hellhörig.
„Schaff mir heute mehr als Fünfhundert extra an und du hast bis Samstag frei“
Ich lächle, das habe ich nicht erwartet: „Aber sicher“
Selbstzufrieden stellt sich Daina hinter die Theke. Sie kommt sich mit ihrem Lockenschopf noch besser vor, als sonst.
Ich ziehe mich um, bis es wieder soweit ist.

Nissi und Layla begrüßen mich freundlich.
„Hi“, rufe ich überschwänglich, als ich mich in mein nächstes Kostüm quetsche.
In letzter Zeit kommt es mir so vor, als wäre mein Leben ein einziger Maskenball.
Und ich bin diejenige, die, wann immer auch ihr danach ist, ihre Identität wechseln kann. Einmal bin ich ein kleiner, unerfahrener, aber willensstarker Junge, der es krankhaft auf Ärger ausgesehen hat, dann Mathias lügender, männlicher Schüler, zunächst vorzugsweiße eine heiße Bar-Braut, die in Stripklamotten rum läuft, das nervige, immer quengelnde, in der Pubertät stecken gebliebene Einzelkind einer Traum-Mom, die alle Typen – ausgenommen Dad – vögelt, nicht zu vergessen ein lässiges Mädchen mit seiner Lieblingsmaske aus kaltem Stein, ohne jegliche Regeln – um von meinem mangelnden Selbstbewusstsein abzulenken – und zuletzt…, die Hauptsensation:
Das verlorene, kaputte Mädchen.
Das Mädchen, das ich eigentlich bin.
Oder zumindest das, was noch davon übrig ist.

Wenn ich so drüber nachdenke ist das eigentlich ziemlich traurig. Aber mir ist gerade nicht nach weinen zu mute. Auch nicht nach schreien oder irgendeinem Depressionsanfall.
Im Gegenteil. Ich will Party machen. Eine gute Show abliefern. Alles andere verdrängen.
Und das würde ich auch tun. Das werde ich tun.
In Teamgemeinschaft mit meinen Freundinnen sackte ich die fünfhundert und weit mehr darüber hinaus ein. Mir gefällt es die Leute zu unterhalten. Mir taugt es zu tanzen und mit den anderen zu lachen. Die Sorgen vergessen. Immerhin bin ich bis zum 24. Dezember nicht so streng genommen noch ein Kind. Solange ich Siebzehn bin, ist alles gut. Und danach, wenn ich wieder nach Berlin gehe, ich meinen Dad verzeihe, wird es noch besser.
Die Zuversicht gefällt mir und gibt meiner Stimmung noch einen drauf.
Ich lasse mir noch ein paar letzte Drinks auf der Zunge zergehen und dann verschwinde ich. Mein Lohn in der großen, blauen Brieftasche.
Für Modebewusste will ich noch kurz mein Outfit beschreiben: Kurzer, eng anliegender schwarzer Rock, Nietengürtel, krasse Leggins, enges Top, in dem man nur schwer Atmen kann, lange silberne Ohrringe, auffallende, protzige Kette, geglättete Haare, ausreichend Mascara,… diesmal anscheinend eher auf EMO-Style.
Ich habe nichts daran auszusetzen. Die Abwechslung gefällt mir.
Zu der Polizei Verdruss bin ich mit dem Moped da. Zuerst weiß ich nicht recht, aber dann rege ich mich über meine Zimperlichkeit auf und fahr los.
Die Straßen sind leer, nur manchmal zwingen mich eingebildete, aber auch wirklich vorhandene Schatten mein Tempo zu drosseln.
Dennoch fahre ich wie eine Irre. Es macht richtig Spaß. Muss ja keiner wissen, dass ich nicht nüchtern bin. Auf meiner Motorcross steuern meine Gefühle Höhenflüge an. Ich freue mich.

Die Geschwindigkeit erregt mich, meine Sinne. Der kühle Nachtwind hält mich wach.
Das Gas schnellt höher. Ohne Drossel liefen die Dinger super.
Und noch schneller.
Mittlerweile sind mir die Schatten egal.
Meine Lippen sind leicht geöffnet, ein Bild der Sehnsucht. Sehnsucht nach etwas, das die Leere nimmt. Die Leere in mir. Der Druck verkleinert den Hohlraum. Aber ich will mehr.
Das Loch muss kleiner werden, kleiner!
Und ich muss mehr beschleunigen.
Vorfreude überkommt mich. Ich lecke über meine Unterlippe – sie zittert.
Irgendetwas baut sich in mir auf. Etwas will raus. Ich weiß nicht was.
Verzweifelt drehe ich am Gas. 90 Kilometer. Ich muss es rauslassen!
Höchstgeschwindigkeit. Es ist zu wenig.
Aber ich brauch doch noch…!!!

In meinem Jähzorn über die Kilometeranzeige übersehe ich etwas Wichtiges.
Das Loch wird größer und zerreißt mich beinahe und während ich versuche das dumpfe, schreckliche Gefühl loszuwerden und schalte, winkt mich ein Polizist an die Seite.
Fassungslos bremse ich unter Quietschen herunter.
Das Loch brennt. Was für eine Scheiße!
Und die Männer warten nur so darauf, dass ich zusammenbreche und in einzelne Stücke zerfalle, damit sie endlich Feierabend machen können.
Ich befürchte, ihre Hoffnungen werden sich erfüllen…

Ich schlucke. Und selbst das Schlucken tut weh. Und setzte den Helm ab.
Meine Augen blinzeln, um das Gesicht des Polizisten besser zu sehen.
„Sie fahren zu schnell“, eine Feststellung.
„Mit meinem Tacho stimmt was nicht“, sage ich ruhig.
„Wie ist es möglich, dass ihre Motorcross mehr als Siebzig fahren kann?“
Das ist nicht erlaubt.
„Mann, hei“, ich setze eine entrüstete Miene auf, „Die Typen aus der Stadt haben da vorher grad was rausgenommen…“ Eine Anklage.
„Welche Typen?“
„Was weiß ich, wer die sind?“, jetzt bin ich empört, „Und ich dachte, das hier ist eine sichere Gegend“
„Doch, doch ist sie“, beschwichtigte er mich.
„Hm, ich muss nach Hause, ich bin spät dran“, lenke ich ein.
„Warte. Führerscheinkontrolle“, sagt plötzlich der Kollege.
„Geklaut“, ich sehe den einen herausfordernd an, „samt meiner Tasche“
„Das müssen sie melden“
„Werde ich“, verspreche ich, innerlich schon komplett genervt.
„Ich fahr jetzt. Ich kriege Ärger“
Ich sehe wie einer anbeißt.
Doch der Zweite lässt nicht locker. „Alkoholprobe“
„Klar“, gifte ich schon etwas.
Man zwingt mich tatsächlich in das Röhrchen mit den vielen Bakterien zu blasen.
Ich habe nicht viel Promille. Leider trotzdem zu viel.
„Fräulein, wir werden dich nach Hause bringen müssen“, ernste Mienen, „Wo wohnst du?“
„Bei Helene, Hofstraße 7“ Fluch meines Lebens.

Mom staunt nicht schlecht, als ich nicht alleine, auch nicht in Begleitung eines Fremden, sondern mit der Polizei im Schlepptau ankomme.
„René“, und schon wieder dieser scheußliche Was-hast-du-schon-wieder-angestellt?-Ton.
„Abend Helene“, das ist der Verräter.
„Georg“ O Gott. Die kennen sich. Meine Mom hatte mal was mit einem ehrlichen, scheiß Polizisten.
„Was hat sie gemacht?“, fragt sie unschuldig.
„Sie hat ein paar Promille zu viel“
Mom sieht mich nicht an. „Und jetzt?“
„Eigentlich müssen wir ihren Führerschein beschlagnahmen… aber den hat jemand gestohlen“
Ich überdrehe die Augen. Er hat es mir tatsächlich abgekauft.
„Gestohlen?“, Mom verkraftet gar nichts.
„Wir werden derweil einfach die Nummer-Tafel mitnehmen. Das wird genügen. Dann werden wir entscheiden, wie lange deine Tochter ohne Führerschein klarkommen muss“
Sie duzen sich. Na super.
„Kann man denn da gar nichts mehr machen?“, Mom bettelte fast mit ihren Hundeaugen.
„Naja, wir könnten darüber hinwegsehen, wenn du ihr eine Strafe erlegst“
„Gut, das machen wir.“, Mom wirkt übertrieben freundlich und verzaubert den Herrn Polizisten.
„Dann wünsche ich eine Gute Nacht“, die Herren verlassen unsere Einfahrt.
Mom sieht mich an. Gar nicht böse. Eher erleichtert.
„Pass besser auf dich auf, Liebes“
Sie hat wirklich Angst um ihre missratene Tochter.

7. Juli 2011 4

In den letzten Tagen bin ich mir nie sicher gewesen. Einerseits kommt es mir vor, als hätte jemand meine komplette Traumwelt ausgelöscht, aber es kann auch sein, dass ich neuerdings gegen Albträume immun bin. Tja.
Das Schlimme daran, das immer mehr zu mir durchdringt, ist jedoch, dass ich wirklich nicht weiß ob die traumlose Nacht wirklich traumlos ist. Ein verwirrender Wortwechsel, aber es ist so.
Und es wird immer deutlicher.
Wenn ich traumlos schlafe, bin ich am nächsten Tag für gewöhnlich ausgeruht und dankbar, aber seit ich hier bin, bin ich völlig übermüdet. Und das liegt nicht an meinen langen Tagen!
Außerdem, wenn man wirklich nichts träumt, dann ist da auch nichts, vielleicht ein schwarzer Hintergrund im Halbschlaf, doch mehr nicht. Bei mir ist das anders.
Da ist schon dieser oft Nichts- oder Schwarzhintergrund, das Problem ist nur, dass es um diese Farbe herum einen Rahmen gibt. Das habe ich zumindest zuerst gedacht.
Und da bin ich falsch gelegen, denn wenn ich mir die Bilder so ansehe, erkenne ich, dass das Weiß des Rahmens viel zu dick ist. Es lässt nur einen kleinen Kreis des Nichts zu.
Aufgewühlt beschleunige ich mein Tempo die Stufen runter in die Küche.
Mitten auf der Treppe halte ich Inne und muss schlucken, als hätte mir jemand aus heiterem Himmel einen Frosch in den Hals eingepflanzt.
Es ist doch ein Traum, der mich verfolgt. Mittlerweile halte ich die Luft an.
Das Loch.

„René?“, meine Mom. Langsam wundere ich mich, wo Tom den ganzen Tag steckt. Hat mein angehender neuer „Dad“ denn so viel Arbeit als neuer Wahlkandidat für den Titel als Landeshauptmann oder hat er mich schon so satt, dass er mir von vornherein aus dem Weg geht.
Scheiß Politiker.
Hannes ist ein besserer Dad gewesen, vielleicht etwas nachlässig und auch kein Vorbild, aber er weiß definitiv, wie man Spaß haben kann.
Und weil wir gerade bei den Namen sind. Mom heißt Helene. (um das mal zu vervollständigen)
„Wer hat Schokocornflakes in den Vorratsraum gestellt?“, sie klingt entrüstet und natürlich weiß sie, dass ich es gewesen bin.
„Irgendwas Ordentliches brauche ich doch zum Frühstück. Oder willst du, dass ich schon um Acht mit einer Magenverstimmung aus dem Haus gehe?“ Ich ziehe meine Augenbrauen hoch.
„Nein natürlich nicht“, Helene sieht zur Seite und dann wieder in mein Gesicht, „Du weißt, dass ich immer auf Diät bin, das…“, sie zeigt auf die große Cornflakes Schachtel, „ist nicht gerade hilfreich“
Meine gute alte Mom ist noch immer auf Diät. Hm, gutes Aussehen hat halt seinen Preis und genau diesen, bin ich nicht bereit zu zahlen.
„Schön. Danke, dass du sie gleich für mich geholt hast“, ich nehme sie ihr aus der Hand und verschwinde in der Küche, um mir einen großen Löffel zu holen.
„Bewahre sie wenigstens in deinem Zimmer auf“
Dann setzten wir uns beide an den Tisch. Ich öffne die Schachtel, die ich in einer meiner wenigen Freiminuten besorgt habe und löffle direkt aus der Packung. Mom soll mittlerweile schon bemerkt haben, dass das mit der Milchallergie wirklich nur ein Fake gewesen ist, aber ich verzichte trotzdem darauf. Außerdem weiß ich, dass es Mom stört, wenn ich diese Kalorienbomben vor ihr so gierig aus der Verpackung in meinen Magen schleudere.
Früher, als Dad mich noch geliebt hat, haben wir immer zusammen rohe Cornflakes um die Wette gefuttert, immer aus der Packung. Das Vertraute ist schön, aber leider auch traurig, weil man sich erinnert.

„Und wie geht es dir so?“, Mom unterbricht die Stille, „schon Freunde gefunden?“
Warum so einfache Themen? Das verwirrt mich. Bei der zweiten Frage muss ich augenblicklich an Mathias denken, also versuche ich schnellst möglich die erste zu beantworten.
„Naja, wie’s einem Weißenkind halt so geht“, wieder sprühe ich Gift.
Ich sehe einen Funken des Schmerzes in Helenes braunen Augen. Denselben Augen, wie sie in meinem Gesicht kleben. Nur etwas dunkler, wie Zartbitterschokolade und natürlich um vieles schöner. Die aufgeklebten Wimpern verleihen den großen Augen etwas Einzigartiges.
Vielleicht hatte ich ja ähnliche Regenbogenhaut, aber meine Augen sind viel kleiner, oft schon richtige Schlitze.
Mom reißt mich aus dem deprimierenden Vergleichen: „Du vermisst deinen Dad“
„Nein“, sage ich schroff. Hannes hat mich verraten.
„Dann vermisst du deine Freunde“
Als der Gedanke an Silvia – meine Ex Beste – kommt, muss ich fast heulen.
„Nein, ich habe keine“, so überspiele ich das Gefühlsdurcheinander.
Silvia hat mich mit meinem eigenen Freund betrogen. Sie hätte es mir nicht gesagt, wenn ich sie nicht erwischt hätte – kurz bevor ich Abschied nehmen wollte. Und dann wäre ich sowieso für ein halbes Jahr weggewesen…
„Es ist wegen Dave, oder?“
Das ist der Moment an dem ich aufstehe und in den strömenden Regen hinausstürme.
Dank Mom‘s Flirttechnik wartet meine Motorcross auf mich.
Und in Folge natürlich auch Mathias.
Aber das Loch ist da, größer als zuvor. Und es bringt mich zum Schluchzen.

Erst als ich am Parkplatz anhalte – natürlich schon in Männerkleidung –, habe ich mich so halbwegs unter Kontrolle. Am liebsten würde ich weiterschluchzen, aber ich muss mich zusammenreißen. Ich bin jetzt ein Junge und Jungs oder die, die es gern wären, weinen nicht.
Ich setze den etwas zu großen Helm ab. Wische das Wasser aus meinem Gesicht und bete, dass man die Beweise nicht mehr sieht. Auch wenn ich früh dran bin, muss ich nicht lange auf den Trainer warten.
Und schon geht es los. Kurzes aufwärmen. Und dann folgt die letzte Lektion: Körbe werfen.
Für mich ist das so ziemlich das Schwierigste. Fußball ist einfacher.
Da hast du dieses große Tor vor dir und schießt den Ball in irgendeine, gerade für den Tormann, unerreichbare Ecke. Hier ist das anders.
Du musst in diesen winzigen Korb zielen und wenn du Pech hast bäumt sich vor dir ein Riese auf.
Doch mit der Zeit lerne ich sogar das.
Mathias zeigt mir, wie ich werfen muss, von welchen Punkten aus es am Anfang am besten geht und wie ich den Riesen austricksen kann.
Heute fällt mir das ganze dennoch verdammt schwer. Ob es an dem Loch liegt?
Im Grunde geht es mir aber schon besser, aber vielleicht ist es einfach nur die Erschöpfung.
Ich beiße mich durch. Dennoch scheint Mathias meinen zu großen Kraftaufwand zu bemerken.
„Was ist los?“, er schaut mir in die Augen. Seine sind so viel schöner als meine, durchzuckt es mich und ich muss den Blick abwenden, bevor man mir das ansieht.
„Nur schlecht geschlafen“, entgegne ich.
„Hm.“, Mathias überlegt, „Vielleicht solltest du heim gehen und dich ausruhen, die Augenringe sehen gar nicht gut aus“ Mist, ich habe vergessen sie zu überschminken. Und er wurde gleich oberflächlich, klar! Aber dann wird mir bewusst, dass ich noch viel, viel mehr aufs Aussehen Wert lege, als er, deshalb bin ich auch nie so richtig zufrieden mit mir. Und ich entschuldige mich in Gedanken für meine Voreiligen Schlüsse. Er hat es aus Sorge so gesagt.
„Und gegen Abend stelle ich dich meiner Cru vor?“, es klingt wie eine Einladung.
Als ich nichts darauf sage, fügt er noch etwas hinzu: „Natürlich kannst du um Acht wieder zur Arbeit“ Mathi lächelt.
„Geht klar“, sage ich mit einem sicheren Lächeln auf den Lippen. Zuerst überlege ich noch, ob ich ihm sagen soll, dass ich heute sowieso nicht arbeiten muss, aber dann entscheide ich anders. Ich brauche mal wieder ein bisschen Zeit für mich.
Mathias winkt mir zum Abschied. Der Regen hat sich in schwüle, erdrückende Luft verwandelt.
Ich winke zurück.

Der Abend kommt schneller, als geplant.
Ich bin nur ein Stückchen Richtung Haus gefahren und habe mich auf einer verlassenen Parkbank unter diesen großen, grünen Apfelbaum verfrachtet.
Mein Kopf ist auf meiner wenig gefüllten Sporttasche gelegen und dann bin ich eingeschlafen.
Das Loch ist zwar da, aber es ist nicht real genug, ich bin zu müde, um über dessen Bedeutung oder Existenz nachzudenken. Und mein Schlaf ist tief.
Erst als ein alter brummender Traktor an mir vorüber fährt und eine Pferdekutsche an mir vorüberzieht wache ich auf. Es ist spät.
Eine Kontrolle auf der Handy Uhr bestätigt mir das.
Wieder bin ich hellwach und dieses Mal vielleicht sogar fast ausgeschlafen.
Auf dem Weg zur Turnhalle bestelle ich mir irgendwo noch einen Kebab und schlinge ihn hinunter, dann ist mir schlecht. Aber um Punkt Sechs warte ich am vereinbarten Ort.
Mathias hält mit dem Auto vor meiner Nase: „Steig ein“
Und dann fahren wir.

Ich lande irgendwo auf einer versteckten Anhöhe. Einer Anhöhe nicht sehr weit entfernt von meinem Wohnort. Das Ganze nennt sich Eidenberg.
Es gibt eine längere Schottereinfahrt, die schon lange nicht mehr erneuert wurde und sie führt zu einem alten Holzhaus. Von weitem kann man meinen es ist eine Almhütte, vielleicht sogar eine kleine Pension, wenn sie etwas mehr gepflegt wäre.
Das Haus hat einen schmalen Balkon und eine gemütliche Terrasse. Die Fensterläden sind schon halb morsch und in derselben Mahagoni braunen Farbe, wie die Türen. Das Holz, das die Wand bildet, ist noch dunkler.
Hier und da sind ein paar Blumentöpfe, die allerdings mehr oder weniger tote Pflanzen wahren.
Ein paar Meter unter der Hütte sind noch eine baufällige Garage und eine Scheune.
Alle Gebäude sind von hohen Eichen umgeben. Eine schöne Idylle.
Und ich frage mich, warum wir hier sind.
Mathias parkt am Rand einer ungepflegten, aber natürlichen Wiese.
„Ungewohnt, oder?“
„Kann man so sagen“, antworte ich und weiß nicht recht, was ich davon halten soll. Das hier ist was ganz anderes als Berlin. Das hier ist grün.
Ich steige aus und stelle zu meiner Überraschung fest, dass es mir irgendwie gefällt.
„Und wo sind deine Leute?“
„Komm mit“, er geht einen Hang hinauf. Mit Erleichterung stelle ich fest, dass man Steine in den Boden gedrückt hat, um eine Treppe zu formen. So bleiben mir keine Sorgen über eventuelle Peinlichkeiten.
Auch hier hat man mit Mühe versucht einen kleinen Weg zu errichten, aber die Pflanzen kämpfen sich in so einer Gegend durch. Überall ragen Grashalme heraus und Unkraut kommt hervor.
„Wem gehört das alles?“
„Uns“, Mathias spricht von seiner Mannschaft.
Und da erblicke ich sie.

Die Jungs, eigentlich die Männer, trainieren bereits auf einem dafür angelegten Platz.
Dieser ist nicht voller Pflanzen, sie haben ihn gut erhalten.
Sogar hohe Zäune sind drum herum aufgestellt, damit niemand den Ball zu weit wegwerfen kann.
Sie sind laut, wenn sie spielen. Aber das ist vertraut.
Doch je näher wie kommen, desto mehr werde ich mir meiner Nervosität bewusst.
Ich bin der Neue, der in ein fremdes Gebiet reinpfuscht – gar nicht gut.
Ob ich mit ihnen mithalten kann?
Allein aus der Ferne sehen die Kerle einschüchternd aus. Nein, ich habe keine Chance.
Am liebsten wäre ich wieder umgedreht.
Wieder merkt Mathias meine Stimmung und muntert mich prompt auf: „Du packst das“
Ich nicke. Nein.

„Hey, Mathi, alles klar“, ruft der dunkle Typ mit den längeren Haaren, der gleich zu uns rüber sprintet, Joel, wie ich später erfahre. Sein Grinsen verzerrt sein Gesicht zu einer strahlenden Grimasse.
Auch Mathi lächelt: „Bis du da warst…“
Freundschaftlicher Sarkasmus. Er boxt Joel leicht in die rechte Oberkörperhälfte, Joel schlägt zurück.
Sie verstehen sich sehr gut. Fast schon wie Brüder.
„Lass gut sein“, Mathias lacht.
„Hei“, das ist der blasse, mittelgroße, aber mit seinem kupfernen Schopf, ziemlich gut aussehende Marven. Das er super aussieht, weiß er und zeigt es offensichtlich. Auch er wird begrüßt.
Dann wendet sich Joel wieder an Mathi: „Ich hoffe der Kleine hat’s wirklich drauf“ Jetzt ist sein Ton ernst, fast schon tödlich. Und er durchbohrt mich mit einem wissenden Blick.
„Vertrau mir einfach“, sagt Mathias sicher. Und schiebt uns alle vorwärts.
Ich staune als ihm alle Glauben schenken. Ob er so was wie der Boss ist?
„Na was is‘? Lust auf ein Spielchen?“, sagt er herausfordernd.
„Deshalb sind wir hier“, sagt Marven, er sieht sich schon in der Siegermannschaft und lässt unnötiger Weiße seine zahlreichen Muskeln spielen.
Wir gehen auf das Feld. Joel und Marven stellen bereits Team auf, während Mathias mir noch ein letztes Mal die Regeln erklärt. Dann gibt er mir noch Ratschläge, was seine Kumpels betrifft.
„Marven ist der schnellste, pass beim Werfen auf… und Joel ist der Mann mit den Körben“, flüstert er mir zu. Dann gibt es noch den kleinen Sam, der nur ein paar Zentimeter größer als ich ist, der immer wieder Täuschung nutzt. Auch Pete, mit der olivfarbenen Haut, hat eine eigene Technik. Jess scheint so ähnlich wie Marven, nur etwas zurückhaltender. Und der große, schlaksig wirkende Franzl ist meistens nur der Trainingsschiedsrichter, der allerdings nicht zu unterschätzen ist.
Mathi will heute Franzl statt ihm ins Spiel schicken und Schiedsrichter sein, um die letzten Fehler auszubessern – auch bei mir. Die anderen haben sich in dreier Teams zusammengestellt.
Allerdings verdrücke ich mich zu allererst auf die Bank, um das Spiel einmal mitanzusehen. So würde es im Aktiven dann einfacher werden.
Jede Minute werde ich nervöser, wie soll ich jemals gegen Sam oder Pete und all die anderen eine Chance haben? Und würde mein Team überhaupt zu mir passen?
Und zu welchem Team gehöre ich? Wann werde ich eingewechselt?
Eine halbe Ewigkeit vergeht.
„Gut. Pete kommt raus“, sagt Mathi mit kräftigem Ton. Ich beginne mich zu fragen, was er wohl falsch gemacht hat, aber da bemerke ich erst, dass er den Typ raus hat, weil bei ihm kein Training, keine Verbesserung notwendig ist. O Gott.
Nun bin ich dran. Ich spiele in Marven’s Team.
Ich werde das nicht überleben.

Es ist schwer. Sehr schwer.
Zum einen ist da das Spiel, dessen Regeln ich noch immer nicht vollständig weiß. Und zum anderen sind da diese Muskelpakete, die mich nicht recht einbeziehen wollen.
Und deshalb beschließe ich meinen Instinkt zu folgen.
Ich versuche mein Glück bei der gegnerischen Mannschaft und luchse Jess den Ball ab.
Allerdings bin ich so dumm und gebe ihn ab, um Teamgeist zu zeigen und werde schon wieder ignoriert. Und das passiert mir – was weiß ich – zehn, fünfzehn, ZWANZIG Mal.
Letztendlich drehe ich durch und starte ein Ein-Mann-Manöver.
Ziemlich blöd. Nicht weil ich den Ball verloren habe. Nicht weil ich nicht in den Korb getroffen habe – mein Korb ist sogar erste Sahne, von einem riskanten Standpunkt aus. Sondern weil mein linker Fuß kurz danach umgeknickt ist.
Mathi pfeift ab. Alle sind erschrocken, naja, außer Sam, an dem ich sonst immer meinen Ball verschenkt habe, guckt missbilligend. Was hätte ich denn tun sollen? Ich bin halt auch Stürmer. Und ich verdiene auch Respekt.
Und wenn ich das Spiel morgen für mich nicht gefährdet hätte, dann hätte ich ihn auch.
Dumm gelaufen.
Bedrückt humple ich auf die Seite.
Mathi befielt den anderen weiter zu spielen – ohne mich. Doch ich weiß, dass sie uns beobachten, als Mathias die Augen verdreht und sich meinem Köchel zuwendet.
„Kannst du nicht aufpassen?“, es ist ein Vorwurf und es kommt ziemlich streng aus seinem Mund.
Ich will was zurücksagen, aber ein Schmerz durchzuckt den angeschlagenen Teil meines Fußes.
„Du bist unsere einzige Hoffnung“, redet Mathi weiter.
„Das versteh ich nicht“, ich mache eine Pause und meine dann deprimiert, „ich bin doch keine Hoffnung, ich bin eine Plage“
Mathi lacht laut: „Tja, ich schätze, das bist du wohl auch“
Dann wird er fachmännisch: „Wir haben Glück, das Gelenkt ist rausgesprungen, wir müssen es nur wieder einrenken, dann kannst du morgen wieder problemlos spielen“
„Wir haben Glück?“, sage ich schärfer als beabsichtigt. Ein rausgesprungenes Gelenk, das eingerenkt werden muss ist doch kein Glück! Was ist nur los mit ihm.
„Es hätte weitaus schlimmer kommen können, und wenn wir es erst wieder richtig drinnen haben, hast du keine Schmerzen mehr. Es braucht keine Zeit zum verheilen“
Dann greift er, meiner Meinung nach etwas zu wild, nach meinem Bein.
„Beiß die Zähne zusammen, das kann jetzt etwas weh tun“, warnt er mich. Na super!
„Ich hoffe du weißt, was du…“, das „tust“ bleibt mir im Hals stecken, stattdessen entringt sich mir ein lauter Schrei. Ich spüre, wie sich alle Blicke auf mich richten.
Hallo?!? Ich bin ein Mädchen! Ich darf das.
Der Schmerz durchzuckt meinen Fuß, hinauf bis zum Unterschenkel. Er ist unerträglich, aber kurz. Dann ist es vorbei.
„Wenn ich gewusst hätte, dass du so schreist, hätte ich dir den Mund zugebunden“, er lacht.
Ich schmolle ihn an und bewege meinen Fuß. Es tut nicht mehr weh. Er hat recht gehabt.
„Beim nächsten Mal“, er schmunzelt. Schockiert wiederhole ich die Worte: Beim nächsten Mal.
Schön. Dann stehe ich ohne Probleme auf.

„Erklärst du mir das Mal mit der Hoffnung und der Plage?“, sage ich, als ich für eine kurze Pause das Spiel verfolge, ohne mir den Knöchel dabei zu brechen.
„Du bist neu, und wenn du erst einmal erfahrener bist, wirst du gut sein, vielleicht sogar unschlagbar“, Mathi grinst mich an, „zumindest, wenn du aufhörst, dich selber auszuschalten“
Ich überdrehe genervt die Augen und er spricht weiter: „Die anderen merken das. Sie strengen sich umso mehr an, um dich zu testen und später dann Mal, um mit dir mitzuhalten. Du bist ihre Motivation“, das schnippische Grinsen ist noch immer da. Es steht ihm sehr gut, muss ich zugeben, aber dass es auf meine Kosten ist, mindert das Ganze.
Jetzt wende ich mich wieder dem Zusehen zu. Mit voller Konzentration.
Der Spielstand wechselt ständig, die Teams sind gleich auf, doch als schließlich auch Mathias mitkämpft, gewinnt seine Mannschaft.
Gegen halb Acht wird vorgefeiert. Und ich muss feststellen, dass die Kerle gar nicht so übel sind.
Und dann verschwinde ich unauffällig, die anderen im Glauben, ich müsse arbeiten.

Den Abend verbringe ich als Mädchen. Weil ich aber dennoch nicht nach Hause will, beschließe ich in den Schulturnsaal zu gehen. Mathias eigener Schlüssel, denn er sich hat nachmachen lassen, um auch in den Ferien den großen Saal zu benützen, wird wie gewöhnlich unter dem kleinen Dachvorsprung stecken.
Zu meiner Enttäuschung kann ich ihn nicht finden. Wo ist er bloß? Ausgerechnet heute.
Bedrückt will ich schon umkehren, da sehe ich das gekippte Fenster in einem halben Meter Höhe.
Da lässt sich doch was machen…
Ich sage nicht wie – das ist mein Geheimnis – aber ich bin drin. *smile*
Dann schalte ich die veraltete, aber dennoch ziemlich gute, teure Stereoanlage an. Ich schiebe meine selbst gebrannte CD rein.
Damals, bei Dad’s Haus, habe ich oft mit meinen Lieblingssongs rumgespielt und ewig lange Ree Mixes entworfen. Sie sind nicht perfekt, aber einfach klasse zu tanzen.
Und ich lege los.

Ich lasse mich fallen, in den Klängen der vertrauten Musik. Von Klassik über moderne Diskoparty bis zu den richtig traurigen Songs, sogar zur Volksmusik – es ist alles dabei.
Endlich kann ich wieder einmal so richtig loslassen, auch ohne Publikum. So ist es um einiges reizvoller. Es ist wie beim Moped Fahren mit Rausch.
Zuerst spürt man das Loch und dann zerdrückt man es, bis es so klein ist, wie ein Mückenstich.
Durch die Bewegungen fließt ein Glückshormon durch meine Adern und treibt mich an.
Immer weiter. Bis zur Erschöpfung und weit darüber hinaus.
Das ist für mich Heimat. Da fühle ich mich geborgen. Wenn ich mich auspowere und dennoch gleichzeitig Kraft tanke. Wenn alles, wirklich alles was ich gebe, hundertfach zurückkommt und sich ins Unendliche vermehrt. Wenn ich ungestört bin. Wenn ich, ich bin.
Wenn dieses Mädchen alle Masken fallen lässt und sich wie ein Kleinkind am Jahrmarkt freut.
Ich erinnere mich zurück, an damals, wo meine Freundinnen lieber Zuckerwatte aßen, als auf die Wagen zu steigen, wo wir uns im Kinderautodrom gegenseitig mit der schwarzen Bodenfarbe beschmiert haben, anstatt mit Mascara und Make-Up, wo wir gelacht haben und wo es uns egal war, wer uns dabei zusieht. Damals als ich noch Freundinnen hatte.
Und jetzt bin ich allein. Und ich freue mich drüber.
Die Musik nimmt alles mit sich. Hüllt mich aus. Kommt zurück und stopft mich voll.
Sie kontrolliert mich, die kleinsten meiner Muskeln. So, wie sie sich anspannen und wieder lösen, so wie alles zusammen spielt.
Ja, sie hat mich fest im eisernen Griff oder eher in Gummihandschellen. Sie lässt mich hüpfen, dreht mich, funktioniert wie ein unsichtbarer Tanzpartner der Sonderklasse.
Und dieser hebt mich hoch, dreht mich, sieht mir tief in die Augen.
Lässt mich los, und begibt sich zurück. Ergreift meine schwache Hand, nimmt den Körper mit sich, der ergeben geführt wird. Wird immer schneller, ausgefallener.
Aber er hält mich. Und das Loch schrumpft.
Immer kleiner. Und wir steuern Höchstgeschwindigkeit an.
Geöffnete Lippen. Offenes braunes Haar, das sich in der Bewegung zerzaust, an den Schläfen etwas verklebt. Weit aufgerissene Augen, die die Außenwelt dennoch nicht wahrnehmen.
Ein trainierter Körper, mit zurückhaltenden weiblichen Rundungen, in kurzer Short, aufgebundenen Riesen T-Shirt und Sportschuhen. Die erhitzte Haut. Der Rhythmus. Der Takt.
Und mit einem Schlag ist alles zerstört.

