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Prolog

Das Lebewesen existierte seit Äonen. Im Lauf der Zeit hatte es auf seinem Planeten gigantische Naturkatastrophen und gewaltige Umwälzungen des Klimas gegeben. Doch keines dieser Ereignisse hatte jemals vermocht, es in seiner nahezu grenzenlosen Vitalität zu beeinträchtigen. Jedwede Verletzung seines Körpers, war sie auch noch so schwerwiegend, konnte durch das Wesen selbst geheilt werden.

Im Gegenteil war es nach jeder größeren Verletzung stärker geworden, denn es hatte Zeit … unendlich viel Zeit. Es gab keine Feinde, die ihm gefährlich werden konnten. Nichts auf diesem Planeten, keine Pflanze und auch kein Tier, war dazu imstande, seine Existenz zu gefährden.

Aus diesem Grund dämmerte es über einen Zeitraum von Hunderttausenden Planetenumläufen wie in einem Tagtraum dahin, denn es kannte keine andere Aufgabe, als einfach nur zu leben.

Legte man rein menschliche Maßstäbe an, so dachte und reagierte das Wesen während dieser Zeit ungeheuer langsam. Doch im Lauf der Zeit entwickelte es die Fähigkeit, Beeinträchtigungen seines Wohlbefindens – die stets von Beschädigungen seines Körpers verursacht worden waren – sehr schnell zu lokalisieren und zu bewerten.

Zunächst allerdings beschränkte es sich jedes Mal darauf, zerstörte Bereiche seines Körpers von der Wasser- und Nährstoffzufuhr abzuschneiden. So vermied es instinktiv den Verlust wertvoller Ressourcen, die es für die nachfolgende Regeneration dringend benötigte.

Später lenkte es Körpersäfte dorthin, wo sie dazu beitrugen, den verletzten Körperabschnitt, stärker als er vorher gewesen war, wieder herzustellen. Im Lauf der Zeit begannen die Zellen seines riesigen Körpers, komplexe Strukturen zu bilden. Netzknoten begannen sich zu entwickeln, die ein kompliziertes Nervensystem steuerten.

Allmählich entwickelte sich in dem Wesen auch ein Bewusstsein. Und das begann trotz seiner anfänglichen Einfachheit zu verstehen, dass es zwei Arten von Wahrnehmungen gab: Die eine Art war von angenehmen Gefühlen begleitet. Sie betraf das, was das Wesen in seinem Inneren empfand. Es war eine Art von Zufriedenheit, die stets den Zustand der Unversehrtheit begleitete.

Doch es gab auch noch die andere Art von Gefühlen: Diese Gefühle wurden von etwas verursacht, das seinen Ursprung nicht im Körper des Wesens hatte. Es waren Impulse aus verschiedenen Regionen des Körpers, die es sehr oft als unangenehm empfand. Sie übermittelten die Information von Verletzungen, des Fehlens bestimmter, meist sehr kleiner Körperabschnitte.

Wenn das Wesen Körpersäfte und Nährstoffe dorthin leitete, wo die unangenehmen Gefühle ihren Ursprung hatten, kehrte irgendwann das Gefühl der Zufriedenheit und damit  der Unversehrtheit zurück – bis zur nächsten größeren Verletzung seines Körpers.

Unendlich lange Zeit nahm es das Wesen als gegeben hin, sich immer wieder unvollkommen zu fühlen. Stets wartete es geduldig darauf, bis sein Körper das wiederhergestellt hatte, was zerstört worden war. Doch irgendwann in seinem langen Leben begann es sich zu fragen, wodurch dieses Gefühl der Unvollkommenheit verursacht wurde.

Zwar bereitete es ihm zumeist keine all zu große Mühe, die ausgefallenen Bereiche zu regenerieren, doch es empfand jedes Mal so etwas wie Ärger, wenn Teile seines Körpers wiederherzustellen waren. Zehntausende von Planetenumläufen beschäftigte es sich mit diesem Problem. Dabei kam es irgendwann zu dem Schluss, dass es neben seinem eigenen Körper noch etwas Anderes geben musste. Und dieses Andere musste sich irgendwo ausserhalb seines Körpers befinden.

