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17:30 Uhr, pünktlich wie immer, Herr Feddersen“, sagte der Pförtner in der Eingangshalle. „Stimmt genau“, antwortete Feddersen und verließ mit einem freundlichen „Auf Wiedersehen“ die Halle, um an der Bushaltestelle auf seinen Bus zu warten.

Heiner Feddersen liebte sein Leben als Buchhalter, geordnet und streng eingeteilt. Jeden Morgen stand er pünktlich um 6:00 Uhr auf, verließ um 7:00 Uhr das Haus, um Punkt 8:00 Uhr mit der Arbeit zu beginnen. Um 12:00 Uhr machte er für 30 Minuten Mittag, keine Minute länger, um dann bis 17:30 Uhr sauber und akkurat seine Akten weiter zu bearbeiten. Auch heute lief alles nach Plan und es gab keine Anzeichen, dass sich etwas ändern würde. Er würde die üblichen drei Minuten auf seinen Bus warten und auf dem gleichen Platz wie jeden Abend sitzen, seine Zeitung lesen, bis seine Haltestelle kam, wo er aussteigen musste, um den gewohnten Weg bis zu seinem Haus in der Lindenstraße 22 zu gehen. Alles würde so ablaufen wie jeden anderen Tag auch.


Exakt drei Minuten später kam auch schon der Bus der Linie 60, und Feddersen stieg gut gelaunt, mit der Zeitung unter dem Arm, ein. „Schöner Abend heute“, sagte er beim Einsteigen zu Herrn Otremba, dem Busfahrer. Sie kannten sich schon lange und wechselten immer ein paar belanglose Worte, bevor Feddersen sich links im Bus auf den ersten Platz in der zweiten Reihe setzte. „Soll heute aber noch regnen“, gab Otremba zurück. „Wir hatten in der letzten Zeit genug Regen, und wenn es regnet, dann bitte erst, wenn ich zuhause angekommen bin“, erwiderte Feddersen freundlich nickend, und steuerte seinen gewohnten Platz an. „Da haben Sie Recht“, aber Feddersen nahm es nicht mehr wahr, denn er blieb wie angewurzelt mitten im Gang stehen. Verdutzt schaute er sich um. Das war doch der erste Platz in der zweiten Reihe auf der linken Seite des Busses. Immer war der Platz frei, aber diesmal befand sich dort jemand. Wo sollte er jetzt hin? Er konnte sich nicht woanders hinsetzen, hier thronte er doch jeden Abend. Das ist mein Platz, diese Person muss sich woanders eine Sitzgelegenheit suchen, dachte er voller Panik.


Mutig tippte er ihr auf die Schulter. „Entschuldigen Sie bitte, hier sitze ich immer und lese nach Feierabend meine Zeitung. Würden sie bitte rutschen und sich einen anderen Platz suchen?“ bat er höflich. „Wie komme ich denn dazu“, giftete ihn eine dicke und nach Schweiß riechende Frau an. „Sie können ja durchrutschen, ich werde es nicht tun und hier bleiben.“ „Ich bitte Sie höflichst einen Sitz weiterzurücken“, erwiderte Feddersen mit einer für ihn ungewohnten Schärfe in seiner Stimme. „Sonst bleibe ich hier stehen!“ „Tun Sie, was Sie nicht lassen können, aber im Stehen lässt sich die Zeitung schlecht lesen“, konterte die Frau schnippisch und beachtete ihn nicht weiter.

Feddersen wusste im ersten Augenblick nicht, was er machen sollte. Die Strecke bis zu seiner Haltestelle, wo er aussteigen musste, wurde immer kürzer. Zuhause hatte er keine Zeit seine Zeitung zu lesen, da musste er sich sein Abendbrot machen, den Abwasch erledigen, aufräumen und wie jeden Abend fernsehen, um dann pünktlich um 23:00 Uhr ins Bett zu gehen. „Würden Sie mich dann bitte durchlassen?“, bat er höflich mit zittriger Stimme. „Ist ja schon gut, ich rutsche durch.“


Erleichtert setzte sich Feddersen hin. „Jetzt läuft alles wieder seinen gewohnten Gang“, murmelte er leise vor sich hin und vertiefte sich in seine Zeitung. Plötzlich bekam er mit, dass der Bus an seiner Haltestelle vorbeifuhr. Entsetzt rief er: “Stop!“ Mit quietschenden Reifen hielt Otrembra den Bus an und Feddersen rannte verzweifelt und voller Hektik aus dem Bus, denn zum ersten Mal seit 15 Jahren war ihm so etwas wie heute passiert.

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Tag der Veröffentlichung: 14.10.2008

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Widmung:
Es kommt manchmal anders als man denkt

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