Das Tagebuch
Eine Kurzgeschichte von Mathias Müller
„Wir gehen mal schnell einkaufen, Jungs“, sagte Christian zu seinen Söhnen Jens und Sven.
„Stellt mir nichts an!“
„Haben wir jemals was angestellt, Papa?“, fragte Sven mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
Die Familie Kohlhammer war vor wenigen Tagen in das große ehemalige Herrenhaus
eingezogen. Es war ein Haus aus der Gründerzeit. Früher einmal hatte hier ein reicher
Fabrikant mit seiner Familie residiert. Mit Dienstboten und allen Annehmlichkeiten der
damaligen Zeit. Die Kohlhammers hatten die heruntergekommene Villa aufwendig renoviert
und waren froh, endlich einziehen zu können. Ihr gesamtes Vermögen steckte in dem Haus.
Christian und Sabine Kohlhammer waren beide Zahnärzte mit eigener Praxis. Die Praxis warf
genug ab, um das Haus zu finanzieren.
„Sabine, kommst du?“, rief Christian seiner Frau zu.
„Hetz mich nicht!“, sagte Sabine und kam gemütlich die Treppe herunter. „Wir gehen jetzt
einkaufen, Jungs“, sagte sie zu ihren Söhnen. „Stellt mir nichts an!“
„Ja, Mama!“, sagten beide Jungs gleichzeitig und grinsten sie wegen der Wiederholung an.
Sven war fünfzehn Jahre alt und Jens sechzehn. Sie waren beide aufgeweckte Jungs, die in
ihrer Freizeit gerne Abenteuer erlebten. Sie durchforsteten mit Vorliebe die umliegenden
Wälder, die sie während der Ausbauphase zu Genüge erkundet hatten.
„Wir sind doch keine Babys mehr, Mama“, sagte Jens.
Sabine und Christian verließen das Haus und vertrauten ihren Kindern. Was sollte schon
passieren?
Die Kohlhammerkinder nutzten die Gelegenheit, das geräumige Haus einer eingehenden
Inspektion zu unterziehen. Sie fingen auf dem Dachboden an. Der Dachboden diente früher
als Dienstbotenunterkunft und war mit allerlei Gerümpel zugestellt. Ein alter Spiegel hatte es
den Jungs besonders angetan. Sie schauten sich eine Weile darin an und durchforsteten die
restlichen Sachen. Sie fanden alte Kleidung, die sie natürlich sofort anprobierten, was einen
Heidenspaß machte. Als sie genug von der Maskerade hatten schlug Sven vor, als nächstes
den Keller in Augenschein zu nehmen. Jens war weniger begeistert von der Tatsache in den
dunklen Keller zu gehen. Um nicht als Feigling zu gelten willigte er aber ein. Die beiden
Jungs ging nach unten. Vor der Tür blieb Jens stehen.
„Was ist?“, fragte Sven seinen Bruder. „Haste schiss?“
„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist“, sagte Jens.
„Schisser!“, neckte ihn Sven.
„Ich habe keine Angst“, protestierte Jens.
„Ich glaube aber schon“, sagte Sven und öffnete die Tür. „Dann gehe ich halt alleine.“
Schon war Sven die Treppe hinunter gegangen.
Jens stand am Treppenabsatz und sah seinen Bruder im Keller verschwinden. Außer einer
sechzig Watt Birne gab es keinerlei Beleuchtung im Keller. Das schummerige Licht
beunruhigte Jens noch weiter.
„Was ist?“, rief Sven von unten. „Hast du schon die Hosen voll, oder was?“
„Habe ich nicht“, druckste Sven herum, um Zeit zu gewinnen. „Mein Schuh ist offen, ich
komme gleich.“
Sven hörte seinen Bruder im Keller, wie er einige Sachen umstieß.
„Wow!“, reif Sven von unten herauf.
„Was ist?“, wollte Jens wissen, der jetzt neugierig geworden war.
„Das musst du sehen!“, rief Sven nach oben.
Jens überwand seine Angst und stieg die Stufen hinunter.
„Was gibt es denn so tolles?“, wollte er wissen.
„Komm hier rüber“, sagte Sven.
Jens tastete sich im Dämmerlicht durch den Keller. Etwas Mulmig war ihm schon dabei.
Endlich hatte er seinen Bruder erreicht. Sven stand vor einem großen Regal, das prall gefüllt
war mit alten Büchern.
„Das müssen die alten Hauswirtschaftsbücher der Vorbesitzer sein“, vermutete er.
„Die müssen mindestens hundert Jahre alt sein“, sagte Jens staunend, als er die verstaubten
Bücher sah.
„Mindestens!“, bestätigte Sven.
