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Die Stimme der Tochter


Die Stimme der Tochter

Die Tochter war 11 Jahre alt, als die Großmutter Rentnerin wurde und in den Westen zog. Das hatte für die Tochter 3 angenehme Folgen: Sie bekam – gemeinsam mit ihrer Schwester – ein eigenes Zimmer, einen Hund und ein eigenes Klavier. Klavierstunden bekam sie schon seit einiger Zeit. Da aber in der kleinen Mietwohnung kein Platz für ein Klavier war, musste sie in der Schule üben. Das war mehr eine lästige Pflicht, die sie möglichst schnell hinter sich brachte. Das Klavier in der Schule blieb ihr fremd. Aber nun hatte sie ein eigenes.

Im Haus der Eltern gab es strenge Regeln, auf deren genaue Einhaltung geachtet wurde. Dazu zählte auch das tägliche Klavierüben nach den Hausaufgaben. Die Tochter mochte die langweiligen Tonleitern ebenso wenig wie die schwierigen Etüden. Die richtigen Klavierstücke wie anfangs kleine Sonatinen oder Menuette, später dann auch Sonaten und andere bekannte Werke gefielen ihr, besonders, wenn sie die Klavierlehrerin anfangs vorspielte. So begann die Tochter, sich bei den Tonleitern schon auf die „richtige Musik“ zu freuen und war erstaunt, welche Fülle an harmonischen Klängen sie imstande war, dem Instrument zu entlocken. So begann die Beziehung zwischen der Tochter und dem Klavier.

Die Lieblingsbeschäftigung der Tochter war aber nach wie vor das Lesen. Sie hätte am liebsten ihre gesamte Zeit nach der Schule damit verbracht. Das mochten die Eltern nicht, sie sollte nicht so „nutzlos“ herum sitzen, sondern sich nützlich machen. Es gab immer etwas zu helfen: Einkaufen, Bohnen schnipseln, Kirschen entsteinen, putzen usw. Die Tochter wollte mehr Zeit zum Lesen und ersann eine List. Sie ging zum „Klavierüben“ ins Kinderzimmer. Dort spielte sie mechanisch mit einer Hand Tonleitern. Auf ihrem Schoß lag eines von den vielen spannenden Büchern, was darauf wartete, von ihr weiter gelesen zu werden. Die Mutter hörte die Tonleitern und freute sich über den Ehrgeiz der Tochter. Die Tochter gewann ein Stück Freiheit, und das Klavier wurde ihr Freund.

Die Tochter wurde älter. Sie verliebte sich das erste Mal, wurde enttäuscht, verliebte sich neu und erlebte die ganze Bandbreite der Gefühle eines Teenagers, von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt. An den Tagen der tiefen Traurigkeit gelang es ihr nicht, die perlenden leichten und lebensfrohen Mozartmelodien zu spielen, ebenso wenig wie die verspielten Haydn-Sonaten und ähnliches. Die Finger sträubten sich regelrecht. Dafür liebte sie an solchen Tagen die melancholischen „Lieder ohne Worte“ von Mendelssohn-Bartholdy und ganz besonders einen gewaltig und dramatisch klingenden Trauermarsch von Mozart. Sie fühlte sich nach dem Spiel besser, es war, als ob sie dem Klavier etwas von ihrer Traurigkeit abgeben konnte. An den Tagen der Fröhlichkeit war es umgekehrt. So wurde das Klavier
die Stimme der Tochter.

Der Vater hörte bei seinen Arbeiten in Hof und Garten das Spiel der Tochter. Er hörte ihr gern zu und erfreute sich an ihren Fortschritten. Wenn melancholische Lieder zu hören waren oder gar der gewaltig donnernde Trauermarsch, den die Tochter an schlechten Tagen liebte, war er besorgt. Irgendetwas lief also wieder schief im Leben des Kindes. Er atmete auf, wenn wieder die alten Volkslieder, Frühlingslieder oder auch die neuesten Schlager erklangen – dann war die Welt der Tochter wieder in Ordnung – und damit auch seine. So wurde das Klavier zur Brücke zwischen einem manchmal ratlosen Vater und seiner pubertierenden Tochter.

Die Tochter fing an, ihr Repertoire auf dem Klavier zu erweitern. Sie fand alte Liederbücher und spielte Volkslieder, und als sie ein altes Notenheft ihrer Eltern fand mit Schlagern aus den 50er Jahren, lernte sie auch diese. Der Vater auf dem Hof pfiff fröhlich mit, und ab und zu sahen sich die Eltern verliebt an, wagten sogar mal ein Tänzchen und erinnerten sich an die Zeit ihrer Jugend. Das Klavier war zum Verbindungsglied der Familie geworden.

