Cover

Prolog

Wäre mir an jenem Morgen der Zugang verwehrt geblieben: So hätte ich niemals meine geliebte Nebenrolle antreten können, so hätte ich mir keine riesige Narbe mitten im Gesicht zugezogen, ich hätte Crispin nie näher kennengelernt und vor allen Dingen wäre ich nicht in jener Nacht entführt worden.

Was aber schlimmer ist, ist die Tatsache meine Gefühle nicht unter Kontrolle halten zu können. Eine langzeitige Schwäche, der ich schon immer erlegen war. Sobald man mir charmant, fürsorglich und teils auch liebevoll erscheint, so flattern mir unzählige Schmetterlinge in der Magengegend herum.

Sie unterdrücken? Ihnen entkommen?

Fragen suchen Antworten. Antworten, die aber nicht immer sofort zur Verfügung stehen. Also heißt es: sich den Fragen unwiderruflich zu stellen, ganz gleich, was dabei herauskommen mag. 

Vorfreude

Schneller!

Los, du musst schneller!

Allmählich bildete sich Schweiß auf meiner Stirn, als ich um die letzte Ecke bog und meinem Ziel entgegen hastete. Meine Füße flogen über die schwarz–graue Asphaltstraße, wobei ich höllisch aufpassen musste, nicht doch noch kurz vor knapp den Boden mit meinem ganzen Körper schmerzlich zu begrüßen.

Schneller!

Du hast keine Zeit mehr!

Befahl ich meinem schon erschöpften Körper. Dennoch versuchte ich ihn schneller voranzutreiben, was mir letztendlich auch gelang. Das ersehnte Ziel vor Augen beschleunigte mich ungemein und ich kam endlich dort an, wo ich schon vor gut einer dreiviertel Stunde zu sein hatte.

»Name?«, begrüßte mich ein älterer Herr, dessen Haar grau und die Stirn in Falten gelegt.

»Hunt, Tjara Hunt«, japste ich.

Ganz außer Atem stützte ich mich mit einer Hand am weiß lackierten Pförtnerhäuschen ab. Während der Herr vor mir wild auf der Tastatur eines älteren PCs herumtippte, schnaufte ich erst mal kräftig durch.

»Sie sind zu spät!«

»Ja ich weiß, aber können sie keine Ausnahme machen? Vor mir ist eine ältere Dame in Not geraten. Ich …«, da unterbrach mich der grimmig dreinschauende Herr auch schon.

»Jaja eine Wohltäterin also«, prustete er los und grinste mich spöttisch an.

In Gedanken hörte ich ihn schon sagen: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Doch es kam anders, als erwartet.

»Gebäude C, hinten rechts.«

Ich strahlte über beide Ohren, nachdem er mir mit diesen Worten den geliebten Aufenthaltsausweis überreichte.

»Danke, vielen Dank, Dankeschön«, quietschte ich freudig.

»An ihrer Stelle würde ich mich beeilen, denn in zehn Minuten geht es da auch schon los«, drängelte er mich, zurecht.

Den ganzen Weg hierhin sah ich mich schon wieder nach Hause gehen. Am ersten Tag der fünftägigen Drehtage zu spät zu erscheinen, war so ganz und gar keine feine Art seiner Schauspielkarriere auf die Sprünge zu helfen.

Ich konnte von Glück reden, dass ich, dank der Castingphase den Weg zum Gebäude C, in dem die Serie zum Teil gedreht wurde, gut kannte. Wieder einmal rannte ich um mein Leben. Mit schwerem Gepäck auf dem Rücken leichter gesagt, als getan. Die letzten Kraftreserven wurden angefacht und ich stolperte letztendlich ungewollt in Gebäude C hinein.

Blicke fremder Personen galten sofort mir, welche ich ihnen nicht verübeln konnte. Sie sahen mich skeptisch und musternd zugleich an. Doch wenige Sekunden später begaben sie sich wieder an ihre Arbeit und vergaßen meine Wenigkeit.

»Wo ist sie? Sie müsste doch schon längst hier sein! Wo soll ich denn jetzt noch Ersatz herkriegen?«, schimpfte ein schlaksiger Mann Mitte der Vierziger.

»Ich, ich weiß es auch nicht«, kam es bekümmert aus einer kleinen zierlichen und gekrümmten Frau heraus.

Auf Schritt und Tritt folgte sie dem Mann, dessen suchender Blick durch das Gebäude glitt. Wen er suchte, vermachte mir eine dicke Gänsehaut.

»Weiß einer wo … Wie heißt sie noch?«, richtete er die Frage an sein kleines Anhängsel, die prompt stotternd antwortete.

»Tjara, Tjara Hunt.«

»Weiß einer von euch, wo Fräulein Hunt ist?«, seufzte er theatralisch.

Die dicke Gänsehaut, die sich von den Zehen hoch zu den Haarspitzen zog, bestätigte mir abermals, dass ich die Gesuchte war. Natürlich musste ich wieder einmal diejenige sein, nach der man vergebens suchte. Wie nicht anders von mir gewohnt, da mir regelrecht der Zeitmangel, den ich förmlich gepachtet hatte, an den Nackenhaaren knabberte. Ich kam selbst als Trauzeugin auf der Hochzeit meiner älteren Schwester zu spät.

»Sind sie Tjara Hunt?«, holten mich die Worte wieder in die Realität zurück.

Nickend sah ich die zierliche Frau, auf dessen Namensschild – Juliane stand, an.

»Sie sind zu spät!«, beklagte auch sie sich über mein Zuspätkommen.

»Es tut mir leid …«, entschuldigte ich mich flüsternd.

»Ich habe …« und wieder wurde ich unterbrochen.

»Schnell in die Maske! Das Drehbuch kennen sie?«, fragte Juliane mich zögernd, als hätte sie Angst vor mir.

Vor mir?

Man brauchte sich definitiv nicht vor mir ängstigen. Ich zerschlug nicht mal eine kleine Spinne, die sich in meine eigenen vier Wände verirrt hatte. Mit einem, mit Zeitungspapier verschlossenen Glas gab ich der Natur zurück, was sie mir in´s Haus gebracht hatte. Demnach würde ich der jungen Frau vor mir kein Haar krümmen wollen. Doch ich konnte mir schon denken, woher ihre Ängstlichkeit kam.

»Sind wir nun soweit? Ich will heute noch nach Hause!«, hallte es durch den hochgezogenen Raum und, obwohl man ihn nicht sah, wusste man sofort, wem die kraftvolle Stimme gehörte.

»Schnell!«

Und schon schob sie mich in Richtung der Maske. Nachdem ich die Räumlichkeit betrat, in der sich zwei Frauen und ein Mann befanden, wurde ich auch schon aus meiner Kleidung gepellt und in kamerataugliche und Seriengemäße Kleidung geschmissen. Eine schwarze Röhrenjeans, ein dunkelrotes Top und High Heels mit mindestens zehn cm Absätzen.

Zum Schluss, nach all dem Schminken und dem Haare Stylen, quetschte man mich noch in einen schwarzen Lederbolero und das Outfit war vollendet. Nicht nur ich strahlte, wie ein Honigkuchenpferd, auch die Stylisten waren mit ihrem Werk vollstens zufrieden.

»Danke«, bedankte ich mich handschüttelnd bei allen Dreien, die mich traumhaft schön hergemacht hatten.

»Nun los und hab viel Spaß«, sprachen sie aus einem Munde.

Spaß würde ich definitiv haben!

Glücksgefühle breiteten sich in mir aus, wobei man mir meine Vorfreude nicht mehr hätte stehlen können. Seit Wochen freute ich mich so wahnsinnig darauf, endlich hier sein zu dürfen. Die Arbeit vor der Kamera war ich schon durch kleinere Auftritte gewohnt gewesen, aber bei der Serie zu arbeiten, von der man von der ersten Episode an Fan gewesen war, ist einfach unbeschreiblich wundervoll.

Leicht hüpfend lief ich entlang eines endlos erscheinenden Ganges, bis ich dort ankam, wo ein riesiges – Ruhe! Es wird gedreht! Schild mich begrüßte. Fortan benahm ich mich wieder professionell und gesellte mich zu der Gruppe, dessen Leute ich durch die Castingphase her kannte.

»Hi«, begrüßte ich zwei Mädels, die wie ich, einer der begehrtesten Nebenrollen ergattert hatten.

»Hey, da bist du ja endlich!«, begrüßte mich die Kleinere der beiden und nahm mich in eine herzliche Umarmung.

Wir unterhielten uns leise flüsternd eine ganze Weile, bis wir unseren ersten Einsatz einer bösartigen Vampirclique hatten. Wir streiften ausgehungert durch ein hergestelltes Waldstück auf der Suche nach menschlicher Nahrung. Text brauchten wir daher noch nicht, was die Dreharbeiten schnell vorantrieben.

Nachdem wir die ersten Szenen schneller im Kasten hatten, als ich mir wünschte, machten wir allesamt eine kurze Pause. Ich verzog mich dabei mit den zwei Mädels nach draußen und genehmigte mir eine eiskalte Falsche Wasser, während die Beiden sich einen grässlichen Glimmstängel hineinzogen.

 

Der Tag hätte für mich nicht besser laufen können. Der anfängliche Stolperstart wegen des späten Erscheinens vergaß man abrupt als das Wort …

»… Action!«, gerufen und die Kamera auf uns Schauspieler gerichtet wurde.

Doch mehr freute ich mich in diesem Moment auf die nächste Szene, welche gedreht werden musste. Ein bedeutender Augenblick in meinem Leben. Ich würde endlich meinem Lieblingsschauspieler der Serie gegenüberstehen und mit ihm die nächste Szene vor der Kamera abspielen. Es gab in meinem Fall keine Aufwärmphase, in der man sich mit den Hauptfiguren auf die schauspielerischen Momente einstellen konnte. Man vergab mir den letzten Nebendarstellerplatz kurz vor den Dreharbeiten, somit aufwärmen unmöglich.

»Pausenende!«, rief ein junger Mann durch die Türe nach draußen.

Mein Herz schlug schlagartig doppelt so schnell, als zuvor noch. Was mir gerade noch durch den Kopf ging, wurde jetzt mit einem Male wahr. Ich würde vor ihm stehen und …

Oh Gott!

Mich packte sofort die Nervosität, was mich wie auf Wackelpudding laufend, in´s Gebäude reinschlurfen ließ. Ich hatte Panik ihm gegenüberzutreten, aber insgeheim freute ich mich wie ein kleines Kind an Weihnachten auf diesen Moment. Jetzt würde ich ihn endlich kennenlernen, was Besseres hätte mir nicht passieren können.    

Nervosität

Du schaffst das!

Panik breitete sich immer mehr in mir aus. Mein Körper zitterte wie Espenlaub und meine Hände fühlten sich schwitzig an. Mal ganz abgesehen von meinem immer rasanter werdenden Herzschlag.

Das pochende Herz schlug mir wild gegen die Brust und schnürte mir immer wieder die Atmung ab. Normal atmen war nur noch ein Luxusgut, welches ich mir sparsam einteilen musste. Ich atmete ein, ich atmete aus. Stoßweise zischte der verbrauchte Sauerstoff durch meine Zähne hindurch.

Du schaffst das!

Jegliche Aufmunterung schlug in´s Gegenteil um. Sie bauten mich nicht mehr auf, sie verunsicherten mich immer mehr. Jeder Schritt, der mich vorantreiben sollte, brachte mich zwei Schritte zurück. Und das sah man mir auch an. Die Crew versammelte sich, während ich mich immer mehr von ihnen entfernte.

Da vorne ist dein Ziel!

»Kopf, sei endlich ruhig!«, flüsterte ich genervt und hielt dabei die Schläfen beidseitig mit meinen Händen fest.

»Ruhe!«, fügte ich mit Nachdruck hinzu.

»Ich habe doch noch gar nichts gesagt?!«

Abrupt erschrak ich und schaute verwirrt rechts neben mich.

»Was?«, gab ich ungewollt pampig zurück.

»Du sagtest: Ruhe! Obwohl ich noch nichts gesagt hatte. Ich wollte, aber auch irgendwie nicht«, sprach eine sanfte Männerstimme.

Verwirrt und fragend sah ich mein Gegenüber an. Seine funkelnden Augen durchbohrten mich, sein warmer Atem liebkoste meine scheinbar kalte Wangenhaut und seine strahlenden weißen Zähne blendeten leicht.

»Äh?!«, zu mehr war ich nicht fähig.

Wovon spricht er da?

»Auf eure Plätze. Los, los!«, rief der Regisseur gereizt und klatschte dabei heftig in seine kräftigen Hände.

»Wow, welche Laus ist dem den über die Leber gelaufen?«, kam es ungewollt aus mir heraus.

»So ist er nun mal. Anders kenne ich ihn nicht.«

»Kennst du ihn?«, stellte ich ihm auch sogleich die Frage.

»Mein Vater«

Abrupt bildete sich ein überdimensionaler Kloß in meinem Hals. Sprechen unmöglich, stattdessen schaute ich verlegen in eine völlig andere Richtung. Mir stieg die Röte in´s Gesicht und ich schämte mich zutiefst.

 

»Tut mir leid«, sprach ich nach einer gefühlten Ewigkeit so leise, sodass selbst ich Schwierigkeiten hatte, meinem Gemurmel zu folgen.

»Schon ok, das mag ich auch nicht an ihm«, flüsterte er mir breitgrinsend zu.

»Ich bin Damien«

»Tjara«

»Nett dich kennenzulernen«, sprach er sanft und hielt mir eine Hand hin.

»AUCH DIE LETZTEN SCHLAFMÜTZEN WERDEN GEBETEN ZU ERSCHEINEN!«, schallte es vom Regisseurssitz aus.

Ich zuckte merklich zusammen, wobei sich mein Körper mit einer unangenehmen Gänsehaut überzog.

»Ich …«, sagte und zeigte zugleich in Richtung des Filmsets.

»Wäre besser«, sprach er kopfnickend.

Schnellen Schrittes ließ ich den schämenden Moment mit dem freundlichen, aber fremden Damien hinter mir und widmete mich voll und ganz wieder meiner eigentlichen Arbeit. Ein letztes Mal schaute ich zurück und wurde liebevoll angelächelt. Ich fragte mich aber keineswegs wer er war und besonders woher er kam. Der Sohn des Regisseurs reichte mir derzeitig vollkommen aus.

 

Ich stand nun abermals vor der Kamera und wartete geduldig darauf, dass Action gerufen würde. Doch es blieb aus. Der suchende Blick all derjenigen, die sich hinter der Kamera befanden, ließen mich fragend inmitten einer Gruppe junger Schauspieler stehen. Auch ich sah mich um, bis mein Blick standhaft an einer Person hängen blieb.

»Ist der feine Herr auch soweit?«, fragte der Regisseur den ankommenden Traum aller schlaflosen Nächte – meiner schlaflosen Nächte.

Nickend ging der Ankommende an dem grimmig dreinblickenden Regisseur vorbei und gesellte sich schlussendlich zu uns. Die Gruppe, in der ich gerade noch mittendrin stand, verzog sich urplötzlich auf ihre Standplätze. Eine Handvoll von ihnen stand hinter mir und die restlichen verteilten sich auf die rechte und linke Seite. Jedoch stellten sich alle einen guten Meter von mir entfernt weg.

Zwar wusste ich genau, welche Szene nun dran war, doch erschreckend beängstigend kam mir die Entfernung derer schon vor. Als würde man mich nicht mögen, als wäre ich eine Außenseiterin, als wäre ich der Mittelpunkt der Erde. Einzig er blieb standhaft vor mir stehen.

 

»Hey«

Ich spürte förmlich seine liebvolle Art auf mir, welche mein Herz abrupt in meine Hose rutschen ließ.

»He …,Ha …,Hu …«

Nicht in der Lage auch nur ansatzweise eine Form des Hallo - Sagens herauszukriegen. Er raubte mir regelrecht meine Sinne, meinen Verstand und ganz besonders meine sprachliche Kommunikation.

Perplex sah er zu mir herab, wobei sich seine Augenbrauen zu einer geraden Linie verzogen. Ich war schon mit meinen 1,75 und zehn Zentimeter Absätzen eine große Persönlichkeit, doch er überragte mich dennoch mit nur kleinen, aber sichtbaren fünf Zentimetern.

»Genug Blickkontakt! Es geht jetzt los! …«, rief eine raue Stimme und fügte noch ein »… und Action«, hinzu.

Meine Knie gaben sofort nach und mein Körper zitterte abermals wie Espenlaub. Jetzt war es an die Zeit gekommen, mit ihm, meinem Lieblingsschauspieler die nächste Szene zu drehen. Die Nervosität stand mir womöglich in Leuchtbuchstaben auf der Stirn geschrieben, weshalb man sich auch sofort nach meinem Befinden erkundigte.

»Alles okay?«

»Crispin es tut … Ich weiß auch ni … Es geht ni …«, stotterte ich halbausgesprochene Sätze.

Jetzt konnte er mich erst recht für verrückt erklären. So hatte ich mir die erste Begegnung mit ihm nicht vorgestellt gehabt. Trotz alldem lächelte er leicht verzückt und übermittelte mir so, dass ihm bislang meine Nervosität nicht zustören scheint.

