Cover




Für die Menschen,
die an mich glauben
und mich verstehen.
Und sonst niemanden.




Es war ein Anfang




Ich kenne diesen Blick nicht. Nicht mal richtig beschreiben kann ich ihn, es gibt keine Worte die ausdrücken können, welche Emotion ich sehe. Erstaunenentsetzenärger? Entsetzenverwirrungangst? Ich werde dir nichts tun, darauf kannst du dich verlassen.
Aber er tut es nicht. Sein Blick ändert sich, scheint in sich zusammen zu fallen und dann neu aufgebaut zu werden. Die jetzige Emotion weiß ich genau zu beschreiben. Es ist Wut.
Der Raum ist eine Beleidigung für die Augen. Eine Wand ist in warmem gelb gestrichen, das kann man noch guten Gewissens akzeptieren. Die, die im rechten Winkel von erwähnter akzeptabler absteht, erstrahlt allerdings in einem grellen, Übelkeit erregendem dunkelpink. Pink und gelb, irgendwie passt das so ganz und gar nicht zusammen. Man bemerkt ganz deutlich, dass dieser Raum von Siebtklässlern bewohnt wird, ohne das geringste Gespür für Farbkombination und ohne das allerleiseste schlechte Gewissen gegenüber gezwungenermaßen ständig den Raum wechselnden Oberstufenschülern, die sich mit so etwas wie Emilia Galotti oder den Zwängen der Marktwirtschaft herumschlagen müssen. Was auch ganz ohne grell pinke Klassenzimmerwände schon ein gewisses Maß an Frustrationstoleranz erfordert.
Wir starren uns an, die anderen starren uns an. Manche eindeutig und verständlicherweise hämisch, manche verwirrt oder sogar sorgenvoll. Er scheucht mich heraus. Ich versuche, mit ihm zu diskutieren. aber er lässt die Argumente nicht an sich heran. Gut, sie sind zugegebenermaßen äußerst dämlich. Während ich noch rede, schlüpfe ich in meine Jacke und schultere meine knallrote Tragetasche. Während ich aufstehe und an den anderen entlang zur Tür gehe, diskutiere ich weiter. Ich spüre, da bahnt sich etwas an. Das, was mir schon häufiger einen Todesstoß versetzt hat. Ich glaube, es ist Trotz. Nein. In mir kommt Entsetzen hoch, und wüsste ich nicht, dass ich kein Frühstück zu mir genommen habe, würde ich glauben, dass jenes es ebenso tut. Ich möchte nichts anstellen, ich möchte nicht gemeldet werden. Wenn ich es jetzt noch nicht vermasselt habe, wird es sicher geschehen, falls ich jetzt stehen bleibe und eine Streiterei mit ihm vom Zaun breche. Im Gegenteil, ich muss schnellstens weg hier. Ich höre noch, wie er mir befiehlt, die Tür hinter mir zu schließen, aber ich tue es nicht. In dieser Entscheidung liegt eine Portion Trotz – und er ist das erste, was ich spüre, und was mich mich beinahe schlagen lässt – aber im Nachhinein erkenne ich eine Menge Angst, die Hoffnung, endlich hier weg zu kommen. das gute ist, dass zumindest in den nächsten fünfundvierzig Minuten mit Sicherheit niemand anrufen wird. Außerdem weiß ich nicht, ob ich nicht wirklich gleich anfange, meine Magenflüssigkeit zu erbrechen. Aber als ich aus der Tür in den Nieselregen trete, bin ich verhältnismäßig zuversichtlich, dass niemand sich melden wird. Ich habe seiner Aufforderung Folge geleistet, nicht? Das mit der Tür kann nicht ernsthaft den Ausschlag geben, mich zu melden.
„We grow with years more fragile in body, but morally stutter, and can throw off the chill of a bad conscience almost at once.“
Bin ich schon so alt, dass es mich nicht mehr im Entferntesten kratzt, dass ich gerade die Liebe meines Lebens so dermaßen auf die Knochen blamiert habe? Vielleicht. Ich weiß jedoch nicht einmal, ob ich es getan habe, ihn blamiert habe, und ich wollte es nicht. Wie war das noch mal mit den Ethikern der deontologischen Richtung? Wichtig ist nicht das, was aus einer Entscheidung erwächst, sondern die Absicht, die zu der Handlung führt. Was war meine Absicht? Das ist eine einfache Frage.
Der heutige Tag war, milde gesagt, ein richtiges Stück Mist. Streit mit meinen Eltern. Meine Unterlagen zu Hause vergessen. Meine einzigen Gesprächspartner an diesem Ort auf Klassenfahrt. Die lauernden Blicke der Schulleitungsmitglieder, Stöckling und Knüpp, die, wiederum milde gesprochen, als der Frauenquoteanteil von Dick und Doof in dieser Leeranstalt fungieren. Der männliche Gegenpart besteht aus dem Schulleiter und jenem Menschen, den ich gerade eben wohl… sehr zornig gemacht habe. Ich bestreite es nicht.
Ja, richtig, ich vergöttere diesen dürren, manchmal äußerst geschmacklosen, grauhaarigen Wurm so, dass ich den Boden anbeten würde, auf dem er gelaufen ist, was sich allerdings in einem Ort, der zwar weit von der Einwohnerdichte einer Großstadt entfernt, aber dennoch leidlich dicht bewohnt ist, über kurz oder lang die Anwohner dazu verleiten würde, mich mehr oder weniger freiwillig in die Geschlossene zu katapultieren, soweit ich nicht schon längst drin stecke. Es geht das Gerücht umher, dass diese gesamte Anstalt zusammengewürfelt ist aus strafversetzten Lehrpersonen und eventuell ebenso strafversetzten Schülerinnen und Schülern. Ich jedenfalls bin sicher auf irgendeine Weise so ein Fall. Realschulempfehlung aufgrund der Sportnote. Fügen Sie an dieser Stelle gedanklich einen missbilligenden Zischlaut ein. Wie auch immer, ich bin hier gelandet, weil mich sonst kein Gymnasium wollte. Doch wenn man bedenkt, dass der Schnitt meiner Leistungskurse, sowie der ernsthaften Fächer unter meinen Grundkursen – sechs, beziehungsweise zwei an der Zahl – Ende.

„How awful to reflect that what people say of us is true!"
Ich prahle ohne Unterlass, und langweile und verärgere alle, die sich im Mindesten auf mich einlassen, eingeschlossen meine lieben Leser. Und es ist so schlimm zu wissen, dass doch manches Mal auch die schlimmsten Menschen auf der Welt – respektive meine Stufenkameraden – einen Funken recht behalten, auch wenn dies hier kein Funke mehr ist – ein loderndes Buschfeuer wäre mit großer Sicherheit eine weitaus passendere Bezeichnung für das, was ich allen tagtäglich zum Besten gebe. Aber was soll ich tun. Die kärglichen Fragen im Matheunterricht, ob ich dieses oder jenes noch einmal genauer darlegen könne, geben mir nicht genug Spielraum um meine vermeintliche intellektuelle Überlegenheit raus zu lassen, und ein weiterer überheblicher Gedanke, der allerdings nach den Ergebnissen der letzten Mathematikklausur nicht jeglicher Grundlage entbehrt, ist der, dass sie es mit Sicherheit nötig hätten, mich das eine oder andere mal öfter zu fragen.
Meine Absicht. Ja, ich habe viele Absichten. Sozialkunde und Englisch auf Lehramt zu studieren, meinen Schülern die Schönheit der englischen Sprache zu vermitteln, mit meinem Traummann bis an sein Lebensende (das wohl voraussichtlich vor dem meinen eintreten wird) glücklich zu sein, drei Kinder zu haben und viele, viele Leute die mich bewundern dafür, dass ich so lange durchgehalten habe, bis mein Liebster mir endlich seine unsterbliche Liebe gestehen konnte. Hobbes lässt grüßen.
Die heutige Intention meiner Handlungen, die zwar nur ein nachträglich vorgeschobener Grund ist, um kein allzu schlechtes Gewissen zu bekommen, aber sicher auf irgendeine Art und Weise zutrifft, war jedoch, dass ich einfach noch nicht sterben wollte. Ich fühle mich wie in der Hölle, seit ich ihn nicht mehr im Unterricht habe. Die Tage plätschern dahin, und es gibt da so drei oder vier Lehrer, die mich jeden Tag an die Decke bringen und von mir die große Anstrengung erfordern, nicht einfach aus einschlägigen

Gründen einen Hammer zu ergreifen und meinem der Freud’schen Lehre vom Bewusstsein entlehnten Es

nur so lange die Kontrolle zu geben, bis der sympathische

, mit einer guten Freundin im Park joggende, und so laufende, als hätte er einen Stock im Anus eingeklemmt, Deutschlehrer auf dem Boden liegt und – ich vergaß, ich bin Pazifist, und außerdem erlauben das weder meine Schule noch die Alterskennzeichnung – und, nun ja, sich nicht mehr viel bewegt.
Doch ich will nicht sterben. Auch nicht den sozialen Tod, auch wenn es sich anfühlt, als sei das schon geschehen.
Als ich mit den Angehörigen des Kurses groß-S-groß-O-zwei also heute in der Aula während der Mittagspause und bei Automatenfrüchtetee und Schokokeksen zusammen saß, fasste ich den Entschluss. Ich weiß nicht, wie es passiert ist. Hat Lukas scherzhaft den Vorschlag gemacht, ich könne doch mit kommen? Hat Sandra das ernsthaft angeboten? Oder habe ich, in all meiner Todesangst, beschlossen, das Risiko zu wagen, und mir überlegt, dass wenn ich die anderen mit genügend Keksen einlulle, sie meinen liebsten anlügen werden, dass sie es mir angeboten haben, doch mal ihrem Unterricht beizusitzen? Das sind alles Fragen, deren Beantwortung ich mir nicht zutraue. Das einlullen wollen entspricht ganz sicher der Wirklichkeit, aber alles davor und danach ist verschwommen, als würde ich es durch trübes Wasser betrachten wollen. Und trübe ist auch das Wetter geblieben, trübe trotz der Dunkelheit, die diesen Ort schon umfängt.