Nicht, weil die CD steckt.
Auch nicht, weil ich hyperventiliere.
Da ist ein unbemerkter Zuschauer.
Geschockt streiche ich das verfilzte Haar zurück. Kann es denn sein, dass es in dieser winzigen Stadt nicht möglich ist, ungestört das Loch in sich zu schließen?!?
„Sorry, Kleine…“, Mathias Satz bleibt unvollendet in der Luft hängen und ich hasse ihn für diese Worte. Die Tatsache, dass mich mein Kumpel gestört hat und dessen missbilligender Ton, macht alles noch schlimmer. Das ist nicht der Mathia der letzten Tage.
„Sorry, was.“, fauche ich ihn an, „Gib‘s zu Großer. Du verfolgst mich.“
„Hm“, der bescheuerte Mathias schnaubt verächtlich, „Ich verfolge niemanden.“ Ein leuchten geht über sein Gesicht: „Aber deine Tanzeinlage war dennoch ziemlich nett“ Sarkasmus.
„Schon klar, Basketballfreak“, rutscht es mir heraus.
Er riecht die Herausforderung: „Ich verliere nie“ Eingebildeter geht es nicht.
Mathi wirft mir den Ball zu, er ist ursprünglich zum Trainieren hergekommen. Und ich habe ihm das perfekte Spiel geliefert. „Ladys First“ Jetzt habe ich den Salat.
Ich fange den Basketball auf.

Meine Augen sind zusammengekniffen während ich mich kurz an Mathias Spieltechnik erinnere. Er ist schwer einzuschätzen. Ob er mir ein bisschen Vorsprung gibt?
Natürlich, prompt lande ich zwei Treffer. Er unterschätzt mich als Mädchen.
„Hast du nicht mehr drauf?“, stachle ich ihn an, um endlich ein richtiges Spiel zu schaffen.
Er lacht spöttisch: „Ich fang grad erst an“ Dann überrascht er mich und trifft in den Korb.
Ich muss mich zusammenreisen, um nicht zu schmollen und dann geht es endlich richtig los.
Zu meiner Genugtuung merke ich, dass Mathi sich wirklich anstrengen muss. Einen Korb erlangt er noch, dann hole ich mit drei weiteren wieder auf.
Wir beide schwitzen wie Schweine, doch es ist eine gute Übung für morgen und außerdem muss Mathias sowieso Mal lernen, dass Mädchen gleichrangig den Kerlen sind. Ich bin es leid, dass er mich als Mädchen immer so mies behandelt und ich würde ihm heute eine Lektion erteilen.
Da bin ich mir sicher und ich lege mich noch mehr ins Zeug.
Bis zum Punkt Achtzehn liege ich immer um zwei Körbe vorne, aber dann schwächelt meine Energie. Ich habe mein Konditionstraining etwas vernachlässigt.
Kurz darauf steht es 22 – 22. Gleichstand.
Beide atmen heftig. Wir sind ebenbürtige Gegner.
Ich kann durchaus gewinnen und ich hätte gewonnen, wenn Mathi mir nicht ein gewisses Manöver vorenthalten hätte. Darauf bin ich nicht vorbereitet.
Geknickt muss ich mir meine Niederlage eingestehen.
„Ach, mach dir nichts draus“, Mathias klopft mir auf die Schulter, ich weiche enttäuscht zurück.
Es klingt nicht aufmunternd, „Du hast gut gespielt“ In den Worten liegt Schalk. Aber in seinen Augen sehe ich, dass es ihn wirklich wundert, dass ich doch ein wahrer Gegner bin.
Das reicht mir schon und ich grinse ihn ins Gesicht: „Ich weiß“ Jetzt klinge ich eingebildet und das ist mir nur recht, soll er davon halten was er will.
Mathias gefällt meine gute Laune und meine Selbstgefälligkeit gar nicht, er hat sich verraten.
„Bye“, sage ich fast schon musikalisch und verschwinde aus der Schule – nun durch die Türe.

Mom wundert sich sichtlich, mich schon so früh – oke, es ist halb Elf – zu Hause anzutreffen.
Aber ich beachte sie nicht. Wahrscheinlich würde sie morgen sowieso wieder versuchen, mit mir vernünftig und wie Erwachsene zu kommunizieren.
Ich verschwinde in die Dusche und wasche den Tag von mir. Dann beschließe ich rasch ins Bett zu gehen. Morgen ist ein großes Ding: Das Halbfinale – mein erstes Spiel.

8. Juli 2012 5

Der Traum mit dem Loch ist wieder schlimmer geworden.
Ich liege schon lange wach. Mir scheint, als hätte ich sogar Tom aus der Einfahrt fahren hören und der ergreift immer ziemlich früh die Flucht.
Und eigentlich kann ich heute bis Zehn ausschlafen. Das Einlaufen ist erst um Elf, um Zwölf folgt das Spiel. Ich bin nicht nervös. Aber ich kann trotzdem nicht mehr schlafen.
Irgendwann halte ich das Nur-einfach-so-da-liegen nicht mehr aus. Ohne mir die Mühe zu machen das Rollo hochzufahren, tapse ich im Dunkel herum.
Als ich über meine Bettkante stolpere, knipse ich doch das Licht an. Mein verschlafener, genervter Blick fällt auf den Wäscheständer. Ich nehme meine Outfits ab und stecke sie in einen großen Karton. Samstag würde ich sie zurückbringen.
Auch die abgegebene Kleidung muss heute endlich abgeholt werden. Die Verkäuferin bei New York’s wird sicher schon die Krise kriegen. Ich lächle.
Wie gut hier alles läuft – fast so gut wie früher.
Immerhin habe ich einen Job, es sind Sommerferien, ich spiele Basketball mit den für mich besten Typen der Welt, ich gehe und komme, wann ich will – kurz gesagt, ich kann hier alles tun. Wirklich alles, denn irgendwann bin ich sowieso nicht mehr hier.
Diese Freiheit liebe ich. Auch wenn sie im tiefsten Inneren oft einsam ist.

„Morgen, Schatz“, begrüßt mich Mom, als ich beschwingt die Treppe runtersause.
Ich hebe die Augenbrauen. „Morgen“, sage ich zurück, allerdings etwas gedämpft.
„Was ist denn hier passiert?“, frage ich schockiert. Im Kühlschrank und im Vorratsraum ist tonnenweiße Kalorienreiches Zeug, oke, nicht übertreiben, es sind ein paar Lebensmittel dazugekommen. Das ist dennoch verwunderlich.
„Ich dachte du bist auf Diät“, frage ich sie zweifelnd.
„Bin ich auch. Ich war etwas nachlässig, was deine Bedürfnisse angeht“, sie zuckt mit den Schultern, als wäre diese Wendung normal. Helene versucht also schon wieder, wie eine richtige Mom zu sein.
Ich überdrehe die Augen, aber der frische Hefezopf wirkt so lecker verführerisch und die Schokoladencreme macht die Eindrücke noch intensiver, ich werde kurz weich, dann sage ich jedoch: „Du versuchst das Mom-Ding wirklich“ Es ist eine Feststellung.
„Ich bin nicht wirklich gut darin“, sie runzelt die Stirn.
„Stimmt. Du hast eine Bombenfünf“, aber dann muss ich lachen, streiche mir eine erste Scheibe und verdrücke sie genüsslich.
Mom nutzt mein kleines Hoch aus: „Tut mir Leid wegen gestern“
Dieses Mal zucke ich mit den Schultern: „Gestern ist vorbei“, ich nehme die Entschuldigung nicht an. „Ja“, sie überlegt, „Was machst du heute?“
„Ein paar Basketballmachos richtig einheizen“, sprudelt es ohne jede Überlegung aus mir hervor.
Natürlich versteht sie es falsch. Sie weiß nichts von meinen Verwandlungen, lässt das Thema aber dann einfach unter den Tisch fallen, wie eine Scheibe Brot.
Sie macht einen erneuten Anlauf, als ich die vierte Scheibe Hefezopf in Beschlag nehme.
„Was machst du nächstes Wochenende?“, fragt sie voller Hoffnung.
„Wieso?“, sofort werde ich argwöhnisch. Sie zögert und ich bereue meine Frage. „Jedenfalls was anderes, als du“ Ich stopfe den Rest meines Essens in meinen Mund und fahr los.
Bloß nicht nachgeben! Ich muss mich ermahnen.
Mom hat es nicht anders verdient.

Ich befinde mich im Stadion. Zu früh.
Die Zeit wird genutzt, um mich aufzuwärmen und in Gedanken noch einmal alles durchzugehen.
Da taucht auch schon Mathi auf. Und Joel. Und Marven. Jess und all die anderen.
Unser Team ist komplett. Alle wirken relaxed, mit einem Hauch von Vorfreude und Begeisterung für das Spiel, nur Mathias wirkt etwas zerstreut, vielleicht ist er schlecht geschlafen, wie man an den blassen, aber dennoch vorhandenen Augenringen sieht – kann auch sein, dass ich mir das einbilde.
Nachdem ich hundert Mal: „Hey“ gehört habe, laufen wir uns ein. Danach wird gedehnt, bis die Glieder schmerzen und dann gibt es noch eine lange Pause.
Mathias gibt jedem eine Position. Ich, Jess und natürlich auch Franz sind Ersatzmänner, da es ein Fünf gegen Fünf Spiel ist. Zuerst bin ich fast schon deprimiert, aber dann hoffe ich einfach, dass ich am Ende doch noch ein paar Minuten mitmischen darf.
Mittlerweile hat sich das Stadion schon gefüllt. Auch Cheerleader haben sich versammelt. Ich habe gar nicht gewusst, dass es hier auch solche gibt. Und die andere Mannschaft wärmt sich auf. Auch wenn sie groß, bullig und trainiert sind, ich habe ein gutes Gefühl.
Unsre Gruppe sammelt sich in einem Kreis, so wie man das eben kennt. Kurze Besprechung.
„Eins, Zwei. MADONARE!!!“, alle heben die Arme, dann geht es ab auf das Spielfeld.
Falls sich jemand fragt, MADONARE leitet sich jeweils von den Vor-, Nach-, oder zweiten Namen der Spieler ab. Es ist sozusagen unser Kampfesschrei.
Und dann schallt der Anpfiff.

Leider muss ich gestehen, dass ich kein ausgebildeter Sportreporter bin, um das Spektakel angemessen zu beschreiben. Und ich will auch nichts schön reden.
Der Schiedsrichter ist ein totaler Lahmarsch. Stattdessen sich der gebräunte Typ mit dem albernen Strohhut – keiner weiß was das soll – am Rande des Spielfeldes mitbewegt und die übereifrigen Jungs gelegentlich zur Ordnung ruft, hat er sich auf eine alte Bierbank verschanzt und blinzelt in die Sonne, die hoch am Himmel steht, den Boden aufheizt und Feuer unter den Beinen der Mannschaften entzündet. Außerdem scheint er halb blind, aber vielleicht ist das Übersehen der zahlreichen Faulen – merkwürdiger Weise immer nur bei unserem Team – das Produkt seiner nervenden Unaufmerksamkeit. Kurz, er macht mich wütend, alle anderen auch.
Unsere Gegner sind auch nicht besser. Sie spielen gut, sehr gut sogar. Die Kerle sind stark, geübt und selbstsicher. Und diese Selbstsicherheit oder auch Arroganz ist ziemlich überholt. Es mangelt deutlich am Zusammenspiel. Teamfähigkeit ist eines der höchsten Prioritäten, bei solchen Dingen. Das übersehen sie immer.
Und von den Zuschauern will ich gar nicht erst reden, die sind sich alle viel zu schade.
Die kommen nur her um billig zu fressen und etwas überschüssige Zeit verstreichen zu lassen.
Auch die Truppe von Cheerleadern ist nicht gerade motivierend. Wo sind die sportlichen Ladys von heute? Wo ist die Begeisterung?
Ich kann sie nicht finden. *schnief*
Der Moderator zeigt die einzige Motivation – auch wenn er zu viel um den heißen Brei herum redet –, doch er lässt immer mehr nach. Ich hab das Gefühl, der Mann gibt gleich auf.
Mein Blick verfolgt die Spieler, er mustert sie, verfolgt die einzelnen Bewegungen, versucht die Mienen zu identifizieren und daraus schlau zu werden. Ich bewundere fremde Techniken, Angreifmanöver, Ablenkungen, Täuschungen,… Bis ich mir irgendwann eingestehe, dass mein Blick eigentlich nur Mathias verfolgt und ich ausschließlich Mathias bewundere.
Da das Trikot nicht den ganzen Teil seiner verblüffenden Schönheit versteckt, komme ich in den Genuss seine Muskeln zu fixieren, seine Haut, die breiten Schultern. Trainierte Arme. Kräftige Hände. Ausgepräge Bauchmuskeln, die sich leider dann doch wieder nur unter dem Stoff andeuten lassen. Sportliche, schnelle Beine, normal große, geschickte Füße in Trainingsschuhen…
Bloß nicht sabbern!
Ich wende meinen Blick ab. Unfreiwillig. Ich zwinge mich dazu.
Konzentriere meine Gedanken auf wichtigere Dinge… oder wenigstens andere Dinge.
Mir wirft sich die Frage auf, ob ich heute wohl auch noch eingewechselt werde. Und was ist mit Franzl und Jess? Wer kann zuerst zeigen, was er drauf hat? Und auch wenn ich darf, wird es denn anderen passen? Werden sie mich mit in ihre Manöver einbeziehen?…
Es ist nicht gut, sich diesen Fragen zu stellen, schon gar nicht wenn man keine Antwort weiß.
Und deshalb lasse ich meine Gedanken, wie einen Gummiball, fallen.
Weg sind sie. An ihre Stelle tritt schon wieder Mathias.
Beklommen schüttle ich den Kopf. Und versuche mich auf alles andere, was mit dem Spiel zu tun hat, zu konzentrieren.
„Was ist heute mit Mathias los?“, fragt Jess besorgt an Franzl gerichtet.
Der braucht kurz, um zu antworten, vielleicht ist er so ins Spiel vertieft: „Ich weiß nicht“
Franzl klingt ratlos. „Etwas ist anders.“, sagt Jess.
Der Kerl nickt.
„Er sieht völlig aufgelöst aus“
Franzl nickt noch mal.
„Er spielt heute nicht sonderlich gut“
Dann schweigen sie, beobachten. Ich auch.
So schlecht ist Mathi heute nun auch wieder nicht, ist das erste, was mir in den Sinn kommt, allerdings hat er gestern mehr drauf gehabt. Sehr viel mehr…
Mathias wirkt verschlafen, als hätte er die ganze Nacht kein Auge zu getan. Oder vielleicht auch doch nicht, nicht müde, das trifft es nicht, es fehlte ihm einfach der starke Wille, die unbändige Entschlossenheit, die er sonst so an sich hat, so als wäre er mit den Gedanken ganz wo anders, weit weg von hier, weit weg von Basketball. Jess und Franzl können sich das nicht erklären. Es ist das erste Mal so, das ist offensichtlich. Aber wir drängen uns alle das Warten auf.
Der Basketball wird vom einen zum anderen gepasst, dann und wann wieder einmal abgefangen, gegen den Boden geprellt. Zuletzt durch den Korb geworfen – während ich Mathias ausdrucksloses Gesicht angestrengt beobachte.

In der Halbzeit liegen wir in Führung. Die Jungs trinken gierig direkt vom Wasserhahn. Auch wenn ich noch nicht zum Einsatz gekommen bin, brauche ich auch eine kleine Abkühlung, spritze Wasser auf meine Unterarme. Das hilft, wie immer.
Dann versammeln wir uns wieder im Kreis. Die Spieler werden gelobt, aber auch getadelt.
„Mathi“, sagt Franzl mit ruhiger Stimme, ich habe gedacht, Jess würde das Folgende anbringen, aber es kommt anders, „wird’s gehen?“
Ob sie, inzwischen die anderen auf den Toiletten gehangen sind, schon geredet haben? Was habe ich verpasst? Was Wichtiges?
Mathias verzieht sein trübes Gesicht zu einem gequältem Lächeln, doch es ist nicht dasselbe wie sonst, viel trübsinniger, abgelenkter, etwas verwirrt und leicht hysterisch, aber gibt sein Bestes und kann es kurze Zeit halten: „Muss“ Zerknirscht wagt er keinem mehr in die Augen zu sehen.
Er ist frustriert. Das durchschaut jeder Blinde. Und plötzlich bin ich mir nicht mehr so sicher, ob das zynisch gemeint ist, man kann das Brodeln unter der Oberfläche förmlich spüren.
„1. 2. MADONARE!“, die Teilmeisterschaft geht weiter – ich sitze noch immer auf der Ersatzbank, was nicht unbedingt zu meinem Wohlgefühl und meinem Stolz beiträgt. Unruhig rutsche ich auf der Bank, auf der ich sitze, hin und her. Das macht mich noch nervöser. Und rasend.
Meine gute Laune ist schon lange dahin. Das Spiel beginnt sich unerträglich in die Länge zu ziehen.
Auch für Mathias wirkt jede Sekunde ausgedehnt und breit. Endlos. Ich merke wie er sich immer wieder anstrengt. Zur Ordnung ruft. Wie es ihm Kraft kostet. Und dennoch kann er sich nicht gegen das Unbekannte wehren. Er weiß nicht. Er weiß gar nichts. Vielleicht, aber auch nur ganz vielleicht ist es ihm am Rande seines Denkens bewusst, dass er gerade massenweiße Punkte in den Sand setzt. Nicht, dass die Punkte der Kollegen nicht reichen würden, um das Ding zu gewinnen, aber man kann solche Spiele ruhig ernst nehmen. Hier wird nichts verschenkt. Und so sehr sich der verwunderliche Typ bemüht, es gelingt ihm nicht.
Ich denke an gestern, an unser Duell, wenn ich auch eine andere Identität vorgewiesen habe. Er ist ein wahres Sportwunder gewesen, wenn er mich früher nicht so gut trainiert hätte, hätte ich nie im Leben mithalten können. Meine Augen sehen Mathi nach, wie die Funken in ihm sprühen, nicht aus Entschlossenheit auf das Spiel, eher als würde er einen inneren Kampf austragen, wie ihm die Kraft gestohlen wird, wie er seiner Selbst beraubt wird, wie immer weniger vom eigenen Kerl übrig bleibt.
Wie der übrig gebliebene Wille innehält, um dem Auflauernden einen Streich zu spielen.
Der Atem geht schwerer. Stockt.
Muss mich konzentrieren.
Auf das Spiel.
Muss mich konzentrieren.
Geht nicht.
Muss mich konzentrieren.
Bitte was?
Wie durch Gedankenübertragung kann man sich so etwas vorstellen.
Grauenhaft das Leiden.
Es flammt noch ein letztes Mal tödlich auf. Dann ist es zu Ende.
Mathias keucht unmerklich auf.
Übrig bleibt Staub. Dreck der sich auflöst.

„Time Out“, Franzl ordnet die zustehende Besprechungsminute an.
Er klingt gehetzt. Das jagt mir Angst ein. Und wieder raus.
Alle kommen munter her gesprintet, irgendwie fragend, was so dringend gesagt werden müsse – nur Mathi trottet lahm und bleich hinterher. Er hat sich noch nicht wieder gefasst.
Auf einen Schlag sind sieben Augenpaare auf ihn gerichtet, inklusive meines. Alle total schockiert, versteinert. Der Junge sieht übel aus, übler als übel.
Nicht krank, oder so als wäre ihm schlecht, er wirkt eher, als stecke er in einer rein geistlichen Depression. Das trifft es wohl.
Mathias nimmt die besorgten, aufgewühlten Gesichter wahr. Er weiß, was das einzig richtige ist: „Gut, ich bin raus“ Unser für gewöhnlich bester, erfahrenster und wenn ich hinzufügen darf hübschester Mann setzt sich geschlagen auf die Ersatzbank. Er ist total fertig.
„Schön“, meint Jess unnötiger Weise. Er ersetzt ihn.
Zuerst denke ich ziemlich missbilligend darüber, aber dann komme ich zum Entschluss, dass es auf der Hand gelegen ist. Und immerhin habe ich vielleicht die Chance Mathias zu helfen. Das trübe Schlafzimmergesicht – auch wenn es noch so bezaubernd ist – es gefällt mir nicht.
Doch als ich mich zur Bank hinbewege und Jess freudig grinst, wirft Mathi unerwartet eine Bitte, kann auch sein, dass es ein Befehl ist, ein: „Renè übernimmt meinen Posten“

Zuerst ist da nur Stille. Bis sich jemand räuspert.
Ich will wissen wer.
Nun, Jess ist es nicht gewesen, ihre Kinnlade ist heruntergeklappt. Und…
Die Frage, warum ihr Mund offen steht, wirft mich zugegeben ein bisschen aus der Bahn.
Und die Antwort darauf haut mich um, und überfährt mich: Ich bin im Spiel.
„Natürlich“, beschwichtigt Franzl, der Jess und auch Sam einen warnenden Blick zuwirft. Mir ist klar, dass mich die beiden hassen, wahrscheinlich hassen mich alle hier, auch Franzl, sogar wenn er Mathi zustimmt, er macht es, um seinen Boss und würdigen Freund vor einem Kollaps zu bewahren.
Super. Bessere Voraussetzungen für gerade jetzt, gibt es gar nicht. Nein, wirklich.
Ehe ich mich versehe, ist es zu spät, die Fliege zu machen.
Zuerst pisst mich das tierisch an – dann ergreife ich eine Chance.

Ich blende Mathias, so wie auch alle anderen Mitstreiter aus, starte ein Ein-Mann-Spiel und wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, was ich mir dabei gedacht habe.
Als ich mir den Ball runterfange, wirkt er plötzlich viel schwerer, als er ausgesehen hat und ich muss mich ganz und gar auf das Gewicht konzentrieren, vorsichtshalber gehe ich in die Knie.
Eine Sekunde später – als man schon auf mich zukommt und auf meine Reaktion wartet – drehe ich mich um und fange zu prellen an.
Der Ball stoßt gegen den Boden. Und wieder in meine Hand.
Und noch einmal. Weitere Male.
Die Menschen um mich herum verwandeln sich zu einfach überwindbaren Hindernissen.
Ich laufe zuerst langsam auf sie zu, dann schneller drum herum. Wahrscheinlich bin ich selbst meinen Teammitgliedern ausgewichen. Die müssen mich alle für bescheuert halten.
Tja, in dem Moment ist es mir egal.
Aber das Spielfeld kommt mir unendlich lange vor. Auch wenn ich erst gerade von der Ersatzbank bin, schwitzte ich wie irgendwas. Meine Haare verkleben, die Kappe scheint mit meinem Kopf verschmolzen zu sein. Und irgendein seltsames Hormon treibt mich voran.
Schon klar, dass es Adrenalin ist.
Es scheint wie eine Ewigkeit. Ich will die letzten Schritte gehen.
Unter dem Korb.
In den Korb werfen.
Ich will, dass unser Publikum jubelt.
Und mein Körper vibriert. Und mein Herz überschlägt sich.
Während mein Atem immer schneller und unzuverlässiger geht und sich meine Lunge unter den Schmerzen hebt.
Ich habe ja keine Ahnung gehabt, wie anstrengend Basketball wirklich ist.
Der letzte Schritt.
Und unsere Punkte.

So soll es eigentlich sein.
Blöd nur, dass es anders gelaufen ist.
Denn der letzte Schritt folgt, aber dabei füßle ich einen Gegner unabsichtlich und er fällt – wenn man das so nennen darf – auf die Schnauze. Der Schiedsrichter pfeift, während ich geschockt auf mein ungewolltes Werk blicke. Was wenn er ernsthaft verletzt ist?
Und im nu lande ich wieder auf der Ersatzbank, unter den drohenden Blicken meines Teams, neben dem abwesenden Mathias. Ich darf nicht mehr mitspielen.

Kann ein einziges Spiel wirklich so lange dauern?
Ich schaue auf die Uhr, als jemand das schmerzlich ersehnte Aus pfeift und muss feststellen, dass es sich nur so unendlich lange angefühlt hat. Wenn wundert es, unter diesen Umständen.
Der Beste Spieler läuft als halber Zombie rum und der neue Eindringling macht auf Ein-Mann-Spieler, um dann jemanden zu faulen – mit voller Absicht, werden sie sagen.
Dennoch hat unsere Mannschaft gute Arbeit geleistet. Es steht Gleichstand und wir kommen ins Finale, das in etwa drei Wochen stattfindet.
Die Kerle klatschen sich ab, auch Mathi und mich. Aber man merkt, dass sie sich definitiv mehr erwartet haben. Mathi wird ständig mit besorgten Mienen beäugt und mir werden auch ziemlich hässliche, abweisende Blicke zugeworfen. Ich kann es keinem verdenken.
Dann verschwinden die Meisten in die Kabinen, bis sie schließlich geduscht und umgezogen zurück sind und uns fragen, ob wir noch mit Saufen gehen.
Mathi winkt ab und ich mit meinem sichtlich unwohlen Gefühl komme erst gar nicht in Frage.
Das Stadion leert sich rasch und Mathias starrt noch immer nach vorne, ohne – so wie ich das beurteilen kann – jedoch etwas Genaues ins Auge zu fassen.
Ich wirke wie ein gekünsteltes Spiegelbild.
„Ich habe noch nie so schlecht gespielt“, sagt Mathias. Damit habe ich nicht gerechnet und muss überrascht in sein Gesicht blinzeln. Er sieht noch immer nicht besser aus.
„Naja, ich würde sagen, wir haben beide nicht wirklich abgeliefert“, entgegne ich mit Nachdruck und hoffe, es kann ihm helfen.
Das bringt ihm zum Lachen. Gott sei Dank. „Entweder du kegelst dir dein Fußgelenk aus, oder das eines anderen“, dann wird er ernst, „wie müssen dringend an deiner Teamfähigkeit arbeiten“
Ernstes Nicken. „Bringt das überhaupt noch was?“, ich zweifle und habe gleichzeitig Angst vor der Antwort meines Trainers.
„Übung macht den Meister“, zitiert Mathi, „wieso soll es nichts bringen?“
„Die hassen mich“, ich sehe zur Seite, ein Schmerz schüttelt mich kurz.
Mathias weiß, wenn ich meine und sagt dann etwas, was mich völlig aus der Bahn wirft: „Nur du hasst dich“
Ich lasse mir das durch den Kopf gehen. Der Junge neben mir spielt darauf an, dass er weiß, dass ich nie selbst mit mir zufrieden bin und an Mangel von Selbstbewusstsein leide. Was er nicht weiß, dass ich ein Mädchen bin, und Mädchen sind noch viel anfälliger für solche Beschwerden, aber im Großen und Ganzen hat er Recht. Hilfe.
Es schockiert mich, dass er richtig liegt und noch viel mehr, dass man mich so leicht durchschauen kann…
Irgendwann habe ich meine Fassung wieder gefunden, ich lasse unser altes Thema fallen und schneide ein neues an, fast, wie ein Stück Kuchen: „Und was…“ Ich zögere: „Was ist heute mit dir los?“
Zuerst ist da nur Stille. Dann seine Stimme: „Komm, wir gehen eine Runde“
Ich springe auf.

Erst, als wir das Stadion hinter uns lassen und in Richtung Mönch-Spielplatz schreiten, scheint für Mathias der richtige Zeitpunkt zu sein, um mir meine Frage zu beantworten.
„Warst du…“, er stockt und beginnt von neuem, „Hattest du schon mal jemanden, der…“
„…mir wichtiger war, als jeder andere“, beende ich seinen Satz. Der Gedanke an Dave schießt durch meinen Kopf und ich versuche nicht an das wieder klaffende Loch zu denken, denn auch wenn es heute nicht so schlimm ist, ich kann es genügend spüren, „Ich weiß nicht warum genau. Aber ja“
Ich entscheide mich ehrlich zu sein.
Mathias ist still, lässt sich das durch den Kopf gehen: „Es tut weh“
Auch er verschweigt mir nichts.
„Ich weiß“, sage ich mehr an mich selbst gerichtet, als an ihn. Verdammt weh.
Ein Stich durchfährt mich. Ich muss laut Luft holen und schäme mich etwas dafür, aber Mathias nimmt das gar nicht wahr.
Dann sind eine Zeit lang nur noch unsere Schritte zu hören. Jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach. Zu meinem Bedauern muss ich zugeben, dass mir die Tatsache, dass Mathias seinen Schwarm gefunden hat, nicht wirklich zusagen will. Solle ich jemals über meinen Ex hinwegkommen, hätte ich ihn genommen. Jetzt geht das ja nicht mehr.
Und wer weiß, vielleicht ist das auch besser so. Er ist zu einem tollen Kumpel geworden und irgendwelche Liebesspielchen können alles ruinieren. Das will ich nicht.
Dennoch kann ich mir die Frage nicht verkneifen. Ob seine Freundin wohl hübsch ist?
Neid durchzuckt mich. „Wer ist sie?“, ohne jede Vorwarnung hole ich Mathi aus seinem Gedankengang und überrumple ihn damit.
Der Junge beißt sich auf die Lippen, dann öffnet er sie leicht zum Sprechen. Schließt sie aber wieder, um dann erneut einen Anlauf zu nehmen: „Ich weiß nicht wie sie heißt“
Das ist zu meiner Überraschung keine Ausrede. Er meint es ernst und es stört ihn, dass er das, was er liebt, nicht beim Namen nennen kann.
„Wie sieht sie aus?“, hake ich nach. Ob ich sie schon mal gesehen habe?
„Tja“, Mathi erinnert sich an das Bild ihrer durchschnittlichen Perfektion, „Sie ist normalgroß – zumindest für ein Mädchen –, 1,65 vielleicht, sie hat einen heller Teint, einen schlanken, aber nicht zu unterschätzenden Körper, schöne Rundungen – soweit man das sieht…“
Sprechen Jungs immer so oberflächlich genau über ihre... Favoriten?!?
„…tolle Beine, schnelle Füße. Kombiniert mit ihrem bequemen, lässigen, aber auch natürlichen Style eigentlich voll die Modelfigur“, und weiter, „Sie hat dieses kleine, spitzbübische Gesicht mit den leicht geröteten Wangen und ein paar vereinzelten Sommersprossen, dass von langem, voluminösen, aber wahrscheinlich widerspenstigen Haar umgeben wird“
Mathias lacht: „Wenn du per Paint Programm ein buntes Bild von einem Regenbogen in ausschließlich Brauntönen umwandelst, kannst du dir ungefähr vorstellen, welche Farben es hat. Im Licht wird es von einem dünnen, strahlenden Goldmantel überzogen“
„Die Lippen sind einfach unwiderstehlich. Auch wenn sie sich oft ziemlich kalt gibt, ich weiß, dass es bloß eine Maske zum Selbstschutz ist und das sie in ihrem tiefsten Inneren ein sehr warmherziger Mensch ist“, er überlegt, „ich frage mich, was sie so verletzt hat“ Dann macht er eine bedeutsame Pause, die Luft ruht schwer auf uns: „Ich kann nicht in diese braunen Vollmilchschokolade-Augen mit dem Karamellschimmer schauen, ohne dass mir nicht klar wird, dass sie mir etwas bedeutet“ In diesem letzten Satz liegt so viel Verzweiflung, dass es mich erschreckt. Und so viel Ehrlichkeit. Und Liebe. Dass ich am liebsten meinen Hut – oder eben meine Kappe – ziehen würde, wenn ich nicht wüsste, dass man dann meine wahre Identität erkennen kann.
Wow.