»Ich war auch am ersten Tag nervös, das ist normal. Atme mal kräftig ein, schließ deine Augen und denk an ein besonderes Ereignis in deinem Leben.«

Samtweich streichelten seine Worte meine Seele, aber beruhigten mich keinesfalls. Ein Versuch war´s mir dennoch wert, dass zu machen, was er mir anriet. Ich schloss meine Lider, vergaß für einen klitzekleinen Moment alles andere um mich herum und atmete tief ein und aus, tief ein und aus. Während ich das tat, dachte ich über ein besonderes Ereignis in meinem Leben nach.

Ein sommerlicher Abend. Die letzten Sonnenstrahlen liebkosten meinen schmächtigen Körper und im Hintergrund zwitscherten leise die Vöglein am Horizont. Eine milde, aber erfrischende Brise wehte um meine Ohren und ließen einige meiner rot – braunen Haarsträhnen tänzeln. Ich richtete meine Augen gen des dunkler werdenden Himmels und erblickte binnen weniger Sekunden später traumhaft wundervolle rehbraune Augen. Ein Lächeln umspielte nicht nur meine Lippen, aus die seiner. Wir sahen einander lange an, bevor wir in einem innigen und leidenschaftlichen Kuss verfielen.

Mein langjähriger Seelenverwandter Tyron, dessen Leben schneller genommen wurde, als es überhaupt zu leben begann.

Eine wundervolle Erinnerung: Der erste richtige Kuss mit einem Menschen zuteilen, den man mehr als sein eigenes Leben vergötterte. Aber auch eine traurige Erinnerung, mit dessen Konsequenzen ich immer noch nach gut drei Jahren innerlich zu kämpfen habe. Äußerlich hingegen lasse ich es mir nicht anmerken, welches Gefühlschaos durch den frühen Tod meines Freundes tief in meinem Inneren herrscht. Schwächen zeigen in dieser Branche, wäre keine so gute Idee. Dennoch schmerzt es sehr und sticht wie tausend Nadelstiche in mein Herz. 

 

»KÖNNEN WIR JETZT ENDLICH? MAN, MAN, MAN«, beklagte sich mal wieder der Regisseur und holte mich somit grob wieder in die Realität zurück.

Dessen schlechte Laune schlug sich so langsam auf unser aller Gemüt, was mich persönlich auch die Erinnerung allmählich vergessen ließ. Die Nervosität hingegen steckte mir weiterhin in den Knochen. Sie verdrängen erschien mir derzeitig unmöglich, auch wenn ich weiterhin versuchte gedanklich bei meinem verstorbenen Freund Tyron zu sein. 

kleines Autsch

Nach gut einer Stunde des verzweifelten Versuches die Kampfszene Gut gegen Böse abzudrehen, machten wir schließlich abermals eine Pause, was natürlich dem Regisseur gar nicht gefiel. Doch auch er hatte eine längere Pause dringend nötig, sonst wäre ihm womöglich noch die Hutschnur geplatzt.

Verärgert lief dieser auf direktem Wege nach draußen, aber selbst dort hörte man ihn noch lauthals fluchen. Mein Weg hingegen ging in die naheliegende Kantine, dessen Richtung ich erfragen musste. Eine der lieben Kamerafrauen, dies kam mir auch das erste Mal vor, zeigte mir freundlicherweise, wohin ich laufen musste. Dankbar nickte ich ihr zu und lief genüsslich, aber alleine dorthin.

Schnell war mein Tablett mit allerei Leckereien gefüllt. Einen Salat, ein wenig schnibbel Obst und Gemüse mit diversen Dip–Soßen und auch ein Schokoriegel, welcher nicht fehlen durfte. Eine Sünde, die ich mir gerne für den Schluss aufhob.

Ich ergatterte zum Glück noch einen der wenigen freien Plätze am Fenster und genoss jeden Bissen, den ich mir in den Mund schob. Ich aß die Leckereien gerne, aber auch deftiges Essen liebte ich sehr. Auch Fast Food gehörte zu meinem Leben, welches ich mir meist wegen Zeitmangel notdürftig in den Magen schob.

Während ich aß, sah ich immer wieder nach draußen. Vom wütenden Regisseur war weit und breit nichts mehr zu sehen, geschweige zu hören, stattdessen erblickte ich freudig, wobei mein Herz wieder anfing zu rasen, Crispin. Ein wundervoller Schauspieler, der auf Anhieb seine Arbeit vor der Kamera beherrschte.

Viele der Nebendarsteller und auch meine Wenigkeit sind das genaue Gegenteil. Wir sind verplant, stehen oft an falscher Stelle, vergessen abrupt unsere wirklich kurzen Texte oder hängen dem Zeitplan hinter, weshalb jede Szene mindestens fünfmal wiederholt werden musste.

»Na schmeckt´s?«

Ich verschluckte mich abrupt an einem Stück Paprika, von der ich gerade abgebissen hatte. Hustend rang ich nach Luft, wobei ich mir immer wieder mal auf die Brust schlug.

»Oh, das wollte ich nicht. Das tut mir so leid«, kam es von links.

»Schon okay«, gab ich röchelnd von mir.

Sanft wurde mir auf den Rücken gehauen, was mir nach einer gefühlten Ewigkeit später endlich Abhilfe verschaffte.

»Geht´s wieder?«, wurde ich liebevoll gefragt.

Ich hustete noch ein wenig, aber so langsam ging es mir wieder besser und ich konnte meinem Retter in der Not leicht zu nicken.

Retter in der Not? Hätte er mich nicht erschreckt, wäre das erst gar nicht passiert!

Meine innere Stimme hatte an so manchen Tagen ihren eigenen Kopf und sprach das genaue Gegenteil, wie auch in diesem Falle. Na gut, auf einer Seite hatte sie ja recht. Hätte er mich nicht so erschreckt, hätte ich mich nicht verschluckt und würde weiterhin aus dem Fenster schauen. Aber warum musste ich auch so schreckhaft sein? Dafür gab es doch gar keinen Grund?! In diesem Fall hatte sie wiederum unrecht. Doch wie man es machte oder auch dachte, man machte es grundsätzlich falsch.

»Damien?!«, sprach ich stotternd, da ich ein letztes Mal laut aufhusten musste.

»Hey«, begrüßte er mich, wobei er ab und an verschämt wegsah.

»Hi«, gab ich freundlich zurück.

»Es tut mir wirklich …«

»Schon okay, kann passieren. Ich bin auch teils daran schuld: Warum muss ich auch so schreckhaft sein?!«, lachte ich verschmitzt.

Wir sahen einander immer wieder mal an, sahen auch wieder weg, doch die Stille, die uns umgab, war trostlos und leer. Als wären nur wir in diesem tristen und kargen Katinenraum allein, wobei uns doch eine Menge fremder Menschen umgaben.

»Magst …, magst du dich zu mir setzen?«

»Gerne, wenn ich darf?«, beantwortete er mir schmunzelnd meine Frage mit einer Gegenfrage.

Ha Scherzkeks!

Mit einer winkenden Handbewegung lud ich ihn ein neben mir Platz zu nehmen, welche er freudig annahm. Ich fühlte mich binnen weniger Sekunden später auf Anhieb gut unterhalten und vergaß rasch, was alles um mich herum geschah und wo ich mich eigentlich befand. Selbst sein mürrischer Vater geriet in Vergessenheit.

»Mein Vater hat mich gebeten, in seine Fußstapfen zu treten. Er lernt mich gerade an, sozusagen.«

»Große Fußstapfen, in die du treten musst. Ob du da auch hineinpasst?«

Sogleich lachten wir beide auf und hielten Minuten später unsere Unterleiber fest. Unsere vorhandenen oder in meinem Fall eher nicht vorhandenen Bauchmuskeln wurden auf´s Äußerste strapaziert und schmerzten, zumindest bei mir, unangenehm sehr. Es zog und zippte überall. Dennoch fühlte ich mich wohl, obwohl ich ihn gerade erst kennengelernt hatte.

»Ja da hast du womöglich recht. Einfach wird es nicht sein«, gab er lachend von sich.

Ich kannte ihn nicht. Ich kannte weder seine Gegenwart, besonders seine Vergangenheit nicht. Doch er hatte etwas an sich, was mir gefiel, was mich wohlfühlen ließ.

»Hast du nicht mal Lust …, ähm …«

Seine angefangene Frage schreckte mich sofort ab.

Hast du nicht mal Lust …?

Verhieß nichts Gutes. Entweder wollte er mit mir etwas unternehmen, essen gehen oder …, ähm, etwas unternehmen?! Jedoch seit jener Nacht, nachdem ich die schreckliche Nachricht über den Tod meines geliebten Freundes Tyron erfuhr, verschloss sich mein Herz jeglicher Verabredungen. Ich konnte es einfach nicht mehr, obgleich Gefühle im Spiel waren oder eben nicht. Es ging nicht.

»Ähm …, ich glaub ich muss wieder zum Set. War eine nette Unterhaltung. Danke«, sagte ich und stand prompt auf.

Unverzüglich nahm ich mein leeres Tablett, wovon auch er geknabbert hatte und entfernte mich schnellst möglichst.    

»Hey warte doch«, rief Damien und lief mir auch schon hinterher.

Bevor ich jedoch die Doppeltüre passieren konnte, packte er mich auch schon sanft am Arm und zog mich wieder in die Kantine hinein.

»Ich hatte doch noch gar nichts gesagt! Ich wollte, auch irgendwie nicht.«

Hatte er dafür ein Tonband? Das hatte er doch schon mal gesagt, so ungefähr zumindest.

»Zwar nicht ganz, aber gesagt hattest du schon etwas, zumindest die Hälfte. Den Rest konnte ich mir dann dazudenken«, ruhig und gelassen sprach ich, doch irgendwie war ich auch aufgewühlt, als hätten mich unzählige Hornissen aufgescheucht.

Innerlich wollte ich ihm keinen Korb verpassen, zumal wir uns gerade gut verstanden hatten, äußerlich tat ich es trotzdem.

»Es war wirklich nett mich mit dir zu unterhalten. Ich habe auch gerne gelacht, aber …«, ich legte eine Pause ein, fügte aber schlussendlich ein »… es tut mir leid«, hinzu.

Mit diesen Worten ließ ich ihn fragend stehen, berechtigt, aber erklären warum, das konnte ich einfach nicht. Keiner sollte meine Vergangenheit erfahren, besonders kein Fremder. Und das war Damien für mich nun mal – ein Fremder.

Tief in meinem Inneren wusste ich genau, dass eine Abfuhr schmerzte. Das war ich mir voll einst bewusst, letztendlich ließ es mich kalt, wie ein Gletscher in der Antarktis. Ich fühlte weder ein schlechtes Gewissen, noch Reue. Es musste so geschehen! Mein Herz abermals an einen Mann zu verlieren, wollte ich trotz meiner jungen Jahre nicht. Der letzte Verlust kam mir vor, als wäre es erst gestern geschehen.

Schnell lief ich gedankenverloren zurück zum Set und unterdrückte das Gefühlschaos in mir drin. Natürlich ließ es mich nicht ganz kalt, so ein gefühlsloser Mensch war ich nun auch nicht, aber derzeitig ging ich mit meinen Gefühlen behutsamer um, wie vor gut drei Jahren noch.

großes Autsch

»Auf Anfang, bitte!«, rief uns der Regisseur dieses Mal gelassener zu, obwohl man seine Stirnader immer noch deutlich erkennen konnte.

Wow, hatte er sich wieder fangen können? Ein Wunder!

»Ich bitte um volle Konzentration«, fügte er noch hinzu und sah uns alle ermahnend an.

Jetzt war es soweit. Ich konnte mich nicht mehr drücken, denn die Kampfszene musste mit absoluter Sicherheit heute noch in den Kasten, ob ich wollte oder nicht. Demzufolge machte ich mich körperlich bereit und hangelte mich auf einen festfixierten Baumast, welcher mit einer Stahlkonstruktion verstärkt wurde.

Wenig später, nachdem uns der Regisseur den Szenenstart andeutete, bogen Crispin und dessen Serienpartnerin um die Ecke einer efeubewachsenen Häuserkulisse. Glückselig schlenderten sie Hand in Hand über den Bordstein und erfreuten sich der Zweisamkeit. Jedoch wurde ihre idyllische Liebschaft binnen weniger Sekunden von uns bösartigen Vampiren unterbrochen.

Fauchend sprangen wir aus den düstersten Ecken empor und blockierten ihren Weg. Alles vom Regisseur und dem Drehbuch gewollt, jedoch hätte ich die Szene anders verlaufen lassen. Kleine Grüppchen, die nach und nach zum Vorschein traten und zum Schluss, na ja, eben ich als sogenannte Anführerin.

Wir zückten abrupt unsere geschärften Reißzähne und streckten unsere Krallen dem Pärchen entgegen. Erschrocken fuhr das junge Mädel zusammen und begab sich hinter dem kräftig gebauten und hochgewachsenen Crispin.

Was für ein Leckerli mit seinen haselnussbrauen, gegelten Haaren, seine sternenraubenden klaren blauen Augen und sein atemberaubendes Grübchenlächeln …

»CUT!«

Mein Herz raste unglaublich schnell, als das Wort meine zarten Ohren berührte. Doch dieses eine unverkennbare Wort riss mich schlagartig aus meinen Gedanken.

»Cut, Cut, Cut …«, wurde es wiederholt.

»Was ist denn jetzt schon wieder mit ihnen los?«

Seine klackernden Schritte hallten und wenn man seine Augen geschlossen hätte, so hätte man gut annehmen können eine Frau mit High Heels wäre ihren Weg fortgeschritten. Doch es war letztendlich nur der genervte Regisseur, dessen Namen ich mir beim besten Willen nicht merken konnte.

»Und?«, rief er mir schulterzuckend zu.

Was war denn jetzt schon wieder? Stand ich falsch? Sollte ich später springen? Was wollte er von mir?

Ich setzte eine fragliche Miene auf, die aber zugleich auch entschuldigend aussehen sollte, für den Fall etwas falsch gemacht zu haben.

»Wenn sie so weiter machen …«

»Es ist ihr erster Tag, seien sie nicht so streng mit ihr«, unterbrach Crispin, den stark riechenden Mann vor mir.

Eine Mischung aus Schweiß und einer leichten Alkoholfahne wehte mir um die Nase. Es roch so unangenehm ekelerregend, sodass sich mein Körper mit einem Schauer überzog und eine aufsteigende Übelkeit mir die Kehle hochkroch. Jedoch versuchte ich sie verzweifelt zu unterdrücken, was nicht gerade einfach vonstattenging. Äußerlich hingegen ließ ich mir meinen inneren Kampf nicht anmerken.

»Erster Tag, erster Tag, was für ein Quatsch! Sie muss von der ersten Sekunde an voll bei der Sache sein, sonst hat sie in der Branche schlechte Chancen«, giftete er und fuchtelte wild mit seinen Händen vor mir herum.

»Vater sei nicht immer so streng«, mischte sich auch noch dessen Sohn Damien ein.

Oh Gott, was mach ich denn jetzt? Es geht um meinen Kopf?

»Es …, es tut mir leid!«, entschuldigte ich mich kleinlaut.

»Ich werde mich jetzt voll konzentrieren«, sagte ich, wobei mein Unterton schlackerte.

Eine beängstigende Stille trat ein. Keiner sagte auch nur ein einziges Wort oder bewegte sich nur einen Millimeter. Mein letztes Wort brachte alles zum Stillstand.

Minutenlang stand für mich die Welt still, was mir innerlich eine Heidenangst einjagte. Hier ging es nun mal um mich, um meine Persönlichkeit und besonders um meine Karriere, die momentan einen kleinen Tiefpunkt erreichte. Doch irgendwann unterbrach urplötzlich die raue Stimme des Regisseurs, die unangenehme Stille.

»Konzentration ist das A und O und das erwarte ich von euch allen hier!«, sprach er jedes Wort mit Betonung aus und hob theatralisch den rechten Zeigefinger hoch, während die andere Hand sich hinter seinem Rücken versteckte.

Als wäre nie etwas geschehen, als hätte ich gerade nicht am Abgrund meiner schauspielerischen Karriere gestanden, ging es auch schon weiter. Damien verzog sich wieder hinter die Kameras, Crispin und dessen Partnerin verschwanden wieder hinter der Hauswand und meine bösartigen Vampirkollegen begaben sich wieder in ihre dunklen Ecken. Nur ich stand dort wie Falschgeld.

»BEREIT?«

Unwiderruflich nickten dem Regisseur alle zu, auch ich, obwohl ich definitiv noch nicht bereit gewesen war. Ich hievte noch eben meinen Allerwertesten auf den, für mich vorgesehenen Ast, bevor das Wort – Action, den Start der weiteren Dreharbeiten einläutete.

 

Nachdem ich mich endlich auf die Angriffsszene wieder konzentriert hatte, nicht mehr von Crispin gedanklich schmachtete, folgte die alles entscheidende Kampfszene. Gut – Crispin gegen Böse – ich. Unvorstellbar im realen Leben Mann gegen Frau, doch als Vampir stand man auf der gleichen naturgewaltigen Stufe.