Jens nahm eines der Bücher aus dem Regal und pustete den Staub weg, woraufhin beide
husten mussten. Er schlug das Buch auf und stellte fest, dass er die alte Schrift nicht lesen
konnte. Nur einzelne Worte konnte er entziffern.
„Das ist ja lauter altes Zeug!“, sagte er enttäuscht und stellte das Buch wieder zurück.
„Was dachtest du denn?“, sagte Sven tadelnd. „Dachtest du, das wären die neuestes Comics?“
„Ha, ha“, antwortete Sven genervt.
„Lass uns wieder nach oben gehen“, sagte Sven. „Hier ist nichts Interessantes.“
Jens stimmte zu.
Gerade als sich die beiden umdrehten, fiel ein Buch aus dem Regal. Es landete direkt vor
Svens Füßen.
Sven bückte sich, um das Buch wieder zurück ins Regal zu legen. Dabei las er die
aufgeschlagene Seite. Die Schrift war, im Gegensatz zu den anderen Büchern, gut zu lesen.
Sven las ein paar Zeilen und hielt inne.
„Was ist?“, fragte Jens, der die Veränderung in Svens Gesichtausdruck bemerkte.
„Das ist ein Tagebuch!“, sagte Sven und las weiter.
„Was steht drin?“, wollte Jens wissen.
„Es ist von einem Jungen der hier mal gewohnt hat“, sagte Sven. „Er schreibt auf dieser Seite,
dass etwas schreckliches passiert ist.“
„Was ist denn schreckliches passiert?“, drängelte Jens.
„Darf ich es erst mal lesen?“, sagte Sven genervt.
Sven vertiefte sich in die Lektüre. Jens stand neben seinem Bruder und versuchte über die
Schulter von Sven etwas aus dem Buch zu lesen. Er stupste seinen Bruder an, um ihn zu
bewegen, das Buch so zu halten, dass beide lesen konnten.
Das Tagebuch war, wie Sven richtig vermutet hatte, von dem Sohn der Familie, die vor über
hundert Jahren hier gelebt hatte. Er beschrieb auf den aufgeschlagenen Seiten, wie er seinen
Vater im Keller gefunden hatte. Sein Vater, Egidius, hatte sich an einem Querbalken erhängt.
Der Junge, hatte ihn an einem Sommermorgen im August 1857 gefunden, als er im Keller
nach etwas essbarem gesucht hatte. Auf den folgenden Seiten schilderte der Junge, wie der
Selbstmord in der Familie vertuscht wurde. Selbstmord galt in der Familie als Schwäche, die
nicht geduldet werden durfte. Der Großvater des Jungen, der den Namen Horatio trug, hatte
Egidius eigenhändig vom Balken abgehängt und ihn in sein Bett gelegt. Später wurde dann
allen erzählt, dass das Herz von Egidius zu schwach gewesen und er am Herztod gestorben
wäre. Niemand sollte je erfahren, dass es in der ehrenwerten Familie von Hohenzimmer einen
Selbstmord gegeben hatte. Die Schande wäre unerträglich gewesen. Warum sich Egidius
jedoch umbrachte, war nicht aus dem Tagebuch zu entnehmen. Das Tagebuch endete mit dem
Satz:
„Wenn ich nur früher gewusst hätte, warum mein Vater sich erhängt hat, hätte ich es
verhindern können.“
„Wow!“, sagte Sven.
„Ja, Wow!“, bestätigte Jens. „Was steckt wohl hinter dem Selbstmord?“
„Keine Ahnung“, sagte Sven.
Plötzlich wurde es eiskalt im Keller. Die Brüder fröstelten. Die Kellertür knallte zu und das
Licht erlosch.
„Was ist denn jetzt los?“, sagte Sven unbehaglich.
„Lass uns hoch gehen“, antwortete Jens.
Jens ging zur Treppe. Er bemerkte zuerst nicht, dass ihm sein Bruder nicht gefolgt war. An
der Treppe wurde ihm plötzlich schwindelig.
„Mir ist so komisch, Sven“, sagte Jens.
Keine Antwort.
„Sven?“, rief Jens. Kurz darauf fiel er in Ohnmacht. Sein Bruder war Sekunden zuvor
ebenfalls ohnmächtig geworden.
„Wie oft haben wir euch schon gesagt, ihr sollt nicht im Haus schnüffeln?“, sagte Christian
tadelnd zu seinen Söhnen.
Sven und Jens lagen in ihren Betten in einem kleinen Zimmer. Sie wussten zunächst nicht so
richtig wo sie waren. Noch halb benommen von der kurzen Ohnmacht lauschten sie demütig
den Ausführungen ihres Vaters.
„Die Herrschaften möchten nicht, dass ihr im Haus herumspringt und alles auf den Kopf
stellt“, fuhr Christian fort.