Solch eine Beschreibung habe ich nicht erwartet. Solch ein Geständnis habe ich nicht erwartet. Und eigentlich weiß ich auch gar nicht, was genau ich erwartet habe.
Aber das hier schlägt alles. Alles alles.
Die Glückliche.
Fast traue ich mich nicht eine weitere Frage zu stellen, aber letztendlich kann ich mich doch nicht davon abhalten: „Hast du schon mit ihr geredet?“
„Nicht viel“, gesteht Mathi geknickt, „und… und meistens war ich ziemlich fies“
„Fies?“, wiederhole ich.
„Ja“, es klingt wehleidig, „ich war mit den Kumpels unterwegs“ Dem Team.
„Wie fies?“, so als ist es lebenswichtig.
Mathi schüttelt den Kopf, als möchte er die schlechten Gedanken vertreiben: „Ich habe sie als Straßenbahngirl beschimpft. Sie hat Jess eine Apfeltasche ins Gesicht gedrückt“
Ich schweige.
„Ich habe sie betrunken von der Straße geholt und nach Hause gebracht, Helene, ihre Mom kennt hier jeder. Denn Namen habe ich schon mal gehört, aber ich habe ihn vergessen“, das frustriert ihn, er kann sich nicht erklären, wie man sich einen so wichtigen Namen nicht auf Langzeit merken kann, „und gestern... hat sie gegen mich gespielt“ Mathi lächelt, dann gleitet ein verwunderter Schatten über sein Gesicht: „Sie hat’s wirklich drauf. Auch wenn sie knapp verloren hat, ihre bloße Anwesenheit hat mir gereicht“

Oh Gott.
Oh Gott.
Oh Gott, Oh Gott, Oh Gott!!!
Ich bin das Mädchen.

Mein Mund ist staubtrocken.
Wahrscheinlich so kratzig wie Wüstensand.
Ich weiß, dass Mathias langsam auch wieder einmal einen Kommentar von mir erwartet, möglicher Weiße auch nicht, aber ich bin verhindert.
Tausend Gefühle stürzen gleichzeitig auf mich ein, begraben mich lebendig.
Nur das Pochen allein nehme ich noch wahr.
Ich bin das Mädchen. Ich bin das Mädchen. Ich bin…, donnert mein Herz – viel zu schnell.
Das Einzige, was mich kurz aus dieser Hormonausschüttung noch herausholt, ist der Verursacher selber. „Wirklich alles in Ordnung?“, Mathias.
Keine Ahnung, wie oft er diese Frage schon wiederholt hat, aber erst jetzt verstehe ich ihren Sinn. „Vielleicht kriege ich eine Sommergrippe“, tue ich ab und runzle die Stirn.
Nun sind wir wieder beim Stadion und ich schwinge mich auf meine Motorcross. Ich muss schleunigst heim. Nachdenken. Entscheidungen treffen.
„Triff sie mal wieder“, sind die vorletzten unüberlegten Worte, die meine Lippen verlassen. Und dann kaum hörbar: „Zeig ihr, wie du wirklich bist“
Ich kann nicht ausmachen, ob er diesen einen wichtigen Satz noch zur Kenntnis nimmt.

Die Fahrt verschwimmt. Meine Heimkehr ist in Nebel getaucht.
Selbst meine Mom hat viel weniger Farbe, als sonst. Sie sagt was, aber ich steuere blindlinks die Treppe hinauf, in mein Zimmer. Ich kann sie nicht mehr verstehen.
Und dann mache ich etwas, dass ich schon allzu lange nicht mehr gemacht habe.
Ich hole mein zerfledertes Notizheft aus der unteren Hälfte meines noch nicht vollständig ausgepackten Koffers – schließlich habe ich ja nicht damit gerechnet, dass ich es hier so lange aushalte – und bringe dabei alles durcheinander.
Schon fliegt es auf das ungemachte Bett, ein dicker Füller folgt.
Dann schiebe ich meinen lahmen Hintern auch dazu und unter die kuschelige Bettdecke.
Erst jetzt nehme ich wahr, dass es mich fröstelt. Und das im Sommer.
Es liegt ein unangenehmer Duft im Zimmer, aber vielleicht ist es auch nur das niederdrückende Wetter oder meine nicht abschätzbare Stimmung.
Mechanisch schlage ich das Heft auf und überfliege die Seiten, die noch nicht herausgerissen sind – es sind nicht viele. Dann nehme ich den Füller in meine zittrige Hand und beginne zu schreiben, so gut es halt geht.

Weißt du, wie es ist, wenn die Sonne untergeht?
Weißt du, dass Freiheit gleich der Einsamkeit steht?
Weißt du. Dass es mich gibt?

Ich seufze. Meine Hand gleitet weiter über das Papier.

Auch, wenn ich mich nicht mehr schwarz kleide,
in mir drinnen, ist es noch immer Nacht.

Diesen Satz streiche ich wieder und füge einen letzten Vers an.

Wache über mich, auch wenn ich schlafe, es ist so dunkel.
Und fülle das Schwarze, das Schwarze in mir – mach es zum Bunten.

Wie schlecht. Und albern.
Und emotional am Ende.
Das stimmt mich wütend und ich schleudere die Notizen in eine Zimmerecke. Die einzelnen Bögen fallen auseinander. Ich weiß plötzlich wieder, warum ich das Dichten beendet habe. Genau aus einem Grund: Weil es keinen interessiert.
Mit brennenden Augen schalte ich die protzige Stereoanlage an und drehe sie so laut auf, dass mir die Ohren schmerzen. Ich glaube, Mom regt sich gerade über den Krach auf, aber ich ignoriere sie.
Ich ignoriere alle.
Und am allermeisten ignoriere ich das, was ich will und das, was ich nicht will.

Erst als mein Trommelfell fast geplatzt ist und ich selbst die lautesten Rhythmen nicht mehr wahrnehme, drehe ich die schmetternde Musik mit dem lauten Bass zurück.
Dann beginne ich zu Turnen, reagiere mich ab.
100 Sit-ups. 100 Liegestütze. 100 Mal im Kreis rennen…
Bis ich völlig ausgelaugt aufs Bett falle und mich der Erkenntnis hingebe.
René. Dein bester Kumpel liebt dich, und er weiß es nicht mal.
Alles wird sich verändern.

9. Juli 2011 6

Der sechste Tag hier bricht an. Zu meiner Verwunderung lebe ich noch immer.
Aber heute sind meine Muskeln ziemlich schlaff und meine Knochen fühlen sich gebrochen an. Ich will nicht aufstehen. Und heute muss ich auch nicht.
So bleibe ich reglos liegen. Ich brauche nicht in den Spiegel zu sehen, um zu wissen, dass ich einfach grässlich aussehe. Denn ich spüre einen Sonnenbrand überall auf meiner Haut.
Und vor allem auf meiner Nase.
Ich will sie anfassen, nach ihr tasten, schauen ob ich den Schmerz lindern kann. Ein kleiner Schmerz durchzuckt sie, dann springe ich auf und hole meinen Handtaschenspiegel aus dem schwarzen Rucksack. Oh nein!!!
Die Haut schält sich und formt einen rötlich blassen Fleck.
Ich sehe aus wie Rudolf, das Rentier höchstpersönlich. Nur ohne Schlitten. Ohne Weihnachtsmann. Und ohne Geschenke. Klasse.
Der Polster wird gegen mein verunstaltetes Gesicht gedrückt. Fast schon so fest, als wollte ich mich selber ersticken, aber letztendlich schnappe ich dann doch nach Luft.
Warum?!?

Irgendwann purzle ich dann doch aus dem Bett. Inklusive Polster.
Ich schlage mir den Ellbogen am Nachtkästchen an. Und unterdrücke ein wütendes Au!
Dann rapple ich mich auf, die Tür fliegt hinter mir laut krachend zu und ich stürme ins Bad.
Scheiße, ist das ekelhaft!!!
Der Stiefirgendwas hat vergessen abzuschließen und hat sich nackt vor dem Spiegel bewundert!
Man sieht wirklich alles.
Er dreht den Kopf zu mir um und ich sehe, wie Scham sein Gesicht hell und scheußlich erröten lässt.
Und er will etwas sagen, aber da bin ich schon unten bei Helene: „Könntest du deinem bescheuerten Lover beibringen, wofür man einen Schlüssel und das passende Schloss verwendet?!?“
Jedes Wort enthält ein anderes Gift. Und zusammen sind sie absolut tödlich.
Ich will keine Gegenwehr hören. Ich will einfach nur raus hier.
Schnappe mir meine Schuhe und renne los.
Immer weiter. Und schneller.
Bis ich weiß, wo ich hin will. Bis ich nicht mehr kann.

Meine Fußsohlen schmerzen, aber es ist erträglich. Ich bin schon zwei Orte weiter.
Die Beine tragen mich stark getrieben immer noch voran. Das ist kein Joggen hier, das ist eher ein um-sein-eigenes-Leben-laufen.
Und weiter.
Die Luft brennt in meiner Lunge.
Der Atem geht unregelmäßig und hektisch.
Insgeheim hoffe ich, dass ich vielleicht doch noch ersticke.
Meine Füße laufen wie auf heißen Kohlen, sie berühren den Boden immer nur minimal, dann schweben sie dahin.
Ich habe mein maximales Tempo noch nicht erreicht und ich steigere es bis an die Grenze.
Mein zerzaustes, langes Haar verklebt und verfilzt sich immer mehr.
Meine Nase brennt.
Das übergroße T-Shirt und die kurze Hose, die kaum hervorlugt, sind schon total verschwitzt.
Man darf es nicht so ernstnehmen, dass ich gerade in Pyjamabekleidung durch unsere ganze Umgebung laufe.
Es spielt keine Rolle. Mein Ruf ist mir egal.
Immerhin bin ich kaputt.
Und als ich das denke, wird mir erst jetzt klar, dass ich schon wieder überreagiert habe und dass ein einziges nicht sonderlich schönes, ungeplantes Ereignis mich vernichten kann.
Ich bin so zerbrechlich.
In meinem Frust darüber werde ich noch schneller.
Einmal remple ich sogar unauffällig eine alte Frau an, die dann wie eine Hexe mit ihrem Stock auf mich zeigt und mich beschimpft.
Mein Herz rast. Es springt. Flattert.
Bis zur Erschöpfung, aber ich kann mich nicht bremsen.
Es geht nicht. Ich habe meinen Körper nicht mehr unter Kontrolle.
Muss laufen, bis ich zusammenbreche.
Mehr Schwung und der Druck baut sich auf und zerdrückt alles andere, zerquetscht mich.
Das Pochen in meinen Ohren wird schlimmer, es ist wie eine tickende Zeitbombe.
Die Schritte werden länger, halten jedoch ihre Geschwindigkeit.
Ein nebeliger Hauch vom späten Morgen hüllt mich ein.
Und in mir drin, schreit mein Eigentrainer: Schneller! Du musst dich besser konzentrieren!
Er schlägt mir prompt ins Gesicht.
Wutendbrand beschleunige ich, aber ich stoße gegen etwas. Einem Körper?
Ein nächster Schlag.
Und ich falle. Tief.

Für einen Bruchteil einer Sekunde wünsche ich mir, dass mein Kopf gegen einen Stein schlägt und ich umkomme. Bis mir aber dann klar wird, dass ich nie gegen einen Stein hab fallen können, weil ich gar nie den tödlichen Asphalt berühre.
Aber irgendwas ist da. Und ich brauche noch einen Augenblick um festzustellen, was genau es ist.
Es ist warm. Gemütlich. Es ist groß, stark. Es hat Herz. Es ist er. Mathias.
Und das sind seine tiefgründigen Augen in denen ich mich verliere.
„Alles in Ordnung?“, fragt er etwas überrumpelt. Er hat mich aufgefangen.
„Geht schon“, sage ich tonlos.
„Sicher?“, seine Stirn runzelt sich, kleine zweifelnde Fältchen entstehen.
Ich sage nichts und er redet weiter: „Du hast dir den Kopf an meinem Ellbogen gestoßen“
Das erklärt dann das Brummen und das verlangsamte Denken.
Mathias lacht. Zu spät begreife ich, dass ich den Gedanken laut ausgesprochen habe. Peinlich berührt sehe ich zur Seite.
Er wuschelt mir durch die Haare. Seine Berührung lässt mich beben. Die Hand, die mich noch immer festhält ist so warm und… ich will dass er mich nie wieder loslässt.
„Also. Kann ich dich loslassen?“, fragt er.
Zuerst verstehe ich gar nicht, wieso er das will. Naja, bis ich die Bücher am Boden sehe, verstreut und zerfledert. Wegen mir.
„Das tut mir leid“, mein Gesicht wird zu einer zerknirschten Grimasse und ich hocke mich auf den Boden, um alles einzusammeln. Mathi hilft mir: „Kein Problem. Ich hätte ja auch besser aufpassen können“
Fast will ich ihm wiedersprechen, dann bin ich mir aber nicht mehr sicher, ob es der richtige Zeitpunkt, um zu streiten, wäre.
„Klaviernoten?“, die Frage platzt einfach so aus mir heraus. Ich habe die Bücheraufschriften gelesen und bin verwirrt. Wirklich verwirrt.
Was soll ein Typ wie er mit Noten?!
„Ja“, sehr knapp gehalten und das Thema ist beendet.
Ich reiche ihm die übrigen Bücher und muss mich konzentrieren, damit ich sie nicht fallen lasse.
Um nichts unüberlegtes mehr zu tun, verabschiede ich mich rasch: „Ich muss dann mal los“
Mathi nickt. Und ich laufe weiter. Dieses Mal im langsameren Tempo, dennoch ein bisschen schneller als Joggen. Ich kann gar nicht mehr so flink sein, weil mir jeder Schritt neues Brummen in den Ohren und Kopfweh einbringt.
Gerade als sich meine Gedanken auf das Geschehene zurück versetzen wollen höre ich noch mal diese schöne Stimme: „Warte!“ Sie ist gleich hinter mir.
Erwartungsvoll drehe ich mich um. „Du hast dein Haarband vergessen“
Und ich werde enttäuscht. Das Gummi hat sich beim Zusammenprall aus den ungekämmten Haaren gelöst. Das erinnert mich gleich an mein unakzeptables Aussehen. Ich will im Erdboden versinken – oder wenigstens im Asphalt. Trotzdem sage ich: „Danke“ Das Lächeln muss ich mir abringen.
„Gern geschehen“, in Mathi’s Augen tobt irgendetwas.
Als ich mich gerade wieder abwenden will und dem Trübsal hingebe hält mich Mathias mit seiner unbesiegbaren Hand fest: „Darf ich dich auf eine Cola einladen?“
Die Erwartung ist nicht zu überhören.
Ich beiße mir auf die Lippe: „Eine Cola zum Frühstück?“
Mathias atmet laut aus: „Du kannst auch was anderes bestellen“
Das wird immer verlockender, aber: „Ich habe kein Geld mit“
„Hörst du mir eigentlich zu?“
Ich sehe Mathi fragend an. Was meint er damit?
„Ich lade dich ein“
Noch immer sehe ich ihn verständnislos an.
„Du brauchst kein Geld“, jetzt ist er etwas verärgert.
Unbewusst nage ich an meiner Unterlippe: „Ich… ich kann nicht“
„Ach komm schon“, er bettelt.
„Ich will nicht“, weise ich ihn in seine Schranken. Etwas zu hart.
Er bläht seine Backen etwas auf. „Lass das“
„Was genau?“, ich muss nachfragen und das scheint ihn noch mehr anzustacheln.
„Lass. Lass diese kalte Schulter“, seine Stimme wird immer lauter, „Lass das“
Jetzt bin ich sauer: „NEIN“
Meine Augen funkeln herausfordernd. Er muss zur Seite blicken, dann sieht er mich mit den ernstesten Gesicht, das ich je gesehen habe an.
„Das passt nicht zu dir“, nun ist seine Stimme schmerzlich weich und wird immer zerbrechlicher, „Hör auf damit“ Und dann leuchten seine Augen so intensiv, dass sich Tränen unter den Augen ansammeln, weil man so viel Schönheit, so viel Leidenschaft, so viel Herz nicht aushält.
„Für mich“ Das ist das Wort, das töten kann.

In dem Moment überrumpelt mich ein Schauer, nicht aus Angst, nein, es ist etwas anderes. Ich weiß nicht was, aber es ist so intensiv, so echt, körperlich spürbar, dass ich zittern muss.
Es legt eine warme Schicht auf meine Haut, unter der es brodelt.
Und das Loch füllt sich mit flatterhaften Exemplaren. Schmetterlinge?
Wieder weiß ich keine Antwort. Können diese Wesen wirklich so sanft sein? So weich? Und doch so tödlich? Als würden sie jeden Moment die Krallen ausfahren können und einem von innen heraus zerreißen, bis das Blut spritzt?
Oder noch schlimmer. Als können sie sich einfach so in Luft auflösen, in Staub verwandeln.
Und alles würde in sich einstürzen und zusammenbrechen.
Sie sind da. Und wenn sie weggehen, werden sie alles mit sich nehmen.
Nichts mehr wird so wie früher sein. Ich bin abhängig geworden.
Schon wieder.
Dieses Mal, wird es das letzte Mal sein. Egal, wie es ausgeht.

Mathias brennt sich in mich. Auch wenn er einige Schritte entfernt steht und bewusst Abstand hält, auch er kann sich dieser unbekannten Macht nicht entziehen.
Sie ist überall spürbar.
In uns. Um uns. Zwischen uns.
Sie ist von elektrischen Strahlen durchzogen. Ein falscher Schritt, und du stirbst.
Die Handflächen schwitzten. Die Füße stehen auf Eis, dass es sich schon fast so anfühlt wie Feuer, weil man keinen Unterschied mehr ausmachen kann.
Es ist schön. Es ist stark. Es ist unseres.
Und es tut weh, aber nicht so schlimm, dass man es nicht aushalten kann.
Aber die Angst ist schlimmer, die Angst, dass das irgendwann aufhört.
Und wir wissen beide, diese Angst ist berechtigt.
Denn das nimmt uns alles, wenn es fort ist.
Und wir brauchen es. Wie die Luft zum Atmen.
Der Sauerstoff wird knapp werden.
Wir werden ersticken.
Wenn wir alleine sind.
Für uns.
„Ich versuch’s“, mehr kann ich nicht versprechen.

Zuerst ist da noch der prüfende Blick, der versucht meine Ernsthaftigkeit abzuschätzen, dann gleitet ein strahlendes Lächeln über Mathias Gesicht.
„Wie wär’s mit einem Neuanfang?“, schlägt er gutgelaunt vor.
„Klar“, stimme ich nickend zu. Auch ich hab dieses Grinsen im Gesicht, er hat mich angesteckt.
„Mathias“, er reicht mir vorstellungsmäßig und freundschaftlich die Hand.
„René“, und ich lächle noch immer.
Dann gehen wir zusammen zum Fiore Café. Das Café, dass in mitten des Avant liegt, dem Hauptfluss hier. Die Terrasse ist noch ziemlich leer, aber von hier aus hat man einen wunderschönen Blick auf das Ufer, die Sonne spiegelt sich im Wasser.
Einen Moment verliere ich mich in den ungewohnten, faszinierenden Anblick.
Er verwirrt mich. Gar nicht gewusst, dass dieser Ort auch schöne Seiten hat.
Naja, vielleicht bin ich auch etwas voreingenommen gewesen.
„Ist dieser Platz in Ordnung?“, Mathias reist mich aus meiner Versunkenheit.
„Ähm.. ja, ja. Passt schon“
Er zieht mir einen Stuhl heraus. Ganz der Gentleman.
Schon blöd, dass ich keine angemessene Dame bin. Außerdem ist der Platz, den er für mich vorgesehen hat in Richtung Stadt gedreht. Keine schöne Aussicht.
Ich ignoriere ihn und sein Handeln und setzte mich prompt auf die andere Seite. Tja.
Mathias runzelt die Stirn: „Ich dachte du willst freundlich sein“
„Wir müssen ja nicht gleich übertreiben“, sage ich in einen schnippischen Ton.
Der Kerl gibt sich fürs Erste zufrieden und setzt sich. Ist auch gut so. Immerhin darf er mich einladen.
Es gibt ein kleines Blickduell, wobei niemand gewinnt. Die Kellnerin stört uns, eine junge (blonde) Praktikantin. „Guten Tag. Was darf’s denn sein?“
Sie sieht mich höflicherweise zuerst an, auch wenn sie sich Mühe geben muss.
„Einen Früchtetee, einen Aschenbecher und etwas Kaffeepulver, bitte“, sage ich rasch. Ich hätte mir ja gerne mehr Zeit gelassen beim Bestellen, aber ich fühle mich in der Gegenwart dieses Busenwunders ziemlich unter Druck gesetzt.
Sie fragt sich verzweifelt, ob sie alles richtig verstanden hat.
Früchtetee, Aschenbecher, Kaffeepulver. Ja, hast du richtig gehört.
Ich nicke ihr gespielt aufmunternd zu.
Auch Mathi ist leicht verwirrt, aber er lässt sich das nur schwer anmerken.
„Für mich einen großen Braunen, bitte“
Das Mädchen notiert alles und geht mit flotten Schritten davon.

Ich schaue ihm nach.
„Du rauchst?“, Mathias lenkt meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. Ihn stört das offensichtlich.
„Ist das ein Problem?“, frage ich lässig.
„Fragen wir lieber mal deinen Arzt. Und was soll das mit dem Kaffeepulver?“, mit der nächsten Frage lenkt er von seinem Ärger ab. Ihm ist es nicht recht, wenn ich Raucher bin.
Ich zucke mit den Schultern: „Für die da“
Mein Kopf deutet auf den einzigen gefüllten Tisch, außer uns, auf der Terrasse.
Fünf Leute sitzen da zusammen und schnattern aufgeregt. In der Mitte sind lauter Limonadengetränke. Und dazwischen immer ein paar Wespen, die sich nicht verscheuchen lassen.
Mathias versteht nicht: „Hm“

„Wirst schon sehen“, beruhige ich ihn.
Wie aufs Wort erscheint die Blondinne mit dem tiefen Ausschnitt.
Sie stellt mir den Tee vor die Nase. Der Aschenbecher und das Kaffeepulver folgen.
„Dankeschön“, ich erzwinge ein Lächeln. Sie auch.
Auch Mathi bekommt seine Bestellung.
Als sie weg ist, wende ich mich wieder zu meinem Gegenüber.
„Hast du ein Feuerzeug?“, frage ich ihn hoffnungsvoll.
Er schüttelt den Kopf: „Nichtraucher“ Er klingt sichtlich stolz.
„Gut“, ich stehe auf und beeile mich zu den anderen Gästen.
Mit einem Feuerzeug in der Hand bin ich wieder am Platz. Inzwischen ich weg gewesen bin, hat sich auch schon das erste Ungeziefer über unsere Dinge hergemacht.

Pulver wird in den Aschenbecher gelehrt. Dann zünde ich es an.
Mathias beäugt mich und mein Tun skeptisch. Er denkt ich hab sie nicht mehr alle.
Mal sehen, ob wir der Sache nicht mal ein Ende bereiten können.
Der Kaffee fängt Feuer und raucht, aber es riecht nicht unangenehm. Zwei Sekunden später sind alle Wespen in unserer Nähe verschwunden.
Triumphierend schaue ich in Mathias Gesicht: „Scheiß Raucher“
Dann bringe ich das Feuerzeug zurück.

Ich nippe an meinem Tee. Igitt.
Kurz verzieht sich mein Gesicht, dann habe ich mich wieder unter Kontrolle.
Dabei werde ich die ganze Zeit beobachtet. Irgendwann reicht mir das Schweigen.
„Hast du eigentlich auch mal vor, deinen Blick von mir wieder abzuwenden?“, ich greife die Tatsachen beim Schopf und rede nicht groß drum herum.
Mathias sieht mich dennoch weiter an, ihm ist das nicht peinlich: „Stört dich das?“
Sein Blick wird so intensiv, das ich mich an der Armlehne festhalten muss: „Schon möglich“
„Dann lenk mich ab“, sagt er herausfordernd.
Gut. Aber was weiß ich noch nicht über ihn?
„Spielst du Klavier?“, die Erinnerung an die Noten am Boden kommt hoch.
„Ja“, eine einsilbige Antwort.
„Wie lange schon?“, hacke ich nach.
„Zu lange“, die nächsten wenigen Worte.
„Wie lange genau?“
„Seit ich denken kann“
Langsam werde ich wütend, aber ich halte mich im Zaum. Ich hege eine gewisse Abneigung gegen das Vorenthalten von Details.
„Spielst du mir mal was vor?“, frage ich hoffnungsfroh.
„Das interessiert dich?“, kommt zurück und es klingt alles andere als… einladend.
Ich muss schlucken, haben seine Augen gerade gefunkelt?!?
„Natürlich“, meine ich aufgeheitert, „Also…?“
Es folgt das schroffste „Nein“, dass ich jemals gehört habe.
Ich weiß nicht genau wieso, aber plötzlich ist mir zum Weinen zu mute. Als Mädchen ist es viel schwieriger mit ihm Spaß zu haben.
Vielleicht ist ihm die Sache ja einfach peinlich oder so… aber trotzdem. Er hat kein Recht mich so zurückzuweisen!!!
„Schön.“, plötzlich bin ich auf 180, „Wenn du nicht reden willst, warum hast du mich dann überhaupt hierher geschleppt?“
Ich stehe auf. Wende mich zum Gehen.
„Bleib“, fleht Mathi mich an, „Das… das war nicht so gemeint. Du hast einen Nerv getroffen“
„Wirst du mir das mit dem Nerv erklären?“
„Ja“, sagt der Typ schwach.
Ich setzte mich erneut und frage mich, wie jemand so starker wie er, oft so zerbrechlich und verletzlich sein kann.
„Also..?“, frage ich rasch, um sicher zu gehen, das er sein Wort auch hält.
„Meine Mom ist vor einem Jahr gestorben“, sagt er da so plötzlich und ganz monoton, als würde es ihn nicht interessieren. Zuerst bin ich nur erschrocken, über den Klang den seine Stimme angenommen hat, aber dann: „Sie ist a…?“, auch gestorben.
Grad kann ich mich noch bremsen.
Vielleicht habe ich ja Ahnung wer ungefähr er ist, oder zumindest von welchem Geschlecht, Mathias jedoch weiß nicht, dass ich beides bin – als Mädchen und in gewisser Hinsicht Junge, naja, als Schauspieler halt. Nur dass, das hier kein Theater ist.
Nein. Es ist noch viel schlimmer.
Es ist das LEBEN. Das übersetzt wahrscheinlich so viel wie Deprie-Phase bedeutet!!!
Mathias ist gehänselt und gedemütigt geworden.
Er hat es seinem Vater recht machen wollen und sich dabei selbst vergessen.
Sein Bruder hat sich genau wegen dieser Last umgebracht!
Und nun ist auch noch seine Mum verstorben?!?
Himmel… das ist zu viel.

Ich habe Glück, dass Mathi meinen Satzanfang anders deutet: „Autounfall“
Kurz muss ich schlucken, dann reiße ich mich wieder am Riemen: „Tut mir leid“
Das ist das bedächtigste Tut mir leid, dass ich jemals ausgesprochen habe.
„Muss es nicht“, der hübsche Kerl neben mir zögert, als müsse er überlegen.
Und dann kommt mir, dass er mir… ich meine mir als Mädchen nicht verratet, dass sie Alkoholprobleme gehabt hat. Vielleicht ist sie sogar daran gestorben?
Er sagt mir nicht die Wahrheit.
Fast bin ich beleidigt, aber dann komme ich zu dem Entschluss, dass er mich vielleicht nicht unnötig verschrecken möchte – was ja sowieso bereits passiert ist – aber es ist nett gemeint, auch wenn mir die Wahrheit absolut besser zusagen würde.
„Sagen wir so…, wenn sie nicht durch eine Eis-Hölle auf der Straße ihren Tod gefunden hätte, dann hätte es der Alkohol getan“, jetzt hört er sich noch komischer an… oder bilde ich mir das ein??
Tja. Da habe ich wohl doch keine Lügen aufgetischt bekommen.
Zu Recht. Ich bin ein großes Mädchen.
Zunächst will mir nichts mehr einfallen, nicht einmal irgendein mitfühlender Laut, bis ich mich wieder an das eigentliche Thema erinnere: „Aber was hat das jetzt mit Klavier spielen zu tun?“
Der Mann, dessen Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt ist und dessen außergewöhnliche Aura mich unbewusst immer auf ihn weiterzubewegen lässt, sieht mich an, als hätte ich was nun mal Offensichtliches nicht bemerkt.
„Sie hat gespielt“

Wieder fällt mir kein Kommentar dazu ein.
Ich frage mich, ob sich unsere Nasenspitzen demnächst berühren werden.
Weiß aber keine sichere Antwort darauf.
Und noch weniger weiß ich… gar nichts.
Dann ist er weg. OK. Gut. Nicht weit weg, aber er hat sich definitiv wieder zurückgelehnt, als habe ihm dieses Gespräch irre viel Mühe gekostet und erst jetzt kann er aufatmen.
Eine Sekunde lange mache ich mich zum Affen – weil ich im Gegensatz zu ihm, nicht zurückweiche –, verspätet aber tue ich es ihm aber dann doch gleich.
„Sag mal, wann wirst du deinen Tee eigentlich trinken?“, fragt er nun wieder mit einer belustigten Miene.
„Wieso, hast du’s eilig?“, platzt es aus mir hervor. Am liebsten würde ich mich mit eigenen Händen erwürgen. Da schwingt mehr als nur ein Hauch Verbitterung und Sehnsucht nach.
Mathias kann ein Glucksen nicht unterdrücken, wird dann aber wieder ernst: „Wenn du heute noch ein Stück von mir hören willst…, dann ja“
Es nervt mich, dass die Bedeutung seiner Worte, erst so spät durch meine grauen Gehirnzellen sickert. Doch letztendlich wird alles auf Begeisterung umprogrammiert: „Ja, klar!“
Ich springe auf. Ein Grinsen im Gesicht.
Mathias jedoch zieht die Augenbrauen hoch.
„Na los, gehen wir“, dränge ich, wie ein Kind, das gerade einen köstlich duftenden Maroni Stand gesichtet hat.
„Und der Tee?“, der nächste Blick macht mir fast schon Angst.
Der Laune Umschwung senkt sich wieder und Verlegenheit rückt dicht an mich heran: „Ist es schlimm, wenn ich beichten muss, dass ich gar keinen Tee mag?“
„Du magst keinen Tee?“
„Nee“, schüttle ich den Kopf.
„Warum bestellst du dann einen?“
Ich mime ein: Ich weiß nicht.
Dann sage ich jedoch ganz unschuldig: „Die Kellnerin hat mich unter Druck gesetzt“

Mathias fragt gar nicht mehr nach… ist wahrscheinlich auch besser so und meint stattessen allen Ernstes: „Es ist nicht schlimm“
Und gerade als ich aufatmen will, weil er mich mit diesen einschüchternden Blick gebannt gehalten hat, fügt er noch hinzu: „Es ist sehr schlimm“
Ich kann nicht leugnen, dass sich in diesem Moment meine Nackenhaare aufstellen.
Der Typ vor mir hat diese arge Vergangenheit, die ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann und die Kraft eines Champion-Boxers. Er ist ziemlich gefestigt.
Ich eben nicht und langsam muss ich mir die Frage stellen, ob er nicht irgendwann mal auch den Wunsch hat, sich wegen seiner Erinnerungen an unschuldigen Menschen zu rächen und ihnen weh zu tun.
Gerade formuliere ich den letzten Gedanken wirr für mich zu End und schon hat sich etwas in dem Gesichtsausdruck meines Gegenübers verändert, als würde man mir alles ansehen, als wisse er, dass ich im Begriff bin, die Gefahr zu wittern – vielleicht sehe ich aber auch nur etwas krank oder übermüdet aus, wer weiß.
Jedenfalls sind seine Augen voller Sorge. Die Farbe ist still, nur an den Rändern leuchtet sie noch etwas zu aggressiv.
Und dann bin ich mir sicher, dass auch wenn diese Perfektion einmal durchdrehen würde, sie würde mir niemals wehtun.
Niemals Niemals.
Dann haben wir uns auf den Weg gemacht. Mit einem Kichern, weil die anderen Gäste meine Wespen-Verjagungstechnik angewendet haben.