Jetzt stand ich nun vor ihm - Crispin, in einer Haltung, die Rückenunfreundlicher nicht hätte sein können. Gekrümmt, als hätte ich einen Hexenschuss erlitten, meine Vampirkrallen nach vorne gerichtet, als würde ich nach Crispin greifen wollen und den Kopf, nun ja, schräg, schräger, am schrägsten. Einfach unangenehm und undefinierbar.

»ACTION!« und da war unser Stichwort wieder.

Ich sprang auf und krallte mich an Crispins Lederjacke fest. Er drehte, wendete und windete sich unter mir, als ich ihn zu Boden riss und unsere Hände wirbelten durch die Gegend.

Darf ich hier sitzen bleiben? Das ist so …

»Sei ruhig!«, gab ich meinen Gedanken zischend zurück und achtete dieses Mal darauf, dass es niemand anderes mitbekam.

Selbst Crispin war voll und ganz mit seiner Rolle, als derzeitigen Unterlegenden beschäftigt und bekam nicht mit, was ich mir persönlich wieder zuflüsterte. Nach langer Rangelei auf hartem Untergrund, kamen wir endlich dazu uns aufrecht kämpferisch zu messen. Auch meine vampirische Clique stieß dazu und wir versuchten ihn letztendlich zu vernichten.

Drehbuch und Hauptrolle sei Dank, gelang uns dies natürlich nicht. Doch so tun als ob mussten wir dennoch. Wir kämpften ewig lange, wurden durch die Gegend geschleudert und fielen zu Boden, bis …

Bitte nicht!

Ein kleiner, aber harter Gegenstand näherte sich meinem Gesicht gefährlich nah. Natürlich gehörten bei einem Kampf Schläge dazu, doch ich sah in Crispins Augen, dass er sein Handeln nicht mehr unter Kontrolle halten konnte. Alles verlief in Zeitlupe ab: Seine Augen, sowie Mund riss er weiter auf, seine Erschrockenheit trat äußerlich zum Vorschein und das Wort – nein, schrillte in meinen Ohren.

Der Gegenstand an Crispins rechtem Ringfinger raubte mir mein äußeres Blickfeld. Er blitzte und blinkte und zeigte sich mir von seiner besten Seite.

Nein bitte nicht!

Ich ahnte schon, dass die Begegnung mit seinem sogenannten Tageslichtring nicht gut enden würde. Mindest ein blauer Fleck oder eine kleine Schrame würde ich davontragen. Entweichen war in meiner derzeitigen Haltung unmöglich, auch wenn ich es gerne gewollt hätte. Was aber dann geschah, damit hätte ich niemals gerechnet.

Mein Gesicht wurde heftigst berührt. Ein Stoß, der meinen Kopf nach hinten schnallen ließ. Ein spitzer Gegenstand, der sich durch meine Haut bohrte. Ein Zucken, welches ich jeden Millimeter spürte und ein dumpfer aufreißender und gleichmäßiger Ton, als würde man Papier in zwei Hälften zerreißen. Dann kam nur noch der sagenhafte Schmerz: Der mich alles vergessen ließ, der mir die Luft zum Atmen raubte und der mich dazu zwang von Crispin abzulassen.

Schmerzlich taumelte ich mit den Händen vor meinem Gesicht ein paar Schritte zurück, bevor mein zartes Hinterteil den Boden berührte. Der Schmerz durchzog sich wie ein Blitzschlag durch meinen Körper, weshalb ich meine Augen kraftvoll zukniff. Nun lag ich dort schmerzverzerrt in Embryohaltung und wünschte, dass das gerade Geschehende nur einer von unzähligen meiner schlechten Träume war.

»Was ist mir ihr los?«, rief eine weibliche Stimme von Weitem.

»STEH AUF!«, schrie eine männliche Stimme.

»Oh nicht schon wieder!«, kam es aus einer anderen Richtung.

»Sie ist ungeeignet für diesen Job!«, sprach jemand in direkter Nähe.

Jedoch alle weiteren murmelnden Stimmen der anderen Crewmitglieder verstand ich nicht. Sie wurden lauter, intensiver und unverständlicher. Mir kam es so vor, als würde jeder, wirklich jeder von ihnen auf mich einreden. Schlechte Worte, beleidigende Worte, doch ich vernahm es letztendlich nur noch wie in Watte gepackt. Dumpfe Geräusche, die einem brausenden Hurrikan ähnelten.

»Hey? Was ist los?«, fragte mich eine samtweiche Frauenstimme.

»Alles okay?«

»Tjara? Tjara hörst du mich? Ich bin´s Emma«, sprach sie weiter.

Emma?

»Tjara?«, wiederholte sie und einen Moment später spürte ich ein vorsichtiges rütteln meines Armes.

»AH!«, schrie ich auf, da das Rütteln mir noch mehr Schmerzen zufügte.

Für einen kurzen Augenblick glaubte ich man würde mir ein Stück Fleisch herausreißen, so durchzog mich der Schmerz. Es brannte, es schmerzte, es fühlte sich grauenvoll an.

»Tj …«

Nach der schmerzlichen Erfahrung vor ein paar Minuten, mit der kraftvollen Hand von Crispin nahm ich meine Außenwelt kaum mehr wahr. Alles hörte sich nur noch klanglos an und riechen vermochte ich zu diesem Zeitpunkt erst gar nicht, da ich es schon schmeckte – den metallischen Geschmack des Blutes, meines Blutes. Es dauerte nicht lange und das bisschen Blut was meine Mundschleimhaut benetzte reichte aus, um mich in eine endlos erscheinende Schwärze zu hüllen …

Schwarz

Wo bin ich? Warum ist alles Schwarz? Und warum friere ich so?

Eisige Kälte stach wie tausend Nadelstiche auf mich ein. Alles um mich herum erstrahlte in einem gleichmäßigen Farbton – Schwarz. Nichts als Schwarz, was mich zutiefst beängstigte und mich glaubhaft erzittern ließ.

Wo …

Doch mehr brachte ich nicht zustande. Ich sah mich um: Links, rechts, hoch hinauf und in die tiefen Abgründe, jedoch veränderte sich nichts, rein gar nichts.

Ich fühlte mich schwach, ausgelaugt und benommen zugleich. Als hätte man mir jede Lebenskraft geraubt. Und dann dieses unsagbar, grauenhaft Schwarz überall. Es war so …, so …

»Tjara?«

Was? Wer?

»Tjara wach auf!«

Wer hatte da gesprochen? Hallo?

»Hörst du mich?«

So langsam dämmerte es mir. Eine weibliche Stimme, die schon zuvor zu mir gesprochen hatte. Aber warum sah ich sie nicht?

»Wachen sie auf, alles ist okay!«, sprach dieses Mal eine männliche, fremde Stimme, die mir so ganz und gar nicht bekannt vorkam.

ICH VERSUCHE ES, ABER ES GEHT NICHT! HILFE?!

»Öffne deine wunderschönen Augen!«, befahl mir eine weitere unglaublich wundervolle Männerstimme, die mir immer wieder eine Gänsehaut verpasste.

Ich kannte sie, kannte sie vielleicht zu gut. Himmlisch beflügelte mich jedes einzelne Wort und streichelte samtweich meine Seele. Eine irreführende Wohltat in meiner derzeitigen, aussichtslosen Situation. So sehr ich mich auch bemühte, keine Phase meines Körpers reagierte auch nur ansatzweise auf meine Versuche, mich wieder bewegen zu können.

Abermals stachelte ich meinen Körper an, irgendeine Reaktion von sich zu geben - vergebens. Ich fühlte mich schlagartig so hilflos, so machtlos und so kraftlos, bis …

»Da sind sie ja wieder!«

Was? W …

»… Wo?«, entfuhr es mir.

Ich hörte meine karge, kraftlose Stimme. Jedoch blieb das wundervolle Licht der Welt verborgen.

»Ah, da sind ja deine rehbraunen Augen wieder«, sprach wieder die weibliche Stimme zu mir.

Und dann sah ich es wieder: Die fröhliche Farbe – Weiß, das strahlende Licht der Welt und die dunklen traumhaft schönen Locken von …

»… Emma?«

»Hey willkommen zurück!«, quietschte sie freudig.

»Wo …«, zu mehr war ich nicht in der Lage.

»Sie sind hier im Krankenhaus. Wie geht es ihnen?«, sprach die befremdliche Männerstimme.

»Krankenhaus?«

»Da sie ohnmächtig geworden sind, hat man sie vorsichtshalber lieber nach hier gebracht«, sprach ein älterer Herr mit leicht gräulichem Haar und weißem Kittel zu mir.

»Und wir haben sie auch direkt zusammengeflickt«, fügte er noch freudestrahlend hinzu.

Es traf mich wie ein Blitzschlag und vor meinem inneren Auge spielte sich abrupt die letzte Erinnerung ab, die sich vom ersten Drehtag in mein Gehirn eingebrannt hatte: der Schlag, das Aufreißen der Haut, der Schmerz und besonders der metallische Blutgeschmack.

Prompt ließ ich meine Zunge umherfahren. Keinerlei Geschmack nach dem grässlichen Blutgeschmack, doch eines schien anders, als zuvor zu sein. Ich zuckte sofort merklich zusammen, als ich den rechten Mundwinkel passierte. Meine Augenbrauen verzogen sich zusammen mit meinen Augenlidern und meine liegende Haltung krümmte sich noch mehr.

Dieses Mal war es kein schmerzlicher Stich, der mich zusammenzucken ließ, es fühlte sich irgendwie anders, komisch anders an. Taub, gefühllos, stumpf. Nicht mehr weich, zart und gefühlsecht.

»Was …?«, doch da wurde ich auch schon unterbrochen.

»Es tut mir so unendlich leid. Das wollte ich nicht. Ich bin …, ich bin so ein Trottel. Es tut mir von Herzen leid.«

Ich sah vom Arzt auf der rechten Seite ab und erblickte auf der linken Seite hinter der zierlichen Emma, Crispin. Seine Augen verloren binnen weniger Sekunde an Glanz. Betrübt und geknickt sah er mich wehleidig an. Seine Hände vor seinem Körper verschränkt, zupfte er nervös an seinem hautengen Shirt herum. Man sah seine wohlgeformte Brust und das durchtrainierte Sixpack. Innerlich schmachtete ich danach, aber äußerlich bemühte ich mich davon abzusehen, was mir recht einfach fiel, da das persönlich Geschehene alles andere in den Hintergrund verdrängte.

Mit viel Mühe und Kraft, Kraftreserven, die ich zuvor nie ausgeschöpft hatte, schaffte ich es mich aufrecht hinzusetzen. Das triste weiße und gar nicht kuschelige Laken unter meinem Körper rutschte bei jeder Bewegung meines Körper mit und legte sich schlussendlich in viele Falten. Doch ich saß und das war gut so.

Emma war im Begriff mir zu helfen, doch ich lehnte ihre Hilfe dankbar ab. Ohnmachtsanfälle, nachdem ich mein eigenes Blut geschmeckte hatte, waren in meiner Kindheit schon an der Tagesordnung. Immer wieder verletzte ich mich, blutete aus vielen verschiedenen Wunden und knutschte letztendlich mit meinem ganzen Körper den Untergrund unter meinen Füßen. Einer meiner vergänglichen Schwächen, die mir noch heute das Schwarz vor Augen treibt.

»Wie geht es ihnen?«, fragte der Arzt mich abermals und kontrollierte zeitgleich meinen Puls.

In aufrechter Haltung schwankte ich zwar noch ein wenig, aber es ging mir nach und nach besser. Allein der Gedanke, dass Crispin mitgekommen war, beruhigte mich ungemein. Ob er nur ein schlechtes Gewissen hatte oder ihm es doch wichtig war, wie es mir nach seiner Tat erging erfragte ich erst gar nicht. Ich beließ es einfach so, wie es war, denn so war es gut, zumindest für mich.

»Mir geht es soweit gut …«, doch ich merkte, dass es sprachlich bei mir haderte, da das Gesprochene leicht unverständlich meinen Mund verließ.

»Gut, gut«, nickte der Arzt mir zu.

»Sie werden noch die nächsten Tage Schmerzen haben und etwas komisch sprechen, aber das gibt sich wieder.«

Das gibt sich wieder? Na das will ich aber schwer hoffen!

»Was meinten sie eigentlich mit – zusammengeflickt?«, bemühte ich mich es verständlich auszudrücken.

Er trat, wie von einer Biene gestochen ein Schritt auf Seite und gewährte mir so einen Blick gegen die Wand hinter ihm, welche er mit seinem rundlichen Körper gerade noch verdeckte. Ein menschengroßer Spiegel vom Boden hinauf zeigte mir mein wahres, gegenwärtiges Ich. Erschrocken sprang ich von der Liege, wobei ich höllisch aufpassen musste, nicht nochmalig den Boden näher zu betrachten, als mir lieb war und lief zögernd auf wackeligen Beinen zum Spiegel hin. Ein riesiges weißes und watteartiges Ungetüm von Pflaster zierte mein Gesicht, was wirklich nicht hübsch anzusehen war.

»Es tut …«, fing Crispin wieder an, doch ich unterbrach ihn barsch.

Mit einer winkenden Handbewegung brachte ich ihn zum Schweigen und tastete mich danach meiner Gesichtsform entlang, bis hin zu dem besagten Pflaster. Meine Augen weiteten sich immer mehr, desto näher ich an den Spiegel herantrat.

»Wird eine Nar …«, mehr wollte ich in dem Moment nicht sagen.

Stille trat ein, nicht mal mehr atmende Geräusche vernahm ich, was mich erschauderte. Im Spiegel sah ich mir die Gesichter der anderen an: Der nickende Arzt im Augenwinkel, die kleine, zierliche Emma, dessen Lockenpracht ihr Gesicht perfekt umrahmte und Crispin, der sein Blick auf den karierten Krankenhausfußboden richtete. Er würdigte mich keines Blickes mehr, auch nach Minutenlangem anstarren nicht.

»Ja, ja es tut mir leid eine Narbe wird definitiv zurückbleiben, aber man wird sie ohne Probleme überschminkt kriegen«, versicherte mir der Arzt.

Überschminkt? ÜBERSCHMINKT?

Das Pflaster überzog die Hälfte meines Gesichtes: Angefangen unter dem rechten Auge, um den Mundwinkel herum, bis hin über den halben Hals. Ich malte mir erst gar nicht aus, was genau sich darunter befand, es reichte aus zu wissen, dass da etwas war und dass man es womöglich nicht leicht überschminkt kriegen würde. Definitiv eine Lüge des Arztes, zumal ich nicht diejenige war, die sich täglich des Schminkens hingab. Des Öfteren lief ich wie Gott mich schuf herum: Ungeschminkt, ein lockerer Pferdeschwanz statt gestylter Haarmähne und sportlich gekleidet. Ich fühlte mich so wohler. Doch ab diesem Tag würde selbst ein schwarz angemaltes Gesicht nicht das überdecken, was jetzt noch von einem überdimensionalen Pflaster versteckt wurde.

 

Allmählich wurde mir alles zu viel. Der ständige helfende Blick von Emma, die unzähligen Fragen des Arztes und die schnell abhauende Haltung von Crispin. Wieder schwirrten deswegen haufenweise Fragen in meinem Kopf, die ich abermals unbeantwortet ließ. Stattdessen, nachdem mir der Arzt noch ein Rezept für Schmerzmittel gab, erlöste ich alle von ihrem Leid.

Als der Arzt mir noch irgendetwas zur Reinigung der Wunde erklärte, nahm ich meine Beine in die Hand und verschwand aus dem Raum. Mein Kreislauf hatte sich zum Glück wieder schnell gefangen gehabt, sodass ich auf schnellen Sohlen, ohne jegliches Schuhwerk an den Füßen – warum auch immer, das Gebäude verließ. Ich hielt es einfach nicht mehr aus.

Der immer wilder werdende, pochende Schmerz in meinem Gesicht und die Anwesenden brachten mich dazu. Ich wollte in diesem Augenblick nichts Sehnlicheres, als Frischluft zu schnappen und das am besten alleine.

Meine Füße trugen mich schnell voran, was mich ein wenig glücklich stimmte. Denn so war ich schnell draußen, hielt aber nachdem ich die Drehtüre des Gebäudes passierte, inne. Ein herrlicher Anblick, der mir dargeboten wurde: Die aufleuchteten Straßenlaternen, das leise rauschen des Windes, welcher mit ein paar meiner Haarsträhnen tanzte und der sternenklare Nachthimmel. Eine Wohltat für meine Augen.

Für einen klitzekleinen Moment vergaß ich das Geschehene und gab mich der wundervollen schwarzen Nacht hin. Schritt für Schritt trat ich voran und schaute gen Himmel.

»Tjara warte! So warte bitte!«, wurde gerufen.

Ich drehte mich auf den Fersen herum und erspähte den herannahenden, laufenden Crispin.

Oh nein, bitte nicht schon wieder!