„Welche Herrschaften?“, fragte Sven.
„Welche Herrschaften“, echote Christian. „Der Schlag auf deinen Kopf ist wohl etwas hart
gewesen.“
„Welcher Schlag?“, wollte Jens wissen.
„Ihr seid im Keller gewesen und habt das große Regal umgeworfen“, erklärte Christian. „Zum
Glück hat man euch rechtzeitig gefunden. Wer weiß wie das alles geendet hätte. Herr von
Hohenzimmer hat zum Glück einen Termin außer Haus. Nicht auszudenken, wenn er euch
gefunden hätte, dann hättet ihr obendrauf noch eine Tracht Prügel bekommen. Eure Mutter ist
gerade bei Frau von Hohenzimmer und versucht zu verhindern, dass ihr noch mehr Ärger
bekommt.“
„Was redest du da?“, fragte Sven verwirrt. „Oder besser: von wem redest du da?“
„Ihr seit eine wenig durcheinander“, sagte Christian. „Ihr ruht euch jetzt noch ein wenig aus.
Wir werden die Sache schon wieder gerade biegen. Ich muss jetzt im Garten weiterarbeiten,
sonst verliere ich am Ende noch meine Anstellung.“
Christian lies die Brüder alleine zurück.
„Was ist hier los?“, fragte Sven seinen Bruder und rappelte sich auf.
„Keine Ahnung“, sagte Jens.
Sven stand auf und ging zum Fenster. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie sich scheinbar unter dem
Dach befanden. Sven schaute sich um.
„Wieso teilen wir uns jetzt ein Zimmer?“, fragte er. „Wir hatten doch beide ein eigenes
bekommen.“
“Du hast recht, Bruder“, sagte Jens. „Irgendetwas stimmt hier nicht!“
„Und was sollte das Gerede von den Herrschaften und der Anstellung, die Papa verlieren
würde?“, fragte Sven.
„Hier ist was Oberfaul!“, schloss Jens.
Mitte Die Brüder schauten aus dem Fenster. Der Garten, den ihr Vater bis jetzt noch nicht
sonderlich gepflegt hatte, war wie aus dem Bilderbuch. Schon fast wie ein Park waren die
Pflanzen angeordnet. Die Wege waren mit weißen Kieselsteinen ausgelegt und in der des
Gartens sprudelte ein kleiner Springbrunnen in mitten eines Tümpels.
„Das gibt’s doch nicht“, staunte Sven. „Wann hat denn Papa den Garten machen lassen?“
„Gar nicht!“, sagte Jens. „Ich habe einen schrecklichen Verdacht.“
„Du glaubst doch nicht etwa….“
„…dass wir in der Zeit gereist sind!“, vollendete Sven.
„Erzähl’ nicht so einen Quatsch“, sagte Jens. „Das ist unmöglich.“
Dann erkläre mir, warum Papa so einen komischen Kram erzählt. Herrschaften, Herr von
Hohenzimmer und so weiter. Das ergibt doch sonst keinen Sinn.“
„Das ist unmöglich!“, rief Jens.
„Denk doch mal nach!“, sagte Jens. „Wir haben das Tagebuch gelesen, dann ist die Tür
zugeknallt. Das ist das Letzte, woran ich mich erinnern kann.“
Sven überlegte kurz.
„Verdammt“, stieß er aus. „Was sollen wir denn jetzt machen?“
„Keine Ahnung“, sagte Jens. „Lass uns nachdenken!“
Sie setzten sich beide auf ihre Betten und versuchten die Situation zu verdauen.
„Wir müssen den Jungen finden, der das Tagebuch geschrieben hat“, schlug Jens vor.
„Vielleicht kann er uns helfen.“
„Versuchen können wir es ja mal“, stimmte Sven zu.
Die Brüder machten sich auf den Weg. Als sie das Zimmer verließen stellten sie fest, dass das
Haus komplett anders aussah als noch vor ihrer Ohnmacht. Ihr Verdacht, dass sie in der Zeit
gereist waren verhärtete sich. Im Erdgeschoß trafen sie ihr Mutter.
„Jungs, da habt ihr mich ja ganz schön in die Bredouille gebracht“, sagte sie vorwurfsvoll.
„Was habt ihr euch dabei gedacht, einfach in den herrschaftlichen Keller zu gehen. Ihr wisst
doch, dass ihr dort nichts zu suchen habt.“
„Jetzt fängst du auch schon damit an“, sagte Sven.
„Ich hoffe euer Vater hat euch die passenden Worte gesagt“, schnappte Sabine. „Ihr könnt
von Glück sagen, dass ich die Herrin überzeugen konnte, euch nicht auch noch zu bestrafen.
