Leseprobe!!
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Kamaras Ritt Von Chris Lind
iner für alle, alle für einen!“ George prostete Steve und Bill zu. Nach zwei Tagen unter der sengenden Sonne Gorions hatte sein Gesicht einen ungesunden Rotstich angenommen. „Auf uns!“ Bill grinste, in seinen Augen wütete das Fieber. Kei-nen Tag länger konnte er sich gedulden. Zögernd erhob Steve sein Glas. Sollte er seine Zweifel äußern oder einfach seinen Freunden folgen und nicht nach den Konse-quenzen fragen?
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Noch blieben zwei Stunden bis zur Dunkelheit. Kamara ging zum Stall, um O’Rann zu satteln. Der Remorg grunzte ihr fröhlich entgegen. O’Rann konnte kaum erwarten, in die Sonne zu kommen. Kamaras Vater hatte die Remorg-Herde schon vor Tagen nach Hause geholt. Ihre Waldstal-lungen schienen nicht mehr sicher. Immer wieder ver-schwanden Tiere. Unauffindbar oder die Leichen entsetzlich verstümmelt. Auch andere Horden berichteten von verschwundenen Remorgs und, schlimmer noch, von getöteten Nakane. Kamaras Horde konnte sich das Aufkommen der Gewalt nicht erklären. Die Nervosität unter Kamaras Horde wuchs mit jedem neuen Zeichen. In den Nächten regneten Sterne vom Himmel. Selbst am helllichten Tag stürzten Sterne hinab. Furcht zog in die Dörfer ein. Die Nakane holten die Remorgs in die Stallungen, lange vor der Ruhezeit. Die Tiere brauchten fast noch einen Mond, bis ihre Winterphase begann. Seit sie die Herde einholten, hatte ihr Vater Kamara und ihre Brüder von allen anderen Pflichten freigestellt. Die Kinder sollten nur dafür sorgen, dass die Remorgs nicht vorzeitig einschliefen. Kamara liebte die Arbeit mit den Reittieren. Sie hasste Arbeiten im Haus, all die Frauendinge. „An dir ist ein Junge verloren gegangen“, seufzte ihre Mutter, wenn das Mädchen wieder einmal in den Wald ritt. „Komm, O’Rann, auf in den Elfenwald. Elfen, wer glaubt denn schon an Elfen?“ Kamara schüttelte den Kopf, wäh-rend sie den Sattel auf einen Höcker des Reittieres schnallte. Ihre Großmutter hatte den Kindern alte Geschichten er-zählt, von Elfen und Zwergen, von Gestaltwechslern und dunklen Nachtgestalten. „Lass das Altweibergeschwätz. Du machst mir die Kinder verrückt.“ Kamaras Vater, ein ruhiger, fröhlicher Mann, brachte seine Schwiegermutter harsch zum Schweigen. „Du willst die Wahrheit nicht sehen. Die alten Geschichten künden vom Kommen einer dunklen Zeit“, hatte die alte Frau geantwortet. „Sag ihr, sie soll schweigen, oder ich verbiete ihr das Haus“, herrschte Kamaras Vater seine Frau an. So hatten die Kinder ihn noch nie erlebt. Nana erzählte ihren Enkeln nur noch heimlich von Heldentaten längst vergangener Zeiten. Wie sehr wünschte sich Kamara eine große Queste in ihrem Leben. Sie erhoffte ein Abenteuer, das sie aus ihrem Alltag herausriss. Kamara bat O’Rann um einen Galopp. Sie hielt nicht viel davon, die Tiere zu peitschen. Sie fragte in ruhigem Ton und O’Rann antwortete mit freundlichem Gehorsam. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit wendete Kamara, um zu den Hütten zurückzukehren. Sie näherten sich dem Dorf. O’Rann begann zu tänzeln. Kamaras Haare stellten sich auf. Was stimmte nicht? Das Mädchen lauschte. Nichts zu hören. Wo waren all die Geräusche, die ein Dorf mit sich brachte? Blaffende Mergas, wiehernde Remorgs und singende Nakane. Kamara trieb O’Rann in einen eiligen Galopp. Als sie auf dem großen Hügel über dem Dorf anlangte, zügelte sie ihr Reittier mit einer groben Bewegung. Unten lagen sie alle, niedergemetzelt. Niemand hatte überlebt. Dunkle Schatten bewegten sich zwischen den Toten, hieben ihnen die Köpfe ab. Kamara schlug O’Rann ihre Fersen in die Flanken. Sie wollte den Hügel herunterstürmen, ihre Horde rächen. Der Remorg verweigerte den Gehorsam und galoppierte in den Elfenwald hinein. Kamara, die Augen voller Tränen, schlug auf das Tier ein. Verzweifelt versuchte sie, ihn zur Umkehr zu bewegen. Doch O’Rann legte sich auf das Gebiss und stürmte in den Wald. Der Remorg raste durch das Unterholz. Kamara klammerte sich an ihm fest, unfähig zu denken oder zu reagieren. Nach einer endlos erscheinenden Zeit hielt O’Rann an. Seine Flanken pumpten. Kamara ließ sich von seinem Rücken auf den Waldboden fallen. Das Begreifen und mit ihm der Schock setzte ein. Alle tot, alle ermordet – ihre Nana, ihr Vater, ihre Mutter, ihr großer Bruder, selbst Kirini, ihre Babyschwester. Kamaras Schmerz entlud sich in einem Schrei und einem Tränenstrom. ********* „Schieß doch! Um Gottes Willen, George. Schieß endlich!“ Bill drehte sich zu seinem Freund um. „Los! Tu etwas!“ George stand wie versteinert, die Waffe im Anschlag, unfähig, einen Schuss abzufeuern. Bill riss seine Remington 473 hoch, doch zu spät. Georges Versagen hatte ihnen diese Chance geraubt. Sie müssten noch einen weiteren Tag auf diesem Dreckloch von Planeten verbringen. „Tut mir Leid“, stotterte George und schaute an seinen Freunden vorbei zu Boden. „Schon okay“, sagte Steve und klopfte George auf die Schulter. „Kann jedem mal passieren.“
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Später in der Nacht entfachte Kamara ein Feuer. Ihre Trä-nen vertrockneten. Sie dankte O’Rann. Er hatte ihr das Leben gerettet. Doch ihre Familie, alle ihre Freunde waren den Schatten zum Opfer gefallen. Wie sollte sie weiter le-ben? Kamara schluchzte auf. Sie alleine gegen böse Mons-ter. Ihr fielen Nanas Geschichten ein. Von dem Jungen, der die Waffe auf dem Hohen Berge fand, und sich den Weltvernichtern zum Kampf stellte. Vielleicht hatten die Götter ihr diese Aufgabe auferlegt. Kamara sprach ein Gebet für ihre Lieben und legte sich schlafen. O’Rann stupste seine junge Reiterin an, wieder und wieder. Kamara reagierte erst, als der Speer in ihren Rücken stieß. O’Rann bäumte sich drohend vor dem Angreifer auf. Der Elf zischte: „Platz, dummes Biest.“ Der Remorg trat zurück und beäugte den Mann. „Du, steh auf. Langsam.“ Der Elf hob den Speer. Kamara sprang auf die Beine. Mit großen Augen schaute sie den Angreifer an. Ein schlanker Mann mit spitzen Ohren, des-sen Haare wie ein silberner Wasserfall seine Schultern umflossen. „Ein Elf – euch gibt es doch nur in Märchen und Geschich-ten.“ „Genau das dachte ich auch immer von Nakane“, antwor-tete der Elf schnippisch. „Was treibt dich in unsere Wälder, Remorgmädchen?“ Ein Elf, ein echter Elf. Wenn das Renar wüsste, dachte Kamara. Unverhofft überfiel sie das Wissen, dass sie ihrem Bruder nie von dieser Begegnung erzählen könnte. „Fremde töteten meine Horde.“ „Auch unsere Dörfer fallen Schatten zum Opfer. Sie drin-gen bis in die tiefsten Wälder vor, kennen kein Tabu. Die Geschichten meines Volkes sprechen von einer Waffe, mit der man jeden Feind besiegen kann …“ „Auch mein Volk kennt diese Prophezeiung. Die Waffe vom Hohen Berge …“ Kamaras Lebensgeister erwachten. „Ich werde sie suchen. Kennst du den Weg?“ „Elfen kennen alle Pfade. Ich führe dich, doch die Waffe wird mein.“ Schweigend machten sich die Beiden auf die Reise. Ein seltsames Paar, der schmale, elegante Elf und die kleine gedrungene Kamara auf ihrem riesigen Remorg. „Hast du die Wesen gesehen?“, brach Kamara das Schwei-gen. „Nur aus der Ferne, sonst lebte ich wohl nicht mehr. Sie töten alle, Männer, Frauen, Kinder … und sie verstümmeln.“ In den Tagen ihrer Reise entdeckten Kamara und der Elf immer wieder Spuren der Zerstörung. Verstümmelte Re-morgs, ermordete Nakane und Elfen, denen die Köpfe fehl-ten. Wie in einem Alptraum ritt Kamara durch ihre Heimatwelt. Sie hoffte, auf Überlebende und Verbündete zu stoßen. Doch sie fanden nur Zeichen der Vernichtung. Mehrmals entkamen die Drei nur knapp den Schatten.