„Wohin gehen wir?“, meine Frage, als wir zu einem kleinen Fußmarsch Richtung Stadtmitte ansetzten – soweit ich das beurteilen kann.
„Zu Denjenigen, der die Musik erfunden hat“, geistesabwesender Ton, wo Mathi wohl mit seinen Gedanken fest hing? Bei seiner Vergangenheit? Seiner Familie?
Mathias steuert in die enge Gasse, die an der Brücke endet und direkt zum Musikhaus führt.
„Die Musikschule“, wiederhole ich den letzten gedachten Satz laut. Das ist nicht gerade einfallsreich.
Ich meine, die musikalisch ausgerichteten Schulen haben doch nicht den Klang des Herzens durch Melodien, die Musik, erfunden, nein. Die Musik hat die Schulen geschaffen.
Ein brummendes, beinahe stöhnendes: „Nein“, kommt und dann die Erklärung: „Wir gehen da rauf“
Er zeigt auf die hohe Treppe, die zur Mönchs-Kirche führt.
Ich folge ihm und trete in diese Kirche, die beinahe so klein ist, wie eine Kapelle. Sie ist dem Anschein nach schon uralt, aber dennoch bemerkenswert schön und vor allem gemütlich – nicht so, wie man das von den großen Heiligenbauten kennt.
Außerdem ist der Großteil der Statuen nicht aus Lehm und er ist auch nicht mit Gold überzogen, stattdessen sind die detailliert nachgebildeten Gestalten aus dunklem Ebenholz geschnitzt.
Hier ist ein fabelhafter Handwerker an der Arbeit gewesen.
Die wenigen Bänke sind jedoch schlicht und einfach gehalten, die meisten herumliegenden Gebetsbücher haben schon viele ihrer Seiten eingebüßt.
Ein paar Fliesen sind bereits durch Beton ersetzt worden und eine kleine Staubsicht sammelt sich hier und da. Und überall, wo man auch hinsieht, machen bunte, liebevoll gepflegte Blumen alle Makel wieder wett. Wessen Werk das hier auch immer ist, er hat ein Paradies geschaffen. Ein heiliges Paradies.
Die Seitenwände der sonderbaren Kirche, die künstlerisch bemalte Decke über meinem Kopf, haben mich so derartig abgelenkt, dass ich nicht einmal bemerkt habe, dass auf der linken Seite des Altars ein viel zu großer, abgenutzter Konzertflügel steht, der auf einmal alles andere in den Hintergrund drängt.
Mathias glaubt daran, dass Gott die Musik erfunden hat.

Der junge Mann geht vor, öffnet den Flügel, um die Klangfarbe zu verbessern, lässt das Tuch, das die alte Tastatur vor Staub schützt, zu Boden gleiten.
Stumm folge ich jeder einzelnen seiner Bewegungen. Wieder wurde ich mir seiner Schönheit bewusst. Und auch wenn ich auf Makel gestoßen wäre, ich bin mir sicher, dass sie lediglich seine sonstige Vollkommenheit unterstrichen hätte.

Mathias schaut das Mädchen an.
René ist unglaublich.
Er erinnert sich an gerade vorhin, wie sie geschluckt hatte, als er von dem Tod seiner Mum erzählte.
So… sie hat… sich am Sessel festklammern müssen und es nicht einmal bemerkt.
Sie ist so geschockt gewesen.
Ob das für sie normal ist? Sie wirkt immer so mutig.
Ob sie vielleicht auch jemanden verloren hat? Hat sie deshalb so reagiert?
Aber dann ist es auch wieder so, als habe sie gewusst, dass er ihr nicht alles erzählt und vielleicht, ja vielleicht hat er in ihren zurückhaltenden Vollmilch-Schokolade Augen etwas gesehen, …eine Ahnung, eine Ahnung, was da noch alles in seiner verrückten Vergangenheit passiert ist.
Oder er ist nun völlig übergeschnappt. Diese Möglichkeit muss er auch in Betracht ziehen.
Leider.
Nun ja, aber bei diesem kleinen Teufelchen steckt noch so viel mehr dahinter.
Er weiß, wie René sich gegenüber ihrer Mum verhält, sein Kumpel hat es ihm erzählt, weil er nur ein paar Häuser weiter wohnt und bei seinen täglichen Radtouren immer an ihrem Haus vorbei fährt.
Das Mädchen kommt zwar selten heim, aber wenn sie mal zu Hause ist, gibt es immer Krach und der ist nicht gerade leicht zu überhören.
Außerdem ist die junge Frau, die ihn gerade ziemlich schamlos mustert, nur ein Teil von dem, was sie wirklich ist, da ist er sich sicher.
Ihn interessiert es, wer sie sonst so spielt, aber dann muss er sich doch ehrlich sagen, dass er auch eine leichte Furcht gegen diese Person hegte und ob er überhaupt alles wissen will.
Doch eines steht fest, dieses Mädchen, genau das Mädchen, das vor ihm steht mag er, viel zu sehr sogar. Das hat er auch gegenüber seinem Kumpel zugegeben.
Dem Kumpel, der auch René heißt, aber männlich ist – oder zumindest jungenhaft.
Der, der auf viele weiße Ersatz für seinen verstorbenen, kleinen Bruder ist.
Na gut, kein Ersatz, niemand kann seinen Bruder auch nur annähernd ersetzten, aber René ist doch so viel, dass er einen zweiten kleinen Bruder abgibt, einen guten Kumpel, für den er da sein kann, denn er beschützen kann, wenn es auch bei seinem richtigen Bruder nicht gelungen ist, denn er alles beibringen kann, auf den er stolz sein kann, denn er lieben kann…
Dann ist er mit seinem Gedanken wieder bei der Mädchen René.

Wie bezaubernd sie ist.
Obwohl sie eigentlich ziemlich normal geformt ist.
Obwohl sie Sommersprossen im Gesicht hat.
Obwohl sie ganz gewöhnlich aussieht.
Auch wenn sie gleich wie alle anderen Tussen rüber kommen kann.
Auch wenn sie trotz allem gut in ein Playboy Heftchen passen würde.
Auch wenn Mathi ansonsten solche unbegreiflichen Prachtstücke verabscheut.
Tja, das ist ihm nicht mehr wichtig. Nicht wichtig genug.
Denn er weiß, dass er sich in ein verflixtes Spiel wagt.
Ein Spiel, das von diesem verrückten, komplizierten oder vielleicht auch zu einfachen Mädchen beherrscht wird.
Er weiß, dass er bei einem einzigen falschen Schritt zurückschrecken wird.
Er weiß es.
Und er ist sich sicher, wenn er einmal nur ansatzweiße enttäuscht wird, dass er auf den Boden fallen wird und dieses Mal nicht wieder aufstehen wird können, wirklich nicht.
Denn so am Ende ist er schon seit langem. Und er wartet nur noch auf diesen letzten vernichtenden Schlag.
Er ist sich ganz sicher.
Und René kann es jederzeit tun.
Immer.

Dann schiebt er all seine Fragen in den hintersten Hintergrund, mit aller Kraft und zieht René mit einer sanften Bewegung zu sich. Fest… aber dennoch so vorsichtig, als hätte er Angst, dass ein teurer Porzellanengel zu Bruch gehen könnte.
René scheint seine kurze Berührung zu genießen, auch wenn Mathias die verborgene Zornesröte unter der Oberfläche entdeckt. Sie ist sauer, weil sie vertraut.
Manchmal ist das hübsche Mädchen neben ihm so leicht zu durchschauen, aber dann gibt es wieder diese überwiegenden Momente, in denen er weiß, dass er keine leiseste Ahnung hat, wer es eigentlich wirklich ist. Oder sein möchte.
Und René hätte alles sein können. Ein Engel, ein Teufel, ja sogar ein Junge, eine Göttin der alten Griechen, eine Diva… die Seine…
Stopp! Dieser Gedanke ist nicht für die Außenwelt bestimmt.
Der Typ kriegt sich wieder ein.
Und spielt.
Die, welche die Seine hätte sein können sitzt neben ihm.
Sie lauscht.

Mathias setzt zu einem bedrohendem, tiefen Ton an.
Spielt ihn immer wieder. Wird lauter. Und dann wieder so leise, dass man, nur wenn man hinsieht, bemerkt, dass die Taste nochmals hinunter gedrückt wird.
Ohne jede Hektik wandert seine rechte Hand in die höheren Oktaven und spielt die Melodie.
Still und ruhig. Ruhig, profimäßig und süß.
Gleichmäßig und doch verzögert. Und man verliert sich darin.
Vergisst sich.
Plötzlich wird aus dem oft ernsthaften Mann, ein kleines Kind.
Ein fröhliches Kind. Das Kind, das er nie sein hat dürfen und auch nie mehr sein wird.
Dieser Bub lächelt friedlich, lebt in einer Welt nebenan und ist hinter seinen Augen doch so weit weg.
Weiter, als man es für möglich hält.
Und in seinen Gedanken sieht er Bilder, die sein Leben wiederspiegeln.
Zerbrochene Bilder, rote Scherben, an denen man sich viel zu leicht verletzt.
Verwunderlich ist jedoch, dass da dieses Mal ein weißer, zauberhafter Bursche durchstapft.
Manchmal verzieht er das liebreizende, jungenhafte Gesicht, weil er sich an den scharfen Kanten schneidet. Aber dann hockt er sich auf den Boden und fängt an, die Scherben einzusammeln.
Er formt etwas.
Ein Herz. Doch seine Hände werden immer blutiger.
Langsam erkennt Mathias die genauere Gestalt dieses Wesens in seinen Gedanken.
Es ist doch kein Junge, es ist ein Mädchen.
Und es kommt ihm ziemlich bekannt vor.
Die Musik wiegt unentwegt. Aber Mathias schmerzt es, das sich das Kind absichtlich weh tut.
Langsam hat er das Gefühl, dass er es aufhalten muss.
Er will schreien.
Die Gestalt wird blasser und Mathi fällt plötzlich ein, dass doch René neben ihm sitzt und hält sich noch einmal zurück. Dennoch kann er diesen Anblick nicht mehr ertragen und dreht seinen Kopf zu seiner aufmerksamen Zuhörerin um.
Irgendwas durchzuckt die Luft und es riecht seltsam.
Mit einem Schlag verschwindet die mit Blut besudelte Frau.
Schweiß läuft Mathias über die Stirn.
Jetzt weiß er, an wen ihn diese Gestalt erinnert.
Die Musik endet abrupt.
René blickt ihn sorgenvoll ins Gesicht.

„O Gott… geht es dir nicht gut?“, fragt sie hilflos.
Mathi braucht einen Augenblick: „Doch… doch mir geht’s… prima“
Er blinzelt auffällig.
„Sieht nicht so aus…“, René denkt nach, „Hat dich das an deine Mum erinnert?“
Ihre Hand zuckt, als würde sie sich am liebsten selbst schlagen, für ihre dämliche Frage.
„Ähm… ja, schon“, es ist eine Lüge, aber der Junge kann doch nicht zugeben, dass es ihn an sie erinnert hat. Mann. Sie ist Blut beschmiert gewesen!!!
„Das tut mir leid… war wohl doch keine so gute Idee“, sie sieht so schuldbewusst aus.
Dadurch geht es ihm wieder besser, aus welchem Grund auch immer: „Quatsch. Ich bin froh, dass ich gespielt habe“
Das Mädchen sieht nun gar nicht mehr erfreut aus. So als dachte sie: dass er gespielt hat – nicht dass er mir vorgespielt hat.
Aber sie lächelt: „Ich hoffe“

Und dieses Lächeln ist Herz zerreißend.
Mathias Augen jucken, brennen, lodern, wer weiß was noch, als er in die kleinen, aber darum umso mehr strahlenden Augen blickt und sich nicht mehr loszerren kann, auch nicht mit Gewalt.
Sie strahlen solche Lebhaftigkeit, Ehrlichkeit aus, wie er es noch nie zuvor bei René und auch bei niemand anderen sonst je gesehen hat. Und der junge Mann merkt, dass die Augen dieses Mädchens auch nicht wirklich oft so sind.
Denn da sie ihren durchdringenden Blick auch nicht abwenden, geschweige denn kontrollieren kann, sieht man ihr die Überraschung, die Verwirrung an.
Eine Haarsträhne fällt René ins Gesicht und Mathi kann seine Hand nicht bremsen, ehe sie diese ihr wieder zurück hinters Ohr steckt.
Dem schönen Mädchen ist das etwas peinlich, es schlägt die Augen nieder, ist aber wieder gezwungen sie zu öffnen. Die beiden sind sich plötzlich ganz nah.
Nur Zentimeter trennen ihre Köpfe voneinander.
Mathias steht in einem Konflikt mit sich selbst.
Einerseits würde er seinen Kopf gerne weiter vorantreiben, andererseits weiß er genau, wozu es dann kommen wird. Und er weiß nicht, ob er das will. Aber er hat auch keine Zeit mehr, um nachzudenken.
Irgendwie hat er dieses Verlangen in sich, etwas dass in auffrisst, es zieht ihn weiter und dann ist da aber doch diese unüberhörbare Stimme, die sagt, dass es falsch ist, sehr falsch.
Dass das alles zerstören kann, dass er Dinge verlieren würde, wenn er weiter macht.
Dass er einen hohen Preis wird zahlen müssen.
Einen Preis, der absolut alles sein kann.
Und das erschreckt ihn.

Doch als er sich wieder auf René‘ s Augen konzentriert, auf das satte Braun, wird ihm klar, dass er keine andere Wahl hat.
Auch, wenn das Braun, der Boden unter seinen Füßen sein kann.
Ein fester Boden, auf dem sich Basketballspielen lässt, aber der, wenn es einmal regnet, nachgibt und ihn verschlingt.
Und er bemerkt, dass dieser Boden nun auch ziemlich unsicher scheint.
Als weiß er nicht, ob er lieber dieses brillante Spielfeld oder das Loch, in dem alles endet, sein will.
Die kleine Distanz ist nun fast überbrückt.
Und René‘ s Lippen geben den Ausschlag.
Ob sie sich wohl so anfühlen, wie sie aussehen?
Und der Kerl weiß, dass er es tun wird.
Es ist falscher, als falsch.

Musik ist überall.
In unserer Umwelt, in unserem Haus.
Um Dinge, in Dingen.
Um uns und in uns.
Aber am schönsten ist sie, wenn sie in unserem Herzen spielt.
Und wenn wir sie mit unseren Lieben teilen.

Tja, und in Mathi tobt die Musik. Und er teilt sie mit mir.
Noch nie in meinem Leben, habe ich so etwas Schönes gehört. Noch nie.
Wirklich nicht.
Eigentlich hat auch noch niemand für mich gespielt.
Am liebsten hätte ich geweint… tja, aber ich muss jemand anders sein, um geliebt zu werden.
Und dieser jemand weint nicht.
Aber in Mathias Nähe ist das mit dem Schauspielern plötzlich eine ganz andere Sache. Irgendwie schon fast eine Herausforderung. Selbst für mein Talent.
Hab ich schon gesagt, dass er wunderschön spielt?
Wohl doch, ich bin wirklich etwas von der Bahn abgekommen.
Die Tatsache, dass seine Musik Mathi selber traurig und erschrocken stimmt, macht mir Angst.
Die Tatsache, dass ich überhaupt hier gelandet bin, aber noch viel, viel mehr.
Und das nicht vorhergesagte Ende setzt auch einen drauf.
Die schockierten Augen eingeschlossen. Als haben sie gerade einen Horrorfilm nicht ertragen können. Vielleicht hat Mathi auch nur einen Albtraum unter Tags gehabt… obwohl es so ausgesehen hat, als wäre er dann aufgewacht und hat feststellen müssen, dass er die Realität ist.
O Gott. Vielleicht bin ich der Horrorstreifen!!!
Die Erinnerung zeigt mir die Besorgnis, die mich fragen lässt, was los ist.
Ich habe gespürt, dass etwas ganz und gar nicht stimmt, aber mir wurde das Gegenteil präsentiert.
Und ja, es hat mich gestört, dass er nicht froh darüber ist, dass er mir vorgespielt hat.
Das Ich hoffe ist natürlich ziemlich ehrlich gewesen, vor allem aber habe ich es an mich gesagt, was offenbar nicht sonderlich aufgefallen ist.
Denn es scheint eher wie ein: Ich hoffe, dass ich nicht schuld daran bin, dass es dir nicht gut geht bei dem Ganzen.
Aber es ist dennoch die Wahrheit. Ich werde noch mal ehrlich…

Das ist dann die Stelle, wo er weich wird. Oder wo ich weich werde.
Möglicherweise auch beide.
Mathias Augen werden so tief blau, dass ich nach Atem ringen muss.
Und die goldenen Dolche sind frisch geschliffen und ordentlich zugespitzt.
Irgendwas peitscht da durch die Luft, aber man kann nichts Bestimmtes erkennen.
Tja… und generell verschwimmt alles… außer Mathias. Das muss ich mir eingestehen.
Aber irgendetwas drückt in meiner Lunge. Oder in meinem Bauch.
Wahrscheinlich sogar weit mehr darüber hinaus.
Dieses unbeschreibliche Gefühl im Magen, dass mit Sicherheit keine Schmetterlinge sind, nein, Killerfliegen wohl eher. Mit giftigen Stacheln!
Und diese Kraft oder Energie. Das, was uns immer näher zueinander zieht.
Näher, weiter.
Der Atem wird hektischer und dennoch bleibt er leise.
Das ist ungewöhnlich.
Zeitweiße strömt da dieser köstliche Duft von Mathi in meine Nase.
Ich würde ihn gerne dort behalten.
Aber ich verliere ihn wieder.
Dann haut er mich erneut fast um.
Meine Knie werden butterweich.
Wo sind meine Muskeln hin?
Es brennt.
In mir.
In ihm.
Um uns. In uns.
Und der Rauch belastet mich.
Benebelt mich.
Es hört nicht auf.
Dieses Verlangen.
Ich weiß, dass das das zutreffende Wort ist.
Denn das hier ist keine Geborgenheit. Das ist eine Sucht.
Verboten. Illegal.
Denn wenigsten bekannt. Geheim.
Tückisch Gefährlich.
Und noch näher.

Es wäre leicht gewesen, wenn es nur dieses eine Durcheinander geben würde.
Aber es gibt Zwei. Drei. Noch mehr?
Denn wenn es wirklich passiert, ist es vorprogrammiert, dass meine Freundschaft mit Mathi stirbt.
Grauen überkommt mich.
Wenn es passiert, werden alle Lügen auffliegen.
Noch mehr Grauen.
Und wenn es passiert, werde ich demnächst irgendwann ziemlich verletzt werden.
Einmal habe ich es schon ertragen (und da ist das Verlangen nicht halb so groß gewesen), ein zweites Mal würde ich nicht überleben. Niemals.
Nicht auszudenken, was aus dem kaputten Mädchen dann wird. Eine Leiche?
Das Grauen bohrt sich wie eine Klinge in meinen Rücken.
Sticht immer wieder zu. Hört nicht auf.
Schweiß perlt mir von der Stirn. Ob man das sehen kann?
O Gott. Da sind seine Lippen.
Bald muss ich würgen. Aus Angst.
Gleich bin ich tot.
Der Duft wird intensiver.
Ein Kloss verwehrt der Luft, den Weg in meine Lungen.
Ich will schlucken.
Kann aber nicht mehr.
Das Messer stochert in der klaffenden Wunde.
Dann ein allerletzter tiefer Stoß.

Unsere Lippen berühren sich… fast, aber noch nicht ganz.
Trotzdem spüre ich sie schon.
Oder ist das die fremde Aura?
Sie sind so verlockend.
Ich weiß, ich will es auch.
Kurz verliere ich mich. Doch ehe ich das Messer im Rücken vergesse, dreht es jemand herum.
Dreimal. Viermal.
Der Kloss wird mich ersticken.
Der Kuss wird allem ein Ende bereiten.
Wenn ich tot bin.

Sag mir, was du tun würdest.
Hilf mir. Ich flehe dich an.
Ich will es. Er will es.
Meine Vernunft nicht.
Rede mit mir. Bitte!!!
Bitte…

Jemand lässt das Messer los, macht sich aber nicht die Mühe, es zu entfernen.
Ich werde…

Mit einem Ruck schlucke ich den Kloss hinunter. Mit aller Kraft.
Ich weiche zurück.
Sehe Mathi entschuldigend an.
Zuerst begreift er nicht. Doch als ich mich umdrehe und davon laufe, etwas langsamer als heute Morgen – weil mich etwas stark zurück zieht –, kann ich die Erkenntnis förmlich spüren.
Mathias fühlt sich, wie damals Adam, als Eva ihm den Apfel gereicht hat.
Und ich spiele die Rolle der armen Eva selbst, die von der Schlange verführt geworden ist.
Die, die ihre Liebe mithineingezogen hat. In das Unglück.
Und dafür müssen nun alle Menschen sterben…
Ganz so arg ist es nicht. Aber es ist nicht untertrieben, wenn ich sage, ein Pessimist würde es so empfinden. Und gerade in dem Moment bin ich einer.
Jemand, der es liebt, Recht zu behalten, wenn er sagt, dass er nie Glück hat.
Falls es diesen Jemanden überhaupt noch gibt.
Es kann durchaus auch nur eine Leiche der Trauer und Verwüstung sein.
Doch ich hab es nicht tun können.
Ich hätte einen Schwur gebrochen.
Ich wollte mich nie wieder auf so etwas banales, wie die Liebe einlassen.
Und Mathi muss dafür leiden.
Wenn er auch unschuldig ist.
Das bricht mir das Herz.

Meine Augen wollen dieses Schreckensbild nicht mehr sehen, eine Träne quillt aus meinem Auge hervor und verschleiert mir die Sicht. Doch das Wasser ist so unglaublich klar, dass ich gezwungen werde, mich umzudrehen.
Das alles geschieht in diesem verblüffenden Zeitlupentempo, das mir noch mehr Kraft raupt.
Und dann stelle ich schwerfällig einen Fuß vor den anderen, bis sich langsam wieder die Geschwindigkeit reguliert und ich renne los.
Mathi bleibt zurück und ich kann förmlich fühlen, wie ihn der Gedanke überkommt, mich zurückzuhalten, wie er seine Hand nach mir ausstreckt und wie er ins Leere greift, mir starr hinterher sieht, wie die Tür hinter mir ins Schloss fällt, wie nichts zurück bleibt.
Nur Schmerz. Und Ärger.
Ganz viel Ärger, weil man selber schuld ist. Weil Mathias es nicht hätte zulassen dürfen.

Groll dennoch über mich, denn ich habe Angst gehabt, er könne mich verletzten.
Jetzt habe ich ihm das angetan.
Das Vertrauen ist definitiv zerstört.
Und ich werde es nie, nie wieder herstellen können.
Das ist schlimm. Schlimmer als alles andere.
Unfassbar.
Ich stürme hinaus. Die Sonne heizt vom Himmel und droht mich mit ihrer unbarmherzigen Glut zu erdrücken, vielleicht ist es aber auch nur meine leicht erhöhte Körpertemperatur, aufgrund des Geschehnisses.
Und weil ich schon wieder laufe.
Irgendwas verfolgt mich. Jagd mich.
Im Leben. Im Traum.
Es riecht eigenartig süß, fast schon zu süß, gefährlich, verlockend.
Es ist still, ruhig, geschmeidig, pirscht sich überlegt an mich heran und ist dennoch schneller, als alles andere, was auf dieser Welt existiert. Womöglich schneller als Lichtgeschwindigkeit.
Jeden Augenblick kann es hervorspringen, mir die Kehle zerschneiden.
Mich vergiften, mich mit einem LKW fahren.
Meinen Körper in Säure werfen, zerstückeln.
Sogar eine Vergewaltigung traue ich dem Ding zu.
Aber es wird keines der üblichen Taten anwenden. Nein. Es wird weitaus mehr Schmerz hervorrufen.
Weitaus mehr Schmerz, als es je gegeben hat. Mehr, als ich ertragen kann und jemals ertragen könnte.
Ich stelle mir eine Organlose Gestalt vor, mit einem vergifteten, angezündeten Dolch in der Hand.
Sie streut Salz in meine Augen. Sie wirft mich auf einen mit Reißnägel übersätem Boden.
Das mit Blut besudelte Wesen zeigt mir alle meine Fehler im Leben auf, die ich schon längst wieder verdrängt habe, die Momente, die mir weh getan haben, Augenblicke, die mich zu dem gemacht haben, was ich bin und was ich nicht bin. Was ich nie sein werde.
Es zwingt mich rohes Fleisch zu essen. Ich muss mich darauf hin übergeben.
Immer und immer wieder, bis nichts mehr von mir übrig ist.
Und wenn ich mich dann blass umdrehe, hackt es mir meine Gliedmaßen ab.
Zuerst den einen Fuß, dann denn anderen.
Die Hände folgen. Knochen zerbersten.
Blut rinnt. Blut bedeckt alles.

Der Dolch wird in mein Herz gerammt. Schon wieder.
Nur dieses mal brennt auch das Gift und breitet sich langsam, schmerzlich in mir aus.
Und das Feuer verbrennt alles.
Niemand wird sich mehr daran erinnern…

Aber es wartet noch immer auf den richtigen Moment.
Und die Angst, die geistige Qual, Verwirrung ist um tausend Mal schwerer zu ertragen.
Dann bin ich zu Hause.
Mit Tränen überströmtem Gesicht. Mit einem ängstlichen Stirnrunzeln.
Mit der Mimik eines Märtyrers.
Mom kommt mir entgegen, weil sie mich gehört hat. Weil ich heute Morgen, mal wieder so auf und davon bin.
„Was ist denn los?“, fragt sie noch gestört. Obwohl sie es wahrscheinlich nur lieb meint.
Zuerst will ich gar nichts sagen und meine, es wäre die beste Strafe, aber dann sage ich die Wahrheit aus tiefstem Herzen und so leise, dass man sie kaum versteht, wenn man nicht genauer hinhört und sich dafür interessiert: „Ich bin hier“
Dann flüchte ich in mein Zimmer.
Gib eine veraltete Rabenstein CD in den CD-Player und drehe sie laut auf. Ich frage mich nicht einmal, seit wann ich so etwas höre und versinke in die Depression.
Verkrochen in einer Ecke, gegen einen eiskalten Heizkörper gelehnt.
Das ist es gewesen…
Mom steht noch immer schockiert im unteren Stock.
Die zweite Person, der wegen mir, zum Weinen zu Mute ist.

10. Juli 2011 7

Erinnert ihr euch noch an meine immer ähnlichen Träume?
Ich darf euch eine weitere gesteigerte Version vorstellen. Die schlimmste von allen.
Das Nichts umrundet von bedrohlichem Weis, das deutlich klarmachen lässt, dass es kein Nichts ist. Nur, dass mich dieses Mal eine Stimme ruft. Sie schreit geradezu.
Zuerst weiß ich natürlich nicht, woher sie mir so bekannt vorkommt, sogar fast vertraut, als würde ich sie schon mein Leben lang kennen. Am liebsten würde ich ins Schwarze springen, die Person, von der die Hilferufe stammen, heraufziehen. Doch irgendetwas hält mich zurück.
Instinktiv warte ich ab. Ich weiß, dass die Zeit alle Geheimnisse lüften wird.
Und die Schreie werden lauter, drängender. Auch wenn ich kein einziges Wort verstehe, sagt mir etwas, dass es um Leben und Tod geht. Und es würde der Tod sein.
Plötzlich erblicke ich Mathias. Er ist da unten – so weit weg.
Der Drang ihn zu retten wird größer, doch er schockiert mich. Noch nie bin ich auf die Idee gekommen, in dieses beängstigende Ding runter zu gleiten.
Aber Mathi ist so unbegreiflich schön. Bei ihm fühle ich mich bis zu einem gewissen Grad geborgen. Das ist alles andere, als typisch für mich. Und das macht mir umso mehr Angst.
„Renè“, ertönt es wieder mit diesem ausgeprägtem Echo und ich merke wie seine Rufe immer leiser werden, schmerzlicher, zuckersüß, bis sie schließlich ganz verstummen.
Mathias zuckt zurück und auf einmal strahlt er etwas anderes aus, etwas anderes als Gelassenheit und Frieden. Etwas dunkles, verzweifeltes.
Er dreht sich um und läuft davon – noch weiter weg von mir.

Dann bin ich aufgewacht, keuchend. Erschrocken. Völlig am Ende.
Mit diesem einen Ziel vor Augen: Ich muss das wieder gut machen.
Zumindest das, was man noch wieder gut machen kann.

Und es interessiert mich nicht, dass es erst sechs Uhr morgens ist.
Dass alle noch schlafen. Dass ich völlig übermüdet bin.
Dass ich nur ein altes, durchlöchertes, langes Hemd trage.
Ich mache mir nicht die Mühe, meine Schuhe anzuziehen und trage auch keinen BH.
(Mein Schlafaufzug halt…)
Ich renne einfach drauflos, schwinge mich auf meine Motorcross und fahre auf den Eidenberg.
Ein anderer Ort fällt mir vorerst nicht ein, wo sich der Kerl aufhalten könnte.

Mathias hat die ganze Nacht nicht geschlafen. Er ist mürrisch. Er wartet auf den Schmerz, der sich mehr und mehr ankündigt. Wie hat sie ihm das antun können?
Wie hat er sich das antun können??
Er will keinen Schmerz. Mathi weiß, er ist geübt im Verdrängen, aber das würde dennoch kommen.
Und egal, wie hart auch seine Schale ist, im Inneren riss sich sein angeschlagenes Herz ganz langsam in Millionen Einzelteile.
Der Kerl streift durch sein Territorium. Es ist so friedlich. Still.
Das Warten raubt ihm jeden Mut, jeden klaren Gedanken.
Es pirscht sich heran. Und es ist schnell.

Da greift es von vorne an. Es hat sich nicht einmal die Mühe angetan, ihn zu überrumpeln.
Es steht vor ihm. Es ist uralt und hat dieses schelmische Lächeln.
Vorerst gibt es sich noch nicht zu erkennen. Es stinkt.
Es ist uralt. Es hat keine Nerven. Aber es ist schlau. Und stark.
Und es will ihn. Nur ihn. Ganz allein.
Es hat diese schlimme Vergangenheit. Die alles, was im Jetzt ist zerstört.
Die alles, was im Weg ist ermordet.
Der Wind wirbelt plötzlich umher, zerstört die Nachtruhe, lässt das Holz unter seiner unbarmherzigen Kraft zerbersten. Reißt die Bäume nieder, die langen Gräser verneigen sich zum Boden hin.
Küssen ihn. Säubern ihn. Demütig. Unfreiwillig.
Die Tiere bringen sich in Schutz. Verstecken sich.
Doch Mathias darf nicht zurück weichen.
Das Haar zerzaust sich, eine seltsame Stimmung baut sich auf.
Eine Stimmung von Hass, von uralter Traurigkeit.
Und die tiefgrauen Wolken nähern sich der Erde, als wollten sie sie, mit samt ihren unterschiedlichen Wesen erdrücken. Die Luft brennt vor Kälte. Niemand kann das verstehen.
Niemand so richtig beschreiben. Im Konflikt mit sich selbst.
In der Mischung der verschiedenen Gefühle, vielleicht sogar die, die noch gar nicht benannt sind.
Vielleicht ein Gefühl, eines Mörders, mit dem ganz normalen Bösen, umrahmt vom Blutrausch.
Von Gier, von dem Verlangen nach Macht. Der Macht über diese Dinge, die man selber nie hat haben dürfen. Die man nie haben wird und bei denen man sich dabei ganz sicher ist, fast zu sicher für ein menschliches Verständnis.
Alles um Mathias wird immer unruhiger, aber auch kraftloser.
Die ganze Kraft und vor allem die seine selbst, scheint von etwas verschluckt zu werden.
Von dem Schatten, der sich vor ihm aufbaut. Vor dem Stückchen Nichts, das Etwas wurde.
Vielleicht der Teufel persönlich. Oder ein Richter.
Bis der entscheidende Schlag kommt.