Diese vollkommen neue Erkenntnis, der es sich fortan nicht mehr verschließen konnte, war mehr als befremdlich für das Wesen. Es hatte sich nämlich lange Zeit vorgestellt, das „Außerhalb“ müsste doch irgendwo innerhalb seines Körpers liegen, sodass es nur lange genug suchen musste, um es schließlich zu finden.

Und genau dieses „Außerhalb“, oder zumindest ein Teil davon, so schloss das Wesen nach intensiven Überlegungen, die nochmals Tausende von Planetenumläufen dauerten, war dafür verantwortlich, dass sein Wohlbefinden zeitweilig immer wieder gestört wurde.

Die größte Schwierigkeit bei der Analyse seiner Situation bestand darin, dass es zunächst einfach nicht imstande war, sich vorzustellen, dass es außerhalb des eigenen Körpers noch etwas geben sollte. Seine Welt war sein eigener Körper, der mittlerweile so gewaltig geworden war, dass er tatsächlich eine Welt für sich darstellte. In dieser Lebensphase hatte das Wesen nämlich noch keinerlei Sinne entwickelt, die ihm Informationen über die Umgebung, in der es lebte, hätten übermitteln können.

Enthielt das Milieu, in welchem es lebte, ausreichend Feuchtigkeit und Nahrung, so waren seine Empfindungen von angenehmer Art, sofern sein Körper unbeschädigt blieb. Aber es hatte keinerlei Möglichkeit zu erkennen, dass die Ursache für die angenehmen Gefühle außerhalb seines eigenen Körpers zu finden war.

Wurde es dagegen verletzt oder fehlten irgendwo in seinem Körper Wasser und Nährstoffe, empfand es diese Situation als äußerst unangenehm, war jedoch nicht in der Lage, diesem Zustand eine äußere Ursache zuzuordnen. Lange Zeit war es nicht fähig, die verschiedenartigen unangenehmen Empfindungen definitiv voneinander zu unterscheiden.

Nur allmählich, im Verlauf ungezählter weiterer Planetenumläufe, entwickelte es das Gefühl für Feuchtigkeit, also Wasser, welches sein Lebenselixier war. Auch die Gefühle für Wärme, Kälte und Verletzungen oder Zerstörungen seines Körpers lernte es im Lauf der Zeit kennen.

Und eines Tages begehrte es zu wissen, weshalb immer wieder eng abgegrenzte, in selteneren Fällen auch weitläufige Bereiche seines Körpers zunächst unangenehme Gefühle übermittelten, um danach oftmals vollständig auszufallen. Es stellte die für seine weitere Existenz entscheidende Frage, die, in menschliches Vokabular übersetzt, am treffendsten mit der Frage „warum?“ umschrieben wäre. 

 

Schrill heulend raste die riesige Landefähre durch die dunstige Atmosphäre des Planeten, der seine gelbe Sonne wie ein türkisfarbener Edelstein umkreiste. In dieser Farbe erschien er wegen der Farbe seiner Vegetation. Auf seiner Oberfläche gab es keine Ozeane. Größere Mengen freies Wasser enthielten lediglich die schmalen Meeresarme, die Flüsse und die riesigen Seen, die über die Landfläche des gigantischen Kontinents verteilt waren, der nahezu den gesamten Planeten umspannte.

Noch nie zuvor hatten die auf dem Kontinent lebenden Tiere das Geräusch einer landenden Raumfähre gehört. Manche erschraken und stoben in wilder Flucht davon. Andere wieder hoben nur kurz den Kopf, um zu lauschen. Ungerührt fuhren sie danach fort, das allgegenwärtige, türkisfarbene Gras oder die saftigen blauen Blätter der Stengelpflanzen auf der Hochebene abzuweiden.