Irgendetwas in mir hielt mich dennoch davon ab, vor ihm zu flüchten. Ich wollte, aber irgendwie auch nicht. Mit verschränkten Armen vor der Brust blieb ich stehen und wartete leicht ungeduldig auf ihn. Ich wippte mit einem Fuß auf dem Boden und hoffte inständig, nicht schon wieder eine Entschuldigung hören zu müssen. 

Wirrwarr

»Hey!«, sprach Crispin leicht außer Atem.

Er baute sich mit all seinem Prachtkörper vor mir auf und sah mich mit einem bittersüßen Hundeblick an. Nichtsdestotrotz verstummte er überraschend, als er meinen düsteren Blick unter greller Straßenbeleuchtung sah, die ihm zeigte, dass man gegenwärtig nicht mit mir spaßen durfte. Auch eine wiederholte Entschuldigung machte nicht mehr das wett, was er mir, gewollt oder auch nicht stand außer Frage, angetan hatte.

»Hier«, fügte er rasant hinzu, um schnell der derzeitigen Situation entfliehen zu können und übergab mir mein ersehntes Schuhwerk, welches ich zurückgelassen hatte.

Dankbar nahm ich ihm die Blasen bringenden High Heels ab und zog sie an. Innerlich hingegen dachte ich dauerhaft nur an das Eine.

Geh weg! Geh und lass mich alleine!

Insgeheim wünschte ich mir nichts Sehnlicheres, als allein zu sein. Allein mit meinem Schmerz, meinem riesigen Pflaster im Gesicht und meiner momentanen Stimmung: Aufgelöst, verletzlich und auch wütend zugleich. Wütend eher auf mich selber, da ich innerlich zu kämpfen hatte.

Fragen schwirrten mir unaufhörlich im Kopf herum und quälten mich zutiefst: Was wäre gewesen, wenn ich nie an dem Casting teilgenommen hätte? Was wäre, wenn ich heute Morgen einfach im Bett liegen geblieben wäre? Was wäre wenn? Fragen über Fragen, die unbeantwortet blieben, aber mir dennoch ein Gedankenchaos bescherten.

»Was ist los?«, nuschelte ich, dank der anhaltenden Taubheit des rechten Mundwinkels, gefühlsmäßig ruhig, was ich nicht erwartet hatte.

Aufbrausend wäre ich ihm am liebsten an die Gurgel gesprungen. Hätte ihn gewürgt, allerdings mit wenig Erfolg. Zumindest hätte ich es gerne versucht, aber dann wären mir womöglich noch meine Kunstkrallen abgebrochen, die nach wie vor noch an meinen natürlichen Fingernägeln klebten.

»Gehen wir ein Stück?«, sagte er liebevoll.

Eine Frage, die mich noch mehr neben die Spur treten ließ.

Sollte ich? Sollte ich nicht?

Ich überlegte hin und her, her und hin, bis ich zu guter Letzt ihm kaum merklich zu nickte. Was sollte ich auch anderes tun? Sobald ich in seine atemberaubenden Augen sah, mich in ihnen verlor, galt mein Verstand als nicht mehr vorhanden. Einfach unfähig noch geradeaus denken zu können. Schließlich gab ich mich, trotz innerer Unruhe, geschlagen und lief perplex neben ihm her.

 

Die Straßenlaternen erleuchteten uns gerade so den Weg über die Bordsteine entlang eines friedlichen Stadtviertels. Im Hintergrund erlosch noch das letzte Martinshorn, bevor die nächtliche Stille eintrat und wir nur noch unseren Schritten horchen konnten. Klack, klack, klack - ertönten die meine, wobei sein ständiges Schlurfen unumgänglich mein klackerndes Geräusch übertönte.

Minutenlang setzten wir einen Fuß vor den nächsten, sahen einander nicht an und gaben kein Wort von uns. Eine grauenvolle Stille, der ich nichts Gutes abtat, eher im Gegenteil. Desto länger wir schweigend nebeneinander herliefen, desto mehr kämpfte ich mit der Wut in mir. Ich steigerte mich immer mehr hinein, sodass langsam, aber sicher der Funken auf Crispin übersprang. Er war nun mal der Schuldige, dem ich mein Leid zu verdanken hatte.

Unter anderen Umständen hätte ich es vor gut ein paar Stunden noch richtig toll gefunden, allein neben ihm herzulaufen. Es wäre mir völlig egal gewesen, wenn wir geschwiegen hätten. Allein seine Nähe hätte mein Herz Samba tanzen und meine Hände schwitzig werden lassen. Ich wäre mit absoluter Sicherheit der glücklichste Mensch auf Erden gewesen.

Doch nun sah der Augenblick ganz anders aus. Ich begann mich von ihm zu entfernen und mochte in diesem Moment seine Nähe gar nicht wahrnehmen wollen. Aber ich befürchtete, dass sich daran in den nächsten Minuten nichts ändern und wir weiterhin gemeinsam nebeneinander herlaufen würden.

 

Ganz langsam traten wir voran, wobei ich höllisch mit aufsteigenden Tränen zu kämpfen hatte. Sie krochen empor und versammelten sich in meinen Augenwinkeln, doch ich gab alles, um sie geschickt zu unterdrücken. Immer wenn ich komplett von ihm absah, wischte ich die angesammelte Flüssigkeit weg. Es war eindeutig alles zu viel für mich geworden, womit ich nicht wirklich zurechtkam.

Waren es Tränen der Freude? Tränen der Trauer? Der Verzweiflung? Oder hatten sie einen ganz anderen Grund?

Eine Mischung von allem?

Ich wusste es nicht, aber was ich wusste, war, dass Crispin sich mir immer weiter näherte und ich mich von ihm zu entfernen versuchte. Es sah vielleicht lustig aus, dennoch war es eine unangenehme Gegebenheit, die mir nicht behagte. Das Verlangen ihm doch näher zu kommen, war da ganz klar, aber auch irgendwie nicht.

So ein Mist aber auch!

»Hör mal«, unterbrach er die Stille und mein inneres Chaos.

Eine letzte Träne stahl sich noch in meine Augen, die ich aber fix wegblinzelte, bevor ich ihm leicht zu nickte. Eine andere, vernünftige Antwort wollte ich derzeitig nicht von mir geben, mit dem Nicken musste er sich wohl oder übel zufriedengeben.

 

Unerwartet griff er nach meinem Arm und brachte mich dazu, vor einem unscheinbaren kleinen Lebensmittelladen – womöglich ein Tante Emma Laden, stehen zu bleiben. Mit dem Rücken stand Crispin nun zu eben diesem Laden und bot mir einen wundervollen Blick auf sein …

Tjara halt dich zurück! Schau woanders hin!

Sein wohlgeformtes Hinterteil schmiegte sich an die passgenaue dunkle Jeans und spiegelte sich im Schaufenster wieder. Mein Blick abwenden? Unmöglich! Wie aus heiterem Himmel vergaß ich mal wieder, was mich zuvor noch seelisch belastete. Auch meine körperliche Wunde trat unverzüglich in den Hintergrund.

Tjara reiß dich zusammen!

Doch ich konnte bei diesem Mann, bei diesem hinreißenden Anblick von Mann einfach nicht anders. Ich lechzte schon eine halbe Ewigkeit nach ihm, da konnte man nicht lange wegsehen, geschweige denn auf ihn wütend sein, auch wenn man es gerne wollte. Eine Narbe mitten im Gesicht, war zwar auch nicht fein, aber hey sie war von ihm.

Was rede ich da für ein Schwachsinn! Reiß dich endlich zusammen!

»Es tut mir wirklich leid, was da …«, er zeigte verlegen in sein Gesicht, um verständlich zu machen, was genau er meinte und sprach weiter.

»… geschehen ist.«

Natürlich musste es abermals eine Entschuldigung sein, wie nicht anders erwartet. Ich wollte sie einfach nicht hören, nicht aus seinem Munde. Seufzend sah ich dann doch von ihm ab und schaute lieber die moosbefallenen Pflastersteine unter unseren Füßen an.

»Ich würde dies gerne wiedergutmachen …«

Wiedergutmachen? Wie sollte man dies wiedergutmachen?

Unverhofft kam seine Hand abermals auf mich zu, zwar ohne Ring, aber sie kam bedrohlich nah an mein Gesicht heran. Natürlich zuckte ich sofort zusammen und trat einen ganz großen Schritt zurück. Nicht nur innerlich erschrak ich, auch äußerlich sah man es mir an. Meine Augen, sowie Mund weiteten sich abrupt, doch als ich den Schmerz erneut zuspüren bekam, bereute ich augenblicklich mein Handeln.

Nicht nur der Schmerz packte mich nochmalig, auch Crispin griff nach mir. Eine Hand umfasste mein Handgelenk, während seine andere Hand mich an der Taille schnappte. Ein Ruck und ich stand nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt weg, allerdings berührten sich unsere Körper unbeabsichtigt.

»Fall nicht schon wieder«, hauchte er mir zu.

Erschrocken sah ich tief in seine Augen.

Fallen? Wovon spricht er da? Und wo waren seine wehleidigen Gesichtszüge hin?

»Fallen?«, flüsterte ich.

»Bordsteinkante«, gab er genauso leise zurück und schmunzelte mich irgendwie verführerisch an, was ich aber nicht wirklich deuten konnte.

Meine Augenbrauen verzogen sich in´s Unermessliche, da ich binnen weniger Sekunden mit der Situation nicht mehr zurechtkam. Weder mit mir selber noch mit ihm.

»Schau nach!«, befahl er mir mit einem spielerischen Grinsen auf den Lippen.

Äh?!

 

Nach einiger Überlegungszeit schaute ich, wohin er mir sagte. Doch es ging nicht. So sehr ich mich auch bemühte, unsere Körper hafteten aneinander. Nicht mal ein Blatt Papier hätte zwischen uns gepasst, was aber auch bedeutete, dass man nicht dazwischen nachschauen konnte.

Was macht er jetzt?

Seine Hand an der Taille rückte immer mehr auf meinen Rücken, ganz sachte, ganz langsam. Nahm mich immer enger an sich heran, ganz vorsichtig, kaum spürbar. Jedoch spürte ich jede kleinste Bewegung genau und es erschien mir unmöglich, noch näher an ihn heranzutreten. Aber da stand ich nun mal, ganz nah, hautnah, Nasenspitze an Nasespitze vor Crispin.

Was war nun los? Ich versteh …

Genau, ich verstand rein gar nichts mehr. Ein totales Chaos herrschte in meinem Kopf und mein Körper reagierte auch nicht mehr so, wie er sollte. Eben noch wollte ich Crispin fern bleiben, wollte allein sein. Allein mit mir und meinem Selbstmitleid und jetzt?

»Crispin?!«, murmelte ich.

»Du hast bezaubernde Au …«, fing er an, doch ich unterbrach ihn rasch.

»Nicht!«, gab ich kopfschüttelnd von mir.

Beabsichtigt oder nicht? Das war hier die Frage! Ihm entfiel offensichtlich, dass wir uns überhaupt nicht kannten, wir uns bislang nicht viel unterhalten hatten und wir beide ganz offenbar nicht mehr Herr unserer Körper und Sinne waren. Dennoch sah er mich weiter an, bis …

OH MEIN GOTT!

Halt

Oh, oh was macht er …

»Cris …«

Weder gedanklich, noch sprachlich konnte ich meine Sätze vervollständigen. Mir stockte der Atem, während er immer näher auf mich zu kam. Unsere Nasenspitzen berührten sich ab und an hauchzart, was mir einen wohligen Schauer über den Rücken laufen ließ. Zwar schrillten meine Alarmglocken, dennoch wehrte ich mich kein Stück. Ich gestattete Crispin mir näher zu kommen, obwohl es mir schier verrückt vorkam.

Wir kannten uns doch gar nicht. Na gut, Crispin kannte ich aus meiner Lieblingsserie, aus diversen Zeitschriftenartikeln und Interviews im Internet, aber das bedeutete noch lange nicht, dass ich ihn so richtig kannte. Seine Lieblingsspeise, sein Geschmack was Film und Musik anging und besonders, was machte er entfernt von all dem Schauspielerleben? Keines dieser Dinge, die man von einem kennen sollte, fehlten mir in meiner Datenbank oberhalb meiner Augen. Dies zählte aber auch andersherum.

Wusste Crispin etwa, dass ich gerne Pasta aß? Wusste er, dass ich nicht nur auf Liebesschnulzen, auch auf richtige Horrorfilme stand? Wusste er, dass ich die britische Sängerin – Adele vergötterte? Oder, eher um ihre Gänsehaut bringende Stimme beneidete, weil mein zartes Stimmchen nicht in der Lage war, ordentliche Töne hinauszukriegen? Nein, woher sollte er dies auch alles wissen?

Vielleicht war er auch der Typ Mann, der seinem Verlangen nicht lange standhalten konnte, der sich über alles hermachte, was nicht bei drei auf den Bäumen war. Doch, das wusste ich derzeitig nicht, da mir das innerliche Gefühlschaos ein Strich durch die Rechnung machte und meine Menschenkenntnis eh nicht das wahre vom Ei war.

Nein so einer ist er nicht oder etwa doch? Ach ich weiß auch nicht.

»Wir kennen uns doch gar …«, da unterbrach er mich auch schon und legte mir einen Zeigefinger auf den Mund.

»Pscht …«, gab er noch von sich, während er mit seinen vollen Lippen sich meinen zögerlich, wie in Zeitlupe näherte.

Ich sah tief in seine Augen. Sie funkelten herrlich und übermittelten eine stetig anhaltende Wärme. So langsam begann ich mich völlig in ihnen zu verlieren, wobei ich dennoch die letzten Minuten Revue passieren ließ. Und dann erschlug mich der Blitzschlag, der sich durch meinen ganzen Körper zog, beinahe. Mir fiel es schlagartig wieder ein und das Puzzle in meinem Kopf setzte sich auf einmal zusammen, bevor ich mich fast ganz in seinen Augen verlor.

 

Ich würde dies gerne wiedergutmachen – so lauteten Crispins Worte, als er sich zu entschuldigen versuchte. Wollte er seine nicht beabsichtige Tat, weshalb ich für immer eine Narbe davontragen würde, so also wiedergutmachen? Doch nicht so oder etwa doch? Nein niemals, das ist doch keine Wiedergutmachung, zumindest nicht für mich. Für mich wäre dies sicherlich keine gute Wiedergutmachung, zumal meine äußerliche Narbe im Gesicht mich bis zum Ende aller Tage verfolgen würde.

Definitiv keine Wiedergutmachung oder?

Jetzt hatte mich mein gedankliches Wirrwarr wieder voll auf den Boden der Tatsachen geholt. Gerade zum rechten Zeitpunkt, denn Crispin schloss gegenwärtig seine Augen und bemühte sich mir seine Lippen aufzudrängen, nur damit er im Endeffekt mit einem reinen Gewissen dastand?!

Aber nicht mit mir!

»HALT!«, schrie ich ihn an und versuchte seiner Umarmung zu entfliehen.

»HÖR AUF!«

Innerlich bereute ich, dass ich geschrien hatte, da mein Mund mir schon sehr wehtat, doch es musste sein. Hätte ich es womöglich liebevoll gesprochen, so hätte Crispin ganz gewiss weitergemacht. Aber das wollte ich nicht mehr.

»Was? Wie bitte?«, stotterte er erschrocken und sah mich eindringlich, aber verwirrt an.

»Was ist los?«, fragte er nochmalig.

»Was los sei? Wirklich?«, fragte ich ihn entsetzt.

Meine Mimik verkrampfte sich immer mehr, aber haftete dennoch weiterhin an seinem entrüsteten Gesichtsausdruck. Er brauchte es mir nicht sagen, denn allein an seinem Ausdruck erkannte ich schon, wie verwirrt er doch gewesen war. Auf einer Seite vielleicht auch verständlich, aber auf der anderen Seite hätte er auch ruhig von selber draufkommen können. Es war nun mal nicht in Ordnung, was er da mit mir machte.

»Ist das deine Wiedergutmachung?«

»Wiedergutmachung?«, wiederholte er.

Spreche ich wirklich so undeutlich?

Dieses Mal nickte ich ihm nur zu. So begriffstutzig konnte er doch nicht sein oder? Nachdem er aber mehrere Sekunden zum überlegen bekam, sah man ihm nach und nach an, wie der Groschen fiel und er langsam verstand, was nun los war.

»Nein! Nein um Gottes willen, nein!«, schüttelte er dabei wild mit seinem Kopf hin und her.

Nicht nur der gedankliche Groschen fiel, auch seine Arme lösten sich von meinem Körper und er ließ mich geistesabwesend los. Innerlich war ich ihm dafür sehr dankbar, obwohl seine kräftigen Arme sich perfekt an meinen Körper schmiegten und ein wehmütiges Gefühl zurückblieb. Dennoch war es gut, dass er mich losgelassen hatte, wer weiß, was ich ihm sonst angetan hätte.

Augen auskratzen, beißen, treten, schlagen …

»Aber ich dachte …«

»Was dachtest du?«, giftete ich ihn an.

»Ich dachte du wolltest es auch?!«

Wollte ich? Wollte ich nicht?