Das Ding gibt sich auf einem Schlag zu erkennen, so schnell, das für kurze Zeit alles andere verschwimmt, bis man mit den Augen blinzelt und sich nichts mehr dreht.
Bis das unsichere Gefühl weg ist, dass man nicht weiß, ob es in Wirklichkeit passiert.
Vor Mathias steht Mathias.
Der böse. Oder besser gesagt, das böse von ihm.
Das, was zu allem fähig wäre, das was in jedem Menschen steckt.
Wenn die Zukunft in Wahrheit, immer das Geschehene bleibt.
Und das Geschehene ist in diesem Fall, alles andere als gut.
„Mathias, du Gutgläubiger, hat man dich schon wieder einmal enttäuscht?“, fragt der falsche Teil.
Er grinst. Doch Mathias sagt nichts dazu. Er hält seine Gedanken zurück.
Denn er weiß, dass dieses Monster alles sehen kann. Und alles gegen ihn verwenden würde.
Er ist ihm schon mal begegnet.
„Gib’s zu, die kleine da, du magst sie“, bohrt es weiter, als keine Reaktion kommt, wird hinzugefügt, „aber soll ich dir was sagen, sie ist in Wirklichkeit gar nicht so toll“
Mathias leckt sich unbewusst über die Lippen: „Doch, das ist sie“
„Klar, dass hast du bei deinem ersten Schüler auch gesagt. Und jetzt, jetzt hast du ihn ausgetauscht. Mit diesem kleinen, nichtstauglichen Jungen. Er ersetzt sogar deinen Bruder! Deinen echten Bruder!“, das Böse klingt aufgebracht.
Mathi wird kurz unsicher, dann fasst er sich wieder: „Er hat ihn nicht ersetzt. Er hat lediglich einen neuen Platz bekommen. Einen Platz in meinem Herzen. Von dem Teil, du ja natürlich keinen blassen Schimmer hast!“
„Wirklich“, schmunzelt die Falschheit belustigt.
„Und es ist noch genügend Platz für alle meine Lieben“, verteidigt sich der mutige Junge.
„Auch für mich?“, das Etwas macht einen kleinen Schritt nach vorne.
Der junge Mann weicht zurück: „Natürlich. Wenn du gut wirst“
„Ich werde mich nicht ändern. Du wirst dich nicht ändern. Dummerweise sind wird ein Paar. Heißt es nicht, man soll die Menschen so nehmen wie sie sind?“
Mathias schüttelt den Kopf: „Du bist kein Mensch“

„Sag mir, was ich dann bin“, fordert es.
„Etwas was es nicht gibt“
„Quatsch, ich bin doch hier. Du kannst mich sehen“, entgegnet das Monster, „aber soll ich dir sagen, wer ich bin?“ Eine kurze Pause folgt: „Ich bin du“ Das Ding legt seinen Kopf zur Seite: „Der stärkere Teil von dir, um genau zu sein“
„Du wirst mir nichts tun“, entgegnet Mathi, er spürt, wie seine Kraft immer mehr nachlässt, das Wesen, entzieht sie ihm.
„Stimmt, Renè, so heißt doch die Kleine…, hat das doch schon längst für mich getan“, wieder dieses halbherzige Lächeln.
Mathias will was sagen, aber es unterbricht ihn: „Und natürlich dein Dad… der Verlust zweier Familienmitglieder muss schwer sein… eingeschlossen die Demütigungen, die aufkommende Depression…“
„Stop!“, befiehlt Mathias, er kann die Bilder, die sich vor seine Augen ziehen nicht mehr ansehen.
Aber das Etwas will nicht auf ihn hören. Es ist belustigt. Die gezeigten Fotos werden immer hässlicher, noch schlimmer, auch wenn die gezeigten Personen die Schönheit in sich tragen.
Und dann wird die As-Karte ausgespielt.
Auf dem Foto ist Renè.

„Hm…, ein hübsches, dummes Kind. Noch so jung, so traurig…“
Mathias ist nun verwirrt: „Traurig?“
Er hat an alles andere gedacht…, an Wut, Verspieltheit, ja sogar an Angst, aber an Trauer?
„Sie hat dir nichts erzählt?“, das Wesen klingt immer älter.
Der junge Mann sieht es verstört an.
„Also nein… tja. Dann muss ich dich wohl informieren“,… eine kurze Pause, „Renè hat schon immer einen einmaligen Stur-Schädel gehabt, ihre Eltern haben sie total verwöhnt…, und sie ist ja auch schön – war sie immer schon – und hatte bei den Jungs nie wirklich Probleme. Sie liefen ihr hinterher wie kleine Schoßhündchen…, so wie du in etwa…“ Das Monster wartet kurz eine Reaktion ab, bekommt aber nichts Befriedigendes und redet weiter: „Ihre Pubertäre Phase, war so schlimm, dass ihre Mutter sie nicht mehr aushielt. Sie schickte sie zu ihrem Dad nach Berlin. Dort hatte sie dann erstmals einen richtigen Lover… und sie hat ihn betrogen. Und jetzt halt dich fest…“
Mathias weiß nicht, was als nächstes folgt, aber er verspürt die leichte Ahnung, dass es unerträglich wird. „Und zwar mit ihrer besten Freundin!“, lacht das Etwas, „Nur zum Spaß versteht sich…, sie ist nicht…“ Der Satz bleibt unvollendet, aber wird dennoch verstanden und dann kommt noch einer hinzu: „Ihr Dad hat’s rausgekriegt und wollte sie auch nicht mehr und Mum hat sich netter Weise überreden lassen. Und sie bereut es. Zu tiefst…“
„Das arme Prinzeschen, jetzt hat die Bitch auch noch dich an der Angel. Und du schätzt dich auch noch als Glückspilz, weil sie dich als Lückenbüßer einsetzt!“
Mathias fällt die Kinnlade herunter. Auch wenn er keinem der vielen Worte Glauben schenkt, ist er schockiert.
„Ach Süßer…, es ist doch die Wahrheit… sie arbeitet doch in diesem Club, Le Strade, oder wie heißt der? Du bist ihr doch nur ein dreckiges Spielzeug, damit sie den anderen Millionen so richtig einheizen kann“
Das Monster sieht mit dem kecken Lächeln, wie Mathias das alles nun nicht mehr verdrängen kann. Langsam kapiert er.
„Nein, nein so ist das nicht…“, sprudeln die ersten verzweifelten Worte.
„Was meinst du, warum sie dich sitzen gelassen hat…? Weil sie dich nicht verletzen wollte?!?“, der Spott und die Ironie…
Der Kerl verliert den Bezug zu den Tatsachen und kann auch nicht wiedersprechen und da sagt das Monster etwas Entscheidendes: „Sie fährt gerade mit ihrer aufgemotzten Motorcross… uuuuuuuuu sie hat nicht viel an. Sie wird sich mit jemanden treffen wollen“
Mathi’s Augen werde größer… vor Angst.
„Wer wird es wohl sein?“, spottet das Mistvieh, „Wir können ihr ja einen Stein in den Weg werfen und dann wird es nur das Krankenhaus… oder die Leichenhalle sein“
Das ist im Ernst gesagt.
Mathias springt dem Etwas an die Gurgel. Er muss sich wehren.
Sein Böses will tatsächlich René Tod sehen!!!

Natürlich verfehlt er das Dunkle. Es ist geschickt.
Da holt er sich eine Axt zur Seite und schlägt auf das Ding ein.
Wieder und wieder.
Und Blut muss spritzen.
Gerechtigkeit walten.
Aber das tut es nicht.
Das Etwas lacht: „Mein Lieber. Du kannst mich nicht umbringen. Ich bin du“
Zähneknirschen. Mathi verschwindet wieder einmal kurz.

„Was hast du vor?“, dieses Mal wird das Sächliche hellhörig. Mathi hält einen langen aufgewickelten Kabel in seiner Hand und schreitet zu einer alten Eiche.
Voller Entschlossenheit: „Und du bist ich“

Der irregeführte und schon fast halb wahnsinnige Junge wirft das eine Ende des Kabels über einen Ast und knotet es fest. An dem anderen Ende wickelt er eine Schlinge. Ein Stein wird her gerollt.
Hundert Emotionen kreisen um ihn und so viel Atem.
Und alle kreisen um Renè.
Um die Kleine.
Um die niemals seine Renè.
Es gibt auch Bruchstücke von seinem echten Bruder und seinen neuen Kumpel.
Von seinen alten Freunden.
Seinen Eltern.
Der Vergangenheit.
Sie alle würden ihn dafür hassen – selbst im Tode. Das weiß er.
Aber er kann nicht zulassen, dass dieses Monster seiner Liebsten etwas antut, auch wenn seine Gefühle nicht erwidert werden.
Und er kann dem Ding auch nicht mehr zuhören, er verliert den Verstand.
Womöglich hat er ihn schon verloren, ansonsten würde er nicht auf diese leichtsinnige Idee gekommen sein.
Das Böse von ihm sieht nochmals abartiger aus, als ob das überhaupt noch ginge.
Mit einer Unglücksmine. Und dann mit bloßem Zorn.
„Das tust du nicht!“

Das Mädchen jedoch ist unwissend und doch hat es ein Gefühl, als gänge es um Leben und Tod. Es fährt schneller und zerkratzt sich die zerbrechlichen Arme und Beine.
Aber ein Drang, tief in ihrem stechenden Herzen, schmerzt so arg und treibt sie vor ran.
Sie will rechtzeitig kommen – zu was auch immer.
Sie muss.

Kennst du das Gefühl, wenn du einen schlechten Tag hast und nichts mehr einen Sinn ergibt?
Kennst du das Gefühl, wenn du denkst, dass es ein Fehler war, geboren zu werden?
Kennst du das Gefühl, wenn du meinst zu wissen, dass wenn du tatsächlich gehst, dich niemand vermissen wird?
Dann wird keine Träne mehr genügen.
Dann wird kein Schrei zu laut sein.
Dann wirst du still in deinem Unglück versinken.

Du wirst nicht wissen, wie tief es sein wird.
Wie hart der Boden, auf dem du landen wirst, sein wird.
Was dir dort begegnen wird.
Du wirst zerstört sein.
Es wird weh tun.
Aber irgendwann wird jemand kommen, der dir hilft.
Er wird dich herausziehen.
Oder dich auffangen.
Ganz egal.
Hauptsache, er wird für dich da sein.
Bis es dir wieder gut geht…

Aber bei Mathi ist das anders.
Er hat schon so viel verloren, so viel gekämpft und auch wenn solche Dinge einen stärker machen, im Grunde wird die Vergangenheit einem gerade in solchen Momenten wieder einholen.
Sie wird alles verschlimmern.
Und sie verschlimmert es gerade.
Und das Böse in ihm, sieht ihm dabei zu.
Auch wenn es weich wird, wenn es fleht, weil es auch noch leben möchte.
Irgendwann ist es zu spät.

Wenn ein Mensch so weit ist, dass er kurz vor seinem Tod steht.
Wenn er ganz sicher weiß, dass es so ist, dann wird er sich der Frage stellen, was er in seinem Leben alles Gutes getan hat.
Zuerst für seine Freunde, seine Familie. Zunächst für Fremde und für die gesamte Welt.
Man wird jedes einzelne Lächeln eines anderen abzählen, jede traurige, zornige Miene.
Und zuletzt wird man daran denken, wann man etwas Gutes für sich selbst getan hat.
Denn meisten wird nichts einfallen oder zumindest ziemlich wenig.
Das wird dann die nächste Frage aufwerfen, ob man sein Leben, auch wirklich gelebt hat.
Viele werden es vergeudet haben…

Bei Mathias hingegen ist es anders.
Er kennt schon all diese Fragen. Er hat sie sich ein Leben lang gestellt.
Ein kurzes Leben lang.

Er weiß, dass er nicht viel mit seinem Leben angefangen hat.
Wie denn auch… mit den bitteren Enttäuschungen seiner Erinnerung.
Immer, wenn er sich einmal glücklich zu sein, geglaubt hat, wurde es ihm zu nichte gemacht.
Und in diesem Moment will er sich daran nicht erinnern.
Er legt die Schlinge um seinen Hals, lauscht seinem Herz.
Ignoriert das Böse, dass immer mehr verschwindet – unfreiwillig.
Der Junge steigt auf den großen Stein. Er meint es ernst.
Nichts wird ihn zurückhalten können.
Sein Gewissen ist mit schwarzen Flecken übersäht, aber es ist schon immer klar gewesen, das er nicht friedlich sterben könne.
Er schwingt sich zurück, stoßt somit den Stein unter seinen Füßen weg, der gleich darauf einen Meter zu weit weg rollt und ein gellender Schrei wird erstickt…
Das pochende Herz spricht seinen letzten Takt: „René, ich liebe dich!“

René ist derweil endlich an ihr Ziel gelangt.
Sie würgt ihre Motorcross ab und springt auf den Boden.
Ihr Fahrzeug fällt klirrend zu Boden.
Vor lauter Eile fehlt sie zu Boden, Steine bohren sich in ihr schmerzendes Knie.
Aber nichts kann sie stoppen.
Nichts ist ihr wichtiger, als Mathias.

Doch Mathis‘ letztes Bild vor Augen ist nicht René.
Nein, es ist sein Bruder, fast kann er sich nicht erklären warum.
Und sein Bruder spricht mit ihm: „Idiot! Du stirbst jetzt ganz sicher nicht. Was bildest du dir ein??? Du hast dich so lange erhalten und jetzt willst du wieder alles zerstören???“
Mathias sagt: „Selbst ich kann nicht mehr“
Und sein Bruder erwidert: „Deine Zeit ist noch nicht reif. Du wirst leben!“

Mathi versteht nicht, doch im selben Moment geschieht etwas sonderbares Unfassbares.
Der Ast an dem die Leiche hängen soll, bricht ab.
Der Lebende fällt zu Boden. Und lebt.


„Mathi?“, frage ich ins Dunkel, als ich die Umrisse einer Person erkennen kann. Sie tretet näher.
Und ich kann meinen verbotenen Traummann sehen.
Er sieht alles andere als gut aus. So, als wäre er gerade von einem Baum gefallen und nun hoch depressiv, weil er an eine seltene Frucht nicht ran gekommen ist.
Doch als mir der lange Kabel in seiner rauen Hand auffällt und ich das Ganze, sich mir bietende Bild, betrachte, ist für mich so einiges klar und doch wieder unerklärlich.
Angst umhüllt mich, schneidet mir ins Gesicht, mein Blick wandert weiter zu dem Baum, an dem vermutlich ein Ast abgebrochen ist. Und an dem Ast liegt noch ein Stück Kabel.
Und… und der Stein ist auch fehl am Platz. Und…
„Du wolltest dich umbringen?!?“, Schweiß perlt mir von der Stirn. Ich weiß nicht recht, was ich eigentlich denken soll. Es scheint, das gerade einer meiner schlimmsten Albträume wahr geworden ist.
Das Loch. Ich bin zu spät.
„Du.. du, du hast das wirklich gewollt???“, ich kann das alles einfach nicht verarbeiten und warte verzweifelt auf eine Antwort, eine Bestätigung.
Es kommt keine Reaktion, kein Wimperzucken. Gar nichts.
Wie eine Tote Gestalt.
Und bei diesem Wort zucke ich schon wieder zusammen. Tote Gestalt.
Mich ekelt es an oder… keine Ahnung wie man das beschreiben soll.
Das Gefühl… das Gefühl, dass ein geliebter Mensch nicht mehr da sein will… und … und das man vielleicht oder vielleicht auch ganz sicher daran schuld ist.
O Gott. „Warum, warum, warum wolltest du das…“, das „tun“ bleibt mir irgendwo im Hals stecken.
„Wie kannst du mir das antun“, flüstere ich mit dieser hysterisch hohen Stimme und es klingt so schrecklich kalt, dass das… ich weiß nicht.
„O mein Gott“, ich rede einfach irgendetwas, Hauptsache, ich kann einfach reden, „Wieso? Warum? Hilfe, warum???“
Und diese starre Mine schaut mich an und ist zerreißend schmerzlich, tödlich bedrohlich, leer, leerer als Leer. Es ist wie nichts.
Es macht mich fertig, wenn ich keine Antwort bekomme. Es ist, als wäre Mathi, auch wenn er es nicht geschafft hat, sich umzubringen, dennoch Tod. Dieser Gedanke ist so arg schrecklich, dass das… wenn…, wenn er nicht mehr da wäre!!!
Jetzt schießen mir Tränen ins Auge, von den Augen und wollen alles ertränken. Alles.
Alles. Alles. ALLES.
Ich schluchze laut. Lauter. Noch lauter. Unerträglich laut.
Und dann kann ich nicht anders, als auf Mathias zu stürzen und ihn ganz fest zu umklammern, damit ich endlich weiß, damit ich endlich sicher sein kann, dass er lebt. Dass er noch da ist.
Dass es meinen einzigen Lebenssinn noch gibt.
Noch mehr Tränen.
„Warum, sag mir warum wolltest du dich umbringen“, schreie ich ihm ins Gesicht, „Warum?“
Ich kann mich nicht kontrollieren, drücke noch fester zu.
„Verdammt, wieso??“, ich führe mich tatsächlich so auf, als wäre er wirklich gestorben.
Und obwohl er unerträglich warm ist, er sagt nichts und seine Blick ist so kalt, dass es mich immer wieder durchschüttelt.
„Sag, bitte, bitte sag doch was!“, schreie ich weiter, so laut, dass ich die ganze Nachtruhe der Tiere aufscheuche.
„Bitte!“, flehe ich, „ich muss wissen, dass du da bist“
„Ich MUSS“, bettle ich weiter und weiter und kann noch immer nicht sagen, wo mir gerade der Kopf steht, ich will nur sicher sein, dass ich mir ihn nicht einbilde. Ganz sicher.
Und je länger ich keine Reaktion zurückbekomme, desto größer wächst meine Angst, meine Wut, meine Sorge, meine Verzweiflung und ich sterbe selber daran.
„Warum, warum hast du das getan?“, ich verzweifle.


Mathias sieht starr in das Tränen über strömte Gesicht.
Er ist gerade erst wieder aufgestanden, nachdem er es nicht fassen konnte, dass ihn sein Bruder wirklich vor dem selbst verschuldeten Tod bewahrt hatte.
Und es hat auch lange gedauert, bis er soweit gewesen ist, dass er es überhaupt auf seine Beine geschafft hat. Dass er sich im klaren war, dass er wirklich noch am Leben ist.
Tja, dann ist René aufgetaucht.
Der Junge hat mitansehen müssen, wie ihr langsam bewusst wurde, was er gerade hinter sich hatte.
Was er getan hatte. Was passiert ist.
Sie hat ihn angeschrien. Sie hat es nicht wahrhaben wollen. Sie hat eine Erklärung wollen.
Eine Versicherung, dass er wirklich nicht von der Welt gegangen ist.
Aber wie kann er es ihr versichern, wenn er es doch selbst noch nicht so recht sagen kann?
Und will er das?

Am liebsten hätte er sich umgedreht und wäre weggegangen.
Andererseits will er des Mädchens schönes Gesicht sehen und die Schokoaugen.
Aber er muss sich das verbieten.
Gerade als er sich nun wirklich zuerst einmal aus den Staub machen möchte, läuft sie zu ihm und umschlingt seinen verhältnismäßig großen Körper.
Sie schreit ihn an. Sie weint. Sie ist unwiderstehlich und verzweifelt, zerstört.
Sie merkt nicht einmal, dass sie nur ihr Nachthemd anhat, dass der wenige Stoff halb zerfetzt ist, dass sie keinen BH trägt, dass ihre Arme und Beine abgeschürft und voller großer Kratzer und blauer Flecken sind und dass ihr Knie aufgeschlagen ist… und dass sie ihn wild, leidenschaftlich umarmt.
Das Mädchen kann gar nicht anders. Es ist ihr egal.
Sie will nur hören, dass es ihn noch gibt.
Mathias wird weich, auch wenn man es ihm nicht ansieht. So gern würde er etwas aufmunterndes sagen. So gerne… und dann kommen ihm die Worte seines Bösen in den Sinn.
Er wird alles bereuen…


„Ich wollte mich nicht umbringen“, lügt der Junge.
Ich weiche etwas zurück, um in sein Gesicht zu sehen. Er sagt mir nicht die Wahrheit.
„Zumindest nicht wegen dir“, sein Zusatz bringt Missbilligung mit sich, aber ich bin einfach nur froh, dass er was zu mir sagt, das war die gewünschte Bestätigung.
Dann folgt wieder Stille, bis Mathi seine Stimme wieder erhebt: „Du kannst mich jetzt wieder loslassen“ Ernster Ton.
Zuerst begreife ich seine Worte nicht, vielleicht will ich sie ja auch gar nicht begreifen, aber dann verstehe ich, er ist sauer wegen vorhin… und weiche zurück.


Mathi staunt darüber, dass die Kleine ihn tatsächlich loslässt. Es ist so unterwürfig, dass ist er von ihr nicht gewohnt. Und wenn er ehrlich ist, muss er sich eingestehen, dass er ihre Arme am liebsten selber um seine Taille zurücklegen will. Aber etwas hält ihn zurück.
Dennoch schmerzt es, dass die zarten Hände ihn nicht mehr berühren und ihm wärme spenden. Er wünscht sich sehnlichst, dass nicht immer alles so schwer wäre und dass er René einfach zu sich zurückziehen kann, ihren heute zierlicher wirkenden Körper an ihn drücken – ganz fest – ganz lang.
Und dann können seine Lippen die ihren berühren und er könnte sich nun seinen verdienten Kuss holen und René würde heute keinen Rückzieher machen, da ist er sich sicher.
…Aber morgen vielleicht.
Er darf nicht.


Meine Hände fühlen sich leer an. Kalt.
Ich sehne mich nach Mathi’s Geborgenheit, aber ich muss mich mit allen nur erdenklichen Mitteln zurückhalten. Ich muss mit Mathias reden. Und mich entschuldigen.

„Was…“, ich muss von vorn anfangen, „Was da heute war, dass…“
„Das ist Geschichte“, würgt Mathi mein ‚Tut mir leid‘ ab und eine Welle neuer Verzweiflung überrollt mich, als mir bewusst wird, das Mathias nichts von mir will.
Aber ich bin mir nicht ganz sicher, wie er das nun wirklich gemeint hat: „Was meinst du? Du… du…“
„Ich will dich nicht mehr sehen“, diese Worte scheinen bleich herzlos, unterdrückt eisig.
Sie sind nicht so schlimm, wie der Gedanke, Mathi sei tot, aber dennoch schlimm genug.
Ich muss schlucken. Muss was sagen: „Aber warum?“ Eine sinnlose Frage, eine unpassende Frage.
Er mag dich nicht…
Ein Zögern bringt mich dazu weiterzusprechen: „Ich…, ich verstehe, dass du sauer bist, ich… ich weiß, dass du mich hasst… aber, so sehr?“ Das unausgesprochene Fragenzeichen klingt wehmütig im Bewussten nach. Fast abhängig. Und ich schaue in die tiefblauen Augen, die betörende Farbe schützt die Hintergründe so sehr, dass ich keinen Zweifel daran hege, dass Mathias mir die Wahrheit sagt, zumindest seine Wahrheit. Das, was er wirklich glaubt.
„Du verstehst nicht“, der unbewusst streitlustige, harte Ton lässt mich erschauern, dann wird er traurig, sensibel… wütend, still und doch tobend, „Du tust allen weh“
Die Worte so scharf wie eine Messerspitze, frischgeschliffen: ‚Du tust allen weh‘
Allen. Ich kann darauf nichts sagen.
„Du tust deiner Mutter weh. Dein Vater hat dich nicht mehr ausgehalten. Er hat dich wegschicken müssen, weil er nicht mehr konnte! Du hast deinen Freund betrogen, mit deiner besten Freundin! Weil du Spaß haben wolltest?!? Du hast alle Kerle benützt. Du hast sie verletzt. Du hast mir weh getan…“, es folgt eine Pause, der Sprudel der Worte nimmt ein klägliches, ersticktes Ende.
Ich reise meinen Mund auf, klappe ihn wieder zu.
„Woher weißt du…“, beginne ich, bis mir erst klar wird, dass er da lauter Lügen erzählt, trotz seiner Ehrlichkeit – oder bin ich verrückt???
„Ich hab niemanden betrogen!“, protestiere ich, „Sie haben MICH betrogen!“
Tränen laufen aus meinen Augen über meine geröteten Wangen.


Gern hätte Mathias René geglaubt, aber der Gedanke daran, sie lügt ihm gerade an, zerstört das.


„Ich hab doch keinen benutzt!“, kreische ich weiter, bis mir auffällt, dass Mathias auch etwas über meinem Vater gesagt hat und diese Worte bringen meine Augen zum Brennen. Er hat dich nicht mehr ausgehalten…
So etwas habe ich schon immer vermutet. Das ist die Bestätigung.
Neuer Schmerz.
„Wie…, sag mir, wie kannst du so etwas behaupten?“, mehr weiß ich nicht zu sagen.
Mehr habe ich nicht zu sagen. Außer eines noch: „Du hast mir auch weh getan.“
Mathi bleibt zurück, aber ich merke, dass er mir nicht einmal hinterher sieht.
Ich stelle meine Motorcross auf, gebe leblos Gas und düse davon.
Jetzt wünsche ich mir, ich hätte so einen Kabel. Einen Stein. Einen Baum.

11. Juli 2011 8

Nach einer halben Ewigkeit bin ich zu Hause angelangt. Es ist eine trostlose Zeit gewesen.
Ich schätze mal, es ist bereits drei Uhr morgens.
Dummer Weise habe ich in der Eile meinen Haustürschlüssel vergessen, man hat mich unbewusst ausgesperrt.
Ich kauere mich in die Ecke unserer kleinen Stiege und schluchze lautlos vor mich hin.
Mathi…!
Es ist ein unerträgliches Gefühl. Es zerdrückt. Es zerstört.
Und ich hoffe inständig, zum ersten Mal im Leben, dass ich, wenn die Sonne über dem Horizont aufgeht, noch lebe…, denn plötzlich bin ich mir da gar nicht mehr so sicher.
Denn es ist anders, viel zu real, viel zu nah.
Tja. Mein Gefühl ist zu eisig. Ich habe wirklich Angst, panische Todesangst, dass es nie wieder wärmer wird…

Während sich der schwarze Himmel über den Berggipfeln zu einem wunderschönen, tiefsinnigen blau färbt, der von den ersten gelben Streifen durchzogen wird und immer weiter auch ins Rote geht…, befinde ich mich in einem Zustand der Ich-weiß-nicht-was.
Die Folgen sind starkes Zittern am ganzen unterkühlten Körper – obwohl es warm ist –, Gefahr einer Infektion am aufgeschlagenen Knie, ein tiefes, eingerissenes Loch im Herzen…
Das wiederum führt ins Koma, danach zu Tod.
Oder einfach nur zur Leblosigkeit, weil man dann wenigstens diesen Schmerz nicht mehr spürt.

Das Geräusch, das durch das Hochziehen einem Rollo, unseres Hauses, verursacht wird, sagt mir, dass meine Sinnesorgane dennoch noch perfekt funktionieren.
Und die Art, wie der Rollo hochgezogen wird – und zwar schnell und grob und ZU schnell – zeigt mir, dass meine Mum diejenige ist, die das macht.
Es wird mir dadurch bestätigt, dass mein Stiefvater schon wieder einmal etwas lauter meckert und versucht sie zurechtzuweisen. Vergebens.
Typisch Mum, die sich da wieder rechtfertigt. Und wenn ich nicht allzu streng bin, ist sie auf eine gewisse Art und Weise gleich wie ich – ein Sturkopf, oder mehr als das…
Dann höre ich noch, wie ihr Freund aus der Garage fährt, er ist durch die Kellerhaustüre gegangen und weg ist er. Und auch die Klinke, die sich rechts ober meinem Kopf befindet bewegt sich.
Mum will die Zeitung holen. Dann sieht sie mich.

Sie sieht schockiert aus. Eine Träne kullert in Zeitlupe über ihre rechte Wange.
Auf ihrem Lippen steht ein Satz wie ‚Was passiert denn nur immer mit dir?‘
Und dann mache ich etwas, was ich nie im Leben von mir gedacht hätte, was niemand von mir nur irgendwann hätte denken können.
Ich springe mit einem wackeligen Satz auf und falle in die Arme meiner Mutter. Sie fängt meinen überlasteten Körper auf.
„Er mag mich nicht…“, und dann heule ich wirklich, kräftig, laut.
Und als meine Mum mich fester zu sich drückt, bin ich mir plötzlich sicher, dass ich lebe.
Ich bin so unglaublich Dankbar. Die kleine Geste bedeutet mir die Welt.
Ganz unerwartet fühle ich mich – auch wenn ich gerade ziemlich verzweifelt bin – auf eine gewisse Art und Weise geborgen.
Dieser Moment ist unbezahlbar. Ich würde ihn für nichts tauschen.
Für absolut gar nichts.

Keine Ahnung wie lange wir da so standen, wirklich nicht, aber irgendwann zieht mich Mum ins Haus.
Sie reicht mir eine kuschelige Decke, in die ich mich sogleich einhülle. Inzwischen sie in die Küche geht, setzte ich mich auf das alte Ledersofa und warte.
Mit zwei heißen Schokoladen kommt sie zurück. Sie reicht mir eine.
„Danke“, sage ich noch immer etwas außer Atem, keiner weiß, dass Heulen auf Dauer echt anstrengend ist.
Sie nickt und fragt: „Willst du reden?“
„Wenn ich eine Freundin hätte, würde ich es wollen…“, dann gebe ich mir einen Ruck, „aber da ich hier keine richtige habe…“
Über Mums schönes Gesicht zieht sich ein komischer Lichtstrahl – oder bilde ich mir das nur ein?
„Ja, ich will reden. Mit dir“
Und dann kommt das lieblichste Lächeln, dass ich je auf Mums Lippen gesehen habe.
Ich muss auch lächeln. Das macht mich glücklich.
Und dann beginne ich zu erzählen. Noch mal ganz von vorn.
Ab dem Zeitpunkt, an dem sie meinen Dad und mich verlassen hat. Ich erzähle ihr mein ganzes Leben.
Ich schildere ihr meine Kindheit, beschreibe die Personen, die ich im Laufe der Zeit kennen gelernt habe. Sage ihr, dass ich immer etwas hintennach mit der Entwicklung war, weil ich mich an keine weiblichen Personen wenden konnte. Und was das für Auswirkungen in meiner Gesellschaft hatte, dass ich immer nur mit Jungs befreundet gewesen war und nicht mal in der Hauptschule, im Traum daran gedacht habe, einen davon zu küssen.
Und je älter ich wurde, desto schwieriger war es.
Während sich andere Girls damit beschäftigten, ihr Haar zu kämmen und sich zu schminken, veranstaltete ich mit den Typen Wettessen, ohne auch nur einen Gedanken an Übergewicht zu verschwenden.
Inzwischen sie sich die Beine glatt rasierten und die Augenbrauen zupften, trainierte ich Fußball.
Ich habe mich sogar ein paar Mal in sämtliche Teams geschummelt – es ist nie aufgefallen, dass ich ein Mädchen bin. Es dauerte ziemlich lange, bis ich überhaupt erste weibliche Rundungen hatte, aber ich habe auch gelernt, diese zu verstecken, wenn ich wollte.
Und ich hasste diese kneifenden BHs.
Zuerst sah ich nie etwas Falsches daran, dass ich mich nicht mit Mädchen anfreundete – ich war viel lieber ein Junge. Und Dad unterstützte mich in jeder Situation, zumindest wenn er konnte.
Die Phase mit der ersten Regel war dennoch eine Katastrophe.
Aber im Grunde war alles perfekt. Tja, bis ich sechzehn wurde und die meisten Mädchen und Jungs schon glücklich vergeben waren. Irgendjemand, ich glaube Lissy, hat es damals so eingefädelt, dass mich niemand mehr mochte, wegen meiner Unweiblichkeit.
Zuerst habe ich dagegen angekämpft, dann bin ich verzweifelt und dann habe ich eingesehen, dass ich endlich ein Mädchen werden MUSS.
Ich hab Lissy um Hilfe gebeten, auch wenn sie mich in das ganze Schlammassel reingeritten hat, sie kannte sich mit allen diesen Dingen am besten aus und Dad konnte mir nur schlecht helfen.
Bis heute weiß ich nicht ganz genau, warum sie tatsächlich darauf eingegangen ist. Aber vielleicht ist es auch daran gelegen, dass ich ziemlich lange mit Mark befreundet war, der Mädchenschwarm der Sechsten und soweit ich weiß, war sie auch ziemlich in ihn verknallt.
Dann kam diese große, herausragende Party – aus mir war ein Model geworden.
Meine sportliche Figur hatte ich wohl dem ganzen Sport mit den Kerlen zu verdanken und die Details stammten von Lissy.
Mittlerweile waren wir beide aus unerklärlichen Gründen total dicke Freunde.
Aber ich merkte, dass es ihr nicht passte, dass mich alle Jungs so verwundert anglotzten. Naja, so hässlich war ich nicht und plötzlich sogar Mädchenhaft.
Ich wollte Lissy mit Mark weiterhelfen, aber der wollte nichts von ihr, auch wenn sie die Klassendiva war, denn… naja, er hatte mich gern – ziemlich gern.
Und zum ersten Mal, war dann auch ich, das jungenhafte Mädchen, verknallt.
Das ging nicht lange gut.
Mark hat mich mit Lissy betrogen. Das war also alles nur Verarsche gewesen…

Mum sieht mich mit großen Augen an: „Und was kam dann?“
„Tja, ich habe weitergelebt, bin noch mehr zum Mädchen geworden und habe Fußball total vernachlässigt. Das hat mich traurig gemacht. Und dann hat mich Dad hierhergeschickt.“, geknickt sehe ich zu Boden: „Ich dachte, er tut es, weil er mein inneres Mädchen nicht mehr aushält“
„Aber Schatz“, Mum streicht mir sanft über die Wange, „Er hat es doch nur für mich getan. Ich habe ihn darum gebeten. Mir kam der Gedanke, ich müsse endlich auch einmal Mutter sein und mich entschuldigen, dich kennen lernen. Er wollte dich nicht hergeben…“
„Wirklich?“, muss ich mit einem Klos im Hals nachfragen.
„Nein, niemals… Aber er war der Meinung, dass ein Kind, insbesondere ein Mädchen, seine Mutter braucht. Und naja. Ich sehe das anders.“, sie macht eine bedeutende Pause: „Eine Mutter braucht ihre Tochter“
Ich bin gerührt und muss sie umarmen.
„Ich brauch dich auch“, das meine ich ehrlich.