„Thank heavens, the sun has gone in, and I don't have to go out and enjoy it.“
Logan Pearsall Smith. Ich kenne ihn nur aus Zitaten. Eines hatte ich mal aus unverständlichen Gründen in einer Werbung für ein nicht gerade günstiges Grafikbearbeitungsprogramm gelesen, das im Spamordner meines Emailaccounts gelandet war. Manchmal macht es richtig Spaß, sich die Spams durchzulesen – auch wenn ich nach der fünfzehnten Viagrawerbung langsam sauer wurde. Ich bin eine junge Frau von siebzehn Jahren, und habe auch kein Herzproblem, das gefäßerweiternde Medikamente notwendig machen würde. Ladies and Gentlemen, ich bin die falsche Adresse, wenn es um potenzsteigernde Mittelchen geht. Aber Mails sind ja kostenlos, und mit drei, vier Klicks ist im Extremfall alles getan. An dieser Stelle auch noch mal einen herzlichen Dank an meine Firewall. Aber wie spärlich auch immer mein Wissen um diesen Herrn mit den treffenden Aussagen über die Natur des Menschen und das merkwürdige Verhältnis ebenjenes zu Geld ist, dieses Zitat entbehrt in meiner jetzigen Situation nicht eines gewissen Maßes an Ironie, beziehungsweise Pragmatismus. Gott sei Dank ist die Sonne da, wo sie jetzt ist. Müsste ich mich noch freuen, dass es sie gibt, in diesen Minuten, ich denke, ziemlich viele Menschen müssten bei einem ungeplanten Wutanfall meinerseits ihr wertvolles Leben lassen.
Doch dem ist nicht so, und mit so viel Optimismus, wie ich eigentlich gar nicht aufbringen kann, setze ich mich in den Bus. Als wir den Busbahnhof verlassen, habe ich die Hände zum Vaterunser gefaltet. Sonst bete ich nie.
Am nächsten Tag schaffe ich es nicht, dort wieder hin zu gehen. Aber meine Hoffnung, dass er es einfach vergisst, löst sich mit einem Knall in Schall und Rauch auf. Als ich noch im Bett liege und gerade einen Heulanfall hinter mir habe, hat meine Mutter die Knüpp am Telefon. Es wäre böse, schlecht, wieso ich es gemacht hätte, was ich mir gedacht hätte. Und ein Termin. Am Mittwoch werden ich und meine Eltern zum Gespräch geladen.

Ein Ende kann schön sein und dich befreien, und in der Regel merkst du schnell, dass es nicht hätte besser laufen können. Im Nachhinein von drei Wochen ist es in der Regel leichter. Langsame Enden jedoch vermitteln dir den Anschein einer haltbaren Dauerlösung, aber wenn sie dir in Wirklichkeit höheren Druck auferlegen als den, den ein plötzliches Ende auf deine Schultern zu legen vermag, sind sie das schrecklichste was eine Kreatur mit dem schmeichelhaften Bezeichnung homo sapiens sapiens

dir antun kann.
Es war ein Anfang. Der Anfang eines schrecklichen Endes. Dieser Tag war der der Götterdämmerung, der letzte Tag des scheinbaren Friedens, den ich mir die Jahre zuvor erkämpft hatte. Und hatte ich gedacht, das Kämpfen habe für einige Zeit ein Ende – ich hatte mich getäuscht.


"Atqui vivere, Lucili, militare est."

Leben, Lucilius, bedeutet kämpfen.

(Seneca)



Und ich kämpfe. Ich kämpfe tatsächlich, auch wenn ich nicht genau weiß um was, oder wogegen. Im Moment sitze ich in der brennenden Sonne eines Maitages und liebe das Leben. Kämpfe ich wirklich? Auf irgendeine Weise sicher, aber nicht um oder gegen irgendwas, sondern ich habe das Gefühl zu kämpfen. Etwas zu tun für mich, mich aufzuopfern, etwas sinnvolles zu tun, dass völlig sinnfrei ist. Ich liege halb im Schatten der Boutique, auf deren Parkplatz ich mich niedergelassen habe. Dieser Ort ist malerisch, auch wenn ich das vorher nicht bemerkt habe. Eigentlich bin ich sogar fast noch nie hier gewesen, und das schlicht und ergreifend, weil ich Angst hatte mich zu verlaufen. Mein Orientierungssinn ist eine komische Sache, wenn ich einmal eine Strecke abgegangen bin, habe ich sie im Kopf, aber wehe du setzt mich wo anders aus, auch wenn es eine oder zwei Straßen weiter ist. Bisher hatte ich auch keinen Grund, an diesen Ort mit der Hecke an der Einfahrt, der Wiese rechts von mir und der kalkweißen Wand des Gebäudes linkerhand zu kommen. Aber seit fast einem halben Jahr schon.
Darf ich Sie bekanntmachen, Heckenstraße drei, das hier sind meine Leser. Lieber Leser, dass ist Heckenstraße drei. Und welche Hausnummer müsste uns reintheoretisch gegenüber liegen? Richtig. Nummer vier.
Die Zahl vier hat irgendwie etwas magisches, und ich weiß nicht einmal, was. Mein vierter Englischlehrer vielleicht, meine vierte Schultasche, der vierte Lehrer dessentwegen ich Tränen vergießen würde, wenn wir ihn nicht mehr haben, mein viertes Jahr Sozialkunde, in dem ich stecke, mein viertes Leben in der Öffentlichkeit.
Das paradoxe ist, dass ich in diesem Gebäude schon zig mal gewesen bin – ich war fünf und habe mir von der völlig besoffenen Kinderärztin die Venen durchstechen lassen wegen des Bluttests für die Mandel-OP im Februar.
Einmal hatte ich einen Stein in der Hand, und als meine Eltern mit mir her gefahren sind und wir schon im Gebäude waren, erfasste mich so die Panik, dass ich raus gestürmt bin.
Schönes Spielzeug hatten sie dort, und den gleichen Kinderteppich, der inzwischen unseren Kofferraum vor Verunreinigung schützt. Zum Wartezimmer ging es die Treppe hinunter, und im Behandlungszimmer roch es nach Behandlungszimmer.
Aber es erklärt nicht, wieso ich hier sitze und meine Augen auf die Tür des Hauses richte, versuche, nicht zu blinzeln und mich nicht mal getraut habe, runter ins Dorf zu marschieren und mir was zu trinken zu besorgen. Ich stehe immer nur auf, wenn er zwischen ein und zwei Uhr das Haus verlässt. Meinen Eltern habe ich vorgeschwindelt ich würde an der English conversation AG teilnehmen, die ich mal großzügig von Dienstag auf Donnerstag umgelegt habe. Immerhin haben sie sieben Buchstaben gemeinsam, nicht wahr? Die AG ist dämlich. In der ersten und einzigen Stunde haben wir Karikaturen besprochen, und es interessierte mich einfach nicht die Bohne. An der Sprache ist es jedenfalls nicht gescheitert – mit noch nicht mal dreizehn Jahren habe ich begonnen, original britische Bücher zu lesen, und auch wenn mein Englisch sich seit der achten Klasse kein Stück mehr weiter entwickelt hat, rangiere ich immer noch auf der oberen Rängen.
Jedenfalls gibt es wesentlich wichtigeres zu tun, als über idiotische Politik zu diskutieren. Er hat das Haus verlassen, und ich sprinte los, die Treppe zur Hauptstraße hinab, dann auf den Bürgersteig. Mein Herz klopft, aber nicht von der Anstrengung, sondern von der freudigen Erwartung, ihn zu sehen und, wenn er gut genug gelaunt ist, ein paar Worte mit ihm auszutauschen. Ich renne die Straße entlang, immer weiter, bis ich an den Punkt gelange, an dem die Straße beginnt, die zu meiner Schule führt, und von der ich weiß, dass er sie auf dem Weg zum Mittagsessen immer entlang geht. Die Umgehung hat sich gelohnt; in seinem kanarienvogelgelben Jackett stakst er die steile Straße hinab, und ich finde seinen Anblick göttlich, während ich versuche, möglichst beiläufig und zufällig auszusehen, während ich hoch laufe, und dabei kläglich scheitere. Heute kein Gespräch – er lächelt mich nur an, wünscht mir einen schönen Mittag, und läuft an mir vorbei. Es sollte mich enttäuschen, dass nicht mehr kommt, aber das sind die kleinen Dinge, auf die ich jeden Tag hin arbeite. Habe ich erwähnt, dass ich mir nur an den Tagen erlaube, krank zu sein, an denen er frei hat? In meinen Mittwochsfächern sind mir schon einige Stunden durch die Lappen gegangen, aber Schule ist nicht alles. Ganz und gar nicht alles, und ich muss ihm ein weiteres Mal dankbar sein – für die Befreiung aus diesem Perfektionswahn, den ich mir, warum auch immer, im Laufe meiner Grundschulkarriere angeeignet habe, der mir aber eigentlich auch nicht besonders viel gebracht hat. Damals war ich strebsam und unglücklich. Jetzt bin ich faul und genieße jeden Moment.
Sobald er in die Hauptstraße einbiegt, vollbringe ich eine Wendung von vollen hundertachtzig Grad und renne mit so viel Karacho hinterher, dass ich mit diesem Tempo locker meine vier in Sport durch Sprinten auf eine glatte drei verbessern könnte. Früher habe ich diese Leibesübungsstunden noch weniger gemocht als heutzutage. Aber wie alles in dieser Zeit, hat auch das einen Grund.
Ich denke, es war Ende Februar oder Anfang März, als ich in einem Anflug von Sehnsucht die gefühlte Fünfzigprozentsteigung von der Sporthalle zum Mittelstufengebäude in siebenundachtzig Sekunden bewältigte, um einen Blick auf ihn zu erhaschen, während er von seinem Englischleistungskurs zurückkehrte. An diesem Tag hingen die Wolken trist herab, und Regen plätscherte über alles hinab, aber dennoch waren diese Minuten auf eine gewisse Weise so hell wie wenige Momente in meinem sechzehneinhalbjährigen Leben. Das Gebäude, in das ich kurz vor Ende der achten Stunde eindrang, roch nach diesem Putzmittel, von dem alle sagen, es röche nach irgendeiner Blume, aber ich dachte von Anfang an an Birnen. Als ich hoch stieg, brachte er gerade den Fernseher zurück, sprach mich freundlich an, und ich konnte mein Glück nicht fassen, ihn gefunden zu haben. Als er fort war, stand ich zunächst völlig orientierungslos im Gang herum und wusste nicht, was ich mit mir anzufangen hatte. Dann jagte ich herunter zum Schulhof der Realschule. Irgendwie muss das Schicksal an diesem Tag ein Einsehen mit mir gehabt haben: ein weiteres Mal begegneten wir und, plauderten, und dann trennten sich unsere Wege. Just als ich auf dem Weg zur Bushaltestelle das Flüsschen überquerte, nach dem mein Schulort teilweise benannt war, brach die Wolkendecke auf und hüllte alles in ein gleißend helles Licht, zu schön, zu hell, zu wunderbar, um ein Zufall zu sein. Danach begegneten wir uns nie mehr montags nach der achten Stunde. Aber ich rannte regelmäßig jedes Mal um drei Uhr achtundvierzig den schmalen Weg hoch.
Er ist in der Imbisshütte verschwunden, die versteckt und ziemlich schäbig auf dem Parkplatz vom Rewe steht, und da ich mir ausrechne, dass er sicher mehr als die vier Minuten benötigt, die ich brauche, um Flüssigkeit zu kaufen, betrete ich den Markt und schlendere an Gemüse, Süßigkeiten, Quengelzone und Tiernahrung vorbei, um mir eine Flasche Wasser zu krallen und ohne viel Gebummele zu bezahlen, den Laden zu verlassen, und mich so nahe an den Imbiss zu stellen, bis ich seine auffällige Kleiderwahl aus dem Augenwinkeln sehe und wieder schnell eine unauffällige Position an den Büschen auf der anderen Straßenseite beziehe. Liebe ist so trickreich wie der Agentenberuf, sinniere ich, während ich über die Freistunde am Freitag nachdenke, zu der ich wie immer den uralten Fernstecher meines Vaters in die Schule nehmen werde, um ihm in der neunten Klasse beim Deutschunterricht zuzuschauen. Selbstverständlich bin ich ein Stalker. Aber leben will ich auch.
Meine Überlegungen werden jäh unterbrochen, als er aus der Tür tritt und ich mich hinter dem minimalistischen Busch noch kleiner zu machen versuche, damit er mich nicht sieht. Aber ich fürchte es macht keinen Unterschied – manchmal pfeife ich auf Tarnung, und er scheint es mir so oder so nicht übel zu nehmen. Wieder warte ich, bis er um die Straßenecke verschwunden ist, damit er mich nicht zufällig hinter ihm her hecheln sieht, wenn er sich umdreht. Das wäre schon äußerst jämmerlich.
Als ich selber die Straße betrete, schaue ich zunächst, wo er sich befindet. Nicht immer bin ich so vorsichtig und zurückhaltend wie heute, meist ist mir alles egal, und ich geniere mich kein bisschen, ihm innerhalb einer halben Stunde vier Mal zu begegnen. In der Liebe und im Krieg ist alles erlaubt, nicht?
Wann bin ich genau diese Strecke das erste Mal gegangen? November. Ja, ich glaube, es war Ende November, oder vielleicht sogar Anfang Dezember, als ich das Haus das erste Mal so betrachtet habe, wie ich es nun vom Ende der Straße aus tue. Ich denke, ich bin auf keinen Fall unauffällig, selbst Mitschüler interessieren mich nicht, wenn ich ihn nur beobachten kann. Nichts hat Bedeutung, solange ich sein Gesicht sehe, seine schlanke Statur, jede seiner Bewegungen. Trotz seines Alters glaube ich manchmal, etwas Verletzliches in ihm zu sehen, etwas absolut Unbedarftes, etwas Schützenswürdiges, etwas – Liebenswürdiges. Strahlende, eisblaue Augen, von denen ich nicht weiß, was sie sehen, und die mich neugierig machen, wie er wirklich ist. Seine Frau ist. Ob er Kinder hat. Oder wie seine Wohnung in der relativen Großstadt am Rhein aussieht, zu der er jeden Dienstag und Freitag fährt. Liebt er mich vielleicht auch? Es wäre so schön, zu wissen, und wenn die Antwort negativ wäre, einfach nur zu wissen . Eventuell bin ich obsessiv. Vermutlich bin ich sogar regelrecht geistesgestört. Doch es kratzt mich nicht. Welchen Grund habe ich, mich an Konventionen abzuarbeiten? Interessiert doch kein Schwein. Aber ich weiß, wem es etwas bedeutet, es nicht zu tun, ich zu sein, zu leben, jede Sekunde, in der ich glücklich bin zu feiern, auszubrechen aus dem Käfig der Routine, das Schlimmstmögliche zu tun und mich trotzdem so zu fühlen, als hätte ich einen Meilenstein gesetzt, denn das ist zweifellos der Fall. Wer sich darüber freut, dass all die kleinen Ärgernisse in keiner Relation mehr stehen zu dem irrationalen Glück, das mich erfasst, wenn er mich in der Stunde an sieht, dass nichts mich mehr kränkt, dass ich das Gefühl habe, frei und schön und gut und vollkommen zu sein, dass ich Farben entdecke, die ich zuvor noch nie gesehen habe, überhaupt dass alle meine Sinne exponentiell schärfer sind als in meiner gesamten Existenz zuvor, und dass ich endlich lebe. Ich.


