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Der letzte Tanz

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s war eine düstere Novembernacht, und ich war allein Zuhause. Der Hund hatte schon ein paar Mal angeschlagen, als er gegen Mitternacht endlich Ruhe gab. Ich wälzte mich noch eine Weile hin und her, hörte das alte Haus ächzen und knarren und war gerade eingeschlafen, als ich spürte, dass es ganz hell im Zimmer geworden war. Ich öffnete die Augen und sah einen hellen Lichterschein am Fußende meines Bettes. Geblendet von diesem Licht schloss ich sofort wieder meine Augen, gleichzeitig nahm ich einen herben nach Tannenholz riechenden Geruch wahr. Ich hatte das Gefühl, mein Herz würde stehen bleiben, als ich erkannte, dass ich diesen Duft vor zwei Jahren das letzte Mal gerochen hatte. Es konnte doch nicht sein. Vorsichtig drehte ich mein Gesicht zum Nachtschrank und öffnete meine Augen. Als sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, schaute ich auf meinen Wecker, 0:25 Uhr. Ängstlich blickte ich Richtung Fußende und sah ihn. Hans-Peter, umgeben von einem hellen, flackernden Schein.
„Lisa, Du brauchst keine Angst haben“, hörte ich seine leicht rauchige Stimme. Obwohl mein Herz wie wild pochte, schaffte ich es einen Satz heraus zubringen.
„Du bist doch in Afrika als Entwicklungshelfer."
„Ich bin gekommen, um dich zuholen, für einen letzten Tanz. Den Tanz, den wir nicht mehr tanzen konnten“. Dabei streckte er mir seine Hände entgegen. Wie in Trance nahm ich sie, und im selben Augenblick merkte ich auch schon, dass wir durch das geschlossene Fenster nach draußen in die kalte Novembernacht glitten. Obwohl ich nur ein Nachthemd am Körper hatte, empfand ich keine Kälte. Seine Hände strahlten so viel Energie aus, dass mein ganzer Körper von einer angenehmen, molligen Wärme durchflutet wurde. Wir schwebten über Straßen und Häuser zum Weserdeich; Ziel war die Aussichtsplattform des Sail Cityhotels. Dort setzte er mich behutsam auf der obersten Plattform ab und stellte sich neben mich. Beeindruckt bestaunte ich die nächtliche Aussicht, mit ihrem Lichterglanz, weit über die Weser bis zur anderen Seite, als er plötzlich meine Hand losließ.
„Warum bist du damals nicht gekommen? Ich hatte auf dich gewartet!“ Dabei schaute er mich mit traurigem Blick und einem Blitzen in seinen Augen an.
„Ich wollte kommen, aber deine Mutter meinte, es wäre besser, wenn ich dich deinen Traum leben lasse. Ich würde dir nur im Wege stehen“, antwortete ich mit bibbernder Stimme, da ich durch den eisigen Wind und der Kälte hier oben, zu frieren anfing.
„Du frierst? Ich wärme dich.“ Er reichte mir wieder seine Hände und sofort durchfloss mich eine angenehme Wärme.
„Mein Traum! Ich hätte dir zuliebe auf ihn verzichtet. Unser Traum war es doch, hier oben nach der Eröffnung zu tanzen! Wir wollten uns nie wieder trennen, uns …“
„Uns sollte niemand trennen können“, vollendete ich seinen angefangenen Satz, „ich weiß, aber warum bist du zu mir gekommen?“ Ohne zu antworten, schaute er mir in die Augen und drückte ganz fest meine Hände, dass es schmerzte. Mein Blick glitt über sein Gesicht, dabei entdeckte ich, dass sein Gesicht blass und fahl war. Es erschien mir wachsartig und blutleer, und doch entdeckte ich in seinen Augen Tränen. Trotzdem er meine Hände hielt, überkam mich eine eisige Kälte. Angst machte sich in mir breit. Was hatte er vor, hier in neunzig Meter Höhe?

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ach längerem Schweigen, dabei schaute er mir unentwegt in die Augen, erwiderte er mit einer Stimme, die sonderbar melancholisch klang:
“Ich wollte dich noch einmal in meinen Armen halten, deinen weichen, warmen Körper spüren, bevor ich für immer von dir gehe. Komm lasse uns hier oben tanzen, wie wir es geplant hatten“, sagte er und nahm mich in seine Arme. In der Ferne spielte leise ein Wiener Walzer, und wir fingen an zu tanzen. Mit einer Eleganz und Leichtigkeit führte er mich zu den Klängen der Musik über die Plattform, mir kam es vor, als wenn wir schwebten. Voll Glück und eng umschlungen bewegten wir uns zum Takt der Musik, und mochten uns nicht aus unserer Umarmung lösen, auch nicht, als die Musik aufhörte. Bis wir bemerkten, dass sein Körper langsam anfing, sich aufzulösen.
„Es ist soweit, ich muss jetzt gehen“, sagte er und dabei steckte er mir einen Ring an den Finger, „bitte nehme ihn, als Zeichen meiner Liebe, und vergesse mich nie.“
„Was ist los?“, schrie ich panisch. „Du musst hier bleiben“, und versuchte ihn fest zuhalten, aber ich griff ins Leere.
„Ich werde sterben!“
„Wie soll ich zurückkommen?“, rief ich ihm zu, aber er war verschwunden. Tränen schossen mir in die Augen, allein hier oben in der Dunkelheit und ich wusste nicht, wie ich zurückkommen sollte. Mutlos lehnte ich mich an die Brüstung, weinte wie ein Kind und fror erbärmlich, als wieder ein helles Licht erschien, und ich von einem Strudel fort gezogen wurde.


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lötzlich ertönte ein Geräusch. Mein Telefon klingelte. Benommen und noch halb schlafend nahm ich den Hörer ab. Hans-Peters Mutter, seit zwei Jahren hatte sie sich nicht mehr bei mir gemeldet. Was wollte sie am frühen Morgen von mir? Zuerst hörte ich nur ein Schluchzen und Weinen, bis sie es endlich herausbrachte: „Er ist letzte Nacht gestorben, an Malaria.“
Schlagartig fiel mir die letzte Nacht wieder ein, hatte ich alles geträumt? Es durfte kein Traum sein. Voller Panik schaute ich auf meinen Ringfinger und entdeckte ihn, den Ring.
Hans-Peters Ring.

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Texte:
Tag der Veröffentlichung: 13.11.2008

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