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„Ob in den nächsten Tagen noch mehr kommen?“ Steve suchte den Himmel ab. „Gestern Nacht alleine habe ich vier Raumgleiter gezählt.“ Bill verzog sein Gesicht. Er blickte zu George herüber, seine Miene ein stummer Vorwurf. „Dann hau doch schon ab. Ich steh’ das hier alleine durch“, schnauzte George seinen Freund an. „Hey, einer für alle. Alle für einen!“ Steve versuchte zu vermit-teln.
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„Halt. Jemand beobachtet uns.“ Der Elf spähte hinter sich. Kamara hielt O’Rann an, suchte nach anderen Wesen. „Du irrst. Niemand folgt uns. Wir würden ihn sofort erken-nen, hier in der flachen Ebene.“ „Pst, dummes Ding.“ Der Elf senkte den Kopf, lauschte angestrengt. „Zeige dich oder mein Speer findet dich.“ O’Rann wieherte und stieg, die Ohren an den Kopf ge-presst. Vor ihm erhob sich ein herbstfarbenes Wesen vom Boden. „Eine Farbwandlerin. Warum folgst du uns?“ Langsam antwortete das vieräugige Wesen. Die alte Hochsprache rollte wie Kieseln in seinem Maul: „Mein Volk tot. Nicht Elfen, nicht Nakane mordeten. Kein Wesen dieser Welt. Suche Rache.“ Das Ungeheuer wendete sich Kamara zu. Sein Reptilienge-sicht zeigte tiefe Trauer. „Auch wir wollen unsere Welt gegen die Angreifer verteidi-gen. Wir suchen die Waffe vom Hohen Berge. Schließ dich uns an.“ Der Elf schüttelte den Kopf: „Ich reise nicht mit Farbwand-lern.“ „Und Nakane geben sich nicht mit Elfen ab. Willst du die Waffe oder willst du einer dummen Tradition folgen?“ Kamara verlor die Geduld. Der Elf schnaubte, aber blieb bei ihnen. Zu dritt waren ihre Chancen größer als alleine. Kamara versuchte, mehr von der Farbwandlerin zu erfahren. Auch sie hatte die Schatten, die ihre Herde töteten, nicht gesehen. „Elf, was sagt die Prophezeiung deines Volkes?“, fragte Kamara ihren schweigenden Begleiter. „Vier Wesen müssen die Waffe suchen, drei werden sie finden, zwei tragen und einer damit kämpfen.“ „Weg durch Sumpf des Dunkel, wandelnde Bäume und ewigen Schnee“, ergänzte die Farbwandlerin. Kamaras Herz schlug schneller. Vier Gefährten, von denen nur einer überlebte. Ein Weg, der sie zu den geheimnisvoll-sten und gefährlichsten Orten ihrer Welt führte. Vier Reisende, die sich misstrauten und eigene Interessen ver-folgten. Eine fröhliche Stimme verdrängte ihre düsteren Gedanken. „Und ihr müsst vier sein, ihr Dummköpfe! Könnt ihr nicht zählen? Das Remorg und die Nakane gelten als eins.“ Selbst der Elf hatte den Neuankömmling nicht gese-hen. Ein großer Fuchs mit menschlichen Augen trat hinter einem Felsblock hervor. „Und ihr solltet euch in den Schutz der Wälder begeben. Die Schatten lauern überall.“ „Dem Wort einer Kitsune kann man nicht trauen.“ Der Elf spuckte vor dem Wesen auf den Boden. „Ihr kennt keine Loyalität und Treue.“ „Aber wir sind ehrlich, du Walddepp“, antwortete der Fuchs. „Ihr könnt in euer Verderben laufen oder mich mit-nehmen.“ „Kitsune liebt niemand.“ Auch die Farbwandlerin stand der Füchsin misstrauisch gegenüber. „Warum sollten wir dich mitnehmen?“, fragte Kamara und wartete auf eine Antwort. „Nun, einmal müsst ihr vier sein, um die Prophezeiung zu erfüllen. Und schließlich muss einer überleben, um mit der Waffe zu kämpfen. Kitsunes haben viele Leben.“ „Wo ist dein viellebiges Rudel?“, höhnte der Elf. Mit einem Satz sprang die Kitsune ihn an und schlug ihre Fänge in seinen Hals. Sie knurrte: „Schweig oder stirb, Waldnarr.“ „Lass’ ihn gehen“, rief Kamara. „Monster töten unsere Familien und ihr geht euch an die Kehle ….“ Die Kitsune sprang zurück und drehte sich vor Verlegen-heit. Der Elf schaute zu Boden. „Lasst uns den Sumpf der Dunkelheit suchen“, lenkte er ein. Kamara fürchtete den Sumpf. Die alten Geschichten erzählten von schrecklichen Nachtgestalten, die auf Reisende lauerten. Viele Leben hatten die dunklen Moore schon gefordert. „Keine Sorge. Ich sehe auch im tiefsten Dunkel. Haltet euch aneinander fest und ich geleite euch.“ Die Kitsune schritt siegesgewiss voran. Die Gefährten mussten dem Fuchs wohl oder übel vertrauen. Nach kurzer Zeit hatten sie den gefürchteten Sumpf durchquert. Kamara atmete auf. Die erste Prüfung überstanden. Vielleicht ließen sich zu viert alle Schrecken bewältigen.
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„Vielleicht sollten wir aufgeben.“ Steve drehte sich erschöpft zu seinen Freunden um. „George, deine Entscheidung.“ „Okay. So wichtig ist mir die ganze Sache nicht.“ George quälte sich ein Grinsen ab. „Nein! Nicht mit mir!“ Bill funkelte seine Kameraden an. „Seid ihr Männer oder Mäuse?“
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„Lasst uns ausruhen. Wir brauchen Kraft für morgen, für die Singenden Wälder.“ Die Kitsune sträubte ihren Pelz. „Singende Wälder.“ Auch die Farbwandlerin erschauerte. Selbst O’Rann duckte sich. Jedes Wesen auf Gorion fürch-tete die verfluchten Bäume. Die Gefährten hingen ihren Gedanken nach. Nur O’Ranns Schnarchen hallte durch die Nacht. Der Morgen kam viel zu früh. Schon von weitem hörten sie ein leises Flüstern. Stimmen, die lockten und riefen: „Komm zu uns und alles Traurige vergeht. Lebe bei uns und wir lieben dich.“ Viele Reisende ließen sich durch die Verlockungen der singenden Wälder verleiten und verirrten sich im Labyrinth der wandelnden Bäume. „Wir können den Wald nicht umgehen.“ Kamara zerbiss ihre Fingernägel. „Ein Opfer. Die wandelnden Bäume fordern von jeder Gruppe nur ein Opfer.“ Die Kitsune strich um O’Ranns Beine. „Niemand von uns weiß, wer es sein wird. Drei können überleben.“ „Das stimmt nicht. Alle Reisenden verschwanden.“ Der Elf baute sich vor der Kitsune auf. „Ja, weil sie dumm waren. Mein Volk weiß es besser. Einer für alle und das Rudel überlebt. Wir müssen unser Opfer freiwillig bringen, bevor wir in die Wälder gehen.“ Die Kitsune erwiderte den Blick des Elfen. „Was wird aus dem Opfer?“, fragte Kamara und streichelte O’Rann. Sie würde ihn laufen lassen. Den Tod durfte sie ihm nicht abverlangen. „Frag nicht.“ Die Kitsune erschauerte. „Geht, geht einfach geradeaus, weicht nicht vom Weg ab. Wenn einer von uns verschwindet, bricht der Bann.“ „Ihr werdet doch den Worten einer Kitsune nicht trauen. Sicher schickten die wandelnden Bäume sie.“ „Waldnarr, versuch doch, mit den Singenden Wäldern zu sprechen. Vielleicht antworten sie dir.“ Kamara stöhnte auf. Womit hatte sie dieses Schicksal ver-dient? „Kitsune spricht wahr. Auch Farbwandler kennen Opfer.“ „Gut. So sei es.“ Kamaras Stimme wirkte entschlossener, als sie sich fühlte. „Lasst uns den Weg beschreiten.“ Jeder sprach seinen Opferspruch. Kamara nahm O’Ranns Zaumzeug ab und gab den Remorg frei. Doch er blieb an ihrer Seite. Zu Fünft betraten sie den dunklen Wald. Die schwarzgrünen Bäume wechselten die Standorte. Die Wäl-der sangen nun ein anderes Lied. „Lauft! Flüchtet!“ Lauter und schriller steigerte sich der Gesang zu einer Kakopho-nie. Dem Getöse konnten sie nicht entkommen, selbst wenn sie die Fäuste auf ihre Ohren pressten. Kamara klammerte sich an O’Rann. Sie betete, dass der Remorg nicht vom Weg abkam. Plötzlich verstummten die Bäume. Kamara zügelte O’Rann. Die Stimme der Kitsune befahl: „Geht weiter. Lasst mein Opfer nicht umsonst sein.“ Endlich endete der Wald. Die Überlebenden stürzten ins Licht, fielen zu Boden und holten Atem. Niemand von ihnen sagte ein Wort. Zu stark wirkten die singenden Wälder. Nach einer langen Pause setzten sie ihren Weg fort. Die Dämmerung brach an, als sie die tiefen Ebenen erreichten. „Dann stimmt die Prophezeiung. Nur einer von uns wird leben und den Kampf führen“, beendete der Elf das Schweigen. „Schicksal. Für Welt retten.“ Kamara schwieg. Ihre Gedanken wanderten. Konnte sie dem Elf trauen? Seit ihrem ersten Treffen lehnte er die kleine Gruppe ab. Niemand hatte die Schatten je von nahem gesehen. Elfen hassten die anderen Völker. Woher sollten fremde Monster kommen? Viel wahrscheinlicher schien doch, dass die Waldvölker alle andere Lebewesen ausrotteten. Kamara musterte den Elfen … „Nicht denken. Ebene des Misstrauens. Nicht glau-ben.“ Die Farbwandlerin tauchte neben Kamara auf. Farb-wandler, waren sie nicht gefürchtet dafür, Reisende in die Irre zu locken und zu morden? Warum also sollte diese hier Kamara helfen? Wer hatte jemals von einer Ebene des Misstrauens gehört? „Nicht. Bitte!“ Die Farbwandlerin streckte ihre langen Fin-ger nach Kamara aus. Die Nakane stieß O’Rann die Fersen in die Flanken, doch der Remorg blieb stehen. Die Berüh-rung der Farbwandlerin riss Kamara aus ihrem Brüten. Sie schauderte. „Ich danke dir! Welche Schrecken erwarten uns noch?“, fragte Kamara und holte tief Luft. „Singende Wälder. Ebene von Misstrauen. Ewiger Schnee.“ “Lasst uns rasten, wenn wir die schreckliche Ebene hinter uns haben. Wir brauchen alle Kraft für den ewigen Schnee.“ Kamara wendete sich ihren Gefährten zu.