„Und jetzt erzähl schon, was ist dann hier passiert?“, fragt sie, während sie ihre Neugierde unterdrückt.
„Ich bin Schauspieler geworden“, sage ich und muss kurz auflachen, weil Mum mich so verdutzt ansieht, „Naja, ich bin zwar nicht zum Fußball zurückgekehrt – aber ich habe das Basketball entdeckt. Ich spiele in einem echten Team. Aber das große Spiel kommt erst noch“
Mum schüttelt den Kopf: „Typisch du“
„Hei, in jedem Mädchen steckt auch ein Junge“, erwidere ich und spreche weiter: „Ich arbeite im La strade“
„In der neuen Bar? Hinter der Theke?“, jetzt schwingt Mistrauen in ihrer Stimme mit, „ist das überhaupt legal?“
„Jep, in der neuen Bar. Nicht nur hinter der Theke.. aber, aber es ist nicht so, wie du denkst“, lenke ich ein, „Aber ich ziehe mich nicht aus. Es ist eher wie eine Show auf einer großen Livebühne. Mit schönem Outfit und man kann machen was man will… das ist voll der Kick“
Ich beiße mir auf meine Unterlippe.
Mum atmet ruhig aus: „Kein Ausziehen“
Ich nicke, sie muss halt damit leben, dann schneide ich ein neues Thema an: „Dann gibt es noch Mathias.“ Meine Stimme wird traurig.
„Du magst ihn wirklich“, eine Feststellung.
Wieder nicke ich: „Aber er hat ein komplett falsches Bild von mir. Und er hasst mich“
„Er hasst dich bestimmt nicht. Wie könnte jemand einen so liebenswerten Menschen, wie dich hassen?“, es klingt so aufrichtig gemeint.
„Doch das geht“, platz es aus mir heraus.
„Sicher, dass das nicht nur ein kleiner Streit ist?“, fragt Mum nach.
Ich erinnere mich an die sämtlichen Anschuldigungen und bin mir sicher: „Das war kein Streit. – Das war das Ende“
Bevor Mum etwas entgegen kann, plappere ich weiter: „Und das wäre nicht einmal das Problem“
„Er weiß nicht, dass ich auch sein Kumpel bin.“, …
„Was?“, muss meine Mutter nachfragen, „Er kennt dich als Junge und als Mädchen? Und er weiß nicht, dass du beides bist – oder spielst?“
Sie sieht mich ungläubig an. „Das ist nicht dein Ernst“
„Ich schätze doch“, stimme ich missmutig zu.
Dafür weiß Mum wohl keinen Rat.
Mathi bleibt in Gedanken in meinem Kopf hängen, wieder würde ich am liebsten heulen. Das sieht Mum uns sie umarmt mich wieder und lässt mich eine Zeit lang nicht mehr los: „Das wird bestimmt alles“ Das glaubt sie leider, doch wohl selber nicht…

Eine Weile später, als wir unsere Heiße Schokolade ausgetrunken haben und die Tränenquelle so halbwegs versiegt ist, reißt mich Mum aus meiner Versunkenheit: „Ich glaub, du brauchst heute einen Ich-tu-garnichts-Tag“
Fragend sehe ich sie an.

Eine DVD landet im Player. Ein Topf mit geschmolzener Schokolade steht vor uns.
Und ein ganzes Tablett voll Obst und kleinen Teigwaren.
Auch zwei Löffel…
Das sollte für heute genügen.


12. Juli 2011 9

Der Traum mit dem Loch. Er ist anders.
Weißer Rand, schwarzes Tief. Ich höre jemanden laut „Mathi“ rufen.
Es klingt nicht wie ein Hilfeschrei, nein, es ist so, als wäre es für diesen jemanden zu spät.
Denn zuletzt bleibt nur noch ein Hauch von leisem Gejammer.
Aber Mathi ist nicht da, er wird auch nicht da sein.
Und dann begreife ich, dass ich diejenige bin, die da zu Grunde geht – ohne Rettung.
Mathi wird für mich nicht da sein.
Und dann stirbt die Stimme.
Dann sterbe ich.

„René?“, meine Mum, „Das war nur ein Traum“
Sie hat eine mütterliche, beruhigende Stimme.
Mit einem Ruck setzte ich mich auf – und falle fast vom Sofa, auf dem ich anscheinend eingeschlafen bin. Mum hält mich fest.
„Ein Traum“, wiederhole ich…
Dann bekomme ich mein Frühstück serviert. Ich staune nicht schlecht, als mir auffällt, dass Mum in letzter Zeit auch wieder Kalorienreiches Zeugs einkauft. Ich bin stolz auf sie. Denn sie hat das halbe Leben absichtlich gehungert.
„Irgendeine Dame namens Daina hat angerufen, sie wollte mit dir sprechen“, es klingt wie eine Frage.
„Oje, das habe ich komplett vergessen“, mir kommt in den Sinn, dass ich schon mindestens drei Tage hätte wieder arbeiten sollen.
Schnell stehe ich auf, wobei ich mein Knie an der niedrigen Tischkante anschlage und renne zum Telefon. Ich wähle die Nummer.
„Hallo?“, fragt die Stimme auf der anderen Seite, meine Chefin.
„Hai“, sage ich schwach.
Daina erkennt mich: „Wo warst du die letzten Tage?“
„Ich…“, stottere ich.
„Du…?“, hackt Daina verärgert nach.
„Ich komme nicht mehr“, Stille auf der anderen Leitung, ich spüre, wie mich Mum skeptisch beobachtet. Sie denkt, ich merke das nicht.
„Tut mir leid“, füge ich nach einer Weile hinzu.
Daina legt auf. Würde mich nicht wundern, wenn sie mich gerade mit einem Fluch belegt…

„Alles in Ordnung?“, fragt Mum hinter mir.
Ich drehe mich zu ihr um: „Sicher“
Aber dieses Wort ist halbherzig gesprochen. Ich werde die Leute, das Tanzen, das Feiern vermissen.
Doch es ist besser so. Bestimmt.
Ich lächle.
„Es ist noch immer wegen…“, sie muss den Satz nicht zu Ende sprechen.
Ich sage nichts. Dann fügt sie hinzu: „Es wird noch lange dauern, oder?“
Sehr lange… ich nicke. Oder ewig.

„Naja, wie wär’s wenn wir shoppen gehen?“, schlägt Mum vor.
Als ich sie nur verdattert anstarre, spricht sie weiter: „Du brauchst noch ein Kleid für die Hochzeit am Sonntag. Außerdem lenkt das ab. Wir können zuerst durch die Stadt bummeln und dann Essen gehen?“
Dieser arge hoffungsvolle Blick. Seit neuestens bin ich nicht mehr immun dagegen. Und wie kann ich sie enttäuschen? Wenn sie mir doch hilft?
„Das ist eine schöne Idee“, ich staune, wie ehrlich ich das meine, „und ich muss ohnehin noch jemanden was zurückgeben.“ Die Kleider…
Mum strahlt über das ganze Gesicht. Unser erster gemeinsamer Einkaufbummel.

Den Karton mit den Klamotten, die ich Daina bringen werde, lasse ich vorerst im blitzenden Cabrio zurück. Mum und ich gehen im Partnerlook. Jeder trägt Jeans, ein Top, High Heels – zu denen hat Mum mich überredet – und eine schicke Sonnenbrille sitzt jeweils auf unseren Nasen.
Wir gehen aber nicht ins Orio, weil Mum meint, ein Kleid müsse teuer und besonders sein und nicht Abverkaufs-Ware. Somit schleppt sie mich in hundert kleine, edle Dress-Geschäfte.
Ich finde viele Teile, die gar nicht mal so übel sind und Mum stimmt mir dabei zu, aber irgendwie entscheide ich mich immer im letzten Moment dagegen.
Und außerdem ist in meinem Hinterkopf eine Nervenauftreibende Suche geladen worden.
Denn egal, wo ich mich auch befinde, welches Kleid ich trage, ich halte bewusst oder mehr unbewusst immer Ausschau nach einer gewissen Person.
Einer Person, die mich in einem dieser umwerfenden Dinger sehen soll, mich darin wunderschön finden soll…, sich in mich erneut und dieses Mal richtig und unablöslich verlieben soll.
Aber meine Augen finden diese Person nicht. Mathias wird sich auch nicht verlieben.
Das schraubt meine Motivation erheblich zurück.
Mum zeigt sehr viel Geduld, aber irgendwann gibt sie es auf, ein passendes Kleid für mich zu finden.
Ich kann es ihr nicht übel nehmen, sie ist ja auch nur ein Mensch.
Schließlich landen wir in einem Restaurant.
Das Essen ist lecker, aber ich muss mich immer wieder ermahnen langsam zu essen.
Das Zeugs runter schlingen, hätte eher meinen Bedürfnissen entsprochen…, aber was wenn Mathi mich dann sieht? Meine Hoffnung ist halt doch noch vorhanden. Pech.


Mathias geht es schlecht. Ob René ihn wirklich nicht angelogen hat?
Und ob sein Böses ihn doch nur Trugbilder gezeigt hat? Oder das schlechteste vom Schlechten?
Jeder Mensch hat doch eine… naja, nicht so schöne Seite. Ist das nicht normal?
Und wie hinterhältig kann das Mädchen sein, wenn es so schön Tanzen kann?
Wenn es Basketball begeistert ist?
Wenn es in Pyjamastyle mit seiner Motorcross fährt, um sich bei ihm zu entschuldigen?
Wenn es in seiner Unschuld schuldig ist?
Wenn es anders ist als alle anderen?
Mathi schreitet durch die Haustür, ein Brief liegt auf der Fußmatte.
Ob der von seiner Liebsten ist?
Mathias öffnet das Teil. Und wird enttäuscht, gewaltig enttäuscht.
Eine Schockwelle überkommt ihn, vielleicht ein Hauch Freude, als er die Zeilen liest.
Seine Hände zittern. Nicht das auch noch.
Und was ist nun mit…?
Aber an das darf er nicht denken. Er ist sich sicher, was zu tun ist. Was er tun muss – auch wenn es falsch ist. Auch wenn er sich darin verliert.
Er muss das Risiko eingehen. Alle folgen ertragen.
Er muss einfach.
Er hat keine Wahl – er hat sie nie gehabt!


„Gut, das war zu viel“, ich streiche über meinen Bauch.
In der Schnelligkeit habe ich mich zwar zurückhalten können, aber nicht in der Menge.
Mum lächelt, ich bin mir nicht sicher, ob sie weiß, wie ich mich gerade fühle.
Irgendwie nämlich, wie ein aufgeblähtes, altes, unbrauchbares Huhn auf einen verlassenen Bauernhof.
„Mum, ich glaube, wir sollten das heute aufgeben…“, sage ich verstellt.
Sie sieht mich an.
„Ich würd schon gerne noch weiter machen…“, lenke ich ein, ich will sie nicht verletzen – woran das auch immer liegen mag –, „…aber ich denke nicht, dass ich heute etwas Passendes finden werde. Dass ich heute nicht in der Stimmung bin, etwas Passendes zu finden“ Ein ungeschriebenes Fragezeichen schwelgt nach. Ich warte auf eine Reaktion.
„Ich versteh das“, sagt Mum und überrascht mich damit.
Dann überrede ich sie noch, dass sie kurz mit ins LaStrade geht, damit ich meinen Karton mit den Klamotten zurück bringen kann. Und sie sagt nicht ab.

Es ist nur ein kleiner Fußmarsch, bis wir am Ziel angelangt sind.
Das LaStrade sieht leer und verlassen aus, aber ich weiß, dass da jemand sein muss.
Die unverschlossene Tür zeigt mir, dass ich Recht habe.
Ich trete ein, meine Mum ist hinter mir.
Tja und niemand lässt sich blicken. Ich stelle den Karton auf den Tresen.
Und dann taucht Taylor auf: „Hai, du hast dich ja ewig nicht mehr sehen lassen!“
Sie umarmt mich ganz fest – wie eine Freundin. Und sie freut sich auch wirklich.
Dann weicht sie zurück: „Und wer…?“
Ich unterbreche sie: „Meine Mum“
Ein Leuchten tretet in Taylors Augen: „Hai…, wow, jetzt weiß ich wo René ihre Schönheit her hat“
Mum ist kurz fassungslos, dann ringt sie sich auch ein: „Hai“ ab.
„Ähm, Taylor, kannst du Daina sagen, dass ich da war und die Klamotten zurück gebracht habe?“, frage ich.
„Ja, klar…“, dann wird sie ernster, „werden wir dich echt nie wieder hier tanzen sehen?“
Sie klingt traurig. „Ich schätze schon“, sage ich.
„Daina wird durchdrehen“, sagt sie, um ihre Gefühle zu überspielen.
„Tja, ich glaub ja nicht, jeder ist für sie komplett austauschbar“, es klingt etwas eingeschnappt, das will ich eigentlich nicht. Ich will das wieder gut machen, aber Taylor kommt mir zuvor: „Keiner weiß, aber sie hat dich doch gern gehabt“
Ich sehe das Mädchen fragend an.
„Sie hat sich auf deine Spielchen eingelassen und dich geärgert, andere ignoriert sie“
„So zeigt sie so was wie Freundschaft?“, ich kann es nicht wirklich glauben.
„Das ist meine Theorie“, bestätigt Taylor.
Ich muss lachen, dann besinne ich mich wieder: „Aber du wirst mir fehlen“
„Du mir auch“, und damit lande ich in einer wunderschönen, geborgenen Umarmung.
„Wir können ja trotzdem mal was zusammen machen“, schlage ich vor, um die aufkommende Traurigkeit zu schwächen.
„Das wäre super!“, jubelt Taylor. Sie ist eine von denen, die sehr schnell richtige Beziehungen knüpfen und die dann nur schwer loslassen können, „wie wär es, wenn wir gleich losziehen? Ich hätt grad nichts vor?“
Voller Erwartung schauen mich ihre grünen Augen an.
Ich drehe mich zu Mum um. Mist, ich habe ja grade so etwas in der Art, wie ich will nach Hause gesagt und jetzt will ich mit jemand anderen weiter ziehen…
Aber sie lächelt: „Na, geht schon, René braucht sowieso noch ein Kleid für die Hochzeit und ich muss mal wieder den Haushalt schmeißen. Außerdem tut Ablenkung gut“
Als sie zu Ende gesprochen hat, muss ich auch sie umarmen, denn plötzlich habe ich total Lust mit Taylor zu quatschen. „Und es macht dir wirklich nichts?“, frage ich nach und dann verschwindet meine Mum: „Viel Spaß!“

Taylor sieht mich an: „Warst du eigentlich immer so brav?“
Ich muss lachen, als ich die ganze Verwirrung in ihrem Gesicht sehe: „Nein, aber ich wünschte, ich wäre es gewesen“
Noch mehr Verwirrung.
„Ich hab noch was gut zu machen“, versuche ich zu erklären.
Damit gibt sich meine Freundin allerdings nicht zufrieden, sie wittert was: „Das heißt, du hattest mal wieder einen Mutter-Tochter-Tratsch?“
„So was in der Art“, muss ich zustimmen.
„Das ist schön“, meint sie aus tiefstem Herzen, „aber dann gibt es auch bestimmt einen unschönen Grund, worüber du geredet hast…?“ Beinahe ist es eine Feststellung.
Taylor ist echt gut, wenn es darum geht, die Gefühle anderer zu erraten.
„Ja, den gibt’s“, sage ich, „aber das ist eine lange Geschichte“
Plötzliche Trauer übermahnt mich.
„Na los, erzähl. Ich hab Zeit“, Taylor lächelt.
Und dann befinden wir uns in einem gemütlichen Café und trinken Heiße Schokolade mit Rum.
Wir bestellen alle Desserts die es gibt und halten uns beim Aufessen nicht zurück.
Zuerst erzähle ich meine ganze Lebensgeschichte. So wie ich sie Mum erzählt habe.
Und auch wenn es das zweite Mal ist, wo ich die Geschichte erzähle, ich habe weinen müssen.
Zu meinem Entsetzen hat Taylor mitgeweint.
Es ist allein mit Mum schon schön gewesen, aber das hier, ist auch unbezahlbar.
Taylor kann zu jedem Satz, der aus meinem Mund kommt, ein passendes Kommentar abgeben. Sie hat das Zeug dazu, dass Leute Dinge nicht mehr so schlimm sehen, wie sie es eigentlich tun und sie auch aufzuheitern.
Als meine Geschichte zu Ende ist, erzählt sie mir von ihr.
Wir haben anscheinend doch noch nicht sehr viel voneinander gewusst.
Auch ihre Geschichte berührt mich und dass bringt mich dazu, sie ganz fest zu drücken.
Und als das Traurige endlich von uns losgelöst ist und wir bemerken, wie viel wir eigentlich schon verputzt haben, müssen wir lachen. Und das Lachen ist schön.
Es schmeckt nach Freiheit. Nach grenzenloser Freiheit, die nicht mal den Nachgeschmack von salzigen Tränen hat.
Zur Belustigung der Leute, die auf die vielen leeren Teller auf unserem kleinen Tisch lugen, bestellen wir gleich noch eine Reihe von Köstlichkeiten. Wir starten sogar ein Wettessen.
Und plötzlich ist da um uns ein Kreis mit Menschen, der uns anfeuert.
Das ist sogar ein besserer Publikum, als das eines Basketball- oder Fußballspiels.
Total genial. Zu meiner Verwunderung gewinnt Tylor, aber ich kann es ihr nicht übel nehmen.
Nur vor der Rechnung am Ende haben wir etwas Angst.
Durch Zufall, werden uns vierzig Prozent vom Gesamtpreis erlassen, dafür, dass wir die Leute so unterhalten haben. Wir haben bestimmt für einen Jahreshöchstumsatz gesorgt.

Laut lachend schleppen wir uns und unsere überdimensionierten Bäuche aus dem Café.
„Wow, das hat Spaß gemacht!“, lallt Taylor, fast so als wäre sie betrunken.
Ich kann ihr nur zustimmen.
Inzwischen ist es schon etwas kälter geworden, auch wenn es noch immer ziemlich schwül ist.
Die Sonne hat sich hinter einer kleinen Wolke versteckt.
Endlich kommt uns wieder in den Sinn, weswegen ich eigentlich in der Stadt bin und so machen wir uns auf die Suche für das perfekte Kleid.
Taylor befiehlt mir, meine Augen zu schließen. Zuerst will ich ihr nicht gehorchen, aber dann folge ich ihr doch. Ich kann hören, wie sie einen Plan oder etwas Ähnliches auffaltet.
„Gut“, sie zeigt mir mit meinen Händen, wie groß das Teil ist.
„Was soll das?“, frage ich, aber natürlich bekomme ich keine Antwort.
„Und jetzt zeige mit deinem Finger auf irgendeine Stelle am Plan. Egal welche“, sagt sie zu mir.
„Okee“, ich strecke meinen Zeigefinger aus.
„Mrs. Sweet, perfekt“, schwärmt Taylor.
„Was?”, frage ich und öffne meine Augen.
Stolz zeigt sie mir die Listen mit den gesamten Geschäften in der Stadt.
„Da gehen wir hin“, sie ist voller Begeisterung und zieht mich mit.

Mrs Sweet ist eine kleine neu eröffnete Boutique. Und meine Freundin glaubt, dass ich hier das finden könne, was ich suche. Ich bin zwar nicht ihrer Meinung, vor allem weil ich noch nie in diesem Geschäft gewesen bin, aber was kann es schon schaden.
Taylor deckt mich mit den verschiedensten Kleidern zu und ich bin gezwungen alle anzuprobieren. Auch wenn ich mich freue, dass sie mir hilft, kann ich mir einen kleinen Seufzer nicht verkneifen.
Hinzu kommt noch, dass sich die Umkleidekabinen genau vor dem Schaufenster befinden, das bedeutet, dass mich, wenn ich herausgehen will, um Taylor ein Kleid zu zeigen – und darauf besteht sie – mich alle vorbeigehenden Leute sehen können.
Als die erste Umkleide voll an geräumt ist, wechsle ich in die zweite.
Und mehr als zwei gibt es nicht. Wieder muss ich einen Haufen Kleidern tragen.
Ich reise den Vorhang zur Seite und lasse auf einmal unkontrolliert alle Klamotten rücksichtslos fallen.
„Was tust du da?“, fragt mich Taylor entgeistert. Sie hat sich sichtlich Mühe gemacht, alle Teile zusammen zu suchen. Aber ich kann nichts dazu sagen, nichts erwidern.
Ich strecke meine Hand aus, erreichen den Bügel und drehe mich um, damit Taylor es auch sehen kann: das richtige Kleid.
„Na los! Worauf wartest du! Zieh’s an!“, schon wieder dieser unvergleichliche Überschwung an Freude. Ich lächle. Diesmal hat sie mich angesteckt.
Es dauert eine Minute, dann bin ich fertig und kann Taylor stolz meinen Fund präsentieren.
„WOW“, drei lange Silben formen es.
Das Kleid ist strahlend Weiß und betont die bräunlich gebrannte Haut.
Der Stoff ist seidig und schmiegt sich an den Körperkurven, bei jeder Bewegung passt er sich an, bei jedem Schritt. Der Schnitt ist Kurz, es gibt keine Träger. Es ist durchzogen von winzigen Falten, die dem ganzen einen gewissen Kick geben. Und über den Rücken schlängelt sich ein Band…
Aber weil das Kleid für mich etwas zu spießig wirkt hole ich mir noch einen modernen, weißen Hut, mit demselben Stoff. Es sieht genial aus.
Ein Moment in dem wir beide herzlich lachen.
Und unerwartet knallt plötzlich die Ladentüre auf. Ein Typ kommt hereingerannt – so, als würde er gerade einen Amoklauf starten.
„René?“, er ruft nach mir und läuft zu uns her. Ich sehe ihn verdattert an. Woher weiß er, wie ich heiße? Warte, das ist doch Marven aus dem Basketballteam.
Weiß er…?
„Gott sei Dank! Dass ich dich hier sehe! Du bist doch die, auf die Mathias so abfährt…?“, fragt er gehetzt nach.
„Ähm, weiß nicht, schon möglich…“, ich bin voll und ganz beschäftigt mit den Worten: auf die Mathias so abfährt. Fast lächle ich auffällig. Ich spüre Taylors Blick auf mir ruhen.
Er ergreift meine Hand und zieht mich plötzlich hinter sich her: „Kennst du die gelbe Brücke, die nicht weit von hier entfernt ist?“
„Hey, ich kann hier nicht weg! Ich muss mich zuerst wieder umziehen!“, protestiere ich.
Der Junge hält kurz Inne: „Kennst du sie?“
Ich nicke, Wiederstand ist zwecklos. „Mathi ist da grad runter gesprungen! Er braucht dich jetzt! Falls es noch nicht zu spät ist!!!“, wird mir ins Gesicht gebrüllt.
Und als ich die Tränen in Marvens Gesicht sehe und mich zuerst noch wundere, dass ein so starker, beängstigender Typ weinen kann, sickert langsam der Sinn seiner Aufregung in mein dummes Gehirn.
„Er hat sich schon wieder versucht umzubringen?!?“, schießt es aus mir heraus.
„Taylor, bezahl für mich die Sachen. Das Geld ist in meiner Tasche!“, die Worte kommen halb geschrien aus mir heraus und nun weine auch ich. Taylor nickt eingeschüchtert, aber dann ruft sie uns nach: „Viel Glück!“
Und das können wir wirklich gebrauchen. O Gott. Wenn es nun wirklich zu spät ist?
Wir stürmen endgültig aus dem Geschäft, die Verkäuferin sieht uns verdutzt hinterher. Ich weiß nicht, was Taylor zu ihr sagen wird, um das ganze aufzuklären.
Meine Füßen Schmerzen. Ich trage keine Schuhe.
Und auch wenn sich das Kleid meinen Bewegungen immer wieder anpasst, es passt sich etwas zu langsam an. Und der Schweiß macht, dass alles verklebt und bald weiß ich nicht mehr, wo ich aufhöre und das Kleid anfängt. Meine Hand schmerzt so, weil Marven sie ganz fest zusammendrückt und er merkt das wahrscheinlich gar nicht, weil es ihm gerade so arg schlecht geht.
Es ist ein unbeschreiblich zerstörendes Gefühl und irgendwie doch kein Gefühl, weil es für solch einen Schmerz, kein Wort mehr gibt, dass schlecht genug wäre.
Ich drohe an der Luft zu ersticken, sie ist noch viel zu warm, für Hochleistungssport, aber stattessen ich langsamer wäre oder endlich anfange zu atmen, treibt mich mein Adrenalinspiegel weiter vor ran, macht mich stärker und schneller. Es fühlt sich an, als wäre ich in diesem Moment unbesiegbar, nur weil ich ein klares, einziges Ziel vor Augen habe, fast wie eine Droge, ich muss Mathias lebend erreichen. Die Betonung liegt auf Lebend.
„Warum?“, frage ich gehetzt und so schnell, wie meine Schritte sind.
„Keiner weiß“, höre ich den niedergeschlagenen Marven.
Erst jetzt wird mir bewusst, wie fest die Basketballmitglieder eigentlich aneinander hängen. Sie sind ja wirklich eine Familie.
„Werden wir es schaffen?“, frage ich hoffnungslos.
„Ich weiß es nicht. René ich weiß gar nichts. Man hat mich angerufen, ich muss zu dieser bescheuerten Brücke kommen, weil Mathi gesprungen ist.“, es folgt ein lauter Käucher, dann spricht er weiter, während unsere Füße sich einen Weg bannen, „und dann habe ich dich gesehen und habe mir gedacht, dass du vielleicht irgendeine Wirkung bei Mathias auslösen kannst, wenn es notwendig ist…“
Ich bin schockiert, als mir meine Verantwortung und Marvens Gedanken bewusst werden.
„Woher weiß du von mir?“, frage ich weiter, um mich abzulenken und außerdem ist für mich die Antwort von großer Bedeutung.
„Alle wissen das. Mathi ist ein ehrlicher Mensch. Er kann uns nicht anlügen. Wir sind seine Familie, wir wissen immer was los ist“, es klingt so traurig, dass mir ganz schlecht wird.
Und plötzlich kommt mir unsere Geschwindigkeit ungeheuer langsam vor und ich gebe richtig Gas. Dieses Mal muss ich Marven fast mitziehen.
Und nach den nächsten vier Atemzügen sind wir an Ort und Stelle.
Feuerwehr, Rettung, Polizei – alle sind da.
Sie ziehen meinen Mathi grad aus dem Wasser.


Hm, das war es dann wohl, denkt sich Mathias als er sicher ist, dass er nicht mehr gegen seine Gegner ankommen kann. Es sind einfach zu viele.
Seine Nase blutet, sein Fuß schmerzt und vor ihm stehen vier bullige Männer, die seinen Tod wollen.
Wie konnte ihm das nur passieren, dass die anderen seinen Plan kannten, ohne dass er seine Wirkung getan hatte.
Er hätte bis kurz vor dem Spiel warten sollen. Er hätte die Aufputschtabletten erst später mit dem gewöhnlichen Traubenzucker vertauschen sollen. Wie dumm er doch ist.
Und warum sind die Typen überhaupt so ausgeflippt? Die Teile hätten ihnen gegeben falls das Spiel ruiniert. Sie wären für ein Jahr gesperrt wurden. Na und?
Aber wenn Mathias so richtig nachdenkt, hätte er wahrscheinlich selber sehr aggressiv auf ein solches Vergehen reagiert. Aber der Brief hatte seinen guten Menschenverstand manipuliert.
Er hätte bestimmt einen anderen Weg finden können, und wer weiß, vielleicht hätten sie das Spiel auch so gewonnen und er hätte das Geld gehabt.
Aber jetzt, jetzt ist alles zu spät. Er wird nicht mal mehr sehen können, ob seine Mannschaft gewinnt oder doch verliert, wie seine Familie spielt. Er wird den Schiedsrichter nicht andauernd verurteilen können, weil er ein Faul übersieht. Nein, er wird gar nichts mehr können.
Bald ist es soweit.
Bald werden ihm die Männer von der Brücke runter drängen.
Bald wird es vorbei sein.
Und es wird aussehen wie Selbstmord.
Drei Sekunden habe ich noch gehabt. Dann kommt dieser kleine vernichtende Ruck und alles ist vorbei.
Die Täter sind davon gefahren.
Niemand wird wissen, wie es wirklich passiert ist.

Der Fall dauert nicht lange.
Ich sehe mein Leben vor mir, oder nur einen Teil, ich bin mir nicht sicher.
Aber eines weiß ich ganz genau, ich habe meinen kleinen Bruder, meine Basketballkammeraden und zuletzt René gesehen.
Ich kann wieder einmal nicht läugnen: Ich liebe sie.
Dann treffe ich auf die Wasseroberfläche auf. Und tauche ein in den Tod.
Ich merke noch, wie ich meinen Kopf an einem vom Wasser geschliffenen Stein anschlage, wie es um mich etwas rötlich wird, weil sich eine offenen Wunde gebildet hat.
Eine leichte, aber dennoch zu starke Strömung zieht mich mit sich und Wasser füllt meine Lungen.
Mein Verstand lässt nach.
Es ist ein unangenehmes Gefühl, wenn man sich Stück für Stück verliert, wenn man den Drang zum Schreien hat, aber seinen Mund nicht aufbekommt.
Wenn man weiß es wird gleich vorbei sein und es doch noch ewig dauert.
Aber am schmerzlichsten ist es, wenn man daran zurück denkt, was man alles erlebt hat und wenn man an seine Lieben denkt, die man da oben einfach so ganz allein zurück lässt.
Ob es für mich einen Himmel geben wird?
Oder werde ich hier lange noch treiben?
Manchmal kommt Angst auf, wenn es einem auf irgendeine bestimmte unbekannte Seite zieht, aber nachdem man plötzlich nichts mehr spürt und an all den Dingen in seinem Leben loslässt, dann wird man friedlich.
Ich weiß nicht, wie lange ich mit solchen Gedanken in diesem Fluss getrieben bin, aber es kommt der Moment, da bin ich bereit. Und das ist auch so.
Plötzlich ist alles leicht. Die Schwere, die einem im Leben immer und immer wieder begleitet ist ertrunken. Löst sich von einem.
Und dann ist man bereit.
Es zieht Mathi aus dem Wasser. Ob er jetzt in den Himmel kommt?
Oder in die Hölle? Und gibt es diese beiden Dimensionen überhaupt?
Kurz spürt Mathias wieder etwas, ganz deutlich, aber denkt, dass es bloß ein kleiner Nachgeschmack aus dem Leben ist.
Wasser strömt aus seiner Lunge. Es ist doch etwas zu grässlich.
Und nach einer ewigen Weile, an dem er gegen einen Fels geschlagen wurde, ist er bereit seine Augen zu öffnen.
Als er René in einem wunderschönen, weißen Kleid sieht, wie sie gerade zurückweicht, weil sie ihm vermutlich geküsst hat und sein Aufwachen bemerkt hat, ist er sich sicher, dass es den Himmel auch für ihn gibt. Ganz sicher sogar.


Ich kann mich nicht kontrollieren. Weder meine sofortige Reaktion, dass ich auf Mathias oder zumindest seinen Körper zustürme und alle Rettungskräfte zurückweiße, beginne laut Mathis Namen zu rufen, zu brüllen, noch die Reaktion der Tränen, die unaufhörlich über meine Wangen strömen. Das laute klägliche Schluchzen.
Keine Ahnung wo ich die Kraft hernehme, aber ich hab die Männer um Mathias einfach weggeschoben. Ich weiß nicht wer genau, aber vielleicht Marven oder jemand anders hat die Rettungskräfte dann gezwungen mich nicht von Mathi weg zu reißen.
Jedenfalls bin ich demjenigen ziemlich dankbar.
Mit einem letzten lauten Mathi-Schrei beuge ich mich über den kalten, nassen Körper.
Aber ich höre keinen Atem. Keine kleinstes Lebenszeichen.
Dann drehe ich durch.