Zum Glück verdrängte ich diese Fragen rasch, während ich ihn wütend ansah. Denn mit diesem Satz stieg stetig die Wut in mir auf, bis sie mein Gesicht zum Glühen brachte. Ob man dies auch sah, war mir zum jetzigen Zeitpunkt völlig egal. Was mir aber in diesem Moment nicht mehr egal war, war seine Nähe.

»Ach, so eine soll ich also sein? Eine, mit der man rumhuren kann, ja?«

Ich nahm alle Kraft zusammen und drückte ihn von mir weg. Zum Glück stemmte sich Crispin mir nicht entgegen, sodass er gut über einen Meter von mir wegtrat.

»Wenn du meinst!«, erhielt ich als Antwort, welche mich sehr verwirrte.

Was war das denn jetzt?

Desto länger ich Crispin betrachtete und über das nachdachte, was er zuletzt von sich gegeben hatte, wurde mir nach und nach bewusst, was für ein Mensch doch gerade vor mir stand. Einem, dem es egal erschien, was ich zu ihm sagte. Einem, der scheinbar kein richtiges Interesse an seinen Mitmenschen hatte. Einem, der wahrscheinlich nur nach sich schaute. Und solche Menschen hasste ich zutiefst, was mich schon sehr kränkte, da ich ihn irgendwie schon mochte. Allein, weil ich ihn als meinen Lieblingsschauspieler bezeichnete. Dies würde sich aber jetzt grundlegend ändern.

»Ah, ok. Ja, ja jetzt ist alles klar«, gab ich kopfschüttelnd von mir.

»Dann ist ja jetzt alles gesagt und …«, doch mehr sagte ich nicht, stattdessen zeigte ich in irgendeine Richtung, um anzudeuten, dass ich jetzt gehen würde.

Eine richtige Verabschiedung bekam er von mir nicht mehr zu hören, da ich es lieber bevorzugte ihn so stehen zu lassen, anstatt noch ein weiteres Wort mit ihm zu wechseln. Für mich war der herrliche sternenklare Abend gelaufen und ich war um eine schlimme Erkenntnis reicher. Gedankenverloren tapste ich voran und drehte mich nicht mehr zu ihm um.

Ein schöner Rücken kann auch entzücken.

War mein letzter Gedanke.

 

Nachdem ich die nächste Ecke passierte, eine Gegend die ich teils wie meine Westentasche kannte, verschwand ich endlich aus Crispins Blickfeld. Er rief mir weder hinterher, noch folgte er mir. Dies hätte ich nämlich an seinem unverkennbaren schlurfenden Schritt erkannt. Noch hörte ich irgendetwas anders, außer mein keuchender Atem.

Schnellen Schrittes lief ich an den alten Gebäuden entlang und horchte in den Abend hinein. Die Farben der Fassaden veränderten sich sekündlich. Mal heller, mal dunkler, doch die tief erdigen Brauntöne blieben leblos. Auch die Menschen dahinter bemerkte man nicht. Alles war still, fade und menschenleer. Beängstigend, wenn man voll bei der Sache gewesen wäre, doch ich war alles andere, als bei der Sache.

Was für ein Hornochse! Denkt wohl, ich wäre für alles zu haben! Das kann doch wohl nicht wahr sein! Das hätte ich nicht von ihm gedacht, niemals …

Ganz in Gedanken versunken lief ich einfach weiter. Ich nahm meine Außenwelt so gut wie gar nicht mehr wahr. Selbst die trostlosen Häuser verschwammen vor meinen Augen, einzig die dunkelgrauen Pflastersteine unter meinen Füßen sah ich noch halbwegs, sodass ich noch einigermaßen geradeaus laufen konnte.

Das darf doch wohl nicht wahr sein! Man, man, man Männer sind so, so …

Mir fehlten einfach die Worte, um solche Männer wie Crispin zu einem, innerhalb eines Tages geworden war, beschreiben zu können. Klar war er für mich jetzt ein Vollidiot und ihn würde ich definitiv nicht mehr so schnell in meine Nähe lassen, aber da fiel mir auch schon wieder mein neuer Job ein. Ich musste, ob ich wollte oder nicht, mit ihm noch zusammenarbeiten. Zwar könnte ich den Job sausen lassen, in so viele Szene hatte ich jetzt auch noch nicht mitgespielt und ich wäre auch leicht zu ersetzen, aber karrierefördernd wäre frühzeitiges Aufgeben absolut nicht. Ich würde dafür büßen und für neue Serienangebote hart arbeiten müssen. Wie man es auch machte, man machte es grundsätzlich falsch. Doch auf Crispin war ich dennoch gnadenlos sauer.

Was soll ich denn jetzt ma …

Ein unvollendeter Gedanke wurde abrupt von quietschenden Reifen unterbrochen. Ich erschrak prompt, blieb stehen und sah mich um. Mein Herz schlug rapide gegen meine Brust, schnürte mir die Atmung ab und versetzte mich in eine Schockstarre. Zwei große, runde Lichter kamen zügig auf mich zu und machten dabei nicht den Anschein auszuweichen.

Dank der Schockstarre konnte ich mich weder bewegen, noch schreien, noch in irgendeiner Art und Weise bemerkbar machen, obwohl ich es dringend wollte, musste und sollte. Ich hing nun mal sehr an meinem Leben. Aber so sehr ich mich auch bemühte auf Seite zu springen, es funktionierte dennoch nicht.

Die grellen Scheinwerferlichter kamen immer näher und näher und binnen weniger Sekunden später sah ich mein noch junges Leben vor meinem Inneren Augen vorbeihuschen. Erinnerungen an meine Eltern, deren einziges Kind ich bin. Sie würden trauen, sie wären am Boden zerstört und ihr Leben wäre nicht mehr das, was es noch gestern war. Mit mir, meinem Lachen und meiner sonstigen Lebensfreude. Erinnerungen an Freunde, Verwandte und auch wenigen Bekannten, mit denen ich gerne abends etwas unternahm. Erinnerungen an meine Kindheit, meiner Jungend und, auch wenn es keine Erinnerungen sind, aber auch an meine Zukunft. Ich wollte Kinder, drei, vier mindestens. Ich wollte eine richtige Schauspielerin, mit einer Spaß bringenden Hauptrolle, werden. Vieles hatte ich noch geplant, aber dies …

»NEIN HALT!«, da war sie wieder, meine ängstliche Stimme.

Auch mein Körper bewegte sich wieder Millimeterweise und mir wurde kurzfristig Leben eingehaucht, doch es kam zu spät. Ausweichen war jetzt auf jeden Fall nicht mehr möglich, was mich dazu brachte noch etwas loswerden zu wollen, bevor mich der grelle Schein zupacken bekam. Es würde mein Ende bedeuten, das wusste ich ganz genau, doch eines brannte mir zu sehnst auf der Seele. Während ich meine Augen schloss und meine Arme schützend vor mein Gesicht hielt, betete ich zu Gott.

Es tut mir leid, dass ich mich bislang nicht mehr gemeldet hatte. Beten war nach dem Tod meines Freundes zur reinsten Qual geworden. Ich dachte immer – man würde mich eh nie erhören, doch gerade jetzt wünsche ich, erhört zu werden.

Gott bitte nehme mich wohlbehütet in deine Hände, halte mich fest und bringe mich zu Tyron. Nur da möchte ich sein, wenn mir das freundliche Licht der Welt geraubt wird. Bitte nehme mich auf und bringe mich zu ihm …

Wieder ertönte der schrille, quietschende Schrei der Reifen und ich erwartete den schmerzlichen Aufprall. Sekunden, die mich zu Tode quälten und dann? Wo blieb der Aufprall?

»Und du kommst mit!«, rief eine verzerrte Männerstimme.

Perplex schaute ich nach einer gefühlten Ewigkeit durch meine schützenden Arme hindurch und spürte unmittelbar danach einen festen Griff an meinem rechten Arm. Ein kräftiger Ruck und meine Füßen verloren den Halt. Meine Augen weiteten sich immer mehr, doch der ersehnte Schrei blieb aus. Auch, als mir etwas Hartes in den Magen gerammt wurde, verstummte ich.

Um mich herum war alles Schwarz: schwarze Kleidung, schwarze Gestalten - drei an der Zahl und ein schwarzer oder auch dunkelblauer, brauner oder grauer Kasten, der einem Familienvan ähnelte. Jedoch wurde es schlagartig noch schwärzer den je. Irgendetwas wurde mir über den Kopf gestülpt und stahl mir meine Sicht der Dinge.

Was ist los? Was geschieht hier? Wer sind die? Und was machen die mit mir?

Ging es mir durch den Kopf, bevor ich endlich zu schreien begann.

»HALT! LASST MICH RAUS! HIL …«, doch zu mehr kam ich nicht.

Ein kräftiger Schlag in´s Gesicht und ich erblickte nur noch glitzernde Sternchen, bis schlussendlich alles um mich herum verstummte und mein Körper abermals in Schwarz eingehüllt wurde.

Hilfe

Es ruckelte und schuckelte, mein ganzer Körper bebte. Hoch, runter und zu beiden Seiten. Und allmählich erwachte ich dadurch aus dem Dämmerschlaf, in dem ich zuvor noch gefangen war. Doch beim Aufwachen brummte mir höllisch der Schädel …

»Er wird erfreut sein …«

»Ja und wie!«, wurde herzlich gelacht.

Was? Wer?

»Ob er uns dieses Mal belohnen wird?«

»Weiß nicht, vielleicht?!«

»Hm, ich glaube eher nicht, nachdem wir sie beim ersten Mal nicht zuschnappen bekamen ...«

Beim ersten Mal? Was ist hier …

»Hört jetzt endlich auf mit eurem Geschwafel! Ich kann es nicht mehr hören!«

Eins, zwei, drei …

Drei verschiedene Männerstimmen, die ich keinesfalls kannte. Weder die eine, noch die andere und besonders nicht dir Dritte. Aber wovon redeten sie? Erfreut? Belohnt? Das erste Mal nicht zuschnappen bekamen? Schlagartig wurde mir bewusst, was sich hier abspielte. Ich erinnerte mich urplötzlich wieder an die quietschenden Reifen, an die grellen herannahenden Scheinwerfer eines dunklen Wagens und die verzerrte Männerstimme, die sagte – Und du kommst mit! Was danach geschah, verlor sich in dunklem Hauch der Vergessenheit.

»Wo bin ich?«, gab ich wie aus heiterem Himmel von mir, da ich immer mehr realisierte, was mit mir geschehen war.

Bewege dich! Los bewege dich!

Hallten die Worte meiner inneren Stimme immer und immer wieder in meinem Kopf. Sie erschraken mich regelrecht, sodass ich es allmählich mit der Panik zu tun bekam. Mein Herzschlag pochte so laut, welches ich klar und deutlich in meinen Ohren hörte. Mein Puls raste ungewöhnlich schnell und mein kompletter Körper zitterte, sodass es mir unmöglich erschien, irgendein Körperteil bewegen zu können. Auch meine Sicht blieb mir verwehrt, alles Schwarz, wieder einmal. Wie sehr ich es doch hasste!

»Wo bin ich? Wer seid ihr? Was geschieht hier?«, sprudelte es aus mir heraus.

»Halt deinen Mund!«, rief mir die letzte Männerstimme zu und keine Sekunde später verspürte ich einen grauenvollen Schmerz in meiner Magengegend.

Ich keuchte laut auf, hustete wild und schnappte zugleich nach Luft. Der Schlag oder auch Tritt in den Magen hinein raubte mir alles, was ich zum Leben brauchte und es beängstigte mich zutiefst, was mich ernsthaft überlegen ließ, ob ich die derzeitige Situation lebend überstehen würde. Ich wurde entführt, das wurde mir immer mehr bewusst. Doch warum, das verstand ich nicht.

»Warum macht ihr das?«, japste ich, da mir immer noch die Luft zum Atmen fehlte.

»Das geht dich nichts an!«, sprach jemand von Weitem.

»Du sollst endlich deinen Mund halten!«, wurde mir wiederholt von der einen Männerstimme zugerufen, die es zuvor schon sagte.

»Schluss jetzt!«, fügte er noch hinzu.

Schrei! Schrei so laut du kannst! Los schrei!

»HILFE! HIL …«, doch zu mehr kam ich nicht.

Ein weiterer Tritt stahl mir mein Schrei. Jetzt merkte ich den kantigen, harten Gegenstand, der sich tief in meinen Magen grub. Es tat höllisch weh und schmerzte so sehr, sodass ich nur noch gekrümmt nach Luft schnappte. Ich zog meine Beine ganz nah heran und senkte meinen Kopf zur Brust hin. Jedoch meine Arme bewegten sich keinen Millimeter, da sie hinter meinem Rücken mit irgendetwas zusammengebunden waren. Vielleicht mit einem Seil, einer Schnüre oder sogar mit nur einem Schnürsenkel?! Ich wusste es nicht, doch ich wusste, dass ich es auch nach mehrmaligen Versuchen sie zu lösen es nicht schaffen würde.

»Du musst da vorne abbiegen, sonst …«, doch mehr verstand ich nicht, da das Gesprochene immer leiser wurde.

 

Im Hintergrund krächzte ein Radiosender, dessen Ansage einem Autounfall auf der naheliegenden Autobahn galt, falls wir uns überhaupt noch in der Stadt aufhielten, in der sie mich geschnappt hatten. Jedoch hörte ich immer wieder nur die Streitigkeiten der zwei Männer, die sich nicht in meiner Nähe befanden, womöglich saßen sie im Führerhaus. Halt dich an die Verkehrsregeln oder willst du, dass uns die Bullen wegen zu schnelles Fahren anhalten und somit sehen, welches Gepäck wir dabei haben? Gib mir mal die Chips! Schau auf die Straße und so weiter. Gespräche mit belanglosem Inhalt. Doch irgendwann wurde mir alles zu viel und ich schrie ein weiteres Mal.

»LASST MICH HIER RAUS! ICH WILL RAUS! HILFE«, dabei begannen sich dicke Tränen in meinen Augenwinkeln zu bilden, die den Weg über meine Wangen schneller fanden, als gewollt.

»HILFE! HÖRT MICH …«

»MAN SEI ENDLICH STILL!«, wurde es nahe meines linken Ohres geschrien.

Unaufhörlich liefen mir Tränen über´s Gesicht und ich wisperte in mich hinein. Sie hatten mich entführt und wer weiß, was sie mit mir vorhatten. Ich konnte meine Angst einfach nicht mehr verbergen, sie hatte überhand über mich genommen gehabt. Und daran was ändern konnte ich derzeitig nicht, auch wenn ich es gerne gewollt hätte.

»SEI RUHIG UND VERHALTE DICH STILL, DANN WIRD DIR AUCH NICHTS GESCHEHEN!«, fügte er noch hinzu.

Wer´s glaubt …

»Warum macht ihr das? Warum gerade ich?«, flüsterte ich eher zu mir selber.

»Das wirst du noch früh genug erfahren«, bekam ich als Antwort.

 

Eine halbe Ewigkeit ruckelte der kalte Untergrund unter meinem Körper, bis er schlussendlich quietschend zum Stehen kam. Ein kräftiger Ruck und der Wagen hielt an, jedoch gab es noch ein weiteres Geräusch, welches zuerst über den Boden des Wagens kratzte und letztendlich gegen meine Beine knallte. Irgendetwas Hartes, Festes und nach dem Geräusch zu urteilen etwas Metallisches. Schmerzlich stemmte es sich gegen mich und quetschte meine Knöchel gegen die Wand des Wagens ein.

»AH«, schrie ich auf, verstummte aber auf Anhieb, als der Gegenstand entfernt und ich mit einem Schwung hinaufgehoben wurde.

Abermals schrie ich auf und versuchte mich zu wehren, vergebens, denn dadurch, dass ich an meinen Handgelenken und an meinen Knöcheln gefesselt war, blieb mir nur mein Kopf. Eine Kopfnuss wäre zwar in meiner Lage, mit einem Brummschädel und der Verletzung im Gesicht nicht gut gewesen, aber ich tat das, was mir helfen sollte zum Überleben.

»Ah, lass das sein! Lass es!«, rief mir derjenige zu, auf dessen Schulter ich gehoben wurde und dem ich mehrere Male eine Kopfnuss versuchte zu verpassen.

Ein jähes Ende nahmen meine Versuche, da seine Schulter genau auf die Stelle drückte, in der ich eben noch getreten wurde. Mir schmerzte daher alles: der Kopf, das Gesicht, der Magen, eigentlich alles an meinem Körper, was mir auch eine unangenehme Übelkeit bereitete. Es rumorte in meinem Magen und die Übelkeit kroch stetig meinen Rachen hinauf, doch der anhaltende Weinkrampf übertönte alles, somit auch die Übelkeit, welche abrupt weggespült wurde.

»Was habt ihr mit mir vor? HILFE! HILFE!«

Ich konnte einfach nicht anders. Das Verlangen nach Hilfe zu schreien, überwog das Gefühl nicht gerettet zu werden, wenn ich still geblieben wäre. So wie es einer der Entführer zu mir gesagt hatte. Ich glaubte ihm einfach nicht, weshalb ich lauthals um mein Leben schrie. Doch eines bemerkte ich währenddessen unbewusst, was sich aber automatisch fest in mein Hirn einbrannte. Das schlurfende Geräusch über Pflastersteine, welches ich schon mal gehört hatte.