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„Hier ist nichts mehr. Gar nichts. Was soll das alles noch?“, blaffte George die beiden Anderen an. „Bill, verdammt, Bill, bleib’ endlich stehen.“ Bill zuckte nur mit seinen Schultern und ging stur weiter. „Steve?“ „Bill, komm lass uns umkehren. Morgen ist auch noch ein Tag“, bot Steve eine Lösung an. „Und zu Hause werden wir zum Gespött. Nein, Jungs, nicht mit dem guten alten Bill.“
********* In der Nacht erzählten sich die Weggenossen alte Mythen und Geschichten. Sagen aus glücklichen Zeiten, als ihre Welt frei von Schatten und sinnlosen Morden war. Keiner von ihnen sprach von den Sternen, die in dieser Nacht vom Himmel fielen. Am frühen Morgen waren sie nur noch zu zweit. Die Farbwandlerin war verschwunden. „Ich sagte dir, ihnen kann man nicht trauen“, sagte der Elf. „Das sagtest du auch von der Kitsune. Sie opferte sich für uns.“ Kamara konnte nicht verstehen, dass alle Sagen so hoch von Elfen sprachen. Der arrogante Waldprinz hatte wenig von einem edlen Helden an sich. Ein Rascheln im Unterholz ließ beide den Streit vergessen. Sie sprangen auf. Der Elf zückte seinen Speer. „Nein, Freund.“ Die Farbwandlerin kam mit einer Vielzahl von Flechten und Blättern aus dem Wald. „Schutz vor Schnee.“ Gekleidet in die Pflanzen marschierten die drei und O’Rann weiter. Der Weg durch die Eiswüste zog sich hin. Wohin ihre Augen blickten, nur weiß. Der Tag verglimmte. Kamara ließ sich fallen, nur ruhen, nur schlafen. Ihr Ziel war doch viel zu groß für sie. Ihr Volk lebte von Ackerbau und Viehzucht. Nie hatten die Nakane einen Helden her-vorgebracht, von dem die Dichter sangen. „Mädchen, wach auf. Nachts wird der ewige Schnee zur Wüste der Zweifel. Gib ihnen nicht nach.“ Der Elf schüttel-te Kamara. Zum ersten Mal auf ihrer gemeinsamen Reise sorgte er sich um sie. „Warum zweifelt ihr Beide nicht?“, fragte Kamara mit leiser Stimme. „Farbwandler denken nicht wie wir. Elfen zweifeln nie.“ Der Elf rüttelte wieder an ihrer Schulter. Auch O’Rann stupste sie an. Mühsam erhob sich Kamara und stolperte durch das endlose Weiß. Der Schnee nahm kein Ende, sie spürte ihre Füße schon lange nicht mehr. Sie schritt einfach nur voran, ohne zu denken. „Halt. Hier Ziel.“ Langsam schälte sich der Umriss der Farbwandlerin aus dem Schnee heraus. Sie hatte sich der Umgebung angepasst und blieb immun gegen alle Verlo-ckungen der ewigen Kälte.
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„Mir reicht ’s!“ Steve ließ sich zu Boden fallen. Man sah ihm den fehlenden Schlaf und die langen Märsche an. Dunkle Schatten blühten unter seinen Augen. „Nur noch einen Tag“, quengelte Bill. In seinen Augen irrlich-terte ein fiebriger Glanz. Wie eine Maschine bewegte er sich wei-ter und weiter, ohne Pause, immer voran. „Einen Tag. Endgültig.“ George bewahrte sich noch etwas Hal-tung und Stärke.
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Kamara wagte kaum zu hoffen. Sollten sie am Ziel sein? Der Berg erhob sich vor ihnen. An seinem Fuße lag eine unscheinbare Hütte. Hier sollte sich die wundersame Waf-fe befinden, mit der sie ihre Welt retten könnten. Selbst O’Rann schnaufte zufrieden. Ha, dachte Kamara, die Pro-phezeiung stimmt nicht. Zu dritt durchquerten wir die Schneewüste und finden die Waffe. Sie eilte auf die Hütte zu, als der Elf sie zur Seite stieß. Mit erhobenem Speer rannte er auf die riesige dunkle Ges-talt zu, die aus dem Schatten trat. Ein Wächter! Kamara und der Farbwandler sahen mit Schrecken, wie der helle Elf und der dunkle Hüter mit ihren Waffen aufeinander eindroschen. Der Elf hatte keine Chance gegen das riesige Wesen. Der Wächter versetzte dem Elfen einen furchtbaren Hieb. Der Waldprinz stürzte zu Boden. Samtrot pulsierte Blut aus der Wunde an seiner Hüfte. Kamara wollte ihm zu Hilfe eilen, doch die Farbwandlerin hielt sie auf. „Seine Schlacht.“ Der Elf lag am Boden, tödlich getroffen. Der Wächter erhob sein Schwert. Ein letzter Schlag sollte den ungleichen Kampf beenden. Kamara wendete sich ab. Mit letzter Kraft erhob der Elf den Speer und traf den Gegner mitten ins Herz. Nach dieser Anstrengung fiel er zurück und hielt sich die Wunde an seiner Seite. Kamara, O’Rann und die Farbwandlerin eilten zu ihrem Gefährten. „Elf, halte aus, wir retten dich. Der Farbwandler holt Kräu-ter …“ „Nein, kleine Nakane, meine Zeit ist vorbei. Lass die Lieder über mich meinen wahren Namen nennen. Ich heiße Perandor ...“ Kamara und die Farbwandlerin begruben den Krieger un-ter Steinen. „Sag mir deinen Namen für die Lieder, die sie über uns singen werden.“ Kamara wendete sich an die Farbwandle-rin. „Keinen Namen. Wir sind eins.“ Kamara nickte. Gemeinsam betraten sie die Hütte. Was für eine wundersame Waffe mochte sie erwarten? Welche Ma-gie erwies sich ihrer Opfer würdig? Ein Schwert? Eine Kampfaxt? Ein Speer? Kamara schaute sich suchend um. Nichts. Waren alle Kämpfe umsonst? Doch dort, da blitzte etwas auf. Ein kleiner Dolch, dunkel, ein blutroter Stein schmückte den Griff. „Das soll alles sein?“, fragte Kamara, „Wie können wir damit mörderische Schatten besiegen?“ „Glauben“, lautete die Antwort der Farbwandlerin. Der Schnee des Zweifels konnte Kamara nichts mehr anha-ben. Sie hielt den Dolch in ihrer Hand. Tränen liefen über ihr Gesicht. Die Farbwandlerin versuchte, sie anzusprechen. Gegen Kamaras Verzweifelung kam sie nicht an. Selbst O’Rann ließ den Kopf hängen. Die Tage verschwammen vor Kamaras Augen. Aus der Schneewüste wechselten sie in die Ebene des Misstrauens. Auch gegen deren Gefahren erwiesen sich die Gefährten als gefeit. Nur noch die singenden Wälder mussten sie überwinden, dann könnten sie sich den Monstern stellen. Endlich sprach Kamara wieder. „Ich danke dir, Farbwandlerin. Wenn du die Wälder durchquert hast, singe bitte ein Totenlied für O’Rann und mich.“ „Du nicht sterben. Prophezeiung spricht von Mädchen und Remorg.“ Die Farbwandlerin lächelte. Kamara umarmte das Wesen, dessen Aussehen ihr erst so viel Angst eingejagt hatte. „Wir müssen nicht … Wir könn-ten hier leben, geschützt durch die Wälder“, schlug sie vor. „Nein, Geschichte endet mit Kampf. Prophezeiung muss erfüllt sein.“ Die Farbwandlerin irrte sich nicht. Nur Kamara und O’Rann entkamen den singenden Wäldern. Als sie aus dem Dunkel traten, begann der Dolch zu leuchten. Sein blaues Licht erhellte die Morgendämmerung. „O’Rann, schau! Eine magische Waffe. Nun können wir uns den Schatten stellen.“ Kamaras Mut kehrte wieder. Mit der magischen Waffe und dem treuen Remorg an ihrer Seite scheute sie keine Gefahr. O’Rann stellte die Ohren auf und lauschte. Auch Kamara hörte die Geräusche. Das mussten die Schatten sein, die ihr Morden weiterführen wollten. Kamara richtete sich auf und bat O’Rann um einen schnellen Galopp. Mit wehenden Mähnen und lautem Gebrüll stürmten sie die Lichtung. Kamara hörte ein seltsames Schwirren. O’Rann stolperte und stürzte. Ein erneutes Zischen. Kamara spürte einen kurzen Schmerz. Kälte kroch in ihre Glieder. Sie sah ein gleißendes Licht und Nana, ihre Eltern, ihre Geschwister, die ihr winkten. Hinter ihnen warteten der Elf, die Kitsune und die Farbwandlerin. Kamara lächelte.
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„Waidmannsheil, George! Ein doppelter Treffer, eines der großen Biester mit einem der Kleinen oben drauf. Da würde ich nicht nur den Kopf nehmen. Lass sie dir so ausstopfen. Coole Tro-phäe.“ Bill klopfte George auf die Schultern. „Wurde ja auch langsam Zeit. Der letzte Tag und kein Abschuss. Dabei hieß es doch im Prospekt: »Jagdurlaub auf Gorion – wir garantieren ihnen einen Abschuss und eine Trophäe, die man nicht jeden Tag sieht.«“ George strahlte seine Freunde an. Die Strapazen der letzten Tage fielen von ihm ab. „Hey, kommt mal her. Das müsst ihr euch ansehen.“ Steve trat gegen die beiden Biester, die niedergestreckt auf dem Boden lagen. „Was denn? Sind es etwa trächtige Weibchen?“ George fürchtete um seine Trophäe. „Nein. Schaut mal. Das hier sieht aus wie ein Dolch.“ Steve hob die Waffe, die immer noch leise glühte. „Vielleicht von einer anderen Expedition?“ Bill interessierte sich nur für Abschüsse. „Nein, auf keinen Fall. Dafür ist es zu alt.“ Steve drehte den Dolch. Er blickte seine Jagdkameraden an: „Was wäre, wenn diese Biester hier doch intelligenter sind? Eine eigene Zivilisation haben?“ „Oh nein, hör dir unseren Moralapostel an. Stevie, alter Junge, alle Expeditionen haben bewiesen, dass hier nur Tiere leben, keine denkenden Wesen.“ Bill seufzte. Nicht schon wieder eine Grundsatzdiskussion darüber, ob sie das Recht hatten, auf anderen Planeten zu jagen. Die Starken gewin-nen, so war die Natur nun mal. „Hey, Jungs, ist gut.“ George versuchte zu schlichten. „Wir alle haben unsere Trophäen und können morgen zufrieden nach Hause fliegen.“ „Ja, und wer weiß, wie viele von den Viechern noch leben, so beliebt wie dieses Revier inzwischen ist.“ „Na dann, lass’ uns heute feiern.“ Die Männer überließen Kamaras und O’Ranns Leichen den Trä-gern und gingen lachend zurück zu ihrem Hightech-Jagdzelt. Außen prangte die Aufschrift: Hunter-Reisen – Urlaub, wie es ihn kein zweites Mal gibt. Denn man fliegt nur einmal im Leben nach Gorion.
Edition leserunde
Auf der Suche nach Grumpf Von Andreas „Brian“ Baar
s war in einem dieser stinknormalen Cafè’s am Rande der Galaxis. Ich hatte einen Job als Taxifahrer bei der Wurmloch-Gesellschaft und machte gerade meine Mittagspause. Vor mir stand meine Tasse Yogothkaffee und ich saß am Tresen. Die Kellnerin, die allem Anschein nach vom Planeten Emaria kam (man konnte die Bewohnerinnen Emaria’s an ihrem Kranz aus Brüsten sehr gut identifizieren; insgesamt waren es sechs, zwei vorne, zwei auf dem Rücken und jeweils eine links und rechts) wollte mir gerade nachschenken, als sich ein weiterer Gast an den Tresen setzte, genau auf den Hocker neben mir. Seiner Gestalt nach, die ganz und gar von einem rötlichen dünnen Haar bewachsen war, war er ein Humanoid. Bis auf diesen kleinen, doch unübersehbaren Unterschied den seine Statur aufwies. Denn anstatt der sonst so üblichen Beine eines Humanoiden, besaß er ein weiteres Paar Arme mit Händen daran. Allerdings waren sie muskulöser als die Arme und Hände der oberen Körperpartie. Er bestellte sich einen Andromedar-Whiskey-Zombie1 und eine Schüssel Chipsfische2. Dann holte er einen Plan hervor und fing an ihn zu studieren. Ich beschäftigte mich wieder mit der Tasse, die vor mir stand und trank einen Schluck von meinem Yogothkaffee. Als die Bedienung mit der Bestellung des Fremden wieder-kam, legte dieser die Karte beiseite und stopfte sich eine Handvoll Chipsfische in den Mund und spülte diese mit einem kleinen Schluck Andromedar-Whiskey-Zombie herunter. Dann verzog er leicht die Miene und schüttelte seinen Kopf. Nach einer kurzen Konzentrationsphase rülpste er und die Züge seines, vorher doch angespannten, Gesichts erleichterten sich. Dann wandte er sich wieder seiner Karte zu. Als Taxifahrer habe ich natürlich schon so allerlei außerirdische Lebensformen kennen gelernt, von den Plumbodies mit ihrer gallertartigen Substanz, bis hin zu den Granitien, deren physische Beschaffenheit einem Fels glich. Von den Völkern der Ausektiden, die mit chininhaltigen Gliedmaßen und Körpern versehen waren und dem einen oder anderen Insekt doch auf erstaunliche Art glichen, bis hin zu den verschiedensten Formen von humanoiden Bauweisen: Mit einem Arm oder auch Achten, mit oder ohne Beine, Füße, Glieder, mit einem Kopf oder mehreren, die mal mehr oder weniger Intelligenz besaßen, und auch jegliche Mischformen zwischen den unzähligen Arten des Lebens. Die Evolution ließ nicht mit ihrer Phantasie geizen, das muss man hier wohl mal erwähnen. Aber ich schweife ab, also zurück zur Geschichte. Aufgrund meiner Erfahrungen mit außerirdischen Leben, nahm ich so ziemlich jede Erscheinungsform als normal hin, und der mir angeborenen Kommunikationsfreude eines Taxifahrers (wobei die Ursache dieser Kommunikationsfreude auch darin liegen könnte, das Taxifahrer sich meistens langweilten, wenn sie auf den nächsten Fahrgast bzw. Kunden warteten und sobald jemand ihre Dienste in Anspruch nahm, sie wild und neugierig darauflosquatschten, als ob der nächste Fahrgast erst in einer Millionen Lichtjahre wieder zusteigen würde, und sie bis dahin vor Langeweile eingehen könnten) sprach ich meinen Tischnachbarn (oder auch Tre-sennachbar, wenn der Leser so will) an und fragte ihn, ob ich ihn nicht helfen könnte. Ich war schließlich kosmischer Taxifahrer und kannte mich aus im Universum (wenn nicht wir wer sonst?) und das Studieren der Karte ließ mich darauf schließen, das der Fremde vielleicht einen bestimmten Ort suchte. „In der Tat“, antwortete er mir, „Ich bin auf der Suche nach dem Planeten Grumpf. Kann ihn aber auf der Karte nicht finden.“ „Grumpf? Kenn’ ich leider auch nicht“, gab ich doch etwas beschämt zu. Allerdings konnte ich diese Schmach nicht auf mir sitzen lassen, und bat ihn mir die Karte mal zu reichen. Doch auch nachdem ich die Karte gründlichst inspiziert hatte, so wie nur wir Taxifahrer das beherrschen, also von der Pike auf, fand ich den Planeten, mit dem doch etwas komischen Namen, nicht. Ich gab ihm die Karte zurück und fragte ihn, ob er denn einen Anhaltspunkt hätte, wo der Planet sich befinden könnte. In welcher Galaxie? Oder bei welchen Koordinaten. Oder ob er andere Planeten in der Nähe kannte. All so navigatorische Sachen halt. Die emarianische Bedienung kam auf uns zu und fragte ob wir noch etwas bestellen möchten. Wir winkten dankend ab, baten sie aber, uns den großen Hell-Sternen-Atlas3 zu bringen. Nach einer kurzen Zeit kam sie wieder und brachte uns das 3000 Seiten dicke Buch. Der Fremde, der sich als Utan Gorrange vorstellte, erzählte mir, dass er nur eine einzige Information über den Plane-ten Grumpf hätte, nämlich, dass der Planet die Form eines Würfels hätte. „Ein würfelförmiger Planet?“, fragte ich ungläubig und sagte daraufhin selbstsicher: „Unmöglich.“ Allein die Vorstellung eines quadratischen Planeten kam mir so blödsinnig vor, wie die Tatsache, dass es noch nie-mand geschafft hat die Quadratur des Kreises zu berech-nen, oder ein Kamel durch ein Nadelöhr zu führen. Nachdem wir auch im Hell-Sternen-Atlas keinen Anhalt-spunkt gefunden hatten, machte ich ihm den Vorschlag einen Freund von mir zu besuchen, der uns eventuell weiter helfen könnte. Doch just in diesem Moment meldete sich mein Taxicom und ich musste einen Fahrgast zum Kühemelken zur Milchstraße bringen4. Ich stand auf und bat Utan hier auf mich zu warten. Er nickte, als Geste der Zustimmung, und bestellte sich noch einen Andromedar-Whiskey-Zombie.
Nachdem ich den Fahrgast zu seinem Bestimmungsort gebracht hatte, machte ich mich wieder auf den Weg ins Cafè am Rande der Galaxis, wo Utan Gorrange immer noch auf mich wartete. Auf die Frage hin, warum Utan unbedingt diesen Planeten aufsuchen wollte, antwortete er mir: „Na ja, ich hab’ gehört die Bevölkerung von Grumpf soll über das Geheimnis des Lebens Bescheid wissen. Auf meiner Heimat, Quatwo, dem Planet der Vierhänder, bin ich so etwas wie eine Koryphäe in der Disziplin der Biosophie, die versucht den Sinn des Ursprungs des Lebens zu ergründen. Na ja, und eine alte Legende auf unserer Heimat berichtet von einem Zusammentreffen unseres Volks mit einem Bewohner des Planeten Grumpf. Allerdings liegen die Wurzeln der Legende in schon längst vergessenen Zeiten und unsere Vorfahren, die sich damals noch auf urzeitlichen Niveau befanden, hielten es für unnötig diese Begegnung niederzuschreiben (dies geschah etwa erst eine Millionen Jahre später, bis dahin wurde die Geschichte mündlich weitererzählt, was leider den Stille-Post-Effekt implizierte und von der einst realen Begegnung so gut wie nichts wahrheitsgemäß schriftlich wiedergegeben werden konnte, da es zu diesem Zeitpunkt in etwa über drei Millionen Versionen der Geschichte gab, aus denen Utan Gorrange dann die Essenz herausarbeitete). Als wir uns auf dem Weg zu meinem Freund befanden, der Joshua Albert hieß und seines Zeichens Schriftsteller war und sich unter anderem auch mit der Negationstheorie beschäftigte, wurden wir durch eine Gruppe ignoranter, störrischer Donkytäer5 aufgehalten, die uns zufällig entge-gen kamen. Dann setzten wir unsere Reise fort. Nach nicht allzu langer Zeit kamen wir bei meinem Freund an, der glücklicher Weise auch noch zu Hause war. Ich begrüßte Joshua, stellte meinen neuen Freund kurz vor und kam gleich zur Sache (denn ich wusste das Joshua’s Zeit immer relativ knapp war, da er, was kein größeres Geheimnis war, aufgrund seiner Publikationen, ein Dorn im Auge des Kosmischen Rats war und ständig damit rechnen musste, sich zu verstecken). Wir fragten ihn, ob er nicht schon mal etwas über den Planeten Grumpf gehört habe, aber auch er musste passen, da er den Begriff Grumpf noch nie gehört hatte. Allerdings versprach er uns, in einem seiner Enzyklopädien und Le-xika nachzuschlagen. Nach einer Weile kam er mit einem Buch unter dem Arm aus seinem Arbeitszimmer. Wir saßen in seiner Küche und tranken Bufo-Tee6. Als er sich zu uns setzte, schlug er das Buch auf und zeigte mit dem Finger auf eine bestimmte Stelle. Dort war zu lesen, das das Wort Grumpf aus dem Quatwoanischen stammte, dessen Bedeutung aber heute niemand mehr kennt, da die prähistorische Sprache auf Quatwo so gut wie ausgestorben sei, und es nur noch eine Handvoll Leute gab, die einen kleinen Teil dieser Sprache beherrschten. Wir bedankten uns bei Joshua und verabschiedeten uns von meinem Freund. Meine Schicht war seit einiger Zeit vorbei und ich fragte Utan, was er nun vor hätte, denn irgendwie fand ich Gefal-len an dieser Rätsellöserei, obwohl wir nicht wirklich et-was herausgefunden hatten. Aber es war besser als allein zu Hause zu sitzen und auf den neuen Schichtanfang zu warten, was an sich ja auch nicht wirklich spannend ist. Utan antwortete mir, er würde wieder zurück auf seinen Heimatplaneten reisen und versuchen jemanden zu finden, der das Wort Grumpf übersetzen könnte. Ich fragte ihn, ob ich ihm weiterhin behilflich sein dürfte und er nickte. Denn zwei Gehirne denken mehr als eins, sagte er zu mir mit einem freudigen Ton. Auf seiner Heimat interessiere sich so gut wie niemand mehr für die Wahrheit über den Grumpf und so würde er sich freuen wenn ich mich ihm anschließe. Also reisten wir nach Quatwo. Leider hatten wir dort auch kein Glück. Wir fragten alle Experten der quatwoanischen Sprache, aber niemand konnte uns etwas über Grumpf erzählen. Viele waren der Ansicht, das das Wort Grumpf nur ein Name sei und gar keine Bedeutung hätte. Zumindest nicht im tieferen Sinne. Ich hatte noch jede Menge Zeit bis zur nächsten Schicht und überredete Utan jetzt nicht die Flinte ins Korn zu schmeißen, obwohl ich wusste wie aussichtslos die Suche nach dem Grumpf war, im Angesichts der enormen Größe des bekannten Universums. Dann schlug ich vor in die kosmische Bibliothek7 zu gehen um dort nachzuschlagen. Vielleicht gab es dort einen Hinweis. Und tatsächlich fanden wir in der Bibliothek einen Hin-weis. Er stand in einem Buch mit dem Titel: Ausgestorbene Sprachen von einem gewissen XXX (was immer das auch zu bedeuten hatte). Als wir die Seite 560 000 549 629 aufschlugen war dort zu lesen:
Grumpf (prähistorisches Quatwoanisch): Der Grumpf, der fälschlicherweise oft mit Asteroiden, Meteroiten oder gar Plane-ten verwechselt wird, ist lediglich ein riesiger, sogenannter Quadratkopf (eine Lebensform die nur aus einem Kopf besteht und oft planetarische Ausmaße erreicht), hinlänglich auch als Kanisterschädel bekannt, der durch das All gleitet und sich dem höchsten philosophischen Ziel verschrieben hat; der höchsten Form der Existenz: dem Nichtstun. Als die steinzeitlichen Bewohner Quatwo’s dem Kanisterschädel begegneten, der fast die Atmosphäre ihres Planeten streifte, schauten sie zum Himmel auf und grölten: „GRUMPF! GRUMPF! GRUMPF! GRUMPF!..“, denn der Sprachschatz der Quatwoaner war zu diesem Zeitpunkt sehr spartanisch, wenn nicht gerade äußerst begrenzt. In der Übersetzung hätte es soviel bedeutet wie: „Hey, schaut ma! Der Kanisterschädel dort rammt unseren Planeten! Verdammte Scheiße! Mach datte wechkommst!“.
Die Insel von Meddi M. Müller
s rumpelte und knirschte. Frank Thornton bemerkte es kaum, denn er schlief selig den Schlaf des Gerechten in seiner kleinen Kabine, die er sich mit einem anderen Matrosen teilte, der zurzeit auf Deck seinen Dienst versah. Er selbst hatte gerade Pause und nutzte die Zeit, um sich ein wenig aufs Ohr zu hauen. Die Admiral Fitzgerald war ein Segelschulschiff der britischen Marine und kreuzte seit einigen Wochen durch den Pazifik. Wo genau, das wusste Frank nicht. Auf der Akademie hatte er mit der Navigation seine liebe Mühe gehabt und war deshalb nicht besonders gut darin, den genauen Standort zu bestimmen. Er verließ sich auf moderne Hilfsmittel wie GPS. Wenn er sah, dass die Ausbilder mit den Sextanten den Standort bestimmten, und sei es nur, um zu zeigen, wie es früher war, konnte er nur milde lächeln. Warum sich die Augen kaputtmachen, wenn das alles ein Satellit für ihn erledigen konnte? Doch mit dieser Meinung hielt er hinter dem Berg. Schließlich galt es, an Bord bloß nicht aufzufallen, sonst musste man das Deck schrubben oder die Latrinen reinigen. Thornton drehte sich noch mal zur Seite und nahm das nächste Knirschen im Unterbewusstsein wahr. Er hob deshalb seinen Kopf und horchte kurz auf. Da war es wieder. Diesmal sogar etwas lauter. Er hatte auf See viele merkwürdige Geräusche gehört, aber dieses war ihm neu. Weiß der Geier, was das nun wieder war, dachte er und bettete sich wieder in die Koje. Wenig später wurde es ungemütlich. Thornton wurde im hohen Bogen aus seinem engen Bett geschleudert und landete unsanft auf dem Kabinenboden. Dabei stieß er sich schmerzhaft den Kopf. „Aua!“, schrie er. „Was ist denn jetzt los?“ Thornton fasste sich an die Schläfe und fühlte warmes Blut. „So ein Mist!“, stieß er aus. „Was soll denn das? Es war doch gar kein Sturm angesagt.“ Tatsächlich war vor noch nicht einmal einer Stunde, als Thornton seine wohlverdiente Ruhepause angetreten hatte, eine Flaute gewesen. Doch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, ging der nächste Ruck durch das Schiff. Wieder wurde er durch die Kabine geschleudert. Doch diesmal ging es ohne weitere Verletzungen aus. Thornton wollte wissen, was los war und warf sich hastig in seine Uniform. Er eilte an Deck und sah genau das, was er nicht sehen wollte. Überall rannten die Kollegen aufgeregt über das Deck. Wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen liefen alle hin und her. Die Vorgesetzten schrien Befehle, die keiner befolgte. Panik war ausgebrochen. Thornton fragte sich immer noch, was denn eigentlich passiert war. Er versuchte, den Grund des Durcheinanders zu erfahren und schnappte sich deshalb den nächsten Matrosen, der an ihm vorbeilief. Er hielt den jungen Mann am Arm fest und musste ebenfalls schreien, um sich verständlich zu machen. „Was ist hier los, Mann?“ „Wir werden angegriffen!“, schrie der Matrose angstvoll zurück. „Was? Von wem?“, wollte Thornton wissen, doch der Matrose hatte sich losgerissen und rannte weiter. Wer greift denn ein unbewaffnetes Segelschulschiff an? Und wo war der Feind? Er schaute sich um, konnte aber kein anderes Schiff entdecken. Wieder wurde die Admiral Fitzgerald getroffen. Es rumpelte gewaltig. Thornton suchte vergeblich nach Rauchschwaden, die ihm eine Orientie-rung hätten geben können, von welcher Seite sie angegriffen wurden. Wieder ein Rumpeln. Dann wurde es dunkel um ihn, denn er wurde von herabfallenden Trümmerteilen getroffen.
Thornton erwachte keine Sekunde zu spät. Gerade als die Admiral Fitzgerald dem Untergang geweiht war, kam er wieder zu sich. Er lag unter einem Segel. Zum Glück war er nicht eingeklemmt. Sein Schädel jedoch brummte gewaltig. Er musste von einem Flaschenzug erwischt worden sein, als das Segel herabstürzte. Der Kopf des Kadetten musste jetzt schon den zweiten Schlag innerhalb kürzester Zeit wegstecken. Thornton raffte sich auf. Wackelig stand er an Deck, um ihn herum herrschte das Chaos. Er sah überall leblose Matrosen und Offiziere. Aber immer noch keinen Rauch. Was hatte so viel Zerstörungskraft, erzeugte aber kein Feuer? Thornton kam nicht dazu, sich weiter damit zu beschäftigen. Mit lautem Getöse fing das Segelschulschiff Admiral Fitzgerald, der Stolz der britischen Marine, an, zu sinken.
Thornton wurde ordentlich durchgeschüttelt. Das Schiff ragte jetzt fast lotrecht aus dem Meer. Dann ein letztes Auf-bäumen, und Neptun holte sich seinen Zoll. Das ganze Schiff sank innerhalb nur weniger Sekunden auf den Grund des Ozeans. Wenig später herrschte Stille, und nichts zeugte mehr von der Anwesenheit des prachtvollen Segelschiffes. Thornton wurde zunächst mit in die Tiefe gezogen. Mit eisernem Überlebenswillen schaffte er es aber, sich aus seiner Starre zu lösen und nun gegen den Sog anzukämpfen. Zunächst schien es aussichtslos. Das Verlangen nach Luft war schier unerträglich. Der Brustkorb des Matrosen brannte wie Höllenfeuer, aber er wollte nicht ertrinken. Nein, heute würde er nicht sterben! Thornton kam es vor, als ob ihn jemand von der Kette lösen würde, die sich um seinen Körper gespannt hatte. Wild mit den Armen rudernd, kämpfte er sich an die Oberfläche zurück. Er schnellte aus dem Wasser und sog gierig die Luft in seine leere Lunge. Geschafft! Der Seefahrer schaute sich nach etwas um, an das er sich festhalten konnte, doch leider waren keine Trümmerteile zu finden. Während er sich im Kreis drehte und verzweifelt nach Rettung suchte, entdeckte er etwas wesentlich Besseres als ein Trümmerteil: eine Insel! Wie gejagt schwamm er zu dem Eiland hinüber. Nach seiner groben Schätzung waren es nicht einmal zweihundert Meter bis zum rettenden Ufer. Und tatsächlich warf er sich nur wenige Minuten später völlig erschöpft in den feinen, weißen Sand des Strandes, wo er wieder in eine tiefe Bewusstlosigkeit fiel.
Er wurde erst wieder wach, als ihn jemand über den Sand schleifte. Aber nur ganz kurz. Schemenhaft erkannte er die Umrisse seiner vermeintlichen Retter. Er dachte noch: „Zum Glück ist die Insel bewohnt!“, und driftete wieder in die Bewusstlosigkeit zurück, nur, um wenig später erneut aufzuwachen. Aber wieder nur für ein paar Sekunden. Eine dunkle Gestalt beugte sich über ihn. Dann wieder Bewusstlosigkeit. Wie lange Thornton bewusstlos war, konnte am Ende niemand mehr sagen, denn seine Retter waren nicht gerade gesprächig. Nach einiger Zeit war er das erste Mal länger als nur ein paar Sekunden wach und konnte jetzt erkennen, wo er war. Der Seemann erkundete den Raum und stellte fest, dass er in einer klapprigen Hütte untergebracht war. Die Behausung war sehr löchrig und nicht besonders sorgfältig gebaut. Aber sie bot ausreichend Schutz gegen die Witterung. Thornton versuchte sich aufzurichten, denn er wollte seine Umgebung erkunden. Langsam, ganz vorsichtig, hievte er sich aus seinem Lager, das nur aus ein paar alten Decken bestand. Als er endlich saß, wartete er einen kleinen Augenblick, um seinem Kreislauf die Möglichkeit zu geben, sich an die Bewegungen zu gewöhnen. Gerade als er aufstehen wollte, flog die klapprige Tür zu seinem Unterstand auf und eine dunkle Gestalt betrat den Raum. Nur schemenhaft konnte er sie erkennen. Thornton verengte die Augen zu kleinen Schlitzen, um etwas mehr Schärfe in seinen Blick zu bekommen. Es war ein seltsamer Mann, der von zwei bewaffneten Männern begleitet wurde. Er war prächtig geschmückt und schien so etwas wie ein Häuptling zu sein. Da streifte ein Lichtstrahl plötzlich das Gesicht dieses Mannes. Thornton erstarrte! Er konnte nicht glauben, was er da sah. Der Häuptling war sein Ebenbild! Völlig verwirrt starrte Thornton ihn an. Der Häuptling schien jedoch von der Tatsache, dass sie sich glichen wie ein Haar dem anderen, völlig unbeeindruckt. Der Häupt-ling murmelte etwas zu seiner Leibgarde und verließ kurz darauf die Hütte wieder. Zurück blieb der geschockte Matrose. Thornton sammelte seine Kräfte und rappelte sich auf. Er taumelte zum Eingang der Hütte und wollte dem Häuptling hinterher eilen. Doch als er die Tür aufriss, stand ein hünenhafter Eingeborener vor ihm und stieß ihn unsanft in die Hütte zurück. Thornton fiel der Länge nach hin und blieb benommen liegen. „Was geht hier vor?“, fragte er sich.
Am nächsten Tag, beim Morgengrauen, wurde Thornton aus dem Schlaf gerissen. Zwei Männer packten ihn unsanft, rissen ihn auf die Beine und schleiften ihn nach draußen. Das grelle Licht der Sonne nahm ihm die Sicht. Bevor er irgendetwas sah, hörte er das erstaunte Raunen einer Menschenmenge. Endlich hatte er sich an das Licht gewöhnt. Immer noch flankiert von den beiden Männern, die ihn aus der Hütte gerissen hatten, stand er mitten auf einem Platz. Umringt von den Bewohnern des Dorfes. Thornton schätzte die Menge auf etwa einhundert Personen, die ihn alle anstarrten. Einer seiner Bewacher schubste ihn nach vorne. Stolpernd wurde er in die Mitte der Ansammlung getrieben. Kurz darauf teilte sich die Menge und gab die Sicht auf den Häuptling frei, der majestätisch auf einer Art Thron saß. Zu seiner Linken stand ein Mann, der sein Gesicht hinter einer großen, Angst einflößenden Maske verbarg. Er war ebenfalls präch-tig geschmückt und trug um den Hals eine Kette mit Tro-phäen. Erneut erschrak Thornton, als sein Blick auf den Häuptling traf. Wie ein Spiegelbild seiner selbst saß der Mann vor ihm und durchbohrte den Matrosen mit einem düsteren Blick. Der Häuptling erhob sich von seinem Thron und verschaffte sich mit einer Handbewegung Gehör. Die Menge verstummte augenblicklich. Er erhob die Stimme und redete in einer fremden Sprache, die Thornton noch nie gehört hatte. Als er seine Rede been-det hatte, brach Jubel aus. Ehe Thornton sich versah, packten ihn seine Bewacher und schleiften ihn davon. Kurz darauf wurde er in eine Arena gestoßen. Einer der Bewacher drückte ihm ein großes Messer in die Hand und ließ ihn alleine zurück. Die Dorfbewohner hatten sich um die Arena versammelt und skandierten einen Choral, den Thornton nicht verstand. Kurz darauf gingen die rhythmischen Rufe in lauten Jubel über. Thornton schaute sich um und entdeckte am Eingang der Arena den Häuptling. Zwei Helfer nahmen dem Mann den Fe-derschmuck und die schwere Jacke, die er trug, ab und verließen dann ebenfalls die Arena. Thornton begriff, dass es um einen Kampf auf Leben und Tod ging. Angst ergriff ihn. Er war alles andere als kampferprobt. Lediglich einmal war er in eine Wirtshausschlägerei verwickelt wor-den, bei der er auch noch eine gehörige Tracht Prügel bezo-gen hatte. Wieder schwoll der Jubel an, als der Häuptling auf ihn zuging und in eine Angriffstellung überging. Wie zwei Gladiatoren standen sie sich gegenüber. Beide Männer waren nur anhand der Kleidung zu unterscheiden. Thornton trug immer noch seine Uniform, die jedoch schwer in Mitleidenschaft gezogen war und in Fetzen an ihm hing. Der Häuptling trug jetzt lediglich einen Lendenschurz. Lauernd kam er auf Thornton zu, der ängstlich zurückwich. Als er an die Begrenzung der Arena kam, wurde er von den Zuschauern weggestoßen. Plötzlich sprang der Häuptling auf Thornton zu. Aus seiner Kehle kam ein grollender Laut, während er seinen Körper auf Thornton warf. Der Matrose konnte nicht mehr rechtzeitig ausweichen. Die Klinge seines Gegners traf ihn am linken Arm und riss dort eine klaffende Wunde auf. Thornton schrie auf und tauchte reflexartig nach unten ab. Ganz knapp entging er so der zweiten Attacke des Häuptlings. Nur wenige Millimeter zischte die Klinge an Thorntons Hals vorbei. Auf allen Vieren krabbelnd, entkam er seinem Gegner. Der Matrose flüchtete vor dem wild anstürmenden Häuptling. Thornton warf sich auf den Rücken und riss instinktiv das Messer nach oben. Der Häuptling konnte nicht mehr ausweichen und fiel genau in die Klinge des Matrosen. Gurgelnd lag er jetzt auf seinem Gegner. Thornton spürte warmes Blut über seine Hand laufen. Die beiden identischen Gesichter der Männer waren jetzt ganz nah beisammen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte der Häuptling Thornton an. „Das kann nicht sein …, so war es nicht in der Prophezei-ung bestimmt …“, sagte der Häuptling schwach. Thornton traute seinen Ohren nicht. Er konnte den Mann verstehen! Was, um alles in der Welt, wurde hier gespielt? „Die … verdammte Prophezeiung …“, stammelte der Häuptling noch, dann sackte er über dem Matrosen zusammen. Die Menge begriff, dass ihr Häuptling den Kampf verloren hatte und verstummte. Thornton befreite sich von dem toten Körper und rappelte sich auf. Blutüberströmt stand er in der Arena und schaute sich um. Keiner sagte ein Wort. Augenblicke später betrat der Mann mit der Maske die Kampfstätte. Langsam ging er zu dem leblosen Körper des Häuptlings, beugte sich darüber und untersuchte ihn kurz. Dann erhob er sich zu voller Größe, richtete ein Totem zum Himmel und rief für Thornton unverständlich Worte, während er sich im Kreis drehte. Nachdem er geendet hatte, brach erneut Jubel aus. Die Menge stürmte die Arena und stürzte sich auf Thornton. Der Matrose sah sein Ende gekommen. Unfähig, sich zu wehren, ergab er sich in sein Schicksal. Er ließ das Messer fallen und wartete darauf, von der Menge gelyncht zu werden. Doch das Gegenteil trat ein. Anstatt den Matrosen zu töten, hoben ihn zwei Männer auf ihre Schultern und trugen ihn aus der Kampfstätte. Thornton war völlig verwirrt. Ohne sich dagegen wehren zu können, bekam er die Krone aufgesetzt und wurde in den Mantel des Toten gekleidet. Dann trugen ihn die Männer zu einer Hütte, die im Gegensatz zu seinem Gefängnis beinahe luxuriös ausgestattet war, wo sie ihn auf einen Thron in der Mitte des Raumes setzten. Thornton konnte immer noch nicht begreifen, was mit ihm geschehen war. Die Männer, die ihn getragen hatten, fielen vor ihm auf die Knie und verbeugten sich tief. In dieser Stellung verharrten sie, bis kurz darauf der Mann mit der Maske den Raum betrat. Dieser sagte etwas zu den Män-nern, woraufhin diese die Hütte verließen. Thornton war nun alleine mit dem Mann. Dieser nahm die Maske ab und zeigte zum ersten Mal sein Gesicht. Er war dem Anschein nach ein Eingeborener. Seine dunkle Haut stand jedoch im Kontrast zu seinen hellen Augen. „Ich Bangole, Medizinmann der Sunulos“, sagte er zu Thornton. „Ihr neuer König der Sunulos. Herrscher über Insel und gottgleicher Anführer unseres Stammes!“ Der Medizinmann fiel vor Thornton auf die Knie und verbeugte sich ebenfalls. Jedoch erhob er sich kurz darauf wieder. „Warum sprichst du meine Sprache?“, wollte Thornton wissen. „Großer weißer Seemann hat mir beigebracht!“ „Großer weißer Seemann?“, fragte Thornton dümmlich. „Mann, den du getötet!“ Thornton begann, zu begreifen. Scheinbar geboten es die Sitten des Stammes, dass derjenige, der den König tötet, der neue Häuptling wird. Thornton ertappte sich dabei, dass ihm der Gedanke gefiel. „Was macht euer König?“, wollte er wissen. „Ihm gehört alles auf Insel“, erklärte der Medizinmann. „Ist Vertreter von Umsala, Gott der Sunulo, auf Insel.“ „Alles?“, erfreute sich Thornton. „Alles!“, bestätigte Bangole. „Alle Tiere, Häuser, Blumen und Frauen der Sunulo nun euch gehören. Ihr töten König, also ihr neuer König.“ „Die Frauen gehören alle mir?“, suchte Thornton Bestäti-gung. „Ja, alle dir, großer König.“ „Was ist deine Aufgabe?“, wollte Thornton wissen. „Ich Weissager und Medizinmann der Sunulo. Ich deute Zeichen. Bin wichtiger Mann auf Insel.“ „Das habe ich schon gemerkt“, murmelte Thornton. Den Rest des Tages ließ er sich die Sitten und Gebräuche der Sunulo haargenau erklären. Bangole sprach gut genug Thorntons Sprache, um ihm alles zu erklären. Scheinbar war sein Vorgänger ein guter Lehrer gewesen. Oder er hatte genug Zeit gehabt, dem Medizinmann die Sprache beizubringen. Doch Thornton wollte die Sprache der Sunulo auch lernen, damit er nicht von einem Übersetzer abhängig war. Also lautete sein erster Befehl, ihm die Sprache des Stammes beizubringen. Wie sich herausstellte, war diese sehr einfach. Es gab nur sehr wenige Wörter, und das Volk war nicht sehr gesprächig. Sie glaubten, dass ihr einziger Gott, Umsala, alles regelte. Er gab ihnen genug zu essen und beschützte sie vor Feinden und dem Wetter. Thornton war ihm nun gleichgestellt. Er gewöhnte sich sehr schnell an die Annehmlichkeiten, ein Gott zu sein. Schon wenige Wochen später wollte er nichts anderes mehr sein. Der Gedanke an seine Heimat verblasste von Tag zu Tag mehr. Schon bald hatte er das Schicksal der Crew der Admiral Fitzgerald völlig verdrängt. Er war der Vertreter von Umsala, dem Gott der Sunulo. Er stellte die Regeln auf. Er nahm sich, was er wollte und bekam es ohne Widerstand. Niemand wagte es, seine Anweisungen in Frage zu stellen.