In Gedenken an Regenjacken




Heute ist es nicht warm, nicht sehr kalt. Februar ist richtig bescheuert, aber manchmal auch temparaturtechnisch durchaus akzeptabel. Doch ich hasse Regen und Schnee, nicht wegen der Nässe, sondern wegen der Kälte. Eigentlich liebe ich es sogar im lauwarmen Sommerregen bei fünfundzwanzig Grad ohne Schirm und nur in einem dünnen T-Shirt durch den Regen zu laufen, vielleicht noch den Wind auf meiner Haut zu spüren, der an meinen Haaren zieht, ohne die nassen, rot getönten Strähnen auch nur im Mindesten heben zu können. Und Gewitter liebe ich, das Donnern, die unheimlich Macht dieser hellen Blitze, voller Energie und ungezähmt von Menschenhand, auf irgendeine Weise also etwas, das mir sogar Hoffnung macht, dass wir noch nicht alles in unseren Krallen haben. Noch nicht. Aber kalter Regen ist so viel Trübsal, der Inbegriff von Traurigkeit und nichtssagender Leere. Ein Nebel, eine Wand, die dich nur einen Steinwurf weit sehen lässt, und nicht zulassen will, dass du sie durchdringst. Das Verlorensein an einem Ort, den du nicht kennst, und von dem du nicht weißt, ob du weg willst, weil du schlicht und ergreifend keine Ahnung hast, wie dieser Ort eigentlich ist. Nur eben verschluckt von dieser milchigen, weißen, aus kondensierenden Wassertröpfchen bestehenden Brühe und Stille. Es ist wie eine Synästhesie; man sieht nichts, deshalb hört man nichts. Irgendwie macht mir das Angst.
Gott. Und heute denke ich immer noch darüber nach, was ich an diesem Tag sage. In meiner Erinnerung stehe ich in der Tür und bin glücklich. Noch immer frage ich mich, warum ich sage, was ich sage.
Mrs-Rosa-Kaugummi alias Elise Stöckling sitzt an dem runden Tisch in Sprechzimmer, und ich, ausgehend von der Tischmitte, in einem Winkel von zirka 50° von ihr weg. Ich weiß nicht recht, was es zu bereden gibt, und ich weiß auch nicht, wieso ich freiwillig gekommen bin. Es hat wohl vorrangig etwas damit zu tun, dass ich beschlossen habe, Kompromisse zu machen, und zwar mit mir selbst. Dazu gehört auch, nicht grundlos vor dem Aufenthaltsraum gewisser Personen zu stehen. Er ist kein Grund, und seine Regenjacke auch nicht. Gut, das sehen die anderen so, ich nicht, aber der erste Schritt dazu, jemandes Beweggründe zu verstehen, ist sich zumindest erst mal oberflächlich in seine Gefühle einzufühlen. Es ist das gleiche Prinzip wie beim fälschen von Handschriften, nur eben auf mentaler Ebene.
Wir reden, und mein Mund ist ganz trocken. Ich frage sie, höflich wie ich schon immer war, ob ich ein Bonbon lutschen darf, und sie erlaubt es mir. Wahrscheinlich ist es mein zurückhaltendes Fragen, dass erspart, noch blöder angemacht zu werden als ohnehin schon, oder sie hat irgendeine unbegründete Angst, dass ich vielleicht sonst den Teppichboden voll reiere. Nicht, dass das noch sehr viel ausmachen würde. Er sowieso schon fleckig, an einigen Stellen recht klebrig, und überhaupt von so einer abstoßenden, mittelgrauen Färbung, dass ich einen Moment erwäge, ihnen das Geld für anständigen Bodenbelag vorzuschießen. Vorausgesetzt natürlich, sie lassen mich und meine ganz, ganz privaten Liebschaften in Ruhe. Denkste.
Aber diese Wände, falls man diese beleidigenden Platten rechts, links, vor und hinter mir überhaupt so bezeichnen kann. Die ehemals weiße Färbung – vielleicht durfte man hier früher rauchen, und sie sind deshalb langsam gelb geworden – ist hie und da gestört von dunkleren Flecken als von solchen, die vom Nikotin her rühren.
Die Gespräche mit ihr sind trotz des hässlichen Fetzens Stoff auf dem Boden auf eine gefährliche Weise erfrischend – erfrischend, weil sie doch definitiv mehr von mir versteht als Mitschüler, denn bei aller Boshaftigkeit, die ich attestiere, besitzt sie doch eine gewisse Intelligenz. Gefährlich, weil ich so mehr ausplaudere, was mich bewegt. Alkohol lockert meine Zunge kaum, wenn ich es nicht will, intelligente Gesprächspartner lassen das Eis eher schmelzen, und manchmal sogar meine Übelkeit verschwinden, von der ich nicht weiß wo sie her kommt – sie war plötzlich da, wie angefallen, nach dem Gespräch in dem anderen Sprechzimmer den Gang entlang, letzte Tür rechts. Wenigstens waren dort die Wände frisch gestrichen, doch der Geruch machte mich auch fertig. Scheint so, als könne man es mir nie recht machen.
Und meine mysteriöse plötzliche Gesprächsbereitschaft, dieses bereitwillige Kundtun meiner Seelentiefen, und vor allem die Selbstverständlichkeit, mit der ich mental Striptease mache, macht mir Angst, denn ein harter Panzer ist der einzige Schutz, den ein weicher Kern der Außenwelt entgegenbringen kann. Auch wenn ich natürlich über die Erlösung von meinem gewohnten Übelbefinden erfreut bin. Doch die Frage schwebt zwischen den Waagschalen wie ein Damoklesschwert: wofür lohnt es sich, die harte Schale aufzugeben? Ich denke darüber nie besonders viel nach, und bin jeweils in den völlig falschen Situationen verschlossen oder allzu redselig. Wofür lohnt es sich, sich geistig zu entblößen? Und was nützt es, alles zu sagen, was in meinem Kopf ist, wenn sie es vielleicht nicht versteht, oder auch nicht verstehen will? Meine Denkmuster sind so eigenwillig. Ich kann einmal völlig gesittet reden, dann habe ich das Gefühl, mich nur mit Kraftausdrücken den Dingen nähern zu können, die ich ausdrücken will, dann sage ich Gedichte auf Englisch auf, die mir im Kopf geblieben sind und gut passen, zitiere Liedtexte, fuchtele wild in der Luft herum als wollte ich ein fiktives Insekt verscheuchen, dann sage ich manchmal nichts, und warte, bis sie eine Frage stellt. Eigentlich möchte ich nichts sagen. Aber weil ich keine Ahnung habe, mit wem ich sonst reden kann, und weil es irgendwie aus meinem Kopf heraus will, tue ich es doch.
Wir reden über ihn, eigentlich größtenteils über - ihn. Es tut gut, sich niemandes Probleme anhören zu müssen, es ist gleichzeitig aber schwer, etwas zu verbergen. Problematisch ist auch, dass mir manche Gedanken und Einfälle erst beim sprechen kommen, und mein Gehirn kaum noch die Lizenz zum schützen meines Seelenlebens besitzt. So kommt nach einer abfolge von gefühlten hundertzwanzigtausend Rechenoperationen in meinem Großhirn ein Satz aus meinem Mund, der an sich extrem streitbar ist, auch wenn ich natürlich anders denke. Ich behaupte nicht, dass Lehrer keine Menschen sind, obwohl ich das vordergründig sage. Ich meine, dass sie sich schlicht und ergreifend wie etwas mehr verhalten müssen, mit mehr Verantwortung, mehr Feingefühl, mehr Weitblick als der gewöhnliche Mensch. Ich habe eine Theorie – oh je. Wenn man diesen Satz bei mir hört, sollte man schleunigst das weite suchen, denn es folgen danach nur noch absolut aberwitzige oder verletzende oder diskriminierende oder beleidigende, kurz ich-tret-euch-jetzt-mal-ganz-bewusst-auf-den-Schlips-Aussagen. Die hat in der Regel nicht den Anspruch oder sonst was, was eine politische oder wasauchimmer-Rede ausmacht, sondern enthält nur Zeug, dass man getrost gegen mich einsetzen könnte. Sei’s drum, wofür ist das Leben da, wenn man nicht einmal Fehler machen darf.
Und ich werde das Gefühl nicht los, dass es überhaupt ein Fehler war, mich zu diesen Gesprächen bereit zu erklären. Manchmal muss man zwar Opfer bringen – respektive, den Idioten in charge