Ich musste ihr allerdings versprechen, dass es das letzte Mal war, dass ihr im Haus
rumgeschnüffelt habt.“
„Aber,…“, begann Sven. Er wurde aber von einem Stupsen seines Bruders unterbrochen.
„Ja, Mama“, sagte er stattdessen. „Es wird nicht wieder vorkommen.“
„Das will ich hoffen“, sagte Sabine streng. „Ihr kostet uns noch unsere Stellung.“
Da war es schon wieder!
„Was habt ihr nur mit eurer Stellung?“, schnappte Sven.
„Sven Kohlhammer“, sagte Sabine erzürnt. „Wenn wir unsere Stellung an diesem Hause
verlieren, müssen wir alle verhungern. Wir sollten den von Hohenzimmers dankbar sein, dass
wir für sie arbeiten dürfen. Ich habe jetzt leider keine Zeit mehr für euch. Ich muss das
Mittagessen vorbereiten. Die Herrin duldet keinerlei Verzögerung bei den Mahlzeiten. Also
seht zu, dass ihr aus der Schusslinie bleibt!“
„Ja, Mama!“, sagten die Brüder im Chor.
Sabine ging in die Küche und lies ihre Söhne im Hausflur zurück.
„Wir müssen den Schreiber des Tagebuches finden“, sagte Sven.
Die Brüder gingen in den Garten, um sich ein wenig umzuschauen. Auf dem Weg dorthin
sahen sie einen Jungen, der etwa ihr Alter hatte, auf dem Rasen spielen. Sie gingen zu ihm
hin.
„Hallo“, sagte Sven freundlich.
„Ich darf mit euch nicht mehr spielen!“, blaffte der Junge.
„Wieso?“, fragte Jens.
„Weil ihr immer Sachen anstellt, sagt meine Mutter“, antwortete der Junge.
„Was haben wir denn gemacht?“, fragte Sven.
„Habt ihr das schon wieder vergessen?“, sagte der Junge ungläubig.
„Wir sind uns keiner Schuld bewusst“, sagte Jens.
„Und was ist mit der Sache von letzter Woche?“, wollte der Junge wissen.
„Was meinst du?“, fragte Jens.
„Als ihr mich in den Tümpel geworfen habt!“, rief der Junge beleidigt.
„Das war doch keine Absicht“, sagte Sven, obwohl er nicht wusste, was der Junge von ihm
wollte.
„So, keine Absicht“, schnappte der Junge. „Und warum habt ihr dann gelacht und seid
weggerannt?“
„Wir haben unsere Trachtprügel dafür schon bekommen“, schoss Sven ins Blaue.
„Na und“, sagte der Junge. „Ich darf trotzdem nicht mehr mit euch spielen. Und wenn ihr
mich jetzt nicht in Ruhe lasst, sage ich meiner Mutter, dass ihr wieder böse zu mir wart. Dann
werden eure Mutter und euer Vater entlassen. Dann könnt ihr sehen, wo ihr bleibt,
Dienstboten!“
Sven überlegte kurz, ob er Streit mit dem arroganten Jungen anfangen sollte, überlegte es sich
aber dann schnell. Ärger konnten sie in ihrer Situation nicht gebrauchen.
„Hermann“, rief eine Stimme vom Haus. „Komm sofort rein. Ich hatte dir doch verboten mit
den Dienstbotenkindern zu spielen.“
„Ja, Mama“, rief der Junge zurück. „Ich wollte sowieso gerade an meinem Tagebuch weiter
schreiben.“
Sven und Jens schauten sich an. Hermann könnte ihre Rettung sein!
Sven und Jens setzten sich in den wunderbaren Garten und dachten darüber nach, wie sie
wieder in ihre Zeit zurückkommen könnten.
„Ich glaube es hat irgendwas mit dem Selbstmord von Egidius zu tun, dass wir hier sind“,
sagte Jens.
„Das glaube ich auch. Vielleicht müssen wir ihn einfach nur verhindern“, sagte Sven.
„Einen Versuch ist es wert“, sagte Jens.
„Dann müssen wir zwei Sachen herausfinden“, sagte Sven. „Zuerst müssen wir wissen, wann
der Selbstmord stattfindet und Zweitens warum sich Egidius aufgehängt hat.“
„Dann lass uns loslegen“, sagte Sven.
Die Brüder überlegten, wie sie es am besten anstellen könnten. Sie mussten vorsichtig sein.
Allem Anschein nach waren sie nicht die Beliebtesten im Haus. Sie beschlossen erneut zu
versuchen Hermann zu überreden mit ihnen über die Sache zu sprechen. Am besten wäre es,
wenn sie zunächst andere Hausangestellte ausfragten. Sie gingen in die Küche, wo ihre Mutter
gerade dabei war das Mittagessen zuzubereiten.