Ich beginne Mathi, das Wasser aus der Brust zu schlagen. Nehme keine Rücksicht auf eventuelle Verluste. Dann schreie ich wieder. Dann schluchze ich. Bis ich meine Lippen voll Verzweiflung gegen Mathias Lippen presse und ihn leidenschaftlich küsse.
Vor all den anderen.
Ich schluchze währenddessen weiter. Es ist vorbei. Es ist vorbei! Vorbei!
Meine Hoffnung ist verflogen. Aber ich mache weiter.
Wie ein Narr.
Und ich höre einen der Rettungsmänner sagen, dass ich keine Chance mehr habe.
Dass mein Mathias für immer weg sein würde.
Dass sie mich zurückziehen sollen, obwohl sie irgendetwas davon abhält.
Und ich bete zu Gott und besser zu allen Göttern dieser Welt, mein Mathi möge leben.
Er MUSS einfach. Er kann jetzt nicht gehen.
„Verdammt, ich liebe dich!“, sage ich schwach.
Ich küsse ihn ein letztes Mal und ich weiß, dass es wirklich vorbei ist.
Für immer.
Für Mathi.
Für mich.

Lebe wohl!
Und dann drücke ich meine warmen Lippen erneut gegen die tote Gestalt.
Es gibt kein Leben mehr.
Ich will mich aber nicht loslösen. Muss aber.
Dann habe ich ihn verloren.

Kurz verharre ich noch still, dann will ich mich zurückziehen.
Aber plötzlich wird mein Kuss erwidert.
Ich weiche zurück, um zu sehen, dass ich mir das bestimmt einbilde.
Und dann sehen mich diese unvergleichlich blauen Augen an.
„Ich bin da“, die schönsten Worte, die ich jemals gehört habe.
„Du bist da!“, wiederhole ich und dann wird mein Schluchzen so arg laut, dass ich bald keine Stimme mehr habe. Ich umarme Mathias, will den Moment festhalten.
Du bist da!!!

Leider muss ich dann zurück weichen. Jetzt werde ich weggestoßen.
Die Rettungsarbeiten laufen auf Hochtouren.
Sie laden Mathias auf diese bewegliche Liege und schieben diese dann in das Rettungsfahrzeug.
Ich darf mitfahren.
Still schweigend halte ich Mathis Hand, in der Hoffnung, es würde ihm helfen, nicht ins Jenseits abzugleiten. Aber dann habe ich oft doch wieder Angst, dass ich seine Hand in meiner Verkrampftheit zu fest drücken könnte und dass ich ihm irgendwie weh tue.
Den ganzen Weg zum Krankenhaus heule ich leise vor mich hin.
Nachdem der Zuständige Mathi in einen Schlaf versetzt hat, fängt er an mich zu beruhigen: „Es wird alles gut“
Aber ich kann ihm nicht glauben. Es ist nicht sicher, dass alles gut wird, das ist es nie und ich glaube das Bedauern in den Augen des Mannes zu sehen. Das macht mich misstrauisch.
Außerdem ist es mir peinlich, dass er mich Trösten versucht.
Immerhin muss er meinem Mathias helfen. Nicht mir.
Und dann sind wir im Krankenhaus.
Hier muss ich alleine im Warteraum Geduld üben.
Darin bin ich wirklich miserabel.

Ich denke gar nicht daran, mich nieder zu setzen. Gar nicht.
Und stattessen ich mich versuche zu beruhigen, laufe ich beinahe einen kleinen Kreis in den unbezwingbaren Fliesenboden.
Meine Tränenquelle ist versiegt, ich warte, bis sie sich wieder füllt.
Es tut weh. Es brennt.
Aber das alles ist nicht gegen der Leere, die sich aufdrängen wird, wenn es dann wirklich zu spät ist.
Ein mulmiges Gefühl in mir warnt mich, lässt mich nicht zur ruhe kommen.
Na gut, ich habe Mathi mehr Zeit verschafft, aber genug?
Was, was wenn ich zu spät gekommen bin?
Was, wenn die Ärzte einen Fehler machen?
Was, wenn Mathi gar nicht mehr kämpfen will?!?
Hat er mich den gar nicht lieb?
Sind seine Freunde und ich ihm so egal, dass er uns einfach so loslassen kann?
Ich will nicht ohne Mathi.
Ich will nicht.

In dem Moment kommt Unruhe ins Krankenhaus. Als hat sie gerade die Türe betreten.
Gleich darauf bemerke ich den Grund.
Mathias Trupp ist da.
Marven, Joel und all die anderen. Es zerreißt mich, wenn ich in die leblosen Gesichter sehe.
Und ich kann nichts tun, als weiter auf und ab zu trampeln.
„Setz dich, René“, sagt Joel zu mir, als auch alle anderen zaghaft Platz genommen haben.
Ich wundere mich, über seine Worte. Er kennt mich doch gar nicht.
Oder hat Mathias wirklich so viel geplaudert?
Und als ich seinen Namen denke, muss ich noch mal weinen.
Daraufhin steht der Kerl auf: „Komm. Das wird wieder“
Es ist mehr an ihn selbst gerichtet.
Ich schüttle den Kopf. Und bin mir plötzlich sicher, dass ich hier weg muss.
Mit mir allein sein muss.
Dann renne ich weg. Die verdutzten Typen hinter mir.

Ich laufe so lange, bis ich die Treppe finde. Dann poltere ich diese hinauf.
Sechs ganze Stockwerke hoch. Zunächst auf der Suche nach einer Dachterrasse.
Oder einem anderen Freiluftbereich.
Und tatsächlich. Da ist eine.
Ich denke an irgendeinen Song, ich glaube an Hassliebe.
Und fange plötzlich an zu tanzen.

Ich tanze meinen ganzen Ärger heraus. Meine Wut.
Meine Tränen. Meine Gefühle. Die Liebe, die mir immer mehr entschwindet.
Die Leere. Die Verzweiflung. Das Glück, das schon lange keinen Bestand mehr hat.
Die Einsamkeit. Das Verlangen, dass vielleicht nie wieder gestillt werden könnte.
Das Bewusstsein, dass es in wenigen Minuten Mathias vielleicht wirklich nicht mehr gibt.
Die Angst, die sich immer mehr an mich heranmacht.
Und das Gefühl, dass ich vielleicht schuld an dem Ganzen bin.
Das Warten. Das Unvertraute.
Die Lügen, die ganzen Geschichten meines Lebens.
Und wie der Höhepunkt dahin gegangen ist und die Erinnerung auslischt, weil sie es nicht wert ist, weiter Erinnerung zu sein. Weil sie nur den Tod in sich trägt.
Weil alles Vergänglich ist.
Weil der Atem schwerer wird.
Weil ich Mathi vor mir sehe.
Im Hintergrund Schmerz.
Im Hintergrund Nichts.
Und plötzlich das Loch.

In diesem Moment geben meine Beine unter mir nach und ich falle.
Und der Flug ist nicht lang. Er ist kurz.
Und es tut weh. Aber ich lebe.
Und Mathi vielleicht nicht mehr.

Zuerst bleibe ich reglos und stumm so liegen.
Dann raufe ich mich zusammen und schlinge meine Hände um meine Beine.
Es ist dunkel, finster, dämmrig, schaurig.
Und auch wenn es noch warm ist, ich vermag die Wärme nicht zu spüren.
Denn um mich herum sperrt mich die Kälte ein.
Wie in einen Käfig.
Und sie macht mich regungslos. Unfähig.
Sag mir, was würdest du tun?
Würdest du Schreien wollen?
Weiter weinen?
Nach unten zu den anderen gehen und still das schreckliche Gefühl ertragen?
Würdest du heim gehen?
Solltest du gar nicht hier sein?
Sollte es dir egal sein?
Hilf mir doch!

Aber ich kann nicht schreien, nicht mehr weinen.
Ich kann mich nicht nach unten bewegen. Ich will auch gar nicht sehen, wie hoffnungslos alle anderen sind.
Heim gehen kommt gar nicht in Frage. Ich würde meine Mum verrückt machen, im haus randalieren oder sonst was.
Ob ich hier sein soll? – Wahrscheinlich nicht. Aber wo soll ich anders sein?
Es wäre mir lieber, wäre es mir egal, aber ich weiß, in meinem Inneren kann ich nie behaupten, dass er mir egal ist. Es wäre eine Lüge, viel mehr als das sogar.
Und du hilfst mir auch nicht.

Plötzlich höre ich jemanden die Treppe herauf stürmen.
Zuletzt wird das Tempo verlangsamt.
Keuchen.
„René!“, das ist Taylor.
Ich drehe mich ganz langsam zu ihr um.
„René, René, René!!!“
Sie fällt zu mir auf den Boden: „Es tut mir so leid“
Und dann umarmt sie mich ganz fest. Und ganz lang.
Und wir beide weinen, bis unsere Kleider Wasser durchtränkt sind.
Nach einer Weile hebt sie dann den Kopf: „Wir sollten mal unten nach dem Rechten sehen“
„Du hast recht“, etwas Mut sammelt sich in mir an.
Hand in Hand rennen wir die Stufen hinunter. So, als ginge es um unser eigenes Leben.

Unten angekommen sehen wir schon einen Arzt, wie er mit den anderen spricht.
Niemand sieht wirklich begeistert aus. O Gott.
Als wir bei ihnen sind, will der Mann im Kittel schon wieder gehen.
„Warten Sie!“, halte ich ihn zurück, „Was ist mit Mathias?“
„Sie sind…?“, fragt der Arzt vorsichtig.
„Schon in Ordnung“, sagt Marven, „Sie gehört zu uns“
Leider bin ich gerade nicht in Stimmung, über so etwas zu freuen, schade.
„Na gut“, meint der Mann heiser, „Mathias Zustand ist kritisch. Wir haben ihn ins Koma versetzten müssen…“
„Aber, aber, er wird doch wieder aufwachen?“, ich sage das viel zu laut, für das leise Krankenhausgeflüster.
Und plötzlich sieht der Typ bedauernd aus: „Wir werden unser Bestes geben. Morgen wissen wir vielleicht mehr“
„Ihr solltet nun nach Hause gehen“, dann dreht er sich einfach um und schreitet davon.
Nein, nein, nein!!!
Ich sacke auf den kalten Boden. Taylor setzt sich zu mir und alle anderen verschwinden folgsam.
Aber das kann ich nicht.
Ein paar Stunden später muss auch sie gehen, weil sie Schicht hat. Sie wünscht mir „Viel Glück“
Und dann bin ich wieder allein.
Am Boden zerstört.
Verlassen.
Ohne jeden kleinsten Hoffnungsschimmer.

Keine Ahnung wie lange ich schon so da sitze.
Aber irgendwann kommt eine Krankenschwester zu mir her.
Sie setzt sich zu mir dazu.
„Willst du nicht nach Hause gehen?“, fragt sie leise.
Ich schüttle den Kopf.
„Darf ich dir einen Tee bringen?“, wieder eine lieb gemeinte Frage.
Und natürlich schüttle ich den Kopf.
Dann ist es still.
Doch plötzlich spreche ich: „Wissen Sie…“
Erstaunt sieht die Frau mich an, als ich etwas sagen will, lässt mich aber weiter sprechen.
„Wissen Sie…, ich mag ihn.“, eine kurze Pause, „er weiß das nicht“
Stur gerade blicke ich nach vorne: „Was… was, wenn es zu spät ist?“ Schon wieder würde ich am liebsten weglaufen, schreien, aber ich halte mich zurück.
Ich spüre förmlich, wie die Krankenschwester sagen will, dass es nicht zu spät sein wird. Aber sie tut es nicht. Sie kann es nicht. Weil sie nicht garantieren kann, dass es so sein wird. Dass alles gut wird.
Weil das niemand kann. Überhaupt niemand. Nur Gott.
„Oke.“, die Frau atmet durch, „das ist jetzt eigentlich nicht erlaubt, aber, willst du zu ihm?“
Ich sehe die Dame an: „Ist, ist das denn möglich?“
„Wie es aussieht, heute schon“, sie zieht mich mit meiner Hand hoch.
Dann gehe ich hinter ihr her.

Ich muss meine Hände desinfizieren.
„Willst du das Kleid nicht lieber ausziehen?“, fragt sie noch.
„Nein, ich bekomme das jetzt ohnehin nicht mehr aus“, ich denke an den ganzen Schweiß und die Tränen, die alles an mir festkleben ließen.
„Gut, zieh dir aber bitte trotzdem den Ärztemantel drüber“, sie reicht mir einen Haufen mit Stoff.
Dann öffnet sie die Tür zu Mathias: „Wenn du gehst, sag mir Bescheid und versprich mir, dass du wirklich nichts anfasst“
„Versprochen“, ich bin ihr unendlich Dankbar.

Da liegt er. Mathias. Und er sieht mir viel zu tot aus.
Es ist, als läge in seinem Gesicht etwas Trauriges, etwas Unzufriedenes…, als hätte er gerade eben, bevor er beinahe oder vielleicht doch ganz davon gegangen war, in etwas versagt.
Und dennoch schaut er unglaublich gut aus – wie immer eben, aber das ändert nichts an der tragischen Situation.
Andächtig tappe ich zu seinem Bett hinüber. Es riecht nach Desinfizierungsmittel.
Sämtliche Geräte geben leise Geräusche von sich, ein leichtes Piepen da und dort.
Tja und in mitten des ganzen, verpackt mit Schläuchen, durchlöchert mit langen Nadeln liegt diese große Herz, das aufhören will, zu schlagen.
Von Sekunde zu Sekunde traue ich mich näher an das Unglück.
Dann bin ich da und ich wage auch nicht mal zu atmen.
Ich streiche sanft über Mathias Wange, so, als wäre sie teuerstes Porzellan.
Dann lasse ich meine Finger seine starke Hand, ab und auf wandern.
So überspiele ich meine Nervosität.
Irgendwann verliere ich dann beinahe den Verstand und beginne mit dem Schlafenden zu reden: „Mathi, weißt du, ich habe nichts dagegen wenn du schläfst. Wirklich nichts. Aber bitte, bitte wach dann wieder auf“
Beinahe flehe ich: „Du musst. Du kannst dir Zeit lassen, so viel du willst. Solange du nur zurück kommst“ Kurze Pause, dann spreche ich weiter: „Hörst du. Ich werde hier auf dich warten. Ich werde hier sein. Ich bin hier. Und ich gehe hier nicht weg.“
Wieder eine nächste Pause: „Ganz bestimmt nicht. Ok. Niemals! Und du musst mir versprechen, dass ich nicht vergebens warte. Bitte. Bitte. Ich wer hier sein. Ich hab dich doch lieb!“
Und obwohl meine Worte in meinem Inneren an Gewicht zunehmen, wird meine äußere Stimme leiser, brüchiger, bis sie schließlich ganz zusammenklappt.
Und dann lege ich meinen Kopf an den Rand des Schiebebetts und beginne zu schluchzen.
Ganz leise nur, so dass man es beinahe nicht hören kann, aber es ist ganz sicher da und würde man in mich hineinhören, würde man taub zurückkehren, weil Schreie so unerträglich, zerberstend laut werden können. Weil sie so sind.


Wo ich bin, das ist es dunkel, denkt Mathias rückblickend.
Aber das ist nicht ganz richtig. Es WAR dunkel.
Genau, da als er ertrunken ist.
Aber dann ist Licht zu ihm durchgedrungen. Ein Weinen.
Als er seine Augen geöffnet hat, hat er einen Engel gesehen.
Er hat ein weißes enges Kleid angehabt, er hat seine Schuhe irgendwo verloren, er war außer Atem, er hat langes, braunes Haar gehabt. Und Schokoaugen.
Der Engel erinnert Mathi an René. Vielleicht war es auch das kluge Mädchen.
Aber was sollte sie im Himmel zu suchen haben?
So wunderschön…
Aber der Gesichtsausdruck. Die Tränen.
Das hat ihn nicht gefallen und das ist das einziges, was ihn daran zweifeln lässt, dass er im Himmel ist.
Er kann sich nämlich keinen Himmel vorstellen, in dem sein Mädchen weint.
Wirklich nicht.
Aber wo ist dann sein Schmerz geblieben?
Als Antwort darauf, hat man ihm in die Brust geschlagen, gehämmert.
Das Wasser ist aus ihm herausgeflossen.
Und dann wurde ihm diese komische Zeugs verabreicht. Gift?
Quatsch, wie kann das denn nur sein?
Und was ist nun?
Mathias fühlt sich leer, oder einfach irgendwie körperlos.
Es ist doch wieder dunkel geworden. Schwarz sogar.
Es will nicht aufhören. Das nichts. Die Ungewissheit.
Das, das nicht enden will.
Und urplötzlich hört er dann eine süße Stimme.
Eine Stimme, die die Leere fühlt.
Die, die aus dem Nichts, Etwas macht.
Das ganz besondere Etwas.
Mathias versteht Worte: „Ich werde warten… du musst nur wieder aufwachen“
Auch ein schwaches „Bitte“, dringt, beinahe bedrängt von leisem Schluchzen durch.
Was das wohl ist?



Wenn du mich nach meinem Befinden fragst, werde ich dir antworten, dass ich es nicht weiß
Wenn du mir etwas zu Essen gibst, werde ich es nicht annehmen.
Wenn du mir etwas sagst, werde ich nicken – egal was es ist und worum es geht - , aber ich werde mich nicht wirklich damit befassen.
Wenn du mich mit deinen warmen Körper umarmst, werde ich seine Wärme nicht spüren.
Wenn du mir sagst, ich soll nach Hause gehen, werde ich dich ignorieren.
Und das alles wird so lange gehen, bis Mathi endlich wieder aufwacht.
Das Schlimme daran: Das könnte nie sein!

Dann und wann kommen Leute vorbei. Zeitweise nur wenige, manchmal ganze Stürme. Und egal, in welches Gesicht man blickt, da ist nur Trauer und Bedauern.
Und Leblosigkeit. Mathias muss fast wacher, als die alle hier sein.
Tja und dann gibt es noch die Unmengen von duftenden Blumen – Rosen, Nelken, Margarieten – die Gute-Besserung Karten mit den Sprüchen, den Gedichten und den immer wieder auftauchenden Sätzen: Wir lieben dich.
So schön, so traurig und nett es auch von allen gemeint ist, es bringt unseren Liebsten leider nicht wieder zurück.
Das vermag nur ein Wunder.
Und so viel Taylor und auch meine Mum auf mich einreden, es bringt mich auch nicht aus dem Krankenhaus…
Irgendwann haben sie es dann aufgegeben – ich schätze gegen Abend – und habe einfach beschlossen abwechselnd so gut es geht bei mir zu sein, bei Mathi zu sein und mit mir zu warten.
Gerne würde ich mich bei ihnen bedanken, aber dazu fehlt mir die Emotionsfreiheit, denn zur Zeit sind meine Gedanken ziemlich genau nur auf das Krankenbett beschränkt.
Gerne würde ich auch wieder mal lächeln, aber es gibt keinen guten Grund dafür.

13. Juli 2012 10

Es ist genau ein Abend und ein Tag her, seit Mathias ins Krankenhaus eingeliefert und ins Koma versetzt wurde.
Was wenn er nun wirklich nicht mehr zurück kommt?
Was wenn ich vergebens hoffe?
Mum und Taylor haben angefangen, sich gröbere Sorgen um mich zu machen.

O Gott.

14. Juli 2011 11

Kommt es mir nur so vor? Oder werden die Nächte tatsächlich länger?
Und wo bleibt der Tag?
Bin ich doch eingepennt?
Oder liegt das alles nur an der Müdigkeit und der negativen Stimmung, die all meine Lebensenergie grausam zerstört?
Mann…
„Wach doch endlich auf, Mathi!“, es ist zu leise für einen wirklichen Befehl, aber ich wünsche, es wäre einer und der Junge würde mir gehorchen.
Die Ärzte geben auch nichts Neues von sich. Sie sehen nur wenig oft vorbei.
Ob sie Mathias bereits schon aufgegeben haben?
Ob sie nur noch den richtigen Zeitpunkt abwarten, bis sie es mir so schonend wie möglich beibringen können?
Hilfe. „Bitte“, flehe ich wieder.
Und natürlich folgt keine Antwort. Bloß meine innere Stimme, die leise flüstert, ich solle den Typen in Ruhe lassen und er würde erst aufwachen, wenn er mich nicht mehr sehen muss.
Schockierend das.
Was mach ich denn?


Und dann ganz plötzlich erkennt Mathias, dass es Renés süße Stimme ist, die ihn pausenlos anquatscht und bittet, er möge endlich wieder leben.
Oh, wie traurig sie klingt. So… hoffnungslos.
Und ihre arme Mum und ihre Freundin…, ob das Mädchen wirklich nie aus dem Raum geht?
Plötzlich packt den Kerl die pure Sehnsucht. Die Sehnsucht nach Leben.
Schluss, er hat genug Schwarz gesehen. Er will endlich wieder René erblicken.
Er will sie trösten. Sagen, dass alles gut ist.
Aber…, aber wie?
Und dann kommt ihn die Idee, dass er ja eigentlich zwischen Tod und Leben schwebt und vielleicht, ganz vielleicht ist das seine ganz persönliche Traumwelt. Er muss sich nur vorstellen, was er sich am meisten wünscht.
Er wünscht sich etwas mehr Leben und prompt sieht er das Mädchen.
Fast ist es so, als würde er an der Decke des Krankenhauszimmers schweben. Von dort aus, kann er seinen eigenen, ausgelasteten, ruhig gestellten Körper betrachten und seine Kleine, die, die traurig daneben sitzt.
Möglich, dass er doch nicht ganz von ihr gegangen ist, und dass das vorhin keine Engel gewesen war, sondern sie, denn sie trägt das selbe Kleid. Warum sie es wohl an hat?
Der Anblickt schnürt ihm die Kehle zu.
Diese Frau ist so hübsch, so verzweifelt, am Ende und das wegen diesem bescheuerten Brief.
Na gut, hauptsächlich wegen ihm selber.
Langsam bewegt er sich zum Boden. Ganz nah, vor René hält er inne.
Sieht in die erröteten verweinten Augen. Seine Schuld.
Und er hat solch ein großes Verlangen, dem Kind zu helfen, dass er einfach die Hand ausstreckt und mit seinen groben Fingern, sanft über die blasse Wange streicht…

Es knistert. Ein Flimmern. Kurz ist alles weg.
Aber dann…


Schon komisch, wie sich mein Unterbewusstsein eine Berührung vorstellen kann.
So echt. So leicht.
Befreiend.
Ein Piepen schreckt mich auf. Der Gedanke geht unter.
Hektisch sehe ich auf den Monitor, der an der Wand angebracht ist.
Eine wenig bewegte Linie wird plötzlich kurviger.
Was bedeutet das?
Die Krankenschwester rufen?
Ist es endgültig aus?
„Bitte nicht!“, rufe ich regungslos und doch aufgebracht.
Ich rechne mit dem Anflug von Überforderung.
Und dann geschieht es.

Ein Blinzeln. Ein selbstständiger Atemzug.
Schwere, belustigte Worte: „Was, nicht?“

„O Gott, du lebst!!!“, die Freude ist überwältigend und lässt mich alles vergessen.
Ich richte mich auf und kann den Reflex nicht zurückhalten, mich schnell vorzubeugen und diesen jungen Mann mit all meiner verdrängten Leidenschaft zu küssen.
Einen vollendeten Augenblick lang.
Feuerwerk. Schmetterlinge. Das volle Programm.
Traurig, wenn ich bedenke, es hätte schon so viel früher passieren können.
Und dann holt mich die Vergangenheit ein.

Sie zwingt mich, zurück zu weichen.
Die spielerischen, neu erwachten Lippen loszulassen, mich von den blauen Augen, die so Lebens notwendig sind, zu entfernen.
Aus irgendeinem unbekannten Grund verschwindet Freude, genauso schnell, wie auch die Trauer verfolgen ist und Wut staut sich auf.
Schäumt.
Bis sie schließlich ausbricht: „Warum tust du uns das an?“
Keine Antwort.
Ich zügele meine scharfe Stimme etwas, rede aber weiter: „Ich verstehe, dass du das mir antust…, aber deinen Kumpels? Sind sie dir wirklich so egal? Dass du sie einfach im Stich lassen kannst??“
„Was antun?“, ich kann nicht glauben, das Mathias Frage ernst gemeint ist.
Mann! „Das alles!! Die Angst…. Die Schlaflosen Nächte….Alles!“
In Mathias Gesicht bildet sich ein verabscheuungswürdiger Ausdruck: „Du hast nicht schlafen können?“
Er grinst. Wie kann er bloß in so einen Moment grinsen???
„Weiß nicht“, sage ich ausweichend und sehe zum Fenster, was eigentlich sowieso nichts bringt, da das Rollo heruntergelassen ist.
„Tja, so ein Drama war das nun auch wieder nicht…“, schwarzer Humor.
Am liebsten würde ich die dämliche Decke einschlagen oder losheulen, oder schreien.
Ich atme tief durch: „Wie hart hast du dir bitte deinen Kopf angeschlagen?!“
„Gar nicht“, höre ich den Jungen tatsächlich sagen.
„Schon klar!“, zische ich durch die Zähne.
Ein neuer Ausdruck überzieht Mathi’s Gesicht: „Verzeih mir“
Beinahe ist es Ernst gemeint. Beinahe hätte ich ihm wirklich verziehen, aber etwas hält mich zurück: „Das kann ich nicht“, bloß flüstern.
„Aber… warum?“, jetzt höre ich Traurigkeit.
Wieder sehe ich auf das Rollo, fasse mich und sehe in die tiefblauen Augen: „Du hast gesagt, ich soll mich ändern…, …aber wenn für dich dein Leben nichts wert ist, deine Freunde nichts wert sind, …dann frage ich mich, wer von uns beiden seine Einstellung ändern sollte!“
Er starrt mich an. Fragend, beinahe dämlich.
Dann kommt wieder diese Wut, der ganze Ärger: „ Mann! Die da draußen lieben dich! Du siehst das nicht mal! Wie blind kann man sein??? Die tun alles für dich!!!“
Stille. Und dann wird auch er wütend: „Ach ja. Und du siehst das natürlich?“
Ich bin traurig: „Ich weiß nicht, aber ich sehe, dass ich mich in dir getäuscht habe“
Bedrohliche, spannungsgeladene Stille.
So wie in Filmen, die Ruhe vor dem Sturm.
Das verzweifelte Ende: „Leb wohl, Mathias“
Und dann verlasse ich den Raum. Ich sehe noch, wie eine Krankenschwester nach mir das Zimmer betretet, aber es hat mich nicht mehr zu interessieren.
Ich werfe den Umhang in eine Ecke, wie unhöflich ich eigentlich bin und laufe weg.
Wieder einmal. In der Hand, mit der ich Mathias zuvor noch gehalten habe, brennt jetzt die Leere.
Zuerst werden nur Finger verschluckt, letztendlich der ganze Arm.
Für gewöhnlich soll ich schon Brandnarben haben, aber man sieht nichts.
Es wird auch nie jemand sehen können, wie weh das gerade tut.
Denn das ist unmöglich, weil es so schmerzvoll ist, dass man das nicht mehr beschreiben kann und ich frage mich, wann ich das alles nicht mehr aushalte und ob ich einfach zu Staub und Asche zerfalle oder dennoch noch immer weiter umhergeistern kann.

Tja, schnell bin ich daheim. Mit tränenüberströmten Gesicht.
Ich laufe meiner schockierten Mum in die Arme: „Er lebt, aber er ist nicht mehr derselbe“
Diese Wörter verbinden meine ganze Gedankenwelt, meine Ängste, alles.
Es ist schlimm und ärgerlich.
Und es tut weh.

15. Juli 2011 13

Der letzte Tag hinterlässt viel Kummer. Aber man kann nichts dagegen unternehmen.
Zuerst denke ich mir, ich sollte einfach zu Hause bleiben, aber ich will Mum nicht enttäuschen.
Ich habe ihr doch versprochen, dass ich mit auf die Hochzeit komme.
Na gut, nun muss ich auch ihren Freund ertragen – denn habe ich auch schon lange nicht mehr gesehen. Was soll’s.
Eigentlich will ich mich auch gar nicht schick machen, aber Mum verpflichtet mich zu einem Frisörbesuch. Traurig und mit großen Augen sehe ich sie an und plötzlich leuchtet etwas in ihren Augen auf: „Hör zu. Du musst da heute nicht mitgehen, wenn, wenn es dir nicht gut geht“
„Doch, ich komme mit“, sage ich entschlossen, aber ziemlich entmutigt.
Drei Stunden später sitzen wir mit der ganzen Verwandtschaft in der Kirche.
Die Zeremonie beginnt.
Gut, mit allem, was so dazu gehört: Schöne Braut, reicher Bräutigam. Beide total gegensätzlich, aber sie lieben sich und ein kleines blondes Mädchen, das Blumen streut. Natürlich noch der Pfarrer und sämtliche für den Anlass hergerichtete Gäste.
Zuerst ist mir das alles relativ egal, tja, aber dann, als es zu dem Teil mit den Versprechungen kommt, wird mir klar an was mich das erinnert.
Das paar darf sich nun küssen…
Ich ziehe Mum zu mir heran: „Ähm, he ich dachte ich schaff das, aber irgendwas sagt mir, es ist doch zu viel, ich gehe“
„Pass auf dich auf“, flüstert Mum zurück und ich nicke.
Flott stehe ich auf und sobald ich mich aus der Kirche gestohlen habe, renne ich und reise den bescheuerten Haarschmuck herunter.
Dann hole ich mir zu Hause etwas Bequemes zum Anziehen und bleib bei den Jungs-Dingen hängen.
Es kommt mir die Idee, dass ich mir als Kerl definitiv leichter tun würde, weil dann nichts mehr so real scheint. Das funktioniert und ich skate durch die gesamte Stadt und halte manchmal echt mächtig den Verkehr auf.
Aber ich habe das Gefühl von Freiheit, Unabhängigkeit.
Ich weiß nicht warum, aber das ist genau das Gefühl, dass ich gerade brauche und haben möchte…

Die Sonne prallt vom Himmel und droht alles zu ersticken, aber auch deftige Wolken ziehen sich in das Blau des Horizonts.
Und dann rüttelt mich eine SMS wach: „Du musst nicht hier bleiben, wenn es dich unglücklich macht – Mum“
Sie schreibt während einer Zeremonie eine SMS. Gut, für sie ist das nicht ungewöhnlich, denn sie hält nichts von der Kirche und ich frage mich eigentlich, ob sie überhaupt etwas von irgendwas hält, aber na gut. Was mich eher verwirrt, sind die Worte, die sie mir geschickt hat.
Du musst nicht hier bleiben, lasse ich mir durch den Kopf gehen.
Das: Wenn es dich unglücklich macht, klingt noch lange in meinen Gedanken nach.
Aber, wo soll ich denn hin gehen?
Zu Dad?
Wo mich die andere Vergangenheit wieder einholt?
Aber hier?
Hier ist doch alles noch viel schlimmer, oder?
Denn hier, ja ganz genau hier, hat ein Märchen begonnen und sich aus der Schleife der Märchen herausgerissen, weil es kein Happy End sucht.
Ich hasse diese Märchenverbrecher.
Aber man kann nichts dagegen unternehmen.
Man kann nichts verändern.
Vielleicht hat sogar die Natur bestimmt, dass manches einfach so bleiben muss, wie es ist, damit sich alles im Gleichgewicht befindet…, allerdings wäre das widersprüchlich zum sonstigen Wandel der Dinge.
Dann kommt mir ein Gedanke. Was wäre, wenn ich einfach ins Ausland gehe? Oder einfach mal drauflos fahre? Nach dem Sinn des Lebens suche?
Aber soweit ich weiß, genau solche Menschen, mit diesen Ideen, sterben immer einsam.
Weil sie immer Angst haben werden, dass sie gebunden sind, dass man sie Ihrer Freiheit beraubt, dass man sie an einer Hundekette im Zaum hält.
Aber diese Menschen, werden auch nie erfahren, was wahre Liebe ist.
Denn wahre Liebe bleibt für immer – so, oder halt nur für lange.
Ich blinzle in das gleisende Licht.
Es ist schön…

„René!“, ich sehe mich um, hinter mir gehen Joel und Marven.
Kurz muss ich mir ja in Erinnerung rufen, dass ich als Junge, noch nichts von dem Vorfall weiß. Oje.
„Hai, Leute“, rufe ich begeistert.
„Ja“, und dann erzählen sie: „Hey, tut uns leid, dass wir nicht bei der Probe waren…“
(Mist, die habe ich auch vergessen…)
„Ja, ja, schon in Ordnung. Es gibt schlimmeres“, sage ich lässig.
„Allerdings“, wirft Joel ein und dann kommt der Blick, auf den ich gewartet habe, „Mathi ist im Krankenhaus, er hat…, ist auch egal, jedenfalls er…“
Ich unterbreche ihn: „Was? Geht’s ihm gut?“
Fast etwas zu viel gespielte Sorge, ich muss mich im Zaum halten.
„Er regeneriert sich“, eine knappe Antwort, „Er will dich sehen“
Es klingt wie ein Befehl.
Beinahe will ich protestieren, weil der Ton mir zu forsch ist, aber dann sehe ich schnell ein, dass es die beste möglichkeit ist, um in Mathi eine andere Seite zu entlocken.
Vielleicht ist er nun nicht mehr zu fies oder verwirrt.
Ein Hoffnungsfunken wächst gefährlich schnell: „Klar“

Ich skate, die andern joggen mit und zeigen mir unnötigerweise den Weg.
Trotzdem nett von ihnen. Nach Möglichkeit könnte es auch sein, dass sie aus irgendeinem Grund ein unsicheres Gefühl haben und sicher gehen wollen, ob ich tatsächlich ins Krankenhaus gehe…
Aber warum das wohl so ist?
Tja, ich weiß es nicht und ehrlich gesagt, fühle ich mich auch etwas kontrolliert.
Man erklärt mir den Weg zum Zimmer und lässt mich dann endlich in Ruhe.
Da kann ich mich endlich auf das bevorstehende Treffen vorbereiten – seelisch. Das ist von nöten.
Ich atme tief ein, dann betrete ich den selben Raum, den ich heute so wütend verlassen habe.