in den Hintern kriechen – aber wie ist das Opfer zu bewerten, wenn man keine richtige Vorstellung von den Folgen hat? Ich weiß nicht, was anders gelaufen wäre, oder laufen würde, wenn ich mich damals geweigert hätte. Vielleicht hätte ich richtig gelegen mit der Vermutung, dass sie mir das Leben zur Hölle gemacht hätten, oder vielleicht hätten sie uns so lange da behalten, bis ich nachgegeben hätte. Aber ich hätte es versuchen sollen, denn ich habe mich nicht im Entferntesten gewehrt. /Learn to say no. It will be of more use to you than to be able to read Latin./ Möglicherweise wäre es eine bessere Idee gewesen, in der siebten Klasse statt Latein Selbstbewusstsein als Hauptfach zu nehmen. Nur denke ich, dass ich darin kläglich versagt hätte.
Wie auch immer, ich habe die Theorie, dass bald eine neue Evolutionsstufe auf dem Markt sein müsste. Der Mensch hat sich in physiologischer Hinsicht seit Jahrtausenden nicht verändert, also wird der nächste Sprung wohl mental sein. Ich wünschte, ich wäre ein Teil des neuen Sprunges. Und das vielleicht nur, um sagen zu können, ich hattet alle unrecht, ich bin auf meine Weise besser als ihr – weiter als ihr – und sehe mehr als ihr jemals sehen werdet, weil eure Existenz im Schatten eurer eigenen Pseudo-Bestrebungen liegt, euch ein tolles leben aufzubauen. Nein, keine Wirtschaft. Ich werde nicht weiter denken, ich werde die Theorie auch keinesfalls weiter spinnen. Wo waren wir gleich? Ja. Lehrer sind auf spezielle Art und Weise keine Menschen. Sie sollten mehr sein. Sie hat das natürlich falsch verstanden und schaut gerade so sauer drein, als hätte sie gerade drei Zitronen aufessen müssen. War vielleicht heute Morgen nichts anderes mehr im Kühlschrank? Das war jetzt vielleicht hart, aber ich möchte mich nicht weiter damit herumschlagen, ihr alles zu erklären, was zu dieser aussage geführt hat, denn ich verstehe es selbst nicht ganz. Allerdings denke ich nicht, dass es sie so verletzt hat.
Langsam, seit Wochen schon, schleicht sich bei mir dieses arbeitende Gefühl ein, dass das hier nur eine Verschnaufpause ist und bald irgendetwas Schreckliches passieren wird. Das ganze hat etwas von einer einlullenden Routine, die mich misstrauisch macht. Wenn sie versuchen wollen, mich nach diesem Schema die restlichen zwei Jahre bis zum Abitur mit verordneten Scheuklappen durch den Schulalltag zu ziehen – danke für das unheimlich –unheimlich! – anspruchsvolle Buch, das sie mir für das Englischreferat aufgedrückt haben, Frau Stöcki! – dann kann ich jetzt schon sagen, dass das irgendwann gehörig schief laufen wird, und das wäre bei aller Selbstkritik dann nicht völlig meine Schuld. Ich habe es schon bemerkt, als diese Schulleitung ihren Dienst aufnahm, und alles über den Haufen warf, was zuvor da gewesen war. Handyverbot, neue Organisation des Ordnungsdienstes, der Anbau ans Orientierungsstufengebäude, das Verhalten eines bestimmten Sozialkunde-, Englisch-, und Deutschlehrers, und die Neueinstellungen. Zumindest von meinem Standpunkt aus ist alles völlig daneben, und keiner hält sich an die Regeln. Auf dem Beamer in der Aula sind die Nachnamen von Schülern fast grundsätzlich falsch geschrieben. Den Vertretungsplan – das einzige, an das sie sich nicht ran getraut haben, und nebenbei das einzige, das nach wie vor tadellos funktioniert, macht genau wie zuvor mein Zweitlieblingssozialkundelehrer, und er managt das mit Bravour. Ich habe nicht besonders viel positives zu sagen darüber, wie es sich seit Ende meiner neunten Klasse entwickelt hat. Eigentlich bin ich sogar ein sehr zynisches Biest und freue mich wie ein schlecht erzogenes Kind über jeden Patzer, den diese Direktion sich erlaubt. Schadenfreude ist eine der schönsten Freuden, und ich würde ihnen den Erfolg auch mehr als alles andere gönnen – wenn sie sich nur wie normal Menschen verhalten würden, und kein Pseudogequatsche über meine Psyche vorlegen, die sie erstens gar nicht kennen, und die sie zweitens einen feuchten Kehricht zu interessieren hat – wenn sie sich denn ernsthaft interessieren, woran ich so große Zweifel habe wie daran, dass Aliens nett und freundlich wären, wenn sie auf die Erde kommen. Sie sind wahrscheinlich nicht anders als die Menschen. Und was würden die denn tun, wenn sie af einen Planeten mit vielen Rohstoffen und viel Arbeitskräften kämen? Gewerkschaften einrichten? Das wäre knallharte Ausbeutung. Aber genug zu meinem Exkurs über die Psyche intelligenter Lebewesen, denn ich mag zwar gerade den Raum verlassen, in dem eines sitzt, aber sie ist nicht wie ich, nicht gestern, nicht heute, nicht in tausend Jahren.
Ich kann jetzt sagen, weshalb ich hier bin. Eine alte Schuld hatte ich noch zu begleichen, ich musste dieses eine Treffen noch nachholen. Der Grund, wieso ich mich so positioniert habe, dass ich durch das milchige Glas zum Gang hinaus sehen konnte, und meine Augen immer dort verweilten, während ich redete, und ich somit die meiste Zeit keine Ahnung hatte, was Stöcki da gestisch ihren Erläuterungen beilegte, wenn sie mal wieder irgendeinen belehrenden Mist über die Unmöglichkeit von Lehrer-Schüler-Beziehungen zum besten gab. Es war nicht mein Wunsch, denn an und für sich bin ich seit Januar immer weniger gern als euphorisch zu diesen Gesprächen aufgebrochen, die mir noch dazu die Mittagspause geklaut haben. Das war Pflicht, aber heute hat sich noch etwas anderes mit hinein gemischt. Die Freude darüber, endlich wieder, nach wochenlanger Abwesenheit ebenjener, eine hässliche grüne Regenjacke auf der Lehne eines Stuhles gesehen zu haben. Ohne ihn dran, aber immerhin etwas.


Impressionen




Frank Kupfer, Grundkurs Deutsch 2 der Jahrgangsstufe 11, 11.03.08



/Sie ist sicher nicht schlecht, aber definitiv arrogant/. Seine Gedanken wiesen ihm wie immer, wenn er sie sah, sie zu ignorieren. Zwölf Punkte in einer Deutschklausur, dazu noch war das mit die beste des Kurses, aber dennoch hielt sich seine Beigeisterung in Grenzen. /Sie ist zu still. Sagt fast nie was zum Thema im Unterricht und kritzelt auf ihren Blättern. Wahrscheinlich wieder zu diesem Kollegen./ Ja, wahrscheinlich hielt sie sich für etwas besseres, und weigerte sich deshalb, dem Unterricht zu folgen. Dabei gab er sich schon Mühe. Doch an ihr schien das abzuprallen.
Er betrachtete das nicht ganz schlanke, immer von Übelkeit geplagte Mädchen für eine Sekunde, befand, dass sie wohl wieder nicht die Güte zeigen würde, heute am Unterricht teil zu nehmen, und schob den Overheadprojektor in den Klassenraum, um seine Folie vor zu bereiten. Wieso ihr wohl immer so schlecht war? /Vermutlich eine absolut dilettantische Bulimikerin/ vermutete er und wandte sich wieder seinem Entwurf zum Thema der heutigen Unterrichtsstunde zu. Ihr Blick streifte ihn, und darin war wieder diese fast scheue Zurückhaltung und eine leichte Frustration zu erkennen. Wieso machte er sich eigentlich Gedanken? Es war beileibe nicht so, als wäre sie ihm je sympathisch gewesen. Vielleicht machte er es sich auch zu einfach, aber dennoch, sie war wohl einfach arrogant.