Stark

»HEY, HÖR ENDLICH AUF SO RUMZUZAPPELN!«, schrie der Mensch unter mir.

In seiner Stimme lag so viel Bosheit, die mich bis in´s Mark und Bein erschütterte, doch an meiner Handlung rein gar nichts änderte.

»NEIN! HILFE! HILFE!«, kreischte ich weiter und zappelte auf seiner Schulter wild herum.

Ich gab mein bestes und wippte so stark mit meinen Beinen und gleichzeitig mit meinem Oberkörper, sodass der Körper unter mir Schwierigkeiten hatte, vernünftig geradeaus laufen zu können. Er schwankte bedrohlich hin und her, doch er bemühte sich redlich, meiner Bewegung standhalten zu können. Innerlich hoffte ich natürlich er würde mit mir zusammen zu Boden fallen, doch dies war vergebenes Hoffen. Er lief schnurstracks weiter und bohrte mir bei jedem weiteren Schritt seine Fingernägel in´s Fleisch.

Seiner breiten Schulter nach zu urteilen, war er kein Schwächling, den man hätte, mit einem Ruck zum Fall bringen können. Ein staatlicher, kräftiger Körper, vielleicht auch mit diversen Rundungen, denn sein ketchupartiger Geruch ließ mich erahnen, dass er gerne Fast Food zu sich nahm. Doch ein penetranter Schweißgeruch mischte sich dazu.

Einfach ekelerregend!

»Oh man, was für ein lästiges Vieh!«, gab er Sekundenspäter seufzend von sich und ließ gleichzeitig seine Hände von meinem Körper ab.

Endlich! Was für ein schmieriger Typ!

Kurz darauf schob er mich auch schon von seiner Schulter herunter, sodass ich einen rasanten Windzug durch den Stoff über meinem Gesicht spürte. Doch der scheinbar ewig anhaltende Fall meines Körpers, der für mich wie in Zeitlupe ablief, wurde abrupt mit einem wuchtigen Aufprall auf halbwegs weichem Untergrund abgefedert, bis er schlussendlich gänzlich zum Stillstand kam.

»Und was machen wir jetzt mit ihr?«, sprach einer der Drei.

»Er wird morgen kommen, solange bleibt sie hier liegen«, bekam er als Antwort.

Er? Wer ist er?

»Seid ihr Vollidioten soweit? Kommt endlich ich hab Hunger!«, rief ein weiterer aus der Ferne.

»Ist ja gut! Wir sind gleich soweit!«, wurde pampig geantwortet.

Und dann spürte ich ruckartige Bewegungen an meinen Knöcheln und Handgelenken. Es dauerte nicht lange und der Druck, welcher auf meinen Gliedern lastete, wurde überraschend angenehmer. Nichts schnürte mehr meine Gelenke ab und nichts raubte mir mehr meine Beweglichkeit. Ich konnte wieder alles bewegen, knicken und drehen und das tat höllisch gut.

Zuerst rieb ich mir meine Handgelenke, danach folgte ein sanfter Griff zu meinen Knöcheln und dann … Doch dann wurde mir auch schon der störende und dunkle Sack über meinem Kopf weggerissen. Ich war gerade im Begriff dies selber zu tun, doch jemand kam mir zuvor. Jedoch binnen weniger Sekunden bevorzugte ich es lieber, meine Hände schützend vor meine Augen zu halten.

Der grelle Schein einer Taschen - oder auch Deckenlampe blendete mich so unangenehm, wobei ich meine Augen fast wieder komplett schloss. Nur durch kleine Schlitze hindurch erspähte ich das, was ich eigentlich nicht sehen wollte. Ein maskierter Mann …

Nein zwei …

Dunkle Masken verbargen ihr wahres Gesicht, doch die furchterregenden, trüben Augen sah ich dennoch. Sie durchbohrten mich regelrecht und machten sich gleichzeitig über mein schmächtiges Dasein lustig. Die Personen hinter den Masken brauchten es mir nicht zu sagen oder gar durch´s Lachen zu zeigen, ich sah es einfach in ihren Augen: Das Funkeln und das Glitzern, als hätten sie eine Trophäe bei irgendeinem Wettbewerb gewonnen. Der Stolz, die Freude und das glücklich sein spiegelten sich in ihren Augen wieder, wenn man mal davon absah, welch schreckliche Tat sie vollzogen hatten.

Widerlinge!

 

Nachdem sich meine Pupillen an das stechende Licht gewohnt hatten, starrte ich sie mit Tränen erfüllten Augen an, wobei auch ihr Blick an mir haftete. Sekunden, Minuten, ewig lange Minuten, in denen wir schwiegen, uns nicht bewegten und kein Wort von uns gaben. Allerdings dauerte es nicht lange und es sprudelte wieder aus mir heraus.

»HELFT MIR DOCH ENDLICH! ICH WURDE ENT …«, kreischte ich weinend, wurde aber rasch unterbrochen.

Der Schrei erstickte geschwind, als mich eine riesige Hand mitten im Gesicht traf - Klatsch. Mein Kopf schleuderte herum und blieb letzten Endes auf der, jetzt sah ich sie zum ersten Mal, Matratze liegen. Der weiße Bezug färbte sich auf der Stelle in ein tiefes Purpurrot und zwang mich dazu den Atem anzuhalten und die Augen schleunigst zu schließen.

Werde nicht ohnmächtig! Nicht jetzt und nicht hier! Tjara …

Ich bemühte mich sehr, nicht schon wieder in Ohnmacht zufallen. Meine Hände verkrampften und bildeten Fäuste, meine Zehen zogen sich kraftvoll zusammen und einer meiner Wangen schmiegte sich automatisch an meine Schulter.

Du schaffst das! Geb nicht auf! Du bist …

»… stark!«, vollendete ich den Satz, sodass die Männer es auch hören konnten.

Im Hintergrund hörte ich ihre rasanter werdenden Atemzüge und ich konnte spüren, wie sie sich fragend einander ansahen. Verständlich, wenn man nicht wusste, wovon ich sprach und was ich genau damit meinte. Jedoch ihnen dies erklären? Niemals!

»Was meint sie damit?«, hörte ich auch schon einen von ihnen zum anderen im Flüsterton sagen.

Doch bevor dieser antworten konnte, kam ich ihm zuvor. Ich nahm all meine Kraft zusammen, sammelte sie nicht nur in meinen Fäusten, auch in meinem Kopf und besonders in meinen Beinen und sprang aus heiterem Himmel auf. Dank meiner Gelenkigkeit, die ich durch sportliche Aktivitäten mir beigebracht hatte, allein auch um einer vampirischen Serie gerecht zu werden, schaffte ich dies ohne Probleme.

Natürlich wusste ich innerlich, dass ich als schmächtige Frau keine wirkliche Chance gegen drei womöglich kräftige Männer hatte. Vielleicht war mein Handeln auch totaler Schwachsinn, doch der metallische Blutgeschmack in meinem Mund und die Überwindung eine weitere Ohnmacht bezwungen zu haben, brachte mich dazu, etwas gegen sie zu unternehmen und das am besten sofort. Längeres Warten wäre höchstwahrscheinlich mein Ende und das wollte ich um alles auf der Welt verhindern.

LOS TJARA!

Selbst meine innere Stimme feuerte mich an, wofür ich ihr zutiefst dankbar war. Sie baute mich auf, gab mir Kraft und bestätigte mir, dass ich augenblicklich richtig agierte.

»WAS MACHT SIE …«, zu mehr kam der Herr zu meiner Linken nicht.

Abrupt sprang ich, wie eine losgelassene Raubkatze und klammerte mich ganz fest an ihn. Ich trat ihn mit den Stöckeln meiner High Heels in die Hinterschenkel, grub meine Fingernägel mit den letzten Resten der Kunstkrallen unzählige Male in dessen Fleisch im Nackenbereich und versuchte mich irgendwie in ihm festzubeißen. Mein Körper wurde beflügelt, desto mehr ich ihn verletzte, desto mehr kämpfte ich weiter. Das Adrenalin in mir stieg stetig an und machte mich regelrecht zu einem Monster.

So etwas hatte ich zuvor nie verspürt gehabt: die Kraft, der Wille und besonders das unzähmbare Monster in mir. Ein wohliges Gefühl in meiner jetzigen aussichtslosen Lage, in der mir niemand zu helfen vermag. Ich musste etwas tun, obwohl es sonst nicht meiner Art war. Einzig für einen guten Job hatte ich bislang verbissen gekämpft, doch sonst war ich eine liebevoll, vielleicht auch schüchterne Person, weshalb ich auch das momentane Monster in mir nicht kannte.

»HÖR AUF! HÖR ENDLICH AUF!«, schrie mein sogenanntes Opfer.

Ein eher schmalerer, kleinerer Typ, mit einer kratzigen Stimme. Von der Statue her war er nicht derjenige, der mich nach hier auf seiner Schulter verfrachtet hatte. Doch mir war es völlig egal, ob er, der andere oder sonst wer unter meinem aktuellen Kraftschub zu leiden hatte. Jedoch vergaß ich dadurch den Rest der Bande, was ich schon kurz darauf böse zu spüren bekam.

Pass auf!

Doch da war es auch schon zu spät. Mich gegen die anderen noch zu wehren war zwecklos, da sie mich schon zupacken bekamen. Viele Hände berührten meinen Körper: an der Taille, den Beinen und auch an den Armen. Sie zerrten an mir, zogen und rissen. Anfangs erschien ich noch kraftvoller zu sein, denn ich hielt mich wacker an meinem Opfer fest. Das Blatt wendete sich aber in kürzester Zeit, sodass mich meine Stärke schnell verließ.

»Nimmt sie endlich von mir herunter!«, keifte und beschwerte sich der Typ unter mir.

Und es geschah, was geschehen musste. Es wurde nur noch einmal an mir gezogen und ich hielt mich nicht mehr fest, stattdessen flog ich ein weiteres Mal durch die Gegend. Dieses Mal jedoch schwungvoller als zuvor. Schmerzlich begrüßte meine Hüfte einen harten Gegenstand, ehe ich abermals auf der Matratze landete.

Der Schmerz hielt mich aber dennoch nicht davon ab, ein weiteres Mal anzugreifen. Ich stand sofort wieder auf und lief den Männern entgegen. Diese hatten aber nach meiner vorherigen Attacke rasch geschaltet und verschwanden prompt aus dem Raum. Die hölzerne Türe drückten sie sofort zu, welche knallend in´s Schloss fiel und schlossen sie mehrere Male ab.

… zwei, drei und sogar ein viertes Mal?

Wäre ich nicht mit einem Fuß an der Matratzenkante hängen geblieben und wäre meine Hüfte nicht angeschlagen gewesen, so hätte ich ein zweites Mal angegriffen und ich es auch geschafft. Ich wäre hundertprozentig schneller als sie gewesen, das wusste ich und das ärgerte mich. In meiner Range, mit der abgrundtiefen Wut in meinem Bauch, trat und schlug ich gegen die Türe.

»LASST MICH RAUS! ICH WILL RAUS!«, schrie ich währenddessen.

Doch jegliche Bemühungen schlugen fehl und zerrten an meinen Nerven. Ich war voller Wut, voller Trauer und ganz besonders voller Verzweiflung. Mein Verlangen wieder freizukommen, überwog jedes jämmerliche Gefühl in mir, dennoch half es mir keineswegs.

»DU BLÖDE KUH!«, hörte ich noch jemanden rufen, bevor sich mein anstrengender Kampf in grässlicher Stille verlor.

Irgendwann sah ich ein, dass es keinen Sinn mehr machte, auf die Tür einzuprügeln. Ein wehrloser Gegenstand, der sich dennoch meiner Kraft erbittert stellte und auch gewann. Ich konnte sie weder bewegen, noch zerstören. Mit dem Rücken zur Tür ließ ich mich an eben dieser zu Boden gleiten und brach sofort in Tränen aus. Sie liefen mir unentwegt die Wangen hinunter und der Kampf, das Monster in mir und die vorherige Stärke versiegte in tiefer Trauer. 

Angst

Die Tränen versiegten desto länger ich in dem kleinen Raum auf und ab ging. Stets in Bewegung, um die leicht angeschlagenen Knochen nicht einrosten zu lassen. Mir kam es wie eine endlos erscheinende Ewigkeit vor, doch womöglich vergingen gerade mal ein paar Stunden, die ich hier eingesperrt war.

Nichts hörte ich mehr, weder an der Tür, noch an dem kleinen, unscheinbaren verrosteten Gitterfenster. Nur der rauschende Windzug pfiff sein Lied durch die Streben und bescherte mir immer und immer wieder eine dicke Gänsehaut. Selbst die quietschende Matratze bot mir werden Schutz, noch Wärme. Mir kam es ab und an sogar vor, als hätte ich sofort auf dem kalten Steinboden platzgenommen, als ich auf ihr saß. Die Federn waren ausgelutschter den je.

Gedankenverloren betrachtete ich den winzigen Raum, dessen Licht nur eine runde, vergilbte Deckenleuchte bot. Jedoch strahlte sie, als wäre sie die Sonne höchstpersönlich.

Lasst mich endlich raus! Ich will hier raus …

Einzig der Gedanken hier wieder raus zu wollen schwirrte unentwegt durch meinen Kopf und verursachte nach einer gewissen Zeit unangenehme Kopfschmerzen, bei denen mir sogar die Augen schmerzten. Ein stechender Schmerz, der mich sogar vergessen ließ, was ich doch eigentlich für höllische Schmerzen am Mundwinkel hatte. Ich bemerkte zwar mein Leid im Gesicht, doch nur wenige Zentimeter höher fühlte es sich wie tausend Messerstiche an. Wieder und wieder wurde zugestochen, was mich letztlich dazu brachte mich wieder auf das quietschende Etwas, im sonst so leeren Raum, zu begeben.

Doch ein allerletztes Mal musste ich an der Türe horchen. Ich legte mein linkes Ohr auf das grobe Holz, atmete tief ein und konzentrierte mich voll und ganz auf das, was ich dahinter vermutete. Zumindest dachte ich es vermuten zu können, was sich aber zuletzt als reine Qual erwies. Man hörte nicht mal eine Stecknadel fallen, geschweige einer der drei Entführer.

 

Ein weiteres Mal gab ich mich geschlagen, nachdem ich minutenlang an der Türe versuchte irgendetwas zu hören. Dass sich dabei abermals Tränen lautlos über meine Wangen schlichen, bemerkte ich erst, als sie von meinem Kinn heruntertropften. Ein furchterregendes Gefühl, wenn man damit nicht rechnete. Nichtsdestotrotz konnte man es mir nicht verübeln. Ich war aufgelöst, beängstigt und hilflos, was mich zu einem kleinen Häufchen Elend machte.

Ruhelos ließ ich mich auf die blutverschmierte Matratze nieder, legte mich komplett hin und starrte das triste Weiß der Wand vor mir an. Ich fuhr sogar mit dem Zeigefinger darüber und spürte jede noch so kleinste Unebenheit. Gelegentlich bröckelte der Putz hinunter und sammelte sich zu kleinen Bergen auf dem Bezug zusammen.

Lasst mich endlich raus! Ich will hier raus …

Ich konnte mir diesen Gedanken einfach nicht verkneifen. So sehr ich es auch wollte, er verschwand einfach nicht, als hätte er sich wie ein Tonband in meinem Gehirn verankert. Gruselig, wenn man betrachtete, dass meine innere Stimme mir sonst immer widersprach.

Weinend lag ich nun wie ein kleines Baby, dessen Hunger es schreien ließ, auf der Matratze und zog meine Beine immer weiter an mich heran. Irgendwie musste ich mich wärmen, irgendwie musste ich etwas Vertrautes spüren und irgendwie … Doch so sehr ich mich auch bemühte einen klaren Gedanken fassen zu können und mich zu wärmen versuchte, verfiel ich zuletzt dem Gott des traumlosen Schlafes.

 

»… und gefällt es dir hier?«

Schreckhaft wurde ich wach und riss automatisch meine Augen auf.

»W …«

»Nichts überstürzen Schätzchen. Schweig lieber, dann passiert dir auch nichts!«

Wer ist das?

»Gut, gut. Du lernst schnell.«

Wer ist das? Und was ist das an meinem Rücken?

»Und es wäre besser dich nicht zu bewegen«, fügte dieser befremdliche Unbekannte noch hinzu, bevor er stillschweigend seinen heißen, ekelerregenden Atem in mein Ohr hauchte.

Ich überlegte hin, ich überlegte her. Seine Stimme kam mir auch beim wiederholten Male nicht bekannt vor. Vielleicht lag es auch nur daran, weil sie so sehr verzerrt klang, sodass es mir unmöglich erschien, sie zu erkennen. Eventuell war er einer der Drei, vermutlich auch nicht. Seine Stimme klang wie, als würde er durch ein Handtuch keuchen. Verzerrt und verändert, bewusst oder auch nicht.

Wie lange hatte ich eigentlich geschlafen?