„Hallo, Mama“, riefen sie.
„Hallo, Jungs“, antwortete Sabine. „Was gibt’s? Ich habe nicht viel Zeit.“
„Wir wollten dir nur helfen“, sagte Sven.
„Das ist gut“, sagte Sabine. „Ich bin ohnehin in Verzug durch eure Schuld, da ist es nur Recht,
wenn ihr mir helft. Geht und holt Brunhilde, sie soll schon mal den Tisch decken.“
Wer war Brunhilde? Sven und Jens überlegten Fieberhaft, wie sie es anstellen sollten
Brunhilde zu holen, ohne zu wissen wer sie überhaupt war. Zum Glück ging in diesem
Moment die Tür auf und ein hübsches Dienstmädchen betrat die Küche.
„Ah, Brunhilde“, sagte Sabine erfreut. „Da bist du ja. Ich wollte gerade die Jungs losschicken
dich zu holen.“
„Das brauchen sie jetzt wohl nicht mehr“, sagte Brunhilde und zwinkerte den Jungs
verschwörerisch zu. „Ich werde dann mal den Tisch decken.“
„Wir helfen ihnen!“, rief Jens.
„Warum so förmlich?“, fragte Brunhilde. „Ich dachte wir hätten uns auf ein Du geeinigt.“
„Nur so rausgerutscht“, sagte Jens schnell. Sie mussten besser aufpassen.
„Na, macht ja nichts“, sagte Brunhilde. „Ihr nehmt das Besteck und ich die Teller.“
Die Brüder halfen Brunhilde beim Tischdecken und versuchten so viel wie möglich über die
Umstände im Haus herauszufinden wie es ging, ohne dabei zu auffällig nachzufragen. Am
Ende hatten sie dabei weitere Wertvolle Informationen erhalten. Sie befanden sich im
herrschaftlichen Anwesen der Familie von Hohenzimmer. Die Familie bestand allem
Anschein nach aus Egidius, Hermann, seiner Mutter Elisabeth, sowie deren Vater Horatio und
dessen Frau Albertha. Horatio war das Oberhaupt der Familie. Sein Geld verdiente er mit
einer Fabrik, die Pferdekutschen herstellte. Sie waren sehr reich. Das Personal des Hauses
bestand aus zwei Zimmermädchen, einer Hausdame, die sich um die Erziehung Hermanns
kümmerte, einer Küchenhilfe, einer Köchin und einem Gärtner. Außerdem gab es da noch
einen Stallknecht mit dem Namen Georg. Die Köchin und der Gärtner waren Sven und Jens’
Eltern und die Küchenhilfe war Brunhilde. Die anderen Hausangestellten würden sie noch
kennen lernen. Alles schien in bester Ordnung. Keine Anzeichen für einen Grund zum
Selbstmord. Der Grund sollte jedoch wenig später durch die Eingangstür kommen.
Das Mittagsessen für die Bediensteten wurde in der Küche eingenommen. Jetzt saßen alle an
einem großen Tisch. Sven und Jens aßen schweigend und versuchten so viel wie möglich über
die Umstände im Haus aus den Gesprächen bei Tisch herauszufinden. Nach dem Mittagsessen
halfen sie beim Abwasch. Sie waren sehr darauf bedacht keinen weiteren Ärger zu machen.
Am späten Nachmittag wurde das gesamte Hauspersonal zusammen gerufen. Alle
versammelten sich im geräumigen Eingansbereich des Hauses. Die Angestellten mussten sich
in Reih und Glied nebeneinander aufstellen. Scheinbar kam hoher Besuch.
Wenig später fuhr Horatio mit einer aufwendigen Kutsche vor. Er stieg aus und half einer
Frau aus der Kutsche. Es handelte sich um eine junge Frau. Sven und Jens konnten zunächst
nicht viel erkennen. Doch schon wenig später waren auch sie dem Zauber von Gerlinde
verfallen.