Ein verehrter Lehrer, Oberstufenpausenhof, neben der Hecke, 24.03.08



Sie tat es schon wieder. In dieser Ecke stehen, in der sie jeden Montag um elf Uhr stand, an ihrer Seite diese „Musterschülerinnen“ aus der neunten, denen sie nur ihre halbe Aufmerksamkeit schenkte, während ihre Augen ihn suchten, an ihm kleben blieben, und sich an ihn heran saugten. Als würde sie ihn mit ihren Augen ausziehen. Am Anfang war es schon schmeichelhaft gewesen. Zugegeben, sie war nicht auf den ersten Blick das, was man als attraktiv bezeichnete, aber sie war jung, ihre Intelligenz war weitgehend anerkannt, und das war wie Wasser auf seinen Mühlen. Alles war in Butter gewesen, inklusive seines Selbstbewusstseins – bis in den März des vergangenen Jahres. Sie hatte ihn angerufen, sich quasi ausgeheult, und da war es ihm zu viel geworden. Irgendwie hatte er, trotz seiner nachfolgenden Wut auf diese penetrante Stalkerin, versucht, den Spagat zwischen ihrer Bewunderung und seiner Bequemlichkeit zu finden, aber das hörte sich leichter an, als es war. Und dann die Schulleitung. Natürlich hatten sie schon ein Auge auf ihn gehabt, aber diese Ziege hatte es dann noch nötig gehabt, mit dem Schulleiter zu plaudern – und ihm ihr lächerliches Schülerforum zu zeigen, indem ihre „Gleichgesinnten“ sich austauschen und beraten konnten. Als wäre das alles noch nicht lästig und beschämend genug für sie, hatte sie sich am Elternsprechtag die Arme aufgeschlitzt, und war mit Grabesmine nach dem Unterricht zu ihm gekommen und hatte ihm ihren Arm gezeigt, verkrustet mit getrocknetem Blut. Er hatte sie weg geschickt, und das war wohl auch gut so. Schlimm genug, dass die Schulleitung ihm die Hölle heiß machte, aber mit ihren dramatischen Auftritten komplizierte sie alles potenziell.

Heinrich Schiefdaum, Geschichte Grundskurs der Jahrgangsstufe 11, 25.03.10



Er betrachtete den Kurs abschätzig, während er durch den Gang eilte, das Lächeln selbstbewusst von seiner neuen Frisur und seinem topgepflegten Bart. Das waren alles kleine Idioten, die es nicht nötig hatten, eine Gesellschaftswissenschaft in den Leistungskursbereich zu nehmen, kein Gespür für Strategie, keine Lust auf sein Fach, kein Interesse an irgendetwas anderem. Er gab ihnen ja schon das, was sie wahrscheinlich wollten, plauderte mit ihnen über die Bildzeitung, Gesundheitsthemen, wichtige historische Persönlichkeiten, um ihr Interesse ansatzweise zu wecken. Aber keine Chance. Sein Blick streifte die Schülerin mit der verwaschenen roten Tönung, die Abseits stand und träumerisch auf die Wand sah, als würde etwas erscheinen, das sie sich wünschte. Wahrscheinlich dieser Kollege. Und irgendwie hatte sie es tatsächlich geschafft, andere mit ihrer Manie anzustecken. Eine kleine Irre aus der neunten sah ihn immer hungrig an, aber solange es nicht so ausartete wie in diesem speziellen Fall, konnte er sich das gefallen lassen. An Weihnachten hatte sie ihm sogar ein Buch zukommen lassen, das ihn nicht mal interessierte, und als er es der Bücherei überlassen hatte, hatten ihre Augen „Drama, Drama“ geschrien. Nein, überlegte er. Er wollte nicht mal im Ansatz mit so etwas auch nur die kleinste Kleinigkeit zu tun haben.
Das Mädchen mit dieser ansteckenden Krankheit war, trotz aller Behauptungen, nicht mal besonders helle. Mit großem Stolz (eigentlich war es meist eher Apathie) nahm sie eine drei, vier, oder fünf gerne in Kauf, und schaute mal kreuzunglücklich, mal versonnen, mal undefinierbar aus der Wäsche. Egal, dachte er. Nicht mein Problem.

Rolf Raupart, Mathematik Grundkurs 2 der Jahrgangsstufe 11, 21.03.08



Es würde ihn nicht wundern, wenn sie statt Chemie Mathematik als Leistungskurs gewählt hätte. In beidem rangierte sie im oberen sechstel des Kurses, und wäre sie nicht so unglücklich diesem Kollegen verfallen, wer wüsste, was sie alles zustande brächte. Sie war schon vor dieser Schwärmerei eine beachtliche Schülerin gewesen, in keinem wichtigen Fach abgerutscht. Ihre Hausaufgaben waren parat, im Unterricht ihre Aufgaben meistens vor denen der anderen erledigt, und wenn man sie bat, war sie bisher immer gerne bereit gewesen, Hilfestellung zu geben. Allerdings waren andere das auch, und allzu oft war sie ziemlich desorientiert. Zuletzt hatte sie in Chemie andere Hausaufgaben erledigt, und er hätte darüber hinweggesehen, wenn nicht die anderen Mitglieder des Kurses lautstark verkündet hätten, dass sie da Schularbeiten erledigte. Gleiches Recht für alle.

Renate Schuman-Ritter, Religion Grundkurs 3 der Jahrgangsstufe 11, 14.03.08



Die stiftet nur Unruhe, dachte sie abschätzig, als sie die siebzehnjährige betrachtete, die mit Anke in der zweiten Reihe saß und sich angeregt im Flüsterton unterhielt. Die anderen hatten ihre Köpfe zu ihnen gedreht, aber dem Mädchen mit der unmodischen Brille und den traurig herunter hängenden Haaren schien das herzlich egal zu sein. Nun ja, ihr auch.
Während sie die Folie auflegte, dachte sie kein bisschen an die Schülerin, die jetzt wohl mit konzentriertem Blick nach draußen starrte, als wäre er da, und sie könnte ihn jeden Moment sehen. Das gab alles Ärger. Disziplinlosigkeit anderer Schüler gegenüber Lehrern, Unruhe, Interesse in eine Problematik, das keiner in den oberen Rängen der Schule so gerne anschneiden wollte. An heißen Eisen verbrannte man sich schnell die Finger.
Eigentlich war sie nicht schlecht. Manchmal brachte sie sich gut ein, dann wieder starrte sie auf die Tafel wie auf ein schwarzes Loch. Die meisten Mitschüler ignorierte sie geflissentlich, aber das beruhte auf Gegenseitigkeit. Sie hatte nicht miterlebt, wie es dazu gekommen war, aber das Kind war wohl einfach unsozial. Strich, Punkt, Ende.

Bernd Kluempe, Latein Grundkurs 1 der Jahrgangsstufe 11, 12.03.08



Sie tat ihm leid, ohne Vorbehalte, einfach leid. Einiges davon hatte sie sich selbst zugefügt, das war ganz klar. Aber wie sich die Schule verhielt, stand auf einem ganz anderen Blatt, und er, der gerade mal zwei Jahre hier war, hielt sich da lieber zurück, anstatt sich ins Kreuzfeuer der Kritik zu werfen. Weshalb auch? Bisher war nichts geschehen. Bisher redete sie in der Arbeitsgemeinschaft bei der Übersetzung von Griechischtexten und Tacitus noch immer recht unbeschwert und hatte Witze parat. Solange etwas sie noch fröhlich stimmen konnte, solange sich alle halbwegs anständig ihr gegenüber verhielten, musste er sich keine Sorgen machen. Und im Übrigen, hier war sie nicht sehr gut aufgehoben. Sie bekam es zum Glück nicht mit – aber der Lehrerzimmertratsch war, wenn sie Thema wurde, wesentlich schärfer als zu Beginn seiner Zeit hier. Hoffentlich fand sie irgendwann eine Schule, an der das besser funktionierte. Und er hoffte es ehrlich für sie.

Im Büro des Schulleiters saß die Direktion des Gymnasiums zusammen und unterhielt sich über Verhaltensauffälligkeiten. Diese Schülerin mit den guten Noten, die oft unaufmerksam erschien und diesem Vogel verfallen war, war sonst nie Gegenstand der Sitzung gewesen. Doch der Elternsprechtag hatte da einiges durcheinander gewürfelt.
Elise Stöckling hatte den beiden anderen erzählt, wie sie den liebsten der Schülerin am Ende einer Stunde gedrängt hatte, ihr zu erzählen, was passiert war, und nach einigen Rumdrucksen hatte er das mit ihrer Selbstverletzung heraus gelassen, allerdings weit weniger dramatisch als sie der Schülerin vorhalten würden, nur zur Abschreckung. Es war ein zweischneidiges Schwert mit so einer Verliebtheit, aber sie würde bestimmt keinen Ärger mehr machen, wenn man ihr unterschwellig vermitteln würde, dass er nicht mehr mit ihr reden durfte. Alles andere hatte keine Wirkung gehabt; in der letzten Woche noch hatte der Schulleiter sie herein gebeten und ihr klar gemacht, dass sie großen Ärger bekommen könnte, wenn sie so weiter machte wie bisher. An ihrem Verhalten hatte das nichts geändert, sie war nur trotziger geworden. Inzwischen war das ehemals stille Mädchen, dessen Englisch- und Lateinarbeiten grundsätzlich als beste zum Schulleiter wanderten, zu einem echten Problem geworden. Früher eher still und darauf bedacht, nie im Mittelpunkt zu stehen – nun ein Paradiesvogel, von einigen verspottet, aber von wieder anderen – auch wenn sie es zum Glück nicht mit bekam – geradezu aufgrund ihrer Verwandlung vom hässlichen Entlein zum schönen Schwan in wenigen Monaten verehrt, auch wenn diese Ehrerbietung still statt fand – leider nicht still genug für die Geschmäcker derer, die hier im Raum versammelt waren.