Diese gedankliche Frage blieb jedoch unbeantwortet, stattdessen …

»Ich hoffe, du hattest bislang einen schönen Aufenthalt«, hauchte er mir direkt in´s Ohr hinein.

Sein witziger, aber auch arglistiger Unterton gefiel mir gar nicht. Er gefiel mir nicht nur, er versetzte mich in Angst und Schrecken. Auf einmal bildete sich kalter Angstschweiß auf meiner Stirn, ich bekam abrupt einen trockenen Mund und mein Herz schlug mir bis zum Halse, sodass mir jeglicher Atem geraubt wurde.

»Du wirst hier noch dein Fett wegbekommen!«, flüsterte er weiter.

Jedoch verstärkte er seinen Ton immer mehr und auch der Druck am Rücken wurde heftiger. Das Ding hinter mir musste irgendeine Waffe sein. Vielleicht ein Stock, ein Griff eines Messers oder eben eine Schusswaffe. Dass es vielleicht auch sein … zwischen seinen Beinen sein … Nein, das konnte ich mir nicht vorstellen und um genau zu sein, wollte ich es mir auch nicht vorstellen, dass der Herr hinter mir erregt war.

Igitt, igitt Tjara!

Aber was genau meinte er mit – Du wirst hier noch dein Fett wegbekommen? Allein diese Frage bescherten mir wieder grausige Kopfschmerzen. Es wurde mir eindeutig zu viel. Nicht nur die Entführung, auch das Gefühl die Zeit verloren zu haben. Ich besaß nie eine Uhr am Handgelenk, stets sorgte mein Handy für die tatsächliche Uhrzeit, doch dieses schienen sie mir weggenommen zu haben. Denn es war werde in der linken, noch in der rechten Hosentasche zu finden.

»Was wollt ihr von mir? Und wer seid ihr?«

Ich konnte einfach nicht mehr schweigen, es platzte einfach aus mir heraus. Natürlich hätte dies Folgen haben können: ein weiterer Schlag in´s Gesicht, geprellte oder sogar gebrochene Rippen, möglicherweise hätte er Gebrauch von seiner Waffe gemacht, die mir immer noch heftigst gegen den Rücken drückte.

»WAS WIR WOLLEN?«, schrie er mich unverhofft an und lehnte sich weiter über mich.

Trotzdem verwehrte er mir den Blick auf seine Gestalt. Jetzt spürte ich sogar, dass er, so wie die anderen, eine Maske über dem Gesicht trug. Doch darunter vergrub sich noch etwas anderes, was ich aber nicht deuten konnte. Womöglich ein Gegenstand, welches ihm dazu verhalf, verzerrt zu sprechen.

»WAS WIR WOLLEN? DU MEINST WOHL EHER WAS ICH WILL!«, schrie er die Aussage ein weiteres Mal und fügte noch etwas sehr wichtiges hinzu.

Ich?

Da ging es mir auch schon durch den Kopf. Was meinte er damit? Warum bezog sich das nur auf ihn? Und verdammte kacke, warum wurde ich entführt?

»WAS WILLST DU VON MIR?«, schrie ich zurück.

Schnauze voll! Wenn dies jetzt mein Ende bedeuten sollte, so sollte es sein.

»WAS WILLST DU VON MIR?«, schrie ich nochmals.

Ruckartig drehte und wand ich mich unter seinem Körper. Ich wollte, dass er von mir abließ und mir endlich sagte was … Doch zu mir kam ich nicht. Nachdem ich es geschafft hatte mich unter ihm komplett zu ihm zu drehen, sahen wir einander an. Unsere Blicke trafen sich, wobei mir schlagartig der Atem stockte. Der Angstschweiß, sowie die Panik in meinem Körper verflog und auch Spucke sammelte sich wieder in meinem Mund zusammen. Doch ein riesiger Kloß in meinem Hals schnürte mir regelrecht die Atmung ab.

Woher … Warum …

Leibhaftig verschlug es sogar meiner inneren Stimme die Sprache. Diese Augen … Diese Augen kamen mir so unheimlich bekannt vor, als wäre ich ihnen schon mal begegnet und das nicht nur einmal. Ich kannte sie, ich kannte sie vielleicht zu gut. Dieses Farbwechselspiel, sobald Licht aus mehreren Winkeln auf sie trafen. Dann diese weite Tiefe, in der man sich gerne verlor und auch wohlzufühlen scheint. Und dann …

»Warte!«, rief ich ihm hinterher.

»Warte, bitte!«, flehte ich ihn an.

Er hatte es wahrscheinlich gespürt oder allein an meinem Blick gesehen, dass mir seine Augen bekannt vorkamen, was ihn letztendlich dazu brachte schnurstracks aus dem Raum zufliehen. Und die Tür fiel wieder in´s Schloss.

Eins, zwei …

Mehr wurde dieses Mal nicht abgeschlossen. Jedoch reichte es vollkommen aus, mich weiterhin hier festzuhalten. Er hielt mich nicht nur gefangen, er ließ mich sogar perplex zurück. Denn seine Augen glichen … Aber nein, das kann doch nicht sein. Oder etwa doch?     

Unterstützung

An Schlaf war nach dieser Aktion, in der mich seine Augen wieder und wieder verfolgten nicht zu denken, auch wenn mein Körper ausgelaugt und total erschöpft war. Meine Knie gaben bei jedem weiteren Schritt, den ich ging, immer mehr nach, was mich letztlich dazu brachte stillzustehen. Mit dem Rücken an der Wand starrte ich auf das kleine Gitterfenster. Ich sah nicht die Streben, ich sah nicht die klitzekleinen Schlitze dazwischen, einzig diese Augen waren Mittelpunkt meines Blickfeldes geworden.

Ich kenne sie …

Innerlich war ich fest davon überzeugt sie zu kennen, doch äußerlich kam die Überzeugung noch nicht an. Meine Augenbrauen tanzten einen wirren Chaoswalzer. Mal hin, mal her, nie standen sie auch nur eine Sekunde still. Auch meine Hände spielten miteinander fangen. Mal fing ich mit der rechten Hand den linken Daumen, mal mit der linken Hand den rechten Zeigefinger. Ich war aufgewühlter den je, den es ließ mir einfach keine Ruhe.

Woher kenne ich sie?

Wie ein Tonband lief diese eine Frage in meinem Kopf ab. Immer und immer wieder. Scheußlich, wenn man an nichts mehr anders denken konnte. Ich vergaß alles: den Schmerz, die Entführung und die Hilflosigkeit. Wie sehr ich es doch hasste, von nur einer Sache so dermaßen aus der Fassung gebracht zu werden. So lief es schon mein ganzes Leben lang. Sobald etwas oder irgendwer meine Aufmerksamkeit geraubt hatte, vergaß ich selbst das rege Treiben meiner Mitmenschen um mich herum und das sogar beim Autofahren, wobei ich bei so manchen fast Unfällen gerade in letzter Sekunde noch entkommen konnte.

Desto länger ich nachdachte, desto nervöser wurde mein Körper. Ich zwang meinen Körper zum Weiterlaufen, hin und her, her und hin. Wieder machte ich Pausen an gewissen Wandstücken, bei der abermals der Putz abbröckelte. Mal saß ich auf der Matratze, mal lag ich. Irgendwie immer in Bewegung, was im Endeffekt dazu führte, dass mich wieder einmal der Schlaf zu packen bekam. Meine Lider wurden tonnenschwer, als ich das letzte Mal mich auf der Matratze ausruhte, bis ich letztendlich voll wegtrat und einschlief.

 

Die Tage vergingen rasant, zumindest dachte ich es so. Ich hatte schon lange die Zeit verloren und kein richtiges Tageslicht mehr gesehen gehabt, sodass es mir vorkam, schon seit Wochen hier zu sein ohne jegliche Hilfe von außerhalb. Vielleicht waren aber auch nur ein paar Tage vergangen. Woher sollte ich das auch wissen? Und woher sollte ich wissen, ob man überhaupt nach mir zu suchen scheint? Verworrene Angelegenheit, bei der es momentan kein Ausweg gab.

Meine Eltern waren womöglich krank vor Sorge, hatten höchstwahrscheinlich auch der Polizei mein Verschwinden gemeldet, aber warum nach einem unbedeutsamen Menschenleben suchen, dessen Interesse man nicht kannte? Meine Eltern kannten ihre Tochter zwar, doch in den letzten Jahren erzählte ich ihnen nicht mehr als nötig. Ich wollte ihnen ihre Freiheit schenken. Eine Freiheit, die sie zu genießen hatten, da mein Vater unerwartet an Krebs erkrankt war.

Meine Sorgen, meine Leiden, meine weiteren Interessen behielt ich entweder für mich oder deutete es nur kurz an. Sie sollten lieber ihr restliches wunderschönes Eheleben leben, auf Reisen gehen …

Oh Gott Vater! Hoffentlich wird seine Krank … Nein daran darf ich nicht denken!

Zum gefühlten tausendsten Mal liefen mir Tränen die Wangen hinunter, sowie die letzten Tage, nachdem ich mich in den Schlaf weinte und aus dem Schlaf erwachte. Unaufhörlich, obwohl mein Glaube überhaupt noch Tränenflüssigkeit zu besitzen immer wieder auf´s Neuste belehrt wurde. Auch die Verwunderung, woher das Essen nur immer herkommen war, versiegte nach einiger Zeit. Ich verlor jeglichen Glauben binnen weniger Zeit.

Eins, zwei, drei …

Ich erschrak, als ich nach einer Ewigkeit wieder die Tür aufschließen hörte. Ein wundervolles Geräusch, wenn man davon absah, dass ich nicht durch diese Tür treten durfte. Quietschend ging diese zögerlich, Millimeter für Millimeter auf. Mit aufgerissenen Augen beobachtete ich das Geschehene, da mich dies aber zum zweiten Mal in Angst und Schrecken versetzte, zog ich meine Knie weit an meinem Körper heran und umschlang sie mit beiden Armen.

»Keine Angst, ich werde dir nichts tun«, wurde geflüstert.

Doch ich schenkte diesen Worten keinen Glauben, stattdessen fürchtete ich mich davor. Warum auch sollte ich dieses Mal keine Angst haben? Zumal das letzte Treffen alles andere als gut ausging, wenn man den riesigen blauen Fleck an meiner Hüfte betrachtete.

»Hab keine Angst«, flüsterte der Hereinkommende abermals.

»Was willst du?«, giftete ich zurück in einem etwas lauteren Ton.

»Pscht sei still!«, befahl er mir.

Und jetzt sah ich ihn, zumindest seine dunkle Kleidung. Seine dunklen Boots, die schwarz verwaschene Jeans, der dunkelgraue Kapuzenpullover und diese ätzende Verbrechermaske im Gesicht.

»Was willst du?«, wiederholte ich in demselben Ton wie zuvor.

Mit einem hocherhobenen Arm kam einer der Entführer rasch auf mich zu, was mich perplex aufschauen ließ. Auf dem anderen Arm trug er ein weißes Tablet, wie eines dieser, die ich verwundert nach dem Schlaf oft auf dem Boden neben der Tür stehen sah. Genauso galt es auch den Sachen, die sich darauf befanden: zwei Scheiben Toastbrot, entweder mit Wurst oder Käse und einem Trinkpäckchen mit Organgengeschmack, welches man seinen kleinen Kindern im Park zum Trinken gab. Tag ein, Tag aus derselbe Fraß, der mich zwar am Leben hielt, aber nicht stärkte.

»Sei bitte ruhig!«, flehte er mich an und drückte mir seine freie Hand auf meinem Mund.

Atmen konnte ich ohne Weiteres, aber auch wenn ich mich bemüht hätte etwas zu sagen, gar zu schreien, wäre es mir dennoch wehrt geblieben. Als ich in seine Augen schaute, sah ich: Schmerz, Hilflosigkeit, Enttäuschung und ganz besonders warme Gefühle, die nichts mit der Entführung zu tun hatten, was mich total verwirrte und mich auch zum Schweigen brachte.

Langsam hasse ich Augen! Augen, Augen, überall Augen …

»Pscht, pscht, sei bitte still und schrei nicht, wenn ich meine Hand wieder wegnehme, okay?«

Seine Augen übermittelten seine flehende Aussage, sodass selbst der Schrei in meiner Kehle dahin zurück kroch, wo er herkam.

»Okay?«, sprach und nickte er mir auffordernd zu.

Da ich ja nichts sagen konnte, nickte auch ich ihm zu. Doch irgendwie kam mir alles komisch vor, sodass ich überlegte nicht doch noch zu schreien, wenn er seine Hand von meinem Mund wegnahm. Aber was hätte das gebracht? Entweder hätte ich von ihm eine gelangt bekommen oder seine räuberischen Kollegen wären ihm zur Hilfe gekommen und hätten mich mit Tritten und Schläge klein gehalten.

Der Mensch vor mir, dessen Körperbau kräftig und groß erschien, nahm seine Hand zaghaft aus meinem Gesicht. Ich merkte an seiner zittrigen Hand, wie unsicher er doch war. Lag es vielleicht daran, dass er mir den noch vorhandenen Schrei in der Kehle ansah? Oder wusste er nicht, wie er mit seiner Geisel umzugehen hatte? Denn dann würde ich seine unsichere Haltung mir gegenüber auch verstehen. Fragen, die ich aber schnell wieder aus meinem Gedächtnis strich.

»Wer …«, da unterbrach er mich auch schon.

»Nicht so laut!«, befahl er mir.

»Wer bist du? Und warum …«, da legte er mir auch schon wieder ein Finger auf meinen Mund.

»Das werde ich dir ein andermal erklären. Ich habe nicht soviel Zeit …«, flüsterte er so leise, sodass ich mich schwer tat ihn genau zu verstehen, aber ich bemühte mich redlich.

»… Ich werde dir helfen!«, fügte er hinzu und sah sich ein paar Mal um, als hätte selbst er Angst von den anderen Typen.

Stillschweigend horchten wir beide nach draußen. Ein räuspern, welches uns dazu zwang genauer hinzuhören. Doch es entfernte sich immer weiter von uns, weshalb ich rasch das Wort an mich nahm.

»Wer bist du? Warum willst du mir helfen? Und warum kenne ich die Augen deines Kollegen, der mich gestern, vorgestern oder wann auch immer besuchen kam?«

Die Fragen purzelten einfach aus mir heraus und ließen sich auch durch seinen Finger nicht aufhalten.

»Du kennst ihn?«, gab er gedankenverloren von sich und sah zum Boden hin.

»Ja!«, antwortete ich.

»Wer seid ihr? Und warum haltet ihr mich fest?«

»Ich kann dir das alles jetzt nicht beantworten. Ich muss wieder hoch, sonst schöpfen sie Verdacht, aber sei gewiss – ich werde dir helfen!«, mit dem Beenden des Satzes betonte er die letzten Worte immer mehr.

 

Während er mir minutenlang tief in die Augen sah, welcher sehr traurig herüberkam, sprang er urplötzlich auf und lief in Richtung Tür. Perplex sah ich ihm dabei zu, aber innerlich kam es mir so vor, als hätte er alles gesagt, was gesagt werden musste. Dennoch verwunderte es mich schon sehr. Er sah noch nicht mal mehr zurück, doch an seiner gekrümmten Körperhaltung war zu erahnen, dass es ihm schwerfiel zu gehen. Aber warum?

»Warum?«, und schon fragte ich ihn.

Mit diesem Wort sprang auch ich von der Matratze auf und lief ihm schnellen Schrittes hinterher. Bevor er den ersten Schritt überhaupt raussetzen konnte, hielt ich ihn auch schon auf. Aus heiterem Himmel ergriff ich sein linkes Handgelenk, zerrte daran und zwang ihn somit stillzustehen. Glücklicherweise tat er, was ich von ihm wollte und sah mich ein letztes Mal traurig an, als wäre ich dem Tode geweiht.

»Weil ich es dir schuldig bin«, und mit diesen Worten trat er mit einem Fuß aus dem Raum.

Ich lockerte keineswegs meinen Griff, stattdessen packte ich noch kräftiger zu und nahm dabei noch meine zweite Hand hinzu. Während ich eine Hand an seinem Handgelenk hielt, schnappte die Andere nach seinem Kapuzenpullover und zog ihn so gut es ging zurück. Da er sich ganz und gar nicht zu wehren versuchte, zog ich ihn komplett an meinen Körper heran. Unsere Körper berührten sich, wobei wir gleichzeitig uns mit Blicken durchbohrten.

»Wer bist du?«, hauchte ich ihm zu.

Sein rasanter werdender Atem peitschte gegen meine Wangen. Sein galoppierender Herzschlag schlug selbst mir gegen die Brust. Und … Doch mehr vernahm ich zunächst nicht.

»Wer bist du?«, wiederholte ich, wobei er seine Augen für einen Moment zusammenkniff.

Ich spürte, dass er innerlich einen Gefühlskrieg bekämpfte und nicht nur er tat es, auch ich. Es kam mir alles so surreal vor: die Entführung, die Personen und ganz besonders dieser Augenblick, als hätte ich diesen schon mal erlebt gehabt. Aber so viele Zufälle auf einmal konnten doch nicht Real sein oder?