„Das ist Magdalena“, sagte Horatio laut zu allen Hausdienern, die kerzengerade Spalier
standen. „Sie ist Hermanns neue Erzieherin. Sie wird von Frau Kühnen eingearbeitet, die uns
demnächst verlassen wird und dann eigenständig arbeiten.“
Frau Kühnen war die bisherige Hausdame, die sich in den nächsten Tagen zur Ruhe setzten
sollte. Sven und Jens waren wie paralysiert bei dem Anblick der neuen Hausdame. Sie war an
Schönheit nicht zu übertreffen. Ihr schwarzes Haar fiel ihr über die Schultern. Ihr
hochgeschlossenes Kleid verlieh ihrem Anblick eine gewissen Würde, verbarg aber nicht die
perfekten Rundungen ihres Körpers. Der kleine Hut auf ihrem Kopf und der Sonnenschirm
rundeten das Bild ab. Eine solche Frau konnte nur Ärger im Hause von Hohenzimmer
machen. Horatio stellte der neuen Erzieherin die Hausangstellten einzeln vor und erklärte die
jeweiligen Aufgaben derselben. Nur bei Sven und Jens sagte er lediglich die Namen, und dass
sie die Kinder der Köchin und des Gärtners waren. Ihr Name war Magdalena Rosenbaum
Sven und Jens hatten sich mittlerweile daran erinnert, dass der Selbstmord im August 1857
stattgefunden hatte. Laut ihrer Mutter war es Ende Juni 1857. Sie hatten also noch etwas Zeit,
um den Selbstmord zu verhindern. Doch noch immer hatten sie keinen Grund dafür
ausmachen können. Laut den Hausangestellten, war Egidius ein glücklicher Mann. Er hatte
eine führende Position in der Fabrik und wurde auf die Übernahme des Geschäftes
vorbereitet. Seine Ehe war zwar eine Zweckheirat gewesen, verlief aber dennoch harmonisch.
Die Finanzen schienen geordnet. Auch eine schwere Krankheit war nicht zu erkennen. Alles
war Bestens. Wo also war das Motiv für einen Selbstmord?
Sven und Jens verbrachten die Tage damit, die gesamte Familie zu beobachten. Sie hatten
sich sogar wieder mit Hermann versöhnt und durften wieder mit ihm verkehren. Sie waren
darauf bedacht nicht aufzufallen. Aus Hermann war jedoch nichts heraus zu bekommen,
obwohl er bereitwillig Auskunft über seine Familie gab. Wochenlang deuteten sie jeden noch
so kleinen Hinweis. Sie waren schon kurz davor zu resignieren, als Jens die entscheidende
Beobachtung machte. Eines Nachts, so gegen Mitternacht, trieb ihn eine Notdurft aus dem
Bett. Normalerweise benutzte er in solchen Fällen einfach in den Nachtopf, der neben seinem
Bett postiert war. Doch in dieser Nacht hatte er vergessen den Topf neben sein Bett zu stellen.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als seine Ausscheidungen woanders los zu werden. Er
beschloss einfach in den Garten zu gehen. Er schlich nach unten. Die Treppen knirschten bei
jedem Schritt. Vorsichtig, um ja niemanden zu wecken, trat er auf die Stufen. Dann hörte er
ein Türschloss klicken. Es war nur ein Stockwerk unter ihm. Er kauerte sich in die Biegung
der Treppe und lauschte. Jens drückte sich noch tiefer in die dunkle Ecke. Er hielt den Atem
an. Sekunden später schlich Horatio an ihm vorbei. Jens betete, dass er ihn nicht sehen möge.
Was machte der alte Mann um diese Uhrzeit auf dem Gang? Jens wartete einen Moment und
ging dann in den Garten, um sich endlich zu erleichtern.
Am nächsten Morgen war Jens früh wach. Er stand auf und wollte hinunter gehen in die
Küche um sich ein wenig die Nacht aus den Augen zu waschen. Ein Stockwerk tiefer
begegnete er Magdalena. Sie kam aus der selben Ecke, wie in der Nacht Horatio. Jens grüßte
höflich und lies Magdalena an sich vorbei gehen. Er blickte den Gang entlang und sah nur
eine einzige Tür. Horatio war letzte Nacht bei Magdalena gewesen!
Jens berichtete Sven von seinem Verdacht.
„Was hat das aber mit Egidius’ Selbstmord zu tun?“, wollte er wissen.
„Keine Ahnung“, sagte Jens. „Aber das ist endlich mal eine ungewöhnliche Sache hier im
Haus. Irgendetwas sagt mir, dass die Sache damit zusammenhängt. Wir sollten uns heute
Nacht auf die Lauer legen.“
„Ich bin dabei“, sagte Sven, dem das Leben im neunzehnten Jahrhundert langsam zum Halse
heraus hing.
Sie beschlossen die Tür von Magdalena zu überwachen. Auf dem Gang des Stockwerkes gab
es eine Abstellkammer, in der sie sich versteckten. Sie hielten abwechselnd Wache. Um etwa
elf Uhr tat sich etwas auf dem Flur. Die Treppe zum Erdgeschoss knirschte leise. Jens, der
gerade Wache gehalten hatte, weckte Sven, der eingeschlafen war, auf.
„Was?“, sagte Sven erschrocken.