Sie würde die Schule verlassen, auch wenn ihre Augen noch so hin und her gerissen schienen, sie würde es tatsächlich tun. Die Mädchen standen vor dem Haus eines Psychologen; das Mädchen, das sie damals im November an der Heizung in der Aula angesprochen hatte, und das zu einer Vertrauten in Sachen Liebesdingen geworden war, hatte sie gerade verlassen und sie, Anne, hatte noch ein paar Minuten, bis sie hinein musste. Die restliche Zeit, beschlossen beide einstimmig und ohne Worte, wollten sie noch reden, um beide dieser merkwürdigen Situation zu entkommen. Wohin willst du gehen, im Auge eines Wirbelsturmes? Es war sicherer, dort zu bleiben und auszuharren.
Sie konnte nicht glauben, dass dieser Psycho sie das gefragt hatte. /Fandest du es anregend, ihn dir so vorzustellen?/
Fragen, um eine gestörte Sexualität auszuschließen waren ja ok, dachte sie, aber das anhand der Erzählungen um einen Leopardenfellstringtanga ergründen zu wollen, fiel – freundlich gesagt – in die Kategorie – ja, in welche eigentlich? Es war eigentlich nur ein gigantisch in die Länge gezogenes

?, das gesamte Gefühl, nichts weiter als dieser eine Laut.
Sie würde mal schauen, ob sie nach diesem überirdischen Ereignis noch mal die Praxis aufsuchen würde, hatte die Elfklässlerin stirnrunzelnd erwogen, und gleich darauf mit den Schultern gezuckt. Sie könne sich gut vorstellen, sie und Esther noch mal kurz nach der Schule zu sehen, und ihn vielleicht auch noch mal, nur, um ein bisschen Kraft auftanken zu können. Die ältere betrachtete noch immer den Fragebogen, den der merkwürdige Therapeut ihr mitgegeben hatte. Fragen zum sozialen Umfeld schätzte sie ja noch als angemessen ein – aber was sollte bitte schön die Frage, ob das Kind mit Kot spielte oder schmierte?


Suche und Sehnsüchte



Ich zerfalle in Stücke, schon jetzt.
Natürlich weiß ich, wie sie es meint. Ich weiß, dass sie beide sehr gelitten haben, und dass es nur vernünftig wäre, es nicht zu tun. Aber trotzdem stehe ich hier, in meinem üblichen unüblichen Outfit, das in meinem Alter fast niemand trägt. Es fängt schon bei meinen Schuhen an. Sie haben schmale, mittellange Absätze und sind schwarz. darüber trage ich Bluejeans, die exakt in der Mitte der Absätze enden. Darüber ein schlichtes, schwarzes Longshirt, mit diskretem Ausschnitt, und in der hand eine einfache Handtasche, in der alles drin ist, was ich brauche. Handy, Geld, Notfallzigaretten und Mp3-Player. Und eine Tüte – falls ich in geschlossenen Räumen plötzlich so von Nausea erfasst werde, dass ich mich nicht zurückhalten kann. Das ist im Moment jedoch unerheblich, denn ich stehe an einer Bushaltestelle. Ich verstecke mich inter der Telefonzelle, mir wohl bewusst, dass ich von allen Seiten angestarrt und ausgelacht werde, während die Junisonne unerbittlich auf alle Anwesenden hinab brennt.
Es kratzt mich nicht.
Meine beiden Helferinnen stehen ein paar Meter weg, werfen mir ständig besorgte Blicke zu und leider muss ich muss zugeben, dass diese Sorge berechtigt ist. Vielleicht laufe ich schreiend und weinend weg, wenn er auftaucht – oder stürze mich auf ihn. Nein, dafür ist meine Verzweiflung – noch- nicht stark genug. Diese Blöße kann – und will – ich mir nicht geben.
Die Schüler verstummen wie ein großes Publikum. Die Bushaltestelle sieht auch irgendwie aus wie ein großer Theatersaal, der Fahrstreifen ein gigantischer Orchestergraben, die Insel in der Mitte die relativ winzige Bühne, auf der allerdings nie etwas gespielt werden wird. Die Busse fahren hinein und hinaus, doch nicht dieses zugegebenermaßen dröge Spektakel bringt sie zum schweigen, sondern die Person, die gerade das Pflaster betritt, das den Busbahnhof vom Schulzentrum trennt. Sein Gesichtausdruck ist der gleiche wie immer, sogar wie damals im Mai. Sind es wirklich erst drei Wochen, seit ich ihn nicht mehr gesehen habe? Es fühlt sich schon an wie Jahre. paradoxerweise habe ich nicht einmal das Bedürfnis, zu ihm zu rennen und mich ihm an den Hals zu werfen. Es ist zu viel furcht in mir, viel zu viel, vor allem wenn man bedenkt, dass die Akustik wieder beginnt, den normalen Regeln zu gehorchen und das Geplärre der anderen, die etwa fünfzig Meter weg stehen, wieder an Lautstärke zu nimmt. Natürlich ist es mir peinlich – aber was soll man bitteschön tun, wenn man das Gefühl hat, dass man sterben wird, wenn man ihnen jetzt nach gibt und ihn aus den Augen lässt? Er stellt die Sporttasche ab, in der er alle seine Sachen mit sich herum schleppt, und zieht seinen Pullover aus. Oh Gott. Das Getuschel wird lauter, ich höre wieder dieses widerliche Giggeln von der Haltestelle zwei. Dabei möchte ich nicht sehen, wie er Striptease macht, oder den berühmt-berüchtigten Raubkatzenfellstringtanga, den er laut unbestätigten Gerüchten mal im Sozialkundeunterricht hat blitzen lassen. Ich will sehen, wie es mich anlächelt, und hören, wie er sagt ich liebe dich

. Will seinen Atem spüren, wenn er mich umarmt – möchte ihn mal riechen. Mir fällt siedend heiß ein, dass ich noch nach zwei Jahren nicht weiß, wie er riecht. Was, wenn ich es nie erfahren werde? Nein, es ist Quatsch, rufe ich mir ins Gedächtnis. Du wirst gehen. Aber er bleibt, schlägt sich mit der zukünftigen 10a herum und bringt seinen Englischleistungskurs durchs Abi, und macht wieder Späße rund um das Wirtschaftssystem im Sozi-Grundkurs und bringt in Deutsch wieder alle möglichen Lektüren mit anzüglichen Kommentaren auf ein anrüchiges Level, und wird immer noch die Pausen beaufsichtigen und so, wie er es tut, am Busbahnhof stehen. Und dann werde ich ihn ansprechen, und wir können offen sprechen, ohne, dass etwas Verbotenes dabei wäre. dennoch kann ich das Gefühl nicht verscheuchen, dass ich dabei bin, etwas entsetzlich Wertvolles zu verlieren, als er in den Bus steigt. Ich beobachte, wohin er sich stellt. Für einen Moment treffen sich unsere Blicke. er ist nur für Sekunden erstaunt, dann scheint er es zu verstehen. Wieso sollte er auch nicht? Er weiß was ich fühle, schon seit anderthalb Jahren, und heute habe ich mich benommen. Auch wenn er mir Hoffnung machen sollte, ich fühle nichts als Leere, als das Gefährt das Pflaster verlässt und auf die Straße fährt. Ich werde schwächer, immer schwächer. Ich möchte nicht, dass er geht. Und dann ist er vorbei und ich lange in die Tasche, um meine Zigaretten zu finden. Anzünden, den ersten Rauch ausblasen ohne Inhaliert zu haben, und dann alle auf Lungenzug. Es ist einerseits eine Beschäftigungsmaßnahme für meine Flimmerhärchen, damit ich nicht zu weinen anfange, und andererseits ein komplexes Selbstbestrafungsritual – denn mein Brechreiz wird davon mit Sicherheit eher verstärkt. Nur was ich schlimmes verbrochen habe, das kann ich nicht sagen.


Und es wird nie mehr Sommer

Verlassen die Schule. Wir wünschen ihnen alles Gute

.
Mein Kopf, er explodiert. Meine Seele wird zusammengestaucht – und in meinen Eingeweiden fühlt es sich an, als wäre meine Bauchhöhle luftleerer, eiskalter Raum. Nicht einmal Übelkeit empfinde ich. Überhaupt ist an mir im Moment alles taub. Aus. Alle meine Gehirnprozesse scheinen nurmehr zu laufen, um mir dieses Wort immer lauter entgegen zu flüstern. Es ist alles was ich denken kann, sonst dringt nichts in meine Wahrnehmung. Ich sehe den Biologieraum, ohne etwas zu sehen, und um mich herum höre ich die anderen, ohne zu verstehen, was sie sagen. Mein Körper – ist das tatsächlich meiner? – tut mechanisch Dinge, ohne, dass mein Kopf ihm etwas befiehlt.
Langsam kehrt die Fähigkeit wieder, zu denken. Ich erinnere mich wieder, was ich eine Minute zuvor getan habe. Wie kann es sein, dass ich mich gerade noch darüber aufgeregt habe, in Mathe keine dreizehn Punke zu haben? Wie? Es scheint Ewigkeiten her zu sein. Und in einer Galaxie sehr, sehr weit von dieser hier entfernt. Jemand, der zufällig meinen Namen hat, kann sich aus einem unerfindlichen Grund nicht von der Stelle rühren, und ich erlebe es nur aus Versehen mit. Ein Glück, denn ich will noch nicht einsehen müssen, dass es mein Leben ist, und ich nicht in einer glücklichen Parallelwelt stecke, in der nichts von dem hier auch nur andeutungsweise geschieht.
Die Stimmen. Sie holen mich zurück ins hier und heute, zerren mich zurück. Ich wehre mich, aber woher sollen sie das wissen? Woher sollen sie auch nur im Ansatz erahnen können, was mit mir passiert? So voller Liebe zu sein, voller Achtung, voller Scham und Schuldgefühlen, voller Freude? Dass er