»Erinnere dich an jenen Abend, an dem ich dich unwissentlich …«, er stockte und rieb sich dabei seinen Nacken, als hätte er eine unangenehme Verspannung.

Aufgeregt und skeptisch zugleich wartete ich geduldig darauf, dass er seinen Satz beendete. Mit beiden Händen zog ich an ihm und versuchte ihn so aufzufordern, doch nichts kam. Er sprach einfach nicht weiter, stattdessen …

»BIST DU DA UNTEN ENDLICH SOWEIT? ODER HAT DIE FURIE DICH NIEDERGEMACHT?«, schrie jemand aus der oberen Etage.

Erschrocken darüber fuhren wir beide zusammen. Die Person vor mir war gerade, als dieses schreckliche Gebrüll von oben hallte, im Begriff zu fliehen, doch ich hielt ihn ein weiteres Mal auf. Schlagartig wurde mir bewusst, wer der Mensch vor mir zu sein schien. Jedoch war ich mir in dieser Hinsicht nicht ganz sicher, daher musste ich ihn schnurstracks danach fragen.

»Crispin?«

Ich konnte nicht anders, es lag mir einfach auf der Zunge und das Verlangen ihn darauf anzusprechen, stieg stetig in mir an. Wer anders würde in dieser Lage zu mir sagen - erinnere dich an jenen Abend, an dem ich dich unwissentlich … geküsst habe? Nur so war der Satz vollständig und auch zu verstehen. Etwas anderes konnte ich mir nicht vorstellen und da mich seit Monaten keiner mehr unwissentlich küssen wollte, konnte dieser Mann nur Crispin sein. Doch ich wollte jetzt und hier Gewissheit haben, daher sprach ich direkt aus meinem Herzen heraus.

»Crispin? Bist du es?«

Nun sag schon was!

Ich zog und zog, rüttelte und rüttelte an dem Körper vor mir, jedoch ohne wirklichen Erfolg. Er zeigte keinerlei Regung, noch sonst kam irgendetwas von ihm. Stattdessen ergriff er abrupt die Flucht und entzog sich heftig meinen Händen, was schmerzlich vonstattenging.

Erschrocken darüber sah ich ihm zu, wie er die Tür hinter sich schloss und leise verschwand. Starr wie angewurzelt stand ich inmitten des Raumes. Man hörte noch nicht mal, wie er von der Tür wegging oder wie seine Kumpanen mit ihm sprachen. Einzig eine grauenvolle, undurchdringliche Stille trat und hüllte mich zugleich ein.

Verrückt

Perplex stand ich noch eine Weile an der Tür. Horchte an ihr so gut es ging und hoffte innerlich, er würde noch einmal zurückkehren. Die raue Oberfläche des Holzes, welches nicht imprägniert war, versuchte sich mit mehreren Stichen durch meine Haut zubohren. Manchmal fühlte es sich sogar an, als hätten es auch ein paar Holzsplitter geschafft. Aber sie hielten mich nicht davon ab, den leise pfeifenden Wind durch die Gänge oberhalb meines Aufenthaltsortes zu verfolgen.

Ein lieblicher Klang, dem ich gerne zuhörte, statt dem Krächzen der Gitterstreben am Fenster, dessen Klang man eher einem sterbenden Tier hätte zuordnen können. Jedoch wäre es mir lieber gewesen, die Schritte des Mannes zu hören, dem ich ein reines Gefühlschaos zu verdanken hatte.

Durch die Entführung fühlte ich mich eh schon elendig schlecht und durch die langen Tage, die ich hier schon zu sein schien, kraftloser und erschöpfter, als ich es nach mehreren Drehtagen war. Aber durch ihn – Crispin, so glaubte und hoffte ich zumindest, waren meine Gedanken verloren. Sie drehten sich nur noch um ihn: seine Gestalt, sein Dasein, seine Stimme und besonders seine Haltung mir gegenüber.

So war er doch vor gut ein paar Tagen noch aufdringlich und binnen weniger Sekunden später abweisend zu mir, als wäre ich ein Stück Scheiße, welches sich nicht seinem Verlangen unterhalb der Gürtellinie gefügt hatte. Und jetzt war er ein hilfsbereiter Entführer? Irgendetwas passte doch ganz und gar nicht zusammen. Was war er denn nun? Engel oder Teufel?

Ein Bengel!

Da war sie wieder meiner innere Stimme, die mir keineswegs gehörte. Als kleines Kind hatte ich immer Angst und war in volle Panik geraten, wenn ich sie gehört hatte. Im jugendlichen Alter wollte man mich diesbezüglich zu einem Therapeuten schicken. Doch mit den weiteren Lebensjahren, mit Ezra – so taufte ich das Etwas in meinem Kopf, lernte ich immer mehr umzugehen und es wurde mir bewusster lieber zuschweigen. Was dieses Thema betraf, hielt ich mich geschlossen und tat so, als wäre mein gedanklicher Zwilling nicht mehr vorhanden. In meiner jetzigen Lage hingegen wäre es vielleicht hilfreich gewesen, meine innere Stimme weiter erwähnt zu haben. Dann wäre ich höchstwahrscheinlich nicht in diese missliche Lage geraten und besäße ein vernünftiges Bett, würde reichlich Essen erhalten und hätte Wände, an die ich mich gemütlich lehnen könnte ...

Red nicht so ein Blödsinn! Du weißt genau, dass das kein schönes Leben wäre!

»Vielleicht hast du ja recht, aber das hier ist auch nicht besser!«

Alles ist besser, als ein Leben in einer Gummizelle!

»Woher willst du das denn wissen?«

Weil ich in einer lebe!

»Na vielen Dank! Meinst du etwa mir gefällt das, dass ein zweites Ich in mir lebt?!«

Ich bin nicht dein zweites I …

»Was bist … AH WARUM REDE ICH ÜBERHAUPT MIR DIR!«, rief ich und ärgerte mich immer mehr.

»JETZT HÖR ENDLICH AUF!«, schrie ich weiter und schlug permanent gegen meine Stirn.

»HÖR AUF! HÖR AUF! HÖR AUF!«

Langsam aber sicher breiteten sich Kummer und Frust in mir aus, sodass ich in denselben Trott verfiel, wie vor gut einem Jahrzehnt. Als picklige Jugendliche, die mit ihrem Leben nicht mehr zurechtkam. Die sich lieber in die dunkelste Ecke verzog, anstatt mit ihren wenigen Freunden bei warmen sommerlichen Temperaturen ein erfrischendes Bad im Badesee zu genießen.

Auch mit der jetzigen Situation kam ich nicht zurecht. Hilflosigkeit stand womöglich auf meiner Stirn geschrieben und das zurecht.

»LASST MICH ENDLICH HIER RAUS! LASST MICH RAUS!«, schrie ich und hämmerte wie bisher gegen das knarrende Holz vor mir.

»ICH WILL HIER RAUS!«, ich legte soviel Kraft in meine Stimme, sodass ich anfing zu krächzen, wie der Wind durch die Streben am Fenster.

»Ich will endlich hier raus …«, säuselte ich nur noch, da mich der nächste Weinkrampf überkam.

Weinend rutschte ich weiter herunter, wobei aufgewirbelter Staub sich mit meinen Tränen mischte und wie Schmiergelpapier meine Wangen herunterliefen. Ich hielt sie dennoch nicht auf. Warum auch? Es würde eh nichts bringen. Meine Kleidung, sowie die unbekleideten Körperteile glichen einem Mann, dessen Leben man nur noch mit viel Alkohol auf der Straße verbringen konnte. Der Staat war sich zu fein, ihm eine geeignete Wohnung zu finanzieren und half ihm keineswegs wieder auf eigenen Beinen stehen zu können. Stattdessen saß der arme Mann mit schmutziger Kleidung, so wie ich, im Park und trank sich seine letzten Tage schön. So gesehen war auch ich ein ruhender Mensch der Straße ohne Möglichkeit sich mindestens einmal pro Tag waschen zu können.

»Lasst mich raus …«, waren meine letzten Worte, bevor der Weinkrampf komplett überhandnahm.

Mit dem Rücken an die Tür gelehnt, zog ich meine Beine heran, schmiegte mein Gesicht in meine Hände und stützte mich auf meinen Knien ab. Ich grub mein tränenerfülltes Gesicht tief in meine Hände und weinte leise in sie hinein. Ein leises Schluchzen zischte zwischen meinen Fingern hindurch, mehr vernahm man nicht mehr von mir.

 

Ich weinte und weinte und weinte. Sekunden, Minuten, vielleicht auch Stunden, ohne je ein Mal aufgeschaut zu haben. Die Welt um mich herum wäre eh verschwommen an mir vorbeigelaufen, so sehr hatten sich die Tränen an mich geklam …

Erschrocken fuhr ich herum, da das laute quietschende Geräusch eines herumgedrehten Schlüssels in meine Ohren drang. Mein Herz überschlug sie dabei und versetzte mich abermals in eine Schockstarre. Mit aufgerissenen Augen sah ich …

»… Crispin«

»Pscht, pscht«, ertönte es wieder.

»Crispin?«, wiederholte ich.

»Pscht sei ruhig!«

»Crispin warum …«, da lag auch schon wieder ein Finger auf meinem Mund.

Jetzt sah ich ihn: seine Augen, sein Mund, seine Gesichtszüge, seine dunkle Gesichtsmaske, die er zu seinem Haaransatz hochgezogen hatte.

»Du musst mir jetzt genau zuhören!«, befahl er mir und sah dabei mehrere Male hinter sich.

Nie ruhten seine Augen länger als eine Sekunde auf mir. Immer waren sie in Bewegung, eher auf der Lauer. Auf der Lauer nach irgendetwas, was hinter ihm zu sein schien. Auch ich schaute dorthin, aber mehr als weiße Stufen, fünf an der Zahl, erspähte ich nicht. Nichts, was mich hätte so aussehen lassen wie ihn.

Kreidebleich war seine Gesichtsfarbe. Augenringe, die dunkelgrau unterlaufen waren, als hätte er nächtelang Partys gefeiert. Und sein Lächeln? Das schien ihm geraubt worden zu sein.

»Sie werden kommen …«, wieder schaute er hinter sich.

»Sie werden kommen und …«, er legte eine Pause ein und kniff mit seinen Fingern seine Augen zu.

»FUCK!«, sprach er lauter als gewollt.

»Es wird etwas Schlimmes geschehen …«

Ich hörte ihm irgendwie nicht richtig zu und auch sein Leid sah ich nicht wirklich. Dies lag allem Anschein nach an den Resten der Tränenflüssigkeit in meinen Augenwinkeln. Ich sah ihn zwar, doch bei jedem Augenaufschlag, den ich tat, verschwamm sein Anblick immer und immer wieder.

»Warum bist du einer von ihnen?«

»Hast du mir gerade nicht zugehört?«, antwortete er mir mit einer Gegenfrage.

»Warum bist du einer von ihnen?«, fragte ich abermals und überhörte, was er sagte.

»Das ist egal. Du musst hier weg! Jetzt! Sofort!«, sein flüsternder Ton verschwand mit einem Mal, stattdessen zwang er sich dazu, bei jedem Wort wieder leiser zu werden.

»Du musst hier weg!«, sagte er nochmalig und griff nach meinen Händen.

Er zog so feste, wie er nur konnte an ihnen und brachte mich so zum Aufstehen. Auf wackeligen Beinen stand ich vor ihm und schaute ihn verwirrt an.

Was ist denn nun los? Was geschieht hier?

»Das frage ich mich auch«, flüsterte ich meiner inneren Stimme zu.

»Was?«, kam es von Crispin, der erneut zu den Treppenstufen schaute.

»Was machst du?«, fragte ich ihn und vergaß das Gespräch mit meinem zweiten Ich im Kopf.

»Ich bring dich hier weg!«, flüsterte er mir zu und sah mir dieses Mal in die Augen.

»W …«, fing ich an, da packte er mich aber auch schon an der Hüfte und …

»WAS MACHST DU DA MIT IHR!«

Schreckhaft und ertappt blieb Crispin stehen und hielt mit seiner linken Hand meine Hände fest, aber das hinter seinem Rücken. Wie eine menschliche Mauer baute er sich vor mir auf und drückte abwechselnd, mal leichter, mal stärker meine Hände.

»HAST DU VOR …«, sprach der Kolos oberhalb der fünf Stufen, die er Schritt für Schritt nach unten trat.

»Nein, ähm, nein ich wollte sie hochbringen«, stotterte Crispin leicht, aber hielt sich dennoch wacker.

Was war nur los hier? Ich verstand rein gar nichts mehr. Weder Crispin, noch der bullige Typ, der immer mehr auf uns zukam, noch meine Wenigkeit. So lehnte ich eben noch weinend an der Tür. Hoffend der Mensch, der mir seine Hilfe anbot, würde noch einmal zurückkehren, was er letztendlich auch tat und stand jetzt da, als würde ich meinem Schicksal entgegenfiebern.

»Ich sollte den Lecker …«, fing der maskierte Kerl vor uns an, doch Crispin unterbrach ihn rasch.

»Ich wollte dir etwas Arbeit abnehmen. Du hast doch schon genug geschuftet«, lachte Crispin gedrungen.

Seine Hand verkrampfte sich bei jedem Wort, welches seinen Mund verließ und auch ich packte mit beiden Händen immer fester zu. Wovon sprachen die Zwei? Und warum Lecker … Leckerchen? Leckerbissen? Was hat das alles zu bedeuten? Aus unerklärlichen Gründen war ich innerlich mehr als froh, dass die Person vor mir - demnach Crispin, sich schützend vor mir gestellt hatte.

»Dann nimm sie! Wir warten oben schon sehnsüchtig auf sie. Chefchen ist ja nicht da«, grinste der maskierte Unbekannte unter der Maske verschmitzt.

Man sah, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief und der Sabber aus dem rechten Mundwinkel quoll. Allmählich setzte sich das Puzzle in meinem Kopf zusammen und ich erschrak abrupt, weshalb ich meine Fingernägel in Crispins Hand bohrte. Entsetzt sah er mich wehleidig an.

»WAS HABT IHR MIT MIR VOR?«, kreischte ich los.

»Das mein Liebling, wirst du oben erfahren!«, während der grausige Typ das sagte, kam er auf mich zu und streichelte mir über´s Gesicht.

Crispin sah dem Geschehen angewidert zu, aber hielt sich dennoch zurück. Ich hingegen ekelte mich zu sehnst, sodass mir eine richtig dicke und unsagbar unangenehme Gänsehaut über den Rücken lief.

»LASS MICH IN RUHE!«, keifte ich ihn an und entriss mich seiner abscheulichen Streicheleinheit.

An Crispins zittrigem Körper spürte ich, dass er auch angewidert war, aber er unternahm einfach nichts. Nichts, was mich hätte von dem abstoßenden Typ fernhalten können. Er bot mir seine Hilfe an, aber stand nur wie eine starre Mauer vor mir.

»WAS HABT IHR MIT MIR VOR?«, schrie ich ohne Bedenken weiter.

»Oh Schätzchen, das wirst du oben erfahren. Glaube mir, wir werden alle unseren Spaß haben«

Tjara schrei! Schrei um dein Leben! Sie wollen …

Doch da schrie ich auch schon. Ein greller, krächzender Schrei, ohne wirkliche Worte, ohne wirklichen Sinn. Ein furchterregender Schrei durchflutete meinen Körper und hallte durch die Gänge, wobei sich der bullige Kerl vor uns die Ohren zuhalten musste und Crispin mich automatisch näher an sich heranzog. Für einen klitzekleinen Moment, indem ich für einen weiteren Schrei scharf Luft einsog, sog ich den beängstigend, aber gleichzeitig berauschenden Duft von Crispin ein. Ein sinnlicher Geruch, dem ich rasch versuchte zu entfliehen. Ich löste mich aus seiner Hand, schob das stinkende und Ohren zuhaltende Etwas vor Crispin weg und lief auf schnellen Sohlen die Treppe hinauf.

Kreischend lief und lief ich weiter, fuchtelte wild mit meinen Armen herum und suchte verzweifelt den Weg aus dem Haus heraus. Ich bog genau zweimal ab, bevor …

»AH …«, entfuhr es mir, während ich den dreckigen Boden unter mir immer näher kommen sah.

Ohne wirklich darauf zu achten, stolperte ich über irgendetwas Hartes und zugleich Weiches. Ein biegsamer Gegenstand, welcher hart und kantig erschien. Natürlich war ich mir bewusst, dass dies meine Flucht erheblich beeinflusste und ich somit noch weniger Zeit hatte einen Ausweg zu finden, aber ich raffte mich wieder auf und war im Begriff wieder loszulaufen. Eine Millisekunde später jedoch wurde ich an meinen Armen gepackt und rasch in eine fest verschlossene Umarmung gezwängt, die mir jeglichen brauchbaren Sauerstoff zum Atmen raubte. 

Impressum

Bildmaterialien: http://www.deviantart.com/art/Cuffed-171296645
Tag der Veröffentlichung: 23.11.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch meiner lieben Freundin Mia, die mich dazu angestiftet hat es zu schreiben, die mir mit tollen Ideen zur Seite steht und mir hilft es zu vollenden. Ich danke dir von ganzem Herzen :*

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