„Schscht!“, machte Jens. „Da kommt jemand!“
Die Brüder zwängten sich in den Türschlitz. Sie warteten einen Augenblick. Dann sahen sie
einen Kerzenschein die Treppe hinaufkommen. Dann erkannten sie Egidius. Er war nur mit
einem Nachtrock bekleidet. Er schaute sich verstohlen um und schlich den Gang entlang. Am
Ende des Ganges blieb er stehen und schaute sich erneut um. Er klopfte an Magdalenas Tür.
Kurz darauf öffnete sich die Tür und Egidius schlüpfte hinein. Sven und Jens hatten genug
gesehen. Magdalena hatte sowohl mit Horatio als auch mit Egidius eine Affäre.
Es vergingen zwei ereignislose Wochen. Es war jetzt Ende Juli. Die Zeit rannte davon. Nichts
außergewöhnliches geschah. Jens und Sven überlegten jeden Tag, wie sie den Selbstmord und
die Sache mit den nächtlichen Besuchen bei Magdalena zusammen bringen konnten.
An diesem Nachmittag halfen die Brüder ihrer Mutter in der Küche. Es war Großputz
angesagt. Alle Dienstboten waren in der Küche versammelt, um das Familiensilber der von
Hohenzimmers zu polieren. Bei diesen Gelegenheiten wurde immer der neueste Tratsch des
Hauses ausgetauscht. So auch heute.
„Wisst ihr schon das Neueste?“, fragte Beate, eines der Hausmädchen wichtigtuerisch. Sie
wartete bis sie jemand zum Reden aufforderte.
„Unsere Erzieherin ist schwanger!“
Die Worte erzielten ihre Wirkung. Alle stellten ihre Arbeit ein.
„Aber sie ist doch gar nicht verheiratet.“
Beate schaute wissend.
„Ich habe sie jetzt seit drei Tagen jeden Morgen gehört, wie sie sich im Badezimmer
übergeben hat. Was sollte es sonst sein?“
„Mein Gott!“, sagte Brunhilde. „Das ist ein Skandal. Ein unverheiratetes Mädchen in ihrem
Alter!“
„Tja, das kommt in den besten Familien vor“, sagte Beate gehässig.
Sven und Jens schauten sich an. Unter einem Vorwand zogen sie sich zurück.
„Das ist es!“, sagte Sven, als die Brüder aus der Küche waren.
„Ach Quatsch!“, sagte Jens. „Was soll daran so schlimm sein?“
„Wir sind im Jahr 1857!“, sagte Sven. „Damals war das ein Skandal! Ein unverheiratetes
Mädchen durfte nicht schwanger werden. Wir hatten das Thema gerade in der Schule gehabt.
Und was meinst du, wer der Vater ist?“
„Entweder Horatio oder Egidius“, erkannte Jens.
„Ich wette Egidius ist der Vater und wird sich deshalb im Keller erhängen“, sagte Sven.
„Genau“, stimmte Jens zu. „Und das müssen wir irgendwie verhindern. Dann kommen wir
bestimmt wieder nach Hause. Ich kann so nicht weiterleben. Am Ende erhänge ich mich noch.
Ich will endlich wie die Sportschau und meine Serien im Fernsehen sehen. Ich habe die
Schnauze voll von diesem Jahrhundert. Diese ewige Plackerei in der Küche schafft mich.“
“Da stimme ich dir zu, Bruderherz“, sagte Sven. „Aber wie?“
„Ich habe da schon eine Idee!“, sagte Jens.
Sven folgte Jens in den Hof. Sie gingen in die Stallungen, wo gerade Georg, der Stallknecht
die Pferde striegelte.
„Georg!“, rief Jens. „Wie geht es dir?“
„Gut, Jens“, sagte Georg freundlich. Georg war den Jungs in den letzten Wochen ein guter
Freund geworden.
„Wir müssen mit dir reden.“
Jens trug Georg seinen Plan vor. Er würde mitspielen. Jetzt mussten sie nur noch mit
Magdalena reden. Das würde sich etwas schwieriger Gestalten. Zuerst mussten sie an
Magdalena herankommen, was sich ziemlich schwierig gestaltete, da sie nur wenig mit dem
üblichen Hauspersonal zu tun hatte. Die Brüder warteten bis zum Abend. Endlich erreichten
sie die Erzieherin. Sie wollte gerade zu Bett gehen. Jens und Sven konfrontierten sie mit der
vermuteten Schwangerschaft. Zuerst stritt Magdalena alles ab. Als Jens jedoch von ihren
nächtlichen Beobachtungen erzählte, brach sie zusammen und weinte bitterlich. Jens und
Sven wussten nicht so recht, wie sie mit der Situation umgehen sollten. Magdalena war völlig
verzweifelt, da sie noch nicht einmal wusste von wem das Kind war. Doch schon bald hatte
sich Magdalena beruhigt und hörte sich den Plan von Jens an. Sie war zunächst abgeneigt und
wollte stattdessen das Haus verlassen. Doch die Schwangerschaft konnte nicht mehr lange
verheimlicht werden. Egal wo sie hingehen würde, sie hätte ein Kind ohne Vater. Sie würde
nie wieder eine Anstellung finden. Diese Tatsache bewegte sie dazu Jens’ Plan einzuwilligen.