Leben ist, Atmen, Liebe, Wunder, Glück, Schmerz, Wut, die Welt? Sie wissen es nicht. Nicht mal im Entferntesten. Ich sehe ihrer Blicke, sehe auf meine Hände und stelle fest, dass sie eine ähnliche Farbe angenommen haben wir der blassbeige Arbeitstisch unter ihnen. Ich bin kalkweiß – ein Gespenst, ein Vampir. Ein Vampir, der all die aussaugen will, die das zugelassen haben. Vielleicht aber auch einfach nur mich selbst.
Ich muss mich immer wieder zusammenreißen: ich will keine Szene machen, auch wenn es mein letzter Tag hier ist. Aber: auch wenn ich es gerade denke, im meinem Bewusstsein ist die neuste Entwicklung noch nicht ganz angekommen. Dennoch, auf der anderen Seite will ich sie alle anschreien, toben, zerstören. Weinen. Sterben. Und mich herum nehme ich noch immer kaum etwas wahr. Ist es Rausch? Eine psychotische Attacke? Oder schlicht und ergreifend Schock? Es ist egal. Ich bin dabei, mich zu verlieren. ich weiß kaum, wie mein Name geschrieben wird. Wie heiße ich überhaupt? Wo bin ich hier? Das alles sind Fragen, die ich in diesem Moment nicht beantworten kann. Ich kann nur sagen, was ich brauche, wen ich brauche, damit das alles vergessen wird Halbernst denke ich sogar darüber nach, dass eine weitere Durchsage kommen müsste, in der der Schulleiter das ganze negiert und als Abschlussscherz so stehen lässt. Aber sie kommt einfach nicht.
Meine Stammkursleiterin. Ich glaube, sie sieht mich, erkennt das Flackern in meinen Augen, den Wahnsinn, der hinter der gepflegten Fassade einer begabten Oberstufenschülerin liegt. Wenn ich nicht fort von hier komme, werde ich gleich das ganze Stockwerk zusammen schreien. Sie holt mich aus der Klasse. Ich stelle die Fragen, die mir auf die Zunge gelegt werden von meinem rasenden Herzen. Sie gehen nicht einmal mehr durch meinen verstand. In diesem Moment sieht sie die tatsächliche, die urtümliche Person, die ich wäre, wenn ich nie so etwas wie Erziehung genossen hätte, das wilde Tier, dass auf die Erfüllung seiner Bedürfnisse, also die Antwort auf meine Fragen, fixiert ist, keinen Anstand, keine Höflichkeit, keinen Respekt kennt. die nackte Version einer dick eingepackten Frau. Nun ja, es scheint, als wüsste sie, dass das alles nicht mein Verstand ist. Ihr überraschter Gesichtsausdruck zeigt, dass sie mich nicht so kennt. Und ich kann genau sagen, dass niemand mich so kennt. Man hat mich hier schon oft weinen gesehen – aber nicht sprachlos. ich bin in dieser Situation absolut hilflos, man könnte mich im Moment von vorne erstechen, und ich würde mich nicht mal wehren. Und von da an wussten sie alle, dass es keine Schwärmerei war, kein halbernstes ärgern von Lehrpersonen, keine Provokation der Schulleitung, sondern bitterer Ernst, das eine Emotion mich beherrschte, die stärker war als Hass. In diesem Moment war das innerste nach außen gekehrt, und was sie sahen, musste ihnen einen Schauer über den Rücken jagen. Sie mussten mit ansehen, wie in jemandes Augen leere Schwärze sich ausbreitete. Was sie jedoch, bei aller Unaufmerksamkeit, auf jeden Fall sahen, war unsägliche Enttäuschung und die Frage nach dem Grund. Und weil ich ihn nicht bekommen würde, weil sie sich vehement weigerten – flammte eine weitere Gefühlsregung auf. Die unstillbare Gier nach Antworten.
Ich denke, das gab dem Ende eine neue Richtung. Und dem Wiederbeginn auch.


Ein Ende

Nein

. Ich höre sie flehen, und augenblicklich weiß ich, dass auch das nichts bringen wird, nichts jemals mehr etwas bringen wird. Es ist schon schlimm, was bereits gesagt wurde - wie

es bereits gesagt wurde, doch immer noch scheint es tief runter zu gehen. Ich habe doch nichts getan. Es ist schlicht und ergreifend so, dass ich nirgendwo überleben kann, wo ich weder gewollt noch gebraucht werde. Braucht er mich? Nein. Und wenn doch – bitte ruf an. Oder schreib mir, auch per Mail. Du weißt doch, wie es geht. Bitte.
Vorgestern. Vorgestern noch war alles so gut, wie es sein konnte, zumindest um kurz vor acht, als ich noch dachte, dass ich an diesem Ort heimisch werden könnte. Gut, ich hatte Zweifel, aber wer hat die nicht vor so etwas neuem? Ok, der Klassenraum war ganz hübsch gelegen gewesen, gut, keine großartigen Arschlöcher in der Klasse, ok, die Chemielehrerin war ganz annehmbar – aber es reicht nicht. Es reicht nicht, um mir zu sagen, dass ich willkommen bin. Es reicht nicht, um auszugleichen, dass ich in der Mittagspause die Wimperntusche aus den Augen geweint habe, und meine Klassenlehrerin vier Meter weg von mir saß und seelenruhig eine Broschüre gelesen hat, während die neueste und eindeutig unsicherste Schülerin der Klasse sich die Augen ausweinte, und manchmal leise würgte. Wie hätte ich noch gehen können? Wie hätte ich noch eine einzige Sekunde dort verbringen können, wenn ich wusste, dass der, der das wichtigste in meinem Leben war – mich einfach so im Stich gelassen hatte? Ohne einen Anhaltspunkt, oder auch nur die Spur eines solchen?
Ich konnte nicht bleiben. Ich konnte mich nicht der Schmach aussetzen, dort zu sitzen und von niemandem erwünscht zu sein.
Noch immer bin ich völlig steif, starre auf die Wand vor mir. Die Badezimmerfliesen scheinen mich auszulachen.
Verloren. Verloren. Verloren

.
Und in dieser Sekunde dringt es zu mir durch. Sie wollen mich nicht. Die starke, schwache, kluge, leichtsinnige, leidenschaftliche, zerstörte Person, die ich bin. Es fühlt sich an, als würde mir jemand die Kehle aus dem Hals reißen. Und ich schreie.
Es sind kurze, leise, wimmernde Schreie, unterbrochen nur durch periodisches Würgen und das plätschernde Geräusch von Erbrochenem in der Kloschüssel. Meine ohnehin schwachen Beine, die sich schon lange weigern möchten, weiter in der Hocke zu verbleiben, verlässt nun endgültig die Kraft und meine Kniescheiben schlagen hart und schmerzhaft auf dem Boden auf. Aber es ändert nichts. Meine Tränen fallen in die Toilette, vermischen sich mit den Überresten meines Mittagsessens. Dort drüben im Wäschezimmer fleht meine Mutter noch immer. Ich wünschte sie würde es gut sein lassen und mir helfen.
Hier im Bad mit den hämischen blassblauen Badezimmerfliesen werde ich immer mehr zu dem wilden Tier, das Verzweiflung aus allen Menschen macht. Das Tier, das sich zusammenrollt, und auf einen barmherzigen Schmerz hofft, der es erlöst. Dann hat nicht mal mehr eine Bedeutung, dass es vielleicht besser wird, oder jemand kommen wird, um dir zu helfen. Bei mir kommt jede Rettung zu spät. Denn der einzige, der mir helfen könnte, ist nicht hier. Ich weiß nicht mal wo er ist, oder was er tut, oder ob er an mich denkt. ich weiß nicht mal, ob er meinen Namen noch weiß. nach all dem könnte ich ihm nicht verübeln, wenn er mich nicht mehr kennen möchte. Aber das ist nicht das einzige, was mich in diesen und den folgenden Stunden foltern wird. Es ist das Wissen, dass, egal wie sehr du es versuchst, du deinem Leben allein durch deine Entscheidungen keine Richtung geben kannst.


Die Dämmerung zwischen Morgen und Nacht



Wieso ist es in meinem Zimmer so garstig hell

? schießt es mir durch den Kopf als ich die Augen öffne und gegen die Helligkeit anblinzle, die Übelkeit zurückkämpfend, die in letzter Zeit immer Aufregung begleitet, wenn sie denn kommt. Das tut sie zu meinem Leid in letzter Zeit mit entnervender Regelmäßigkeit. Dann erfasse ich die Lage. Ich bin beim Blutabnehmen, und vor ein paar Sekunden muss ich zusammengebrochen sein. Um meinen Oberarm wird eine Manschette gelegt und aufgeblasen. Langsam wird mir alles klar. Ich kann zwar Blut sehen, sogar riechen, ich schmecke mein eigenes Blut gelegentlich mit großem Appetit – aber ich habe die unheilvolle Angewohnheit, die Luft anzuhalten, wenn mir Blut abgenommen wird. Ansonsten lenke ich mich immer ab, indem ich einfache Rechenaufgaben löse und leicht hyperventiliere. Wieso habe ich es vergessen? Ach ja, ich vergaß, der Grund weilt nicht mehr an unserer ehemaligen gemeinsamen Schule und ignoriert mich völlig – bis auf ein paar gelegentliche Besuche im Forum, die sich nur durch seine IP-Adresse zeigen. Gut, auf gewisse Weise wird so verständlich, wieso der Arzt, der mich zu dem hier verdonnert hat, mich ansah als würde er meine geistige Leistungsfähigkeit mit der einer Scheibe Knäckebrot vergleichen. Gerüchteweise beträgt der IQ einer solchen fünf. Hoffen wir mal einfach, dass er diese Zahl hoch drei nimmt, dann wäre ich höchst zufrieden. Nur über das Knäckebrot will ich nicht weiter nachdenken, oder über Nahrungsmittel überhaupt.
Als ich wieder aufrecht sitzen kann, schicken sie mich und meine Mutter aus der Praxis. Ich erhole mich schnell von Zusammenbrüchen, halte jedoch dann häufig meinen angeschlagenen Kreislaufzustand, so dass ich den Tag wie auf Eiern laufe. Es soll mir recht sein, eigentlich interessiert mich in den letzten Wochen nicht wirklich viel. ich habe beschlossen, irgendwie, irgendwo in naher Zukunft eine Therapie zu machen, nur weiß ich auch auf den zweiten Gedanken nicht, was es an mir eigentlich zu therapieren gibt. Nach wie vor ist meine geistige Leistungsfähigkeit top – ich kann, wenn es mir nicht zu schlecht geht, auch noch durchaus über Witze lachen, auch wenn das meistens leichten Brechreiz hervorruft – aber ich weine oft. Es kommt über mich wie eine Walze und drückt mich nieder. Vor ein paar Tagen habe ich von meiner Komplizin erfahren, dass er