Die automatische Steuerung brachte das Landefahrzeug punktgenau an sein Ziel. Ein ausgedehntes Hochplateau im Zentrum des Kontinents sollte den Brückenkopf der ersten menschlichen Besiedlung beherbergen. Joe Forrester, der Leiter der Mission, starrte gebannt auf den Monitor. Die weißen Flecken inmitten allgegenwärtigen Türkis erwiesen sich bei näherer Betrachtung als einheimische Tiere, die sich an der üppigen Vegetation gütlich taten. Unruhig begann Joe mit den Füßen zu scharren, denn er konnte es kaum erwarten, endlich den Fuß auf den Planeten zu setzen.

 

Eineinhalb Jahrzehnte lang hatte man den Planeten, nach seiner Entdeckung im Jahr 3970 irdischer Zeitrechnung, genau beobachtet. Klima und Wetter, Boden, Fauna und Flora, Geologie, Hydrologie und auch die Gesetzmäßigkeiten der Ökologie hatte man intensiv studiert. Zunächst hatten Sonden im Orbit den Planeten bis ins Kleinste untersucht und vermessen. Genaueste Kartenunterlagen waren angefertigt worden. Später waren allenthalben unbemannte Robotsonden gelandet und hatten die vorab gewonnenen Ergebnisse vertieft und ergänzt.

Erst als weitere zehn Jahre vergangen waren und als zweifelsfrei feststand, dass der Planet keine Organismen beherbergte, die Menschen und Haustieren schaden konnten, waren die ersten dauerhaften Forschungsstationen auf der Planetenoberfläche errichtet worden. Der erste Versuchsanbau irdischer, genetisch an den Planeten angepasster Nutzpflanzen war äußerst erfolgreich verlaufen. Kein Schädling, keine Pflanzenkrankheit war aufgetreten. Im Gegenteil hatten die getesteten Pflanzen im fruchtbaren Boden des Planeten schwindelerregend hohe Erträge gebracht. 

Stolz hatte die NWF, die so genannte New World Foundation, schließlich berichten können, dass der neue Planet nunmehr wesentlich besser erforscht war als die Erde im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert. Erst jetzt, nach umfangreichen Konsultationen mit der Raumbehörde, hatte das Präsidium der NWF das riskante Projekt genehmigt, die erste menschliche Kolonie auf der Planetenoberfläche zu errichten.

In der Anfangsphase sollten es nicht mehr als dreitausend Siedler sein, welche, anfänglich noch weitgehend abhängig vom Nachschub von außerhalb, die Voraussetzungen für die zukünftige autarke Versorgung der Kolonie schaffen sollten.

Im Lauf der kommenden Jahre sollten, so war es geplant, Zug um Zug weitere fünftausend Kolonisten folgen. Sie würden über die geeignete Ausrüstung und Qualifikation verfügen, um den Planeten weiter zu erschließen und für die Ankunft größerer Zahlen von Siedlern vorzubereiten.

Nach frühestens dreißig Jahren, falls die Kolonie bis dahin frei von bisher unbekannten Krankheiten, einheimischen Parasiten oder sonstigen Beeinträchtigungen geblieben war, würden die ersten Kinder auf dem Planeten geboren werden. Zwar würde den allerersten Siedlern diese Freude noch verwehrt bleiben, doch hegten weder Frauen noch Männer der Vorausmannschaft deswegen den geringsten Groll. War es doch ein in seiner Tragweite nicht einmal abzuschätzendes Privileg, zu den Auserwählten zu gehören, denen es vergönnt war, der mit fünfzehn Milliarden Menschen hoffnungslos übervölkerten Erde für immer den Rücken zu kehren.

Dabei waren es keinesfalls schlechte Lebensbedingungen, welche die Pioniere zur Auswanderung trieben. Hunger, Kriege, Seuchen, all dies gehörte der Vergangenheit an. