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Die Leibwache Gandolf Schelm zu Bergens
Er war ein fahrender Händler, der weder Frau noch Kind hatte. Zumindest hoffte er, keine Kinder zu haben, denn er war ein gut aussehender, groß gewachsener Bursche mit einer starken Wirkung auf das andere Geschlecht. Und wie jeder weiß: Gelegenheit macht Liebe. Sein Name war Arthur. Der Händler saß auf seiner Kutsche und befuhr die holprigen Straßen kurz vor den Toren Frankfurts. Seine Geburtsstadt löste immer wieder ein Gefühl von Geborgenheit bei ihm aus. Es war zu der Zeit, als gerade die Pest ihre dunklen Krallen verloren hatte. Noch wenige Monate zuvor war die Stadt am Main eine Geißel des Schwarzen Todes gewesen. Nicht einmal die Ärzte waren gegen die fürchterliche Krankheit gefeit. Viele von Arthurs alten Freunden hatte die Pest mitgenommen. Es war eine furchtbare Zeit gewesen. Wenige Tage vor Arthurs Ankunft in seiner geliebten Stadt wurde ein gewisser Philipp Jacob Spener zum geistlichen Oberhaupt der Stadt auserkoren. Man schrieb das Jahr 1666. Doch das alles interessierte Arthur herzlich wenig. Darüber machte er sich keine Gedanken. Um ihn herum setzte sich langsam der Frühling gegen den immer schwächer werdenden Winter durch. Zarte Knospen zwängten sich am Wegesrand durch den noch vom Winter ausgelaugten Boden. Arthur liebte diese Jahreszeit. Sie trieb ihn immer weiter voran, auf seinem langen Weg entlang von Main und Rhein. Sein schulterlanges blondes Haar hing strähnig von seinem edelmütigen Haupt. Vom Kutschbock aus lenkte er in gebückter Haltung sein Pferd über die unebenen Handelswege zwischen Frankfurt und Köln. Horatio, der braune Hengst, war ein Geschenk des Klosters, in dem er seine Kindheit verbracht hatte. Bei seinem tränenreichen Abschied vor vielen Jahren hatte man ihm das starke Tier überlassen. Bei Samson, seinem treuen Hund, verhielt sich die Sache hingegen völlig anders. Das Tier, von undefinierbarer Rasse, war ihm eines Tages am Wegesrand begegnet. Der rothaarige Rüde blickte Arthur damals aus seinen treuen Augen traurig an. Aus Mitleid warf Arthur ihm einen Brocken Fleisch zu, was Samson als Aufforderung zur Mitreise verstand. Seitdem trottete der Rüde an jeden Ort, an den Horatio den geräumigen Planwagen Arthurs zog. Zum Schutz gegen das Wetter trug Arthur einen langen ledernen Mantel, dem man die Jahre ansah. Wenn er den braunen Wetterschutz einmal nicht trug, blieb ihm nur noch sein nicht minder abgetragener Wams. Seine Füße wurden durch Ledergamaschen, die er einmal in einem Dorf gegen einen Kochtopf eingetauscht hatte, geschützt. Arthur umspülte eine Aura, die für viele unerklärlich blieb. Sein kantiges, schlecht rasiertes Gesicht und die darin ruhenden blauen Augen trugen das ihre dazu bei. Besonders verwegen 7 machte sein Antlitz die kleine, fast unsichtbare Narbe unter dem rechten Auge. Seine Körpergröße lag bei Weitem über dem Üblichen. Durch seine Ausbildung im Frankfurter Karmeliterkloster war er außerdem noch überaus gebildet. Sein Lehrmeister, Bruder Claudius, erzog sein Mündel zu Besonnenheit und überlegtem Handeln. „Abyssus abyssum invocat“, hatte Claudius immer zu ihm gesagt. „Ein Fehler zieht den anderen nach sich. Deshalb denke, bevor du handelst, mein Junge.“ Diesen Ratschlag versuchte Arthur zu befolgen. Doch wenn ihn jemand herausforderte, konnte Arthur auch schnell und hart zuschlagen. Diese Mischung aus Raubein und sanftmütigem Riesen machte ihn bei den Schönen an seinem Handelsweg nahezu unwiderstehlich. Wenn sich eine Dame zu ihm neigte, ließ er sie gewähren. Er war ohnehin nur ein paar Tage an einem Ort, daher war es ihm im Grunde egal, ob er ein Kind gezeugt hatte, dem sein Blut die Adern füllte. Was kümmerte es ihn? Manchmal jedoch musste er auch Prügel einstecken. Zum Beispiel, wenn er sich zu nahe an eine Frau wagte, die einem Anderen versprochen war, oder der Vater eines Mädchens besonders argwöhnisch wachte. Arthur war zufrieden mit seinem Leben. Er war