Abschied ohne Wiederkehr
Plötzlich spürte er eine Berührung an der Schulter. Er drehte sich um und sah ganz nah vor sich, zwei braune Augen. Sekundenlang sanken die Blicke ineinander. Schlagartig wurde ihm bewusst, wer da vor ihm stand. Noch ehe er reagieren konnte, umarmte sie ihn mit einer Innigkeit, die er lange nicht gespürt hatte. Vor Überraschung brachte er kein Wort über die Lippen. Seine große Jugendliebe, die er seit gut 30 Jahren weder gesehen noch gesprochen hatte, stand unverhofft vor ihm. Beide brachten kein Wort heraus. In ihrer Umarmung schien die Zeit still zu stehen.
Als sie sich damals kennen lernten, hatte er gerade seinen sechzehnten Geburtstag gefeiert. Sie war die Freundin seiner Cousine und zwei Jahre älter als er.
Beide ginge in die gleiche Berufsschule, lernten aber in verschiedenen Fachklassen. Nach Beendigung des Unterrichtes, trafen sie sich immer öfters zu langen Spaziergängen durch die Stadt. Manchmal spürten sie gar nicht, wo sie hingingen. Und so landeten sie auch mal im angrenzenden Stadtwald und verträumten die Zeit auf einer sommerlichen Waldwiese.
Hier kam es auch zum ersten Kuss. Sie hatte schon ihre Erfahrung mit Jungens gemacht, ließ es ihn aber nicht spüren. Er war total unsicher, wusste nicht was er sagen und machen sollte. Doch sie entdeckten immer mehr Gemeinsamkeiten. Mit der Zeit entwickelte sich aus dieser Freundschaft eine tiefe, innige Liebe.
Noch ahnte er nicht, dass es in ihrer Beziehung bald tiefgreifende Veränderungen geben würde.
Sein achtzehnter Geburtstag, den er vor fünf Monaten mit ihr gefeiert hatte, sollte auch der letzte sein, denn er wurde zum Wehrdienst eingezogen.
War er einmal ein paar Tage auf Urlaub, konnten sie sich nur kurz sehen. So ging das achtzehn lange Monate.
Nachdem er aus der Armee entlassen wurde, führte ihn einer seiner ersten Wege zu ihr. Sie begrüßte ihn wie immer. Doch irgend etwas war anders. Er spürte es. Die Umarmung war irgendwie distanzierter, der Kuss leidenschaftslos und kühl. Was war geschehen ?
Sie hatte einen anderen Mann kennen gelernt, wollte sich von ihm trennen. Für ihn brach in diesem Augenblick eine Welt zusammen. Damit hatte er überhaupt nicht gerechnet.
Doch sie trennten sich als Freunde.
Von seiner Cousine erfuhr er hin und wieder, wie es ihr ging, was sie machte usw., sprach aber nie selbst mit ihr.
Als sie nun nach mehr als dreißig Jahren wieder vor ihm stand, kamen die Erinnerungen zurück.
Wie oft hatten sie zusammen im Gras gelegen und Luftschlösser gebaut. Gern denkt er an die gemeinsamen Stunden in den dunklen Reihen des Kinosaales, an die leidenschaftlichen Küsse und Berührungen. Ihr Glück schien damals unzerstörbar. Wie ein Film lief alles in Sekunden vor seinen Augen ab.
Sie stand noch kurze Zeit vor ihm, und schaute in seine Augen. Ohne ein Wort zu sagen, verließ sie ihn. Betroffen schaute er ihr hinterher, wollte rufen, sie zurückhalten. Ehe er zur Besinnung kam, verschwand sie in der Menschenmenge der Stadt.
Irgendwie hatte er den Eindruck, das sie sehr unglücklich war. Eine Last schien ihren Körper, der immer noch klein und zierlich war, zu erdrücken. Seine Ahnung sollte sich als richtig erweisen.
Seine Cousine teilte ihm Tage später mit, dass ihre Freundin nach langer schwerer Krankheit dieser nichts mehr entgegenzusetzen vermochte und den Kampf, den sie jahrelang führte, verloren hatte.
So wurde aus dieser Begegnung ein Abschied ohne Wiederkehr.
Texte: Günter Schulze
Bildmaterialien: Free Images
Cover: Free Images
Tag der Veröffentlichung: 19.12.2017
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