„Hallo!“, sage ich freundlich, aber auch nicht all zu Begeistert, wie ich finde.
„Hallo!“, sagt Mathi, er hat einen eigenartigen Ausdruck im Gesicht.
„Wie geht es dir?“, frage ich höflich.
„Es wird“, doch in diesem Moment zwingt ihn irgendein Schmerz zusammen zu zucken und er fügt ein, „langsam“, hinzu.
Er lächelt.
„Das ist… gut“, stimme ich ihm zu.
Dann wird er ernst, fast verletzlich: „Danke, dass du gekommen bist“
Dieser Anblick rührt mich: „Ist doch selbstverständlich… ich hätte ja Blumen mitgebracht, aber Marven und Joel haben mich einfach so überfallen“
Ich muss lächeln.
Mathias ebenfalls: „Ja, die beiden…“, kurz versinkt er in Gedanken, dann ist er wieder vollkommen in der Realität: „Das macht nichts, hier sind mehr Blumen, als wie in einem Friedhof“
Ich weiß nicht, ob Mathias es merkt, aber über mein Gesicht huscht augenblicklich ein Schatten.
Hey, er hätte, da durchaus landen können!!!
Was soll’s.
„Weißt du, neuerdings, da hat mir jemand gezeigt, dass diese Dinge… doch nicht so selbstverständlich sind“, erklärt Mathias ruhig, gelassen aber mit einem tieferen Hintergrund und verschlüsseltem Sinn.
Ich bin neugierig: „Das war bestimmt ein herzensguter Mensch, der hat es bestimmt nicht schlecht gemeint“
Wer das wohl war? Joel? Einer der anderen? Jemand, denn ich nicht kenne?
„Ja, ja, das ist sie… vielleicht ja, aber ich habe sie enttäuscht“, solch ein Bedauern habe ich noch nie gesehen, noch nie.
Und, und wer, wer ist SIE? Hat es da noch eine andere gegeben?
Um meine Nervosität zu verbergen, hole ich mir geschwind einen der kleinen, gelben Stühle, die für Gäste gedacht sind und setze mich neben das Bett.
„Sie wird dir bestimmt verzeihen“, ich staune, wie ehrlich ich das meine.
Mathias schüttelt den Kopf nieder geschlagen: „Nein, nein, jetzt nicht mehr…, jetzt ist es viel zu spät“
Er meint wirklich was er sagt. Ich kann das nicht glauben.
So schlimm enttäuscht bin ich nun auch nie gewesen, dass sich das nicht irgendwie entschuldigen lassen hätte können. Das einzige Problem ist nur, dass nie eine Entschuldigung kommt.
„Es ist nie zu spät“, sage ich mit voller Begeisterung.
„Irgendwann doch…“, ein kleines, leises Flüstern, dass untergehen möchte.
Dann wird plötzlich das Thema gewechselt, ein anderer Ton lässt alles verschwimmen: „Was haben dir die anderen gesagt, was mit mir passiert ist?“
Sie haben mir gar nichts gesagt, denke ich, aber du wolltest dich umbringen, ich weiß das.
Ich habe dich schließlich gerettet. Du weißt das gar nicht mehr!!!
Womöglich sagt mein Gesicht bereits alles.
Und Mathias reagiert: „Ich wollte mich nicht umbringen, ehrlich“
Ich sehe zur Seite, muss schlucken.
„Es war ganz anders. Willst du wirklich wissen, was genau passiert ist?“, werde ich gefragt.
„Wenn du es mir erzählen willst?“, frage ich zurückhaltend, um der Neugierde keinen Platz zu bieten.
„Ja, es muss endlich jemand wissen“, es klingt fragend.
„Schieß los!“, sage ich aufmunternd.

„Gut“, beginnt das Ganze, „Richi’s Mannschaft hat mich die Brücke runtergestoßen“
„Was?!?“, das Was ist definitiv zu laut, eine vorbei gehende Krankenschwester sieht besorgt durch das Fenster, geht aber schnell weiter, als sie meinen Blick wahrnimmt.
„Ja, aber ich habe es verdient…“, spricht Mathias weiter.
„DU hast es VERDIENT?!? Spinnst du? Du wärst fast gestorben!!!“, diese Reaktion ist vielleicht zu viel des Guten, aber was kann man schon machen?
Richi’s Mannnschaft – das ist die, gegen die heute das große, letzte Finalspiel ist.
Er hat sich nicht umbringen lassen, jemand wollte seinen Tod.
Das klingt schon ganz anders.
„Aber warum? Haben sie Angst, dass wir gewinnen??“, Zorn wallt sich in mir auf.
Was habe ich in den letzten zwei Tagen durchgemacht, nur weil manche Leute schlechte Verlierer sind???
„Nein. Ich habe Angst gehabt, dass SIE gewinnen….“, betrübte Stimme.
Meine Bestürzung folgt.
„Du… und dann?“, frage ich verwirrt. Warum hat er den Glauben an seine Mannschaft verloren?
„Ich habe ihnen illegale Substanzen zur Steigerung der Leistungsfähigkeit untergejubelt, nichts was schadet, aber sie wären definitiv disqualifiziert worden…“
Ich kann meinen Ohren nicht trauen, was redet dieser Mann da?
„Man hat mich erwischt. Ich bin nicht auf einen Stein aufgeschlagen, man hat mich zu fünft angegriffen und mich anschließend ins kalte Wasser gestoßen – aber ich habe es verdient“
Langsam wird alles etwas klarer.
Der Zorn auf Richi ist zwar immer noch groß, aber langsam ebbt er ab.
Mathias ist wirklich selber Schuld gewesen.
Er hat auch unsere Qualifikation damit gefährdet.
„Aber warum tust du sowas?“, frage ich schockiert.
Und dann kommt es noch Schlimmer.

Mathias reicht mir einen Brief: „Das hier drin, das weiß niemand. Wirklich niemand“
Ich bin mir meiner Verantwortung ein Geheimnis zu bewahren bewusst.
Mathi redet weiter: „Dafür kann ich mich nicht mehr entschuldigen“
Das klingt so hoffnungslos, dass ich am liebsten zu Heulen begonnen hätte. Aber ich reise mich am Riemen.
Langsam und sorgfältig öffne ich den Brief. Darin befindet sind ein Blatt Papier.
Es hat bereits Falten, als hätte jemand eine Sinnflut von Tränen darüber gelassen und eine wackelige Schrift füllte das leere Weiß.
Schwer leserlich steht da:


Hallo!

Ich weiß nicht, ob du mich noch kennst. Aber ich bin es: Luisa.
Wir haben damals viel Mist gebaut.
Ich will dich nicht belasten, aber es wäre dennoch gut, wenn du etwas weißt.
Erinnerst du dich noch daran, was wir getan haben?
Tja, es fällt mir schwer das zu schreiben, aber du bist seit längerem Vater.

Ich verlange nichts von dir. Ich wollte dich nur nicht anlügen.
Denn ich vermisse dich immer noch.

Deine Julia

Kenenfurt, Juli 2011


Ich muss eingestehen. Ich habe das Blatt zweimal gelesen. Oder dreimal. Vielleicht auch öfter.
Um die einzelnen Sätze zu kapieren. Um den offensichtlichen Inhalt herauszufiltern.
Tja. Und ich muss sagen, am liebsten hätte ich zum Weinen begonnen, wahrscheinlich auch zum Brüllen, oder ich wäre einfach nur weggerannt – auf und davon.
Aber das alles, das würde ich nur als die weibliche René tun.
Jetzt bin ich jedoch ein junger Mann und muss alle, wirklich alle Kräfte aufwänden, um nicht aufzufliegen.
Ich blicke auf die Worte, doch ich nehme keines mehr wahr, alles verschwimmt und erst, als wieder alles klarer wird, wage ich aufzublicken.
„Das. Das wird mir niemand verzeihen“, sagt Mathias eindringlich, „das wird mir Julia nicht verzeihen. Das wird das Kind mir nicht verzeihen“
Die Stimme wird immer leiser: „und am allerwenigsten wird mir das René verzeihen“
Die Worte gehen in einen eigenartigen, verzweifelten, zerstörten Ton unter, dass sich um ein Nuscheln schlängelt.
Ich muss schlucken: „René…“ Fast klingt es wie eine Frage.
„Genau. Die eine Frau, die alles durcheinander bringt. Die zu allem Fähig ist. Die mich total verwirrt… aber das will niemand hören“, er will das Thema abbrechen.
„Ich höre dir doch zu…“, ich hoffe es klingt nicht zu aufdringlich, mein Herz schlägt höher… ob man das äußerlich bemerkt???
„Naja… als sie da war. Da hatte ich das Gefühl, das Leben unter Umständen doch ganz schön sein kann…. Sie hat mir etwas geraubt… und nur wenn sie wirklich neben mir steht… und nicht mal dann… habe ich die Emotion ganz zu sein“, es klingt so aufrichtig. Und traurig.
Am liebsten würde ich den Kerl aufmuntern. Ihm Hoffnungen machen, dass es nicht so enden muss… das René ihn trotzdem lieben würde, auch wenn er ein totaler Arsch ist und dass sie so oft bei ihm sein würde, wie es ihr nur möglich war und das sie das selbe für ihn empfindet…
Aber so wie die Worte in meinem Kopf auftauchen, so werden sie auch wieder unsanft herausgeschlagen.
Denn René würde ihm nicht verzeihen. Nicht mehr.
Sie würde es vielleicht versuchen können, aber ich bin überzeugt, sie würde es nicht schaffen.
Was würdest denn du da draußen tun? Was würdest du tun, wenn dein Liebster bereits Vater ist?
Wenn er dich schon so oft angelogen hat? Wenn er für kleine Seitensprünge berüchtigt ist?
Wenn du genau weißt, dass er dich ganz und gar in der Hand haben wird?
Dass er dir weh tun kann? Dass er die Macht dazu hat?
Und dass er es wirklich tut?

Aber leider bin ich zu weit weg. Ich kann deine Gedanken nicht hören.
Ich bin ganz auf mich allein gestellt. Und ich bin froh, dass du nicht siehst, wie mein Inneres in diesem Moment aussieht. Denn es ist das unschönste, was du jemals gesehen hast.
Das ist nicht übertrieben…
„Aber jetzt spielt das keine Rolle mehr…“, wirft Mathias ein, als er sieht, dass ich ihm Recht geben muss.
Dann finde ich mich wieder so halbwegs: „Und was hat das ganze jetzt mit deinem… Sturz zu tun?“
Die ganze Sache verwirrt mich.
„Ich will mein Kind besuchen. Ich will ihm einen Brief hinterlassen, den er bekommen soll, wenn er knapp vor dem Erwachsenwerden oder vor dem Studium ist. Ich will, dass er wenigstens nicht ganz denkt, dass ich ein schlechter Mensch bin. Ich bin vielleicht ein schlechter Freund seiner Mutter gewesen, aber ich will dafür Vater sein. Das ist das einzige was ich tun kann“, pure Entschlossenheit.
„Du willst Vater sein…“, wiederhole ich laut, „das heißt?“
Panik durchzuckt mich, als mir der Gedanke kommt, dass er zu seiner alten Affäre zurückkehrt.
Schnell füge ich hinzu: „Ich meine, liebst du Julia noch?“
Das kann ich nicht mehr zurückhalten. So was Dummes!
„Nein. Aber ich liebe mein Kind“, diese wilde Intensität. Hilfe.
Und ein Stein fällt mir vom Herzen. Ein ziemlich großer Stein.
Wahrscheinlich sogar ein Fels.

„Und wozu war das ganze jetzt nötig?“, frage ich weiter.
„naja… ich war mir nicht sicher, ob ich heute in der Lage sein werde zu spielen…“, der Mann klingt geknickt, „und neuerdings habe ich den Drang dazu, alles selbst zu regeln, weil ich mich nicht mehr auf die anderen verlassen möchte…“
Er schämt sich.
Fragend sehe ich ihn an.
„Ja und ich brauche das Preisgeld. Ich will Julia wenigstens ein bisschen finanziell unterstützen. Sie ist nämlich keine großartige Kämpferin und ich will nicht das sie aufgibt, und das die Familie darunter leidet…“, beginnt er, „dann habe ich beschlossen alles auf eine Karte zu setzten… Denn Rest kennst du ja schon…“
Auf einmal bin ich plötzlich in der Stimmung, etwas zu unternehmen: „Gut. Was soll ich tun?“
Mathias sieht mich unwissend an.
„Wie kann ich dir helfen?“, frage ich nach.
Mathi ist anscheinend total platt: „Du willst mir helfen? Nach all dem, was ich euch angetan habe???“
„Klar doch“, sage ich fast etwas zu lässig, „wir sind doch eigentlich so was wie eine Familie“
Stolz grinse ich ihn an, bis er auch neuen Mut fasst und es mir gleich tut: „Gewinn das Spiel für mich!“
Es klingt beinahe wie ein großes Anfeuern.
„Schon erledigt“, dann schnappe ich mir noch den Brief.
„Hey, was soll das?“, fragt Mathias entrüstet.
„Beruhig dich… ich hab nicht vor, den in die Zeitung zu stellen“, sage ich leicht, „aber ich brauche Beweise“
Ehe Mathi was entgegnen kann, bin ich schon aus dem Zimmer gerannt: „Bis dann“

Es ist nicht schwierig, alle Basketballer zusammen zu trommeln, denn sie haben gerade eine deprimierende Besprechung gehalten. In der geht es darum, das Spiel heute abzublasen.
„Nein!“, platze ich in die ruhige Unterhaltung, „wir müssen spielen! Wir müssen spielen und gewinnen! Für Mathi!“
Alle starren mich an, unbeirrt rede ich weiter: „Mathias braucht das Preisgeld“
Ich reiche den Brief herum: „…für sein Kind“
Zuerst weiß keiner, was er davon halten soll.
Kommentare wie: „Das gibt es doch nicht“ oder „Alter!“, gehen durch die Runde.

„Hey, ich weiß, ihr seid von ihm enttäuscht…, aber eigentlich hat er dass doch nur aus Liebe getan“, Worte voller Überzeugung, „er hat auch bestimmt für euch schon Dinge gemacht, die kein anderer an seiner Stelle für euch gemacht hätte. Er hat euch doch gern! Er bereut seinen Fehler! Meint ihr nicht, wir sind es ihm schuldig?“
Stille. „Kommt schon, Jungs!“, hake ich nach.
Noch einen Moment herrscht Ruhe. „Und wer wird unsere Mannschaft anführen?“, fragt Joel nicht sehr begeistert.
„René wird das tun“, sagt plötzlich Marven und alle starren ihn an, „hey, er ist der einzige der bei Mathi Einzelunterricht gehabt hat. Und anscheinend vertraut er dem Kleinen“ Der Junge zwinkert mir zu und spricht weiter: „Und er hat Recht. Hey, er hat uns auch noch nie hängen lassen, wenn es nicht einen triftigen Grund gegeben hat. Er hat unsere Fehler auch immer verziehen. Joel, du weißt das doch am besten. Die Geschichte mit dem Feuer…“
„Schon klar!“, unterbricht Joel ihn beleidigt, „mach kein Drama draus. Na gut, ich bin dabei!“
Und plötzlich geht eins zum anderen. Alle sind einverstanden.

Es wird trainiert, gegessen, kurz ausgespannt und dann bereits aufgewärmt.
Der Sportplatz ist bereits übermäßig ausgefüllt. Das Publikum befindet sich in einer tollen Stimmung.
Unsere Mannschaft ist durch ein Notebook und Internettelefonie mit Bild mit Mathias verbunden.
Er kann das gesamte Spiel von seinem Bett aus miterleben.
Und er kann uns helfen.
Sein Wissen und unser Stolz wird uns zum Sieg verhelfen – ganz bestimmt.
Unser Ruf und dann geht es los!


Es wird nie einfach sein!
Sonst wär doch alles geschenkt!
Es wird niemals leichter werden!
Sonst wär es die Mühe nicht wert!

Du weißt nicht, wann du denn andern das nächste mal siehst!
Du weißt nicht, was als nächstes passiert!
Du kannst nicht sagen, dass gute Zeiten, für immer bleiben!

Doch wenn wir zusammen sind!
Fühl ich mich, wie ein kleines Kind!
Das mit seinen besten Freunden, das erste Mal Basketball spielt!

Es wird nie einfach sein!
Sonst wär doch alles geschenkt!
Es wird niemals sicher sein,
dass wir die Sieger sind!

DOCH HEUTE IST UNSER TAG!


Und das ist auch wirklich unser Tag.
Das Spiel beginnt. Und wir sind alle hergekommen, um gemeinsam zu gewinnen.
Dieses Mal konzentrieren wir uns, auf unser Teamwork und auf die Mannschaftslücken der Gegner.
Das Wort WIR ist unser Vorteil und niemand kann uns das nehmen – nicht mal die Besten.
Denn WIR sind die besten der besten!

Ein paar Ausweichmanöver, ein paar Körbe, ein paar Ausrutscher und unter anderem auch peinliche Situationen und viel Schweiß später, ist Halbzeit.
Dann geht es jedoch wieder weiter.
Leider haben wir in unserem Stolz etwas nachgelassen und müssen uns deswegen umso mehr anstrengen.
Gegen Ende des Spiels wird es sogar noch mal ganz knapp.
Denn es steht Gleichstand und es sind nicht mehr viele Minuten Spielzeit übrig.
Mathias hat mir eine Anweisung gegeben und ich werde sie befolgen.
Doch es liegt nicht an mir, sondern an uns allen, dass alles irgendwann gut wird.
Und genau das ist passiert.

Der letzte Nervenkitzel und dann ist es vorbei. Aus.
Und wir sind die Sieger!

16. Juli 2011 14

Es ist schwül. Und Sonntag.
Der letzte Sonntag meiner unbedeutenden Geschichte.
Auch wenn gestern noch Jubel war, weil wir den ersten Platz ergattert haben und Mathias endlich sein Geld bekommen hat und gerade alle anderen ihren Rausch vom Feiern ausschlafen, heißt das nicht, das nun alles in Ordnung ist.
Klar, die anderen haben leicht reden. Aber für mich passt das alles noch nicht.
Gut, ich freue mich für Mathias, dass er endlich Vater sein kann, dass wir gut genug gespielt haben und dass unsere Mannschaft wirklich zusammenhält.
Ich freue mich auch für meine Mum, dass sie anscheinend echt den Mann ihrer Träume gefunden hat und das scheint der Kerl auch wirklich zu sein.
Außerdem soll morgen mein richtiger Dad uns alle besuchen kommen…
Fast kann man meinen, es wäre eingeschnappt von mir, dass ich noch immer nicht zufrieden bin, aber da stellt sich mir die Frage: Was ist mit René’s Liebe?
Und ein Buch braucht doch auch in dieser Beziehung ein Happy End, oder ist das jetzt eine dieser neuen Trends, dass eine Geschichte auch ohne gutes Ende wirklich lesbar ist?
Was soll’s.

Naja. Ich befinde mich gerade am Beifahrersitz in Mathias schwarzem Auto.
Mathi sitzt neben mir. Er ist ziemlich nervös und parkt gerade an den Straßenrand.
„Viel Glück!“, wünsche ich ihm, als er das Auto verlässt – mit einen Umschlag in der Hand.
Jetzt bin ich alleine. Und würde schon wieder am liebsten weinen.
Aber ich darf nicht. Wirklich nicht.
Und falls diese Information für dich wichtig sein sollte und das denke ich mir nämlich, ich bin der männliche René.
Also nichts von wegen, René ist nun glücklich mit Mathias zusammen. Sie hat ihm verziehen. Und er baut keinen Mist mehr.
Nein, im Gegenteil.
Mathias ist noch immer fest davon überzeugt, dass ich ein Kerl bin, ein guter Freund, vielleicht sogar sein bester und er hat mich gebeten, ihn zu begleiten.
Das erklärt dann, warum ich mich in seinem Auto vor dem Haus seiner alten Freundin und seinem Kind befinde.
Als Freund ist für mich das eine Ehre.
Als Mädchen eine riesige Katastrophe.

So vieles kann in den nächsten Minuten passieren.
Mathias könnte sich in Julia wieder verlieben.
Er könnte mit ihr eine Familie haben.
Er könnte zurück gewießen werden.
Er könnte wirklich Vater werden.
Er könnte glücklich sein.
Oder zerstört.
Oder…
Aber was auch immer es ist, ich bin mir sicher, dass er auf Grund dessen, was da dann abgeht, René ganz vergessen wird und das ist genau der Gedanke, mit dem ich mich in meinem ganzen Leben nie abfinden könnte.
O Gott.
Mathias ist bereits an der Haustür.
Ich halte die Luft an.


Mathias ist aufgeregt als er klingelt.
Er ist sich nicht sicher was alles auf ihn zukommen wird.
Klar, er lebt noch. Seine Mannschaft hat für ihn das Spiel gewonnen. Und er hat endlich das Geld.
Hinzu kommt, dass er endlich sein Kind sehen würde.
Aber wie wird Julia reagieren? Worüber werden sie sprechen?
Was wird das für Auswirkungen auf ihn haben?
Und ganz leise wispert eine Stimme. Was wird mit René sein.
Auch wenn der Ton wirklich schwer hörbar ist, scheint es dem Jungen unerträglich laut, fast ohrenbetäubend…
Sein Herz klopft.
Tak.
Tak.
Tak.
Tak. Tak.
Tak. Tak.
Tak. Tak. Tak.
Tak. Tak. Tak. Tak. Tak. Tak! Tak!!!! TAK!!!!!!!
Dann springt die Türe auf.
Ein grimmiger Mann – um die 50 – sieht ihn fragend und skeptisch an.
„Wir kaufen nichts“, beinahe will er die Türe wieder zuschlagen.
„Warten Sie!“, bietet Mathias höflich.
Vermutlich Julias Vater beäugt ihn misstrauisch.
„Ich bin Mathias. Darf ich Julia sehen?“, es klingt sehr Erwachsen.
Einen Moment ist es still.
„Mathias“, wiederholt der Kerl den Namen.
„Du hast doch Julia so arg verletzt!“, fällt ihm jetzt auf, dann fährt er ihn an: „Verschwinde, du Dreckskerl!“
Und plötzlich steht eine junge Frau hinter dem aggressiven Mann.
Sie beruhigt ihn: „Schon gut, lass mich mal kurz hier allein“
Mathi ist beinahe erstaunt, als der Mann wirklich zurück tretet und ins Haus verschwindet.
Julia sieht Mathias an.

„Warum bist du hier?“, fragt sie überrascht.
Mathias wundert das: „wegen dem Brief, denn du mir gegeben hast, wegen naja, wegen unserem Kind“ Mathi kramt in seiner Tasche. Er will den Umschlag mit dem Geld finden.
Julia hält ihn zurück: „Warte, von wem hast du den Brief?“
„Er ist vor meiner Türe gelegen…“, sagt Mathi abwesend.
„Du hättest ihn vor einem halben Jahr bekommen sollen…“, und dann ist die Stimme der Frau traurig, fast schon, als würde sie ein schluchzen unterdrücken.
Mathias hält endlich Inne und schaut das Mädchen nichts ahnend an.
„Aber,…“, will er nachfragen, aber Julia unterbricht ihn, „Ich habe den Brief vor einem halben Jahr auf der Post aufgegeben… wieso?“
„Das spielt doch keine Rolle mehr… jetzt bin ich ja da“, Worte aus Mathias Mund.
Ob sie ihm nicht verzeihen kann? Ob sie nicht mal den Brief annehmen wird?
Ob alles umsonst war?
Und da beginnt sie zu weinen: „Es ist zu spät…“
Mathias Herz flattert wie wild…
Julia bekommt den folgenden Satz nur schwer heraus: „Leonie ist vor einer Woche gestorben, sie hat eine seltene Krankheit nicht überlebt“
Dann dreht sie sich um: „Tut mir leid“ und verschwindet gleich ihrem Vater im Haus.
Verzweiflung, Tränen, Leere bleiben zurück.
Solche Leere, dass man gar nichts mehr dazu sagen muss.
Das alles ganz glasklar ist.
Und das es schrecklich ist.
Und schmerzt.


Verdattert und ängstlich verfolgt René die Szene vor dem Haus.
Vermutlich ist zuerst der Vater erschienen, dann Julia.
Aber warum ist sie in Tränen ausgebrochen?
Und warum steht Mathias so regungslos und zerstört da?
Als hätte man ihm gerade das Leben ausgehaucht oder ihn in eine steinerne Statue verwandelt.
Ich muss mich zusammenreißen. Warte lieber im Auto.
Schritt für Schritt verfolge ich, wie sich Mathias vom Haus wegbewegt.
Wie ein Zombie. Komisch leer.
Und er geht nicht in meine Richtung, nein. Er geht weiter.
Mit meinen Augen verfolge ich seinen Weg, bis er sich schließlich auf eine Parkbank setzt.
Tja. Was tut man da?

Doch nach dem nächsten Atemzug bin ich mir sicher, dass ich nicht länger in dem Auto sitzen kann. Nicht länger untätig zusehen. Eilig steige ich aus und versuche mit schnellen Schritten Mathias zu erreichen. Aber je näher ich komme, desto langsamer werde ich.
Was, wenn das eine unangebrachte Reaktion ist?
Was, wenn ich das, was passiert ist, was auch immer es sein mag, auch noch schlimmer mache?
Mathias sieht so traurig aus. So zerrissen. Am Boden zerstört.
Sein schwerer Kopf ist in seinen Händen versteckt, vermutlich gut aufgehoben.
Jetzt bleibe ich stehen und betrachte das Bild genauer.
Obwohl es warm ist, muss ich plötzlich zittern.
Denn vor mir erstreckt sich das traurigste Bild überhaupt.
Und man spürt das auch. Mit jeder Sekunde wird es deutlicher.
Angriffslustiger, zerstörender. Und. Unbesiegbar.
Und ich kann Mathias nicht helfen. Ich kann einfach nicht.
So sehr ich meine Beine auch nach vorne zwinge, so sehr wollen sie einen Schritt zurück springen. Und so schnell ich überlege, endlich mal was aufheiterndes zu sagen, so schnell versagt auch meine leise Stimme und hüllt uns in Unbehagen ein.

Ich weiß nicht, ob du das Gefühl kennst, aber ist es dir schon mal passiert, dass du dastehst und nicht weißt wie du etwas Schlechtes wieder etwas besser machen kannst?
Und wenn du diesen Menschen liebst? Wie kannst du ihn dann noch weiterhin anlügen?
Was darfst du machen, ohne das etwas passiert?
Nichts.
Denn jeder Schritt, jeder einzelne Gedanken kann alles verändern. Alles.
Und wenn du jemanden vor dir hast, der so aussieht, als wäre gerade jemand gestorben, dann ist das Ganze umso schwerer.
Manchmal, da habe ich sogar den Gedanken, dass selbst ein Atemzug schon eine Veränderung zu viel bewirken kann.
Tja, da muss man gestehen, dass ich in dieser Hinsicht ziemlich ängstlich und verloren bin.
Aber das hier. Genau das.
Das geht einfach gar nicht.
Und in dem Moment fang ich an zu beten.
Für Mathias, für mich. Für die ganze Welt.
Und im Wind bemerke ich plötzlich, dass ich nicht allein bin.
Ich sehe nichts, aber es ist so, als würde der warme Föhn mich weiter nach vorne treiben und ich gebe ihm nach. Gleich sitze ich neben den starken Mann.
Und bemerke, dass er weint.

Das Schluchzen ist leise. Tränen sind salzig und lauwarm.
Eine unangenehme Aura umgibt uns. Verdirbt alles Gute.
Bis alles verwelkt.
Und es ist trocken. Karg.
Wahrscheinlich hat es schon länger nicht mehr geregnet.
Es wird nicht mehr lange dauern, bis alles verdurstet.
Um den kleinsten Tropfen bettelt, winselt. Irgendwann so laut, dass einem die Ohren sterben.
Dass es kein Leben mehr gibt. Dass nichts mehr sicher ist.
Nichts ewig bleibt.

Unerwartet dreht sich Mathias zu mir um, umarmt mich umständlich und schluchzt weiter.
Zuerst bin ich überrascht. Dann halte ich den Jungen fest.
Und es fühlt sich gut an.
Eine Weile ist da gar nichts.
Nur eine Flut Energie, die irgendwo über unseren Köpfen explodiert.
Wie ein Feuerwerksgeschoss an Silvester, nur ohne Lärm.
Und es ist wunderschön.
Keine Ahnung, wie lange wir in der gleichen Position verharrt sind, aber irgendwann hab ich was unpassendes gesagt: „Ich liebe dich“
Zurückrufen möchte ich, dass ich gerade ein Junge bin. Nicht ein Mädchen!!!
Das hat in einer Katastrophe geendet.


Mathias weicht zurück.
Er hat geglaubt, es hat nicht mehr schlimmer werden können.
Und jetzt sagt sein bester Freund, dem er sich ohnehin schon zu nahe fühlt, dass er ihn liebt.
Das macht ihn unbeabsichtigt wütend.
Schlagartig versiegt seine Tränengrube: „Spinnst du?“
Und kaum haben die Worte seinen Mund verlassen, bereut er sie auch schon.
Nun weint René und er sieht Verzweiflung, die er noch nie in so einem riesigen Ausmaß wahrgenommen hat.
Er korrigiert sich: „Das, das war nicht so gemeint“
Der Kerl kämpft mit sich selber: „Ehrlich… es , es ist nur. Ich bin… ich bin nicht…“
Dann springt René auf.
Verwundert sieht er den Jungen hinterher.


„Schwul“, sagt René ohne Probleme, als sie als Junge vor Mathias steht.
Mathi sieht sie verständnislos an.
„Ich auch nicht“, beruhigt sie ihn genervt, „sag mal merkst du eigentlich gar nichts?“
Ihm wird doch irgendwann mal irgendetwas untypisches aufgefallen sein!
Aber keine Antwort kommt.
„Ich kann nicht mehr, verdammt“, schon wieder kullert eine Träne über ihre gerötete Wange.
Als keine Erklärung darauf folgt ergreift Mathias das Wort: „Du kannst nicht mehr…?“
„Lügen“, ein abrupt eingefügtes Wort.
„Wovon redest du?“, fragt Mathi entschieden genervt.
„Ich bin nicht…“, haucht René in die schwüle Hitze, nimmt ihre Kappe ab, nimmt die Klammer aus ihrem Haar…, zieht ihr übergroßes T-Shirt aus, wickelt sich aus einem ewig langem Tuch…, bis sie schließlich nur mehr ein Tank-Top anhat, dass erstmals weibliche Rundungen andeutet.
„René?“, fragt Mathias verwirrt.
„Es, es tut mir leid…, dass das war zuerst doch nur Spaß und dann… ich ich hätte nie gedacht… das, dass – bitte sag, dass du mich jetzt nicht hasst“, René kann nicht mehr, „Bitte!“

Dann steht Mathias auf und geht zu mir her: „Wie könnte ich…“
Und küsst mich mit aller Leidenschaft.

Mathias hält mich fest und ich verspüre seit langem wieder einen Anflug von Freude.
Zugleich donnert es am Himmel und eine Wolke bricht.
Und Sommerregen ergießt sich über unsere Zweisamkeit.

Egal, wie lange wir da auch noch stehen, es wird nie lange genug sein und es wird auch nie die Sicherheit geben das gute Zeiten für immer bleiben, aber mein Glücksmoment lässt mich hoffen.
Hoffen darauf, dass alles einmal gut wird.

Und diese Hoffnung wünsche ich auch dir von ganzem Herzen. ♥

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Tag der Veröffentlichung: 09.12.2012

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