Die Tochter war jetzt 16 Jahre alt und ging bald das erste Mal zum Tanzen. So dauerte es nicht lange, bis das Klavier die ersten Beat- und Popklänge kennen lernte. Die Tochter spielte die Lieder der Beatles, Rolling Stones und anderer Beatgruppen, was die Freundinnen begeisterte und den Vater auf dem Hof mit Grausen erfüllte.
In dieser Zeit begann die Tochter, ein Tagebuch zu führen. Sie versteckte es im Unterteil des Klaviers, ebenso wie die roten Socken, die sie zum Schlafen liebte und die die Mutter entsetzten. So wurde das Klavier zum Geheimnisträger.

Dann brachte die Tochter den ersten Freund mit nach Hause. Die Eltern mochten ihn sofort. Er war intelligent, höflich und sah auch noch gut aus. Wie schon erwähnt, gab es im Haus der Eltern strenge Regeln. Es war nicht erwünscht, dass sich die Tochter allein mit dem Freund im Zimmer aufhielt. Wenn die Schwester nicht zu Haus war, musste man sich also etwas einfallen lassen. So ging die Tochter mit dem Freund ins Kinderzimmer, um ihm etwas auf dem Klavier vorzuspielen. Den Freund freute das, die Tochter auch. Das Klavier wurde zum Alibi. Die Pausen zwischen den Liedern durften aber nicht zu lang sein – dann rief die Mutter zum Kaffee, oder der Vater musste dringend in die Mansardenkammer, die neben dem Kinderzimmer lag.

Der Freund liebte die Eltern bald ebenso wie die Tochter, und er akzeptierte ihre Regeln gern, er sah Regeln und Grenzen als Notwendigkeit für Geborgenheit und Sicherheit an. Der Tochter missfiel dies. Sie wollte mehr Freiheit, sie brauchte Platz zum Leben und wollte mehr Möglichkeiten, das Leben auf ihre Weise kennen zu lernen. Der Freund kam selten, weil er weit entfernt wohnte. Die Tochter ging inzwischen zum Tanzen, sie genoss ihre Jugend und nahm jede Gelegenheit wahr, die häuslichen Grenzen, die ihr zu eng schienen, ein wenig zu erweitern. Dabei lernte sie neue Freunde kennen, und sie entfernte sich innerlich von dem Freund, der sogar schon von Heirat sprach. Sie waren beide 18 Jahre alt, als die Tochter sich vom Freund trennte. Danach fühlte sie sich befreit. Sie setzte sich ans Klavier und spielte ihre geballte Lebenslust in die Welt hinaus.

Die Welt begann draußen auf dem Hof, wo der Vater arbeitete. Er war traurig und enttäuscht über die Trennung von dem Freund, den er lieb gewonnen hatte, und der Freund tat ihm sehr leid. Nun hörte er die Stimme der Tochter – voller Lebensfreude und ohne jede Reue und Mitleid. Das machte ihn wütend. Er wartete, bis die Tochter aus dem Haus ging. Dann nahm er wortlos den Werkzeugkoffer und ging ins Kinderzimmer. Die Mutter erschrak in der Küche fast zu Tode, als ein gewaltiges Krachen ertönte, aber sie akzeptierte das Tun des Vaters stumm.

Als die Tochter nach Haus kam und ihren Freund, das Klavier, begrüßen wollte, blieb es still. Der Deckel des Klaviers war mit riesengroßen Nägeln zugenagelt.
Die Tochter heulte, der Vater brüllte, die Mutter schwieg.

Die Tochter flüchtete ins Kinderzimmer, die Schwester trug solidarisch das Essen hinauf. Es wurde still im Haus. Die Tochter ließ sich nur sehen, wenn es unvermeidlich war und verbrachte ansonsten die gesamte Zeit im Kinderzimmer.

Dieser Zustand dauerte 7 Wochen. Längst fehlt dem Vater die Stimme der Tochter, wenn er auf dem Hof war. Die Verbindung zum Haus war unterbrochen. Was sollte er machen?
Hätte er das Klavier geöffnet, hätte er sein Gesicht verloren. Die Tochter wusste das und griff zur Selbsthilfe. Nach dem vergeblichen Versuch, mit Hilfe der Schwester das Instrument zu öffnen, wurde ein Freund her zitiert, der in Abwesenheit der Eltern die Welt mit Hammer und Meißel wieder in Ordnung brachte.

Als die Eltern nach Haus kamen, hörten sie leise melodische Klänge aus dem Kinderzimmer. Die Tochter spielte Lieder voller Freude, Liebe und Dankbarkeit für ihr wieder gewonnenes Glück. Gesprochen wurde nicht mehr darüber. Die Stimme der Tochter war ein wenig schräger und schiefer geworden, ein Klavierstimmer musste kommen und Hand anlegen. Aber so ganz richtig hat sich das alte Klavier nie mehr erholt.

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Tag der Veröffentlichung: 07.01.2012

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