Es vergingen Monate, während derer Thornton seinen Na-men vergaß. Er war jetzt Pau-Umsala, der Vertreter Umsalas. Er war besoffen von der Macht, die er über das Volk hatte. Jeder Wunsch wurde ihm erfüllt. Wenn ihm etwas nicht gefiel, erließ er sofort ein neues Gesetz, und jeder im Dorf befolgte es, ohne zu murren. Jeden Tag ließ er sich eine andere Frau aufs Nachtlager bringen. Alle waren sie ihm anstandslos zu Diensten. Keine wehrte sich gegen ihn. Im Gegenteil: Die Frauen im Dorf, die Pau-Umsala nicht auserwählt hatte, waren zutiefst gekränkt und setz-ten alles daran, ihm zu gefallen. Eines Tages fiel Thornton ein, dass es ein untragbarer Zustand wäre, wenn sie vom Rest der Welt entdeckt werden würden. Also fragte er Bangole nach den Verteidigungsmöglichkeiten der Insel. Bangole führte ihn auf einen Hügel und zeigte ihm dort die einzige Verteidigungsmöglichkeit, die sie hatten. Vier riesige Steinschleudern standen dort. Die Technik erinnerte an Belagerungsgeräte aus dem Mittelalter. Thornton bat darum, ihm die Waffen vorzuführen. Schnell hatte Bangole ein paar Männer zusammengetrommelt, die ihrem König diese Bitte erfüllten. Thornton war beeindruckt von der Reichweite der Geräte. Die etwa ein Kubikmeter großen Steine, die die Maschinen wegschleuderten, flogen gut und gerne zweihundert Meter weit hinaus aufs Meer. Rings um die Insel waren solche Schleudern postiert, sodass die Sunulo durchaus wehrfä-hig waren. Beruhigt lebte Thornton von dem Moment an als Pau-Umsala. Er war Richter, Gesetzgeber und allmäch-tiger Herrscher. Was er sagte, war unumstößlich. Niemand wagte, sein Urteil anzuzweifeln. Eines Tages kam Bangole zu ihm und teilte ihm mit, dass der große Tag bald kommen würde. „Was für ein großer Tag?“, wollte er wissen. „Der Tag, an dem Mond und Sonne sich treffen!“, antwor-tete Bangole leicht pikiert, so als hätte Thornton es wissen müssen. „Davon hast du mir nie erzählt“, beschwerte sich der Kö-nig. Bangole wollte gerade darauf hinweisen, dass er dies sehr wohl getan hatte, verkniff sich jedoch aus Angst vor dem Zorn des Königs diese Anmerkung. „Es ist der Tag, an dem Sonne und Mond zur gleichen Zeit am Himmel sind. Der Tag der Prophezeiung.“ „Die Prophezeiung!“, kam es Thornton schlagartig in den Sinn. Die Erinnerung an die letzten Worte seines Vorgän-gers kam zurück. „Was passiert an diesem Tag?“, wollte er deshalb wissen. „Umsala erscheint dem Medizinmann und sagt ihm, was passieren wird.“ „Aha!“ Thornton konnte sich darunter nichts vorstellen. „Triff alle Vorbereitungen, die zu machen sind“, befahl er dem Medizinmann. Was sollte dabei schon Schlimmes herauskommen. Er war schließlich der Vertreter von Umsala. Ein Fest würde das Volk freudig stimmen und ihm das Leben weiter erleichtern.
Bangole stürzte sich in die Vorbereitungen für den großen Tag. Thornton war dies nur recht. So konnte er sich den angenehmen Seiten seines Lebens widmen. Er vergnügte sich bei der Jagd und mit den schönsten Mädchen des Dor-fes. Doch schon wenige Tage später kam Bangole zu ihm und teilte ihm mit, dass der große Tag gekommen sei. „Was, heute?“, entfuhr es Thornton. „Ja, heute ist großer Tag!“ Zum ersten Mal seit Thorntons Ankunft zeigte der Medizinmann, dass der König keinen Widerspruch einlegen konnte. Sein Gesicht war von Ent-schlossenheit geprägt. „Nun dann: So sei es!“, fügte sich Thornton und folgte Bangole zum Dorfplatz. Zu seiner Überraschung war er der Letzte, der den Platz betrat. Sofort übernahm Bangole das Kommando. Er bat Thornton, auf seinem Thron Platz zu nehmen, und begann sofort mit der Zeremonie. Thorn-ton sah sich um. Als er zum Himmel schaute, entdeckte er tatsächlich den Mond und die Sonne einträchtig nebeneinander. Er betrachtete fasziniert das Naturschauspiel. Bangole stand nun inmitten des Volkes und vollführte einen merkwürdigen Tanz. Die Einwohner beobachteten ihren Medizinmann gespannt. Noch eine Weile tanzte Bangole weiter, doch plötzlich zuckte er, als ob ihn ein Blitz getroffen hätte. Er warf sich auf den Boden, wo er einen Feixtanz aufführte, nur um wenige Sekunden später zu erstarren. In dieser Haltung verharrte er einen Augenblick. Dann, urplötzlich, sprang er auf die Beine. Er riss sich die Maske vom Gesicht und verkündete die Prophezeiung, die er von Umsala empfangen hatte. Er benutzte die Sprache der Sunulo, die Thornton mittlerweile sehr gut verstand. „Umsala hat es mir verkündet!“, begann der Weissager. „Schon bald wird ein Schiff vom Wind zu unserer Insel getragen. Auf diesem Schiff sind fremde Soldaten, die uns alles nehmen wollen. Unseren Besitz, unsere Früchte und unsere Frauen.“ Bangole machte eine kurze Pause, in der er seine Worte wirken ließ. Thornton wurde hellhörig. „Auf dem Schiff ist ein Mann, der unser König werden will.“ Jetzt hatte er Thorntons volle Aufmerksamkeit. „Nur wenn unser König kämpft und den Mann in der Arena tötet, wird er unsterblich bleiben. Wenn unser König nicht kämpft, muss er im Feuer sterben. Das Wohl unseres Vol-kes hängt davon ab!“ Bangole fiel in eine Ohnmacht.
Thornton musste handeln. Wenn wirklich ein Schiff kom-men würde, könnte sein Thron in Gefahr sein. Sofort stellte er rund um die Insel Wachen auf. Gleichzeitig ließ er die Katapulte besetzen. Die Männer hatten den Befehl, beim Anblick eines Schiffs sofort zu feuern. Tagelang passierte nichts. Doch dann, an einem ruhigen, beinahe windstillen Tag, ertönte das Alarmgeheul der Sunulo über die Insel. Thornton schreckte hoch. Er rannte zur Anhöhe, wo die Männer schon die ersten Geschosse abfeuerten. Thornton blickte auf das Meer. Tatsächlich war dort ein Segelschiff zu sehen. Dann schaute er genauer hin. Er traute seinen Augen nicht. Es war die Admiral Fitzgerald. „Aber, das ist doch unmöglich!“, schnaufte Thornton. Die Männer feuerten weiter Geschosse auf das Schiff ab. Thornton trieb sie an. Das Schiff könnte das Ende seiner Herrschaft bedeuten. Niemand durfte überleben. Schon bald hatte das Segelschiff Schlagseite. Nach einer halben Stunde unter Dauerfeuer begann das Schiff zu sinken. Zu-frieden schaute Thornton dabei zu, wie die Admiral Fitzge-rald endlich im Meer versank. „Das überlebt keiner“, sagte er zufrieden und ging zurück in seine Hütte. Wenig später kam Bangole zu ihm. „Wir haben Mann an Strand gefunden“, sagte er ernst. „Die Prophezeiung hat sich erfüllt. Ihr müsst kämpfen, um unsterblich zu werden.“ Thornton sprang auf. Das konnte doch alles nicht wahr sein. „Wo ist er?“, wollte der König wissen. „Mann ist in Gefängnis!“ Thornton rannte zu der Gefängnishütte, in der er selbst vor einigen Monaten gelegen hatte. Er ging hinein, um sich den Mann zu betrachten. Der fremde Mann lag zusammenge-kauert in der Hütte. Thornton erkannte die Uniform der britischen Marine. Auf dem Namensschild stand es groß und deutlich. Vor ihm lag ein Matrose mit dem Namen F. Thornton.
Tag der Veröffentlichung: 29.08.2008
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