wieder an der Schule war, wahrscheinlich wegen Unterlagen. Daraufhin habe ich geweint und mich in mein Zimmer zurückgezogen. Habe ich die schönen Monate nicht ein einziges Mal den Tränen ihren Lauf gelassen, so scheinen sie nun mit aller Gewalt ihr recht einzufordern und stehlen sich immer wieder an die Oberfläche. Schlecht ist mir in solchen Momenten kaum – vielleicht ignoriere ich es aber auch einfach nur. Auch die Art, wie ich weine, hat sich grundlegend verändert. Früher konnte ich heulen und schluchzen wie ein verwundeter Wolf, heute hört es sich eher an wie ein chronisches Husten. Damals habe ich geweint, weil die anderen bescheuert zu mir waren, oder wegen einer schlechten Note, oder weil meine Eltern mal wieder schlechte Laune hatten. Heute heule ich wegen einer einzigen Person, der ich nicht mal wichtig bin. Ich hatte diesen Traum – ich stieg nach einem Unfall mit ihm aus dem Zug aus, und wir wurden getrennt. Schließlich landete ich im Wohnzimmer meiner Großeltern und wusste, dass das Lehrerzimmer wahrscheinlich im bad behelfsmäßig eingerichtet war. Daraufhin versuchte ich, zu ihm zu gelangen, aber man ließ mich nicht rein. Der unsägliche Psychologe, bei dem ich zwei Mal gewesen war, hatte mir einen Zettel vorgehalten, auf dem alle Menschen, die mir wichtig waren, aufgezählt waren, er

natürlich besonders angestrichen. Ansonsten fiel die Liste doch recht kümmerlich aus. Und als er mir die von ihm

zeigte, erkannte ich viele Namen, aber meinen nicht. Vielleicht glaubte ich es ihm auch einfach nur, weil er es sagte, denn ich hatte die Liste nicht einmal ansatzweise durchlesen können.
Es ist ein Traum, den ich bloß ein einziges Mal geträumt habe, aber es hat mir einen solchen Stich versetzt, dass ich mich den ganzen tag durch kaum bewegen konnte.
Weinen ist – sehr anstrengend. Manchmal ist es leichter, die Höllenqualen in dir selbst auszufechten, denn durch das Weinen wird es nicht besser, sondern in dir wächst nur der Schmerz darüber, dass du anderen, die dich lieben, ein noch größeren Kummer bereitest als sie ihn eh schon durchleben müssen. Dieses Leben ist eine Qual. Und natürlich spiele ich mit dem Gedanken, es einfach zu beenden. Aber ich komme nicht dazu. Vielleicht ist es die Hoffnung, dass meine Träume doch noch wahr werden. Vielleicht ist es aber auch Feigheit – oder aber das Wissen, dass nach allem noch etwas kommen wird, wofür es sich zu leben lohnt, ja vielleicht sogar, im Ernstfalle regelrecht um sein Leben zu betteln. Aber wirklich realistisch erscheint mir das in diesen Tagen nicht. Ich schlafe auch viel, und wäge dabei immer ab, ob die kleine Chance, etwas Schönes zu träumen, die große Gefahr aufwiegt, wieder einen entsetzlichen Traum zu bekommen. Es gibt nicht viele Dinge, vor denen ich Angst habe, aber dazu gehört, nichts erreichen zu können, nicht gehört zu werden, wenn man etwas entsetzlich Wichtiges erkannt hat. Ich fühle mich wie Cassandra. Eigentlich kenne ich mich mit griechischen Sagen nicht so aus, auch wenn ich anderthalb Jahre altgriechisch bei einem extrem netten Lehrer hatte. Letztendlich – ich frage mich, was sie getan hat? Hat sie sich umgebracht, was ja damals wohl eine weit verbreitete Lösung in der antiken Literatur darstellte – man denke nur an Dido oder Theia – oder ist ihr etwas anderes eingefallen? heute würde man von ihr sagen, stell dich nicht so an, Mädchen, geh erst mal wegen Schizophrenie in Behandlung und suche dir dann einen ordentlichen Job und schiebe den Superreichen noch mehr Geld in den Anus.
Ich werde das nicht tun, denn ich bin stolz und trotzig. Auch wenn da schon einige Haarrisse sind, durch die man mich quälen kann.


Ganz Altes, Altes und Neues



Plötzlich habe ich, trotz meines üblichen Unwohlbefindens bei dem Gedanken an Nahrungsmittel, einen unheimlichen Gieper auf Hefewaffeln. Ich erinnere mich noch, wie wir damals auf der Weihnachtsfeier jede Menge Waffeln gebacken haben, und dabei gewichtelt, erzählt, gelacht haben – und Kaffee getrunken. Damals hatte ich sogar die Übelkeit besser im Griff, vermutlich ist sie erst durch diesen ganzen Stress ausgelöst worden. Die Tassen haben wir, weil niemand so schlau gewesen war, selbst welche mit zu nehmen, aus dem Lehrerzimmer stibitzt und sind dann wieder hoch. Ich weiß nicht mehr genau, mit wem ich runter gelaufen bin, um sie zu holen, aber ein Lehrer war ziemlich schlecht gelaunt. Und an diesem tag habe ich fast gar nicht an /ihn/ gedacht. Vielleicht ist er eine Art Kompensator – eine Art Griff, an dem ich mich fest halten kann, wenn alles schief läuft. dazu muss er nur da sein und ein bisschen mit mir plaudern, meinetwegen auch übers Steuersystem. Danach schleicht sich regelmäßig Euphorie ein. Nun ja – sie schlich. Es ist unwahrscheinlich, dass er sich je noch mal meldet. Und dazu noch übers Steuersystem reden will.
Ich drehe mich wieder um und versuche, wieder einzuschlafen. Gestern war gar kein guter tag, ehrlich gesprochen war er sogar regelrecht entsetzlich. Nun weiß ich ganz sicher, an welcher Schule er nun weilt. Jedenfalls ist er

wohl in irgendeiner Kleinstadt am Rhein untergekommen. Der Name des Städtchens ist hübsch, er passt zu all dem Sehnen in mir, und lässt sich ungeduldig aussprechen. Meine Eltern haben ihr zweites Auto dort gebraucht gekauft. Ich habe mir die Satellitenbilder in dem Programm einer großen, bekannten Suchmaschine angesehen und denke, dass es recht hübsch ist. Auch wenn es vermutlich im direkten Anblick ganz anderes erscheinen wird, als man es senkrecht aus der Luft beurteilen kann.
Ja, gestern war schrecklich. Ich habe die frohe Kunde um zwanzig vor zehn erhalten, und hatte einen kleineren hysterischen Anfall, weil ich heute sofort dort hin wollte. Mit Tränen und Schreien und Würgen inklusive. Meinen Eltern reißt langsam der Geduldsfaden – und das schlimmste daran ist, dass ich sie verstehe. Mir selbst schlägt meine Laune auf das Gemüt – es ist ein Teufelskreis.
Vor drei Tagen sollte ich eigentlich in die Klapse, wegen Voruntersuchungen und Blabla für eine Therapie in der Tagesklinik. Bei dem Vorgespräch war ich ein bisschen verwirrt, redete in schwer verständlicher Form über Selbstgespräche und meine Fähigkeit, ohne Alkohol witzig, und mit ziemlich jämmerlich zu sein. Was ist so schlimm daran, ein Gespräch mit seiner imaginären Nachtigall zu führen? Schreibt das ein Dichter, ist es Kunst, schreibt das ein Psychologe, ist es die Zusammenfassung eines kritischen Gemütszustandes. Also ist es die Essenz meiner jetzigen Unzurechnungsfähigkeit.
Ich mag harte Begriffe, und verabscheue Euphemismen wie der Teufel das Weihwasser. Langes herumreden um den heißen Brei macht ihn auch nicht wärmer – und schon mal kalten Grießbrei gegessen? schmeckt zum fürchten. und das, wo ich Grießbrei doch eigentlich mag.
Zurück zu meiner persönlichen Psychologin, meiner Nachtigall. Ich habe die unheilvolle Erfahrung gemacht, dass Psychologen mich grundsätzlich nur ankotzen und dabei gar nichts, aber wirklich rein gar

nichts bringen. Stattdessen hat es sich immer als nützlich erwiesen, mal zwei Personen auszudenken, die meine Konflikte widerspiegeln und uns drei dann ein Gespräch führen zu lassen. Der ganze Blabla mit den Fachidioten beschränkt sich doch eigentlich nur darauf, die vernünftige und die gefühlsbetonte Seite zu Wort kommen zu lassen, abzuwägen – und dann, was bei mir anders ist – sich nach langem lamentieren, Schuldzuweisungen von wegen mangelndem Engagements und so weiter und so fort des Psychologen, für die Vernunft zu entscheiden. Der Mensch ist kein vernunftier, das zeigt er jeden tag, an jedem Ort der Welt, mindestens ein Mal pro Quadratkilometer. Wieso sollte ich etwas anders machen als die ganzen Idioten? oder aber, ihre Vorstellung von Vernunft ist eine andere – dann sayonara, denn Äpfel mit Birnen zu verrechnen, das wurde uns schon in der ersten Klasse verboten. Zumindest habe ich gedacht, das wäre der Sinn hinter diesen lachhaft gezeichneten Obstsorten auf der zweiten Seite des Arbeitsheftes. So viel zu geistiger Umnachtung.
Wie auch immer – zur Debatte standen MRT, Medikamente – ohne vorheriges eingehendes Studium meiner körperlichen Funktionen und der Ursachen, inklusive der Anamnese sonstiger körperlicher Beschwerden wie Nausea, Krämpfen und leichter Lichtempfindlichkeit, so so – und drei Wochen weg von zuhause. Da habe ich am vierzehnten abgesagt. Und gehofft, er würde sich melden, das hat er nämlich letztes Jahr auch schon. Aber ich bilde mir ja ein, dass er Mails schreibt mit zum teil höchst mysteriösen und kryptischen Formulierungen – Christina hatte vielleicht wirklich recht, und er hat irgendwas mit der CIA am Hut – und dass er sich merkwürdig verhielt beim ESL-Gespräch, und überhaupt, vielleicht ist er ja gar nicht da, und ich bilde mir sogar ein, ihn je getroffen und angesprochen zu haben – Vergesst es!
Es ist schwierig, nicht durcheinander zu würfeln, was ich heute, ein Jahr danach fühle, und was sich damals in meiner Seele abgespielt hat. Ich denke, ich stand kurz vorm Kollaps. Und ich wusste, er würde kommen. Die Wahrscheinlichkeit, mit dieser Einschätzung richtig zu liegen, traf ich damals, trotz aller gegenteiligen Meinungen, sehr realistisch – ich hatte noch genau fünfundzwanzig Stunden.

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Tag der Veröffentlichung: 12.06.2010

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