Eine Woche später, die Hausangestellten saßen gerade beim Mittagessen, lies Georg die
Bombe platzen.
„Ich habe euch eine freudige Mitteilung zu machen“, sagte er in die Runde. „Magdalena und
ich haben uns verlobt. Wir werden bald heiraten.“
Stille und Staunen!
Niemand sprach es aus, aber ein jeder, außer Sven und Jens, war mit der Nachricht
überfordert. Wie konnte der Stallknecht ein so hübsches und kluges Mädchen wie Magdalena
dazu bringen ihn zu heiraten? Doch bald schlug die Stimmung um. Georg wurde mit
Beglückwünschungen überhäuft. Keiner verlor ein Wort über die Schwangerschaft. Sven und
Jens waren zufrieden. So hatte keiner den Verdacht, dass das Kind eigentlich von den
Hausherren war. Georg kündigte an, dass er eine neue Stelle bei einer anderen Familie
antreten wollte, die ihn für seine Dienste besser bezahlen würde. Er sagte, dass er alleine für
seine Frau sorgen wollte, was Magdalena auch so sah. Da die von Hohenzimmers bekannt
dafür waren, schlecht zu bezahlen, leuchtete der Schritt jedem ein. Schon nächste Woche
könnte er seine neue Stelle antreten. Der wahre Grund blieb dem Hause von Hohenzimmer für
immer verborgen. Jetzt hieß es abwarten, ob die ungewollte Schwangerschaft von Magdalena
wirklich der Grund für Egidius Selbstmord gewesen war. Sven und Jens waren noch immer
im neunzehnten Jahrhundert. Wenige Tage danach wurden sie langsam nervös. Warum waren
sie nicht schon längst wieder zurück in ihrer Zeit. Für eine weitere Ermittlung war keine Zeit
mehr. Der August 1857 war nun schon zwölf Tage alt und Magdalena war mit Georg schon
weggegangen. Sven schlug vor, es im Keller zu versuchen. Dort waren sie damals in die
andere Zeit katapultiert worden, also war nach seiner Meinung dort auch der Weg zurück.
Jens stimmte zu.
An diesem Nachmittag schlichen sich die Brüder in den Keller. Doch dieser sah jetzt komplett
anders aus als noch vor einigen Wochen. Es war im ganzen Keller kein Buch zu finden. Nur
Lebensmittel und Brennholz.
„Was sollen wir denn jetzt machen?“, fragte Sven verzweifelt.
„Ich weiß es doch auch nicht!“, sagte Jens.
„Denk nach!“, drängte Sven.
„Tu ich doch“, rief sein Bruder. „Denk du doch nach!“
„Ach“, schnappte Jens. „Wer wollte den damals unbedingt in den Keller?“
„Jetzt bin ich wohl an allem Schuld, oder was?“, brüllte Sven.
„Wer denn sonst!“, brüllte Jens zurück. „Ich wollte keine Mutproben machen!“
„Ach leck mich doch!“, schnappte Sven.
„Leck dich doch selbst, Arschloch!“, antwortete Jens.
„Was hast du gesagt?“, wollte Sven wissen.
„Arschloch, Arschloch, Arschloch!“, rief Jens.
Sven stürzte sich auf seinen Bruder. Die beiden prügelten sich quer durch den
herrschaftlichen Keller. Sven verpasste Jens einen kräftigen Schlag gegen dessen Brust. Jens
taumelte rückwärts gegen ein Regal, das prall gefüllt war, mit Lebensmitteln. Das Regal kam
ins taumeln und kippte vornüber. Die Brüder hatten keine Ausweichmöglichkeit. Das Regal
begrub sie unter sich.
„Hatten wir nicht gesagt ihr sollt nichts anstellen?“, tadelte Christian seine Söhne. „Wenn ich
nicht zufällig mein Portemonnaie vergessen hätte, hättet ihr stundenlang im Keller gelegen
und niemand hätte euch helfen können. Kann man euch nicht mal fünf Minuten alleine
lassen? Eure Mutter ist völlig fertig!“
Sven und Jens sahen sich gegenseitig an. Sie waren wieder zu Hause. Tonnenschwere Steine
fielen von ihren Herzen.
„Papa“, sagte Sven. „Wir versprechen dir, nie wieder in den Keller zu gehen.“
„Darauf kannst du Gift nehmen!“, ergänzte Jens.
Tag der Veröffentlichung: 24.12.2008
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