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Die Offenbarung, Kurzgeschichte


Die Offenbarung


Er traf ihn plötzlich. Schräg, von unten, so dass er nicht ausweichen konnte. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel, drang er in sein Innerstes.
Immer wieder hatte er versucht, dieser Situation aus dem Wege zu gehen, was ihm auch bis zu diesem Moment immer gelang.
Doch nun ist es geschehen. Er musste reagieren. Doch wie? Was sollte, ja was musste er tun? Noch nie war er in so einer Lage.
Es kam ihm vor, als würde er den Boden unter den Füssen verlieren. Er fühlte sich hilflos und ausgeliefert. Jetzt durfte er keine Schwäche zeigen. Er nahm allen Mut zusammen.“Wenn ich es schon nicht ungeschehen machen kann, dann werde ich mich mit allen mir zur Verfügung stehenden Kräften wehren“.
Noch etwas unsicher, erwiderte er den Blick, den sie ihm zugeworfen hatte. Sie wich ihm nicht aus und er dachte: „Es ist ja gar nicht so schwer“. Noch umgab er sich mit einer unsichtbaren Mauer. Nach und nach verlor er seine Scheu und es entwickelte sich ein offenes und ehrliches Gespräch.
Sie arbeiteten nun schon so lange an einem gemeinsamen Projekt.
Und plötzlich und unerwartet, öffnete sie Ihr Herz und ließ einen tiefen Blick in ihre aufgewühlte Seele zu. „Was musste sie gelitten haben“ dachte er. Nie war ihm aufgefallen, dass ihre fruchtbare Zusammenarbeit, die sich so leicht und selbstverständlich gestaltete, von stetig stärker werdenden Gefühlen für ihn belastet wurde. Wie Schuppen fiel es von seinen Augen. War er so blind gewesen, wollte er sich dieser Situation einfach nicht stellen?
Nie hatte er ihr in irgend einer Weise zu verstehen gegeben, dass er doch mehr für sie, als ein kollegiales Verhältnis, empfand.

Auch in diesen, einen Gespräch, offenbarte er sich ihr nicht. Er war verheiratet, hatte Kinder und nicht vor, seine Ehe aufs Spiel zu setzen.“Ich werde meine Beziehung nicht für einige flüchtige Stunden oder Momente opfern“ sagte er zu ihr. Die Reaktion auf seine Worte überraschte ihn doch etwas.
Sie schien diesem Umstand sehr viel Bedeutung beizumessen.
Er hatte das Gefühl, dass seine Äußerung von ihr mehr als nur positiv gewertet wurde. „Mir ist ein Mann lieber, der Charakter
besitzt und nicht immer und überall seine Männlichkeit unter Beweis stellen muss“, sagte sie. Ihren Worten entnahm er eine gewisse Bitternis und Enttäuschung. Nach und nach erzählte sie ihm von ihrem 25 Jahre dauernden Eheleben, mit Höhen und Tiefen, unvergessenen Glücksmomenten und tragischen Stunden. „Gerade als ich mein Kind bei einem Verkehrsunfall verlor, ließ mich mein Mann im Stich“, sagte sie. Betroffen sah er, wie eine kleine Träne aus ihrem Auge rollte. Sie gab sich keine Mühe, die Tränen zu unterdrücken. Eine Weile herrschte bedrückendes Schweigen. Auf einmal hatte er er den Wunsch, sie einfach in die Arme zu nehmen. Nur mühsam konnte er dem Verlangen widerstehen.

Im Raum herrschte eine eigenartige Stimmung. Er spürte, dass ihre Erregung langsam nachließ und die Atemfrequenz sich normalisierte.
Noch etwas benommen von ihren Schilderungen, nahm sie das Gespräch wieder auf.
Wie gut konnte er sie verstehen, hatte er doch am eigenen Leib erfahren müssen, dass das Leben mitunter ungerecht und grausam sein kann.
Der Nachmittag neigte sich dem Ende entgegen. In ihrem Gespräch ging es jetzt nur noch um Belanglosigkeiten. Immer noch beschäftigt, die neue Situation zu verarbeiten, wollte er sich von ihr verabschieden.
Sie umschloss seine Hand, die er ihr reichte, mit ihren beiden Händen und führte sie mit leichtem Druck an ihre Wange. In dieser Geste lag so viel Sehnsucht und Wärme. Es schnürte ihm die Kehle zu. Kein Wort kam zum Abschied über seine Lippen. Bestürzt und erschrocken, verließ er den Ort des Geschehens.

Ende.



Impressum

Texte: Günter Schulze
Bildmaterialien: BookRix
Tag der Veröffentlichung: 17.11.2017

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