fast überall ein gern gesehener Gast, da er immer Neues zu berichten wusste. Er war für viele einfache Menschen in den Dörfern der Einzige, der Abwechslung in ihren beengten Alltag zwischen Ackerbau und Viehzucht brachte. Und wenn es einmal keine Neuigkeiten gab, so erfand er einfach welche. Durch seine Geschichten vergaßen die Menschen für eine kurze Zeit ihr trostloses Dasein und lachten über Arthurs Scherze und Geschichten. Am meisten mochten sie es, wenn er ihnen erzählte, dass es den Reichen und Herrschenden auch nicht besser erging als ihnen. Wenn Arthur einmal Hunger hatte und ein Dorf in der Nähe war, so fuhr er hinein, um sich eine Mahlzeit mit seinen Schauermärchen von den Adligen des Landes zu verdienen. Er war ein wahrer Künstler im Erkennen der Bedürfnisse der einfachen Leute. Er spürte es förmlich, welche Stimmung vorherrschte und erzählte die passende Geschichte dazu. Geld verdiente er mit dem Verkauf seiner Waren. Doch lieber waren ihm Wein und frisches Fleisch, sodass er sich daran laben konnte. Was nutzte einem ein voller Beutel mit Gold, wenn man, Tage entfernt von einem Markt, Hunger litt? Eigentlich brauchte er Geld nur, um seinen Warenbestand ab und zu mit Dingen aufzufrischen, die er nicht unterwegs tauschen konnte. Er wurde im Jahre des Herrn 1645, drei Jahre vor Ende des Dreißigjährigen Krieges, in Frankfurt am Main als Sohn eines armen Kaufmanns geboren. Die Stadt hatte sich gerade davon erholt, dass der schwedische König Gustav 8 Adolf Frankfurt als Quartier für sich und seine Truppen auserkoren hatte, und erreichte fast die alte Blüte zurück. Jedoch hielt die Pest die Stadt weiterhin in Atem. Arthurs Vater war zwar ein fleißiger Händler, aber leider auch ein großer Freund des Glücksspiels. Er verspielte meist die Tageseinnahmen aus dem kleinen Laden noch am selben Tag. Arthurs Mutter tat sich schwer, das Geld vor ihrem Mann zu verbergen. Immer wieder musste sie sich neue Verstecke ausdenken. Doch irgendwie schaffte sie es, dass die kleine Familie immer genug Geld hatte, um über die Runden zu kommen. Als Arthur fünf Jahre alt war, wurde sein Vater bei einem Streit mit einem Mitspieler erschlagen. Seine Mutter versuchte noch eine Zeit lang, sich und ihr Kind zu ernähren. Schließlich aber gab sie Arthur in die Obhut der Karmeliter. Sie vermachte ihr gesamtes Vermögen dem Kloster. Im Gegenzug wurde ihr versprochen, dass ihr Sohn eine gute Ausbildung erhalten und ein guter Mönch werden würde. Wenig später starb auch Arthurs Mutter an den Folgen der Pest. Das Waisenkind wuchs zunächst im Schoße des Klosters auf. Die Karmeliter galten zu jener Zeit als eine der letzten Bastionen der alten Kirche. Die Reformer hatten ansonsten die Stadt fest in ihrem Griff. Arthur erhielt eine solide Ausbildung. Ihm fehlte es an nichts. Doch schon wenige Monate nach seinem Eintreffen zog es den Jüngling vor die großen Mauern des Klosters. Er schlich sich immer öfter davon und streifte durch die engen Gassen Frankfurts. Die Stadt pulsierte geradezu vor Geschäftigkeit. Das Kommen und Gehen der Wagen, das Getümmel in den Straßen, das ständige Ausweichen vor den umherhastenden Wagenführern und Reitern und das Stimmengewirr auf den großen Plätzen der Stadt, wo Händler aus aller Herren Länder ihre Waren feilboten, faszinierten den kleinen Arthur. Das geschäftige Treiben in der Stadt interessierte ihn mehr als das ewige Lateinlernen und die komplizierten Rechenaufgaben, die ihm sein Lehrer Claudius stellte. Einige Jahre später verließ Arthur die Karmeliter. Claudius machte sich Vorwürfe, versagt zu haben, da er es nicht geschafft hatte, seinen Schüler für das Leben als demütiger Mönch zu begeistern. Arthur aber zog es vor, als fahrender Händler durchs Land zu ziehen, um sein eigener Herr zu sein. Ihm tat es in der Seele weh, das Kloster und seine Bewohner zu verlassen, doch er konnte nicht anders. Das Fernweh war stärker.
Tag der Veröffentlichung: 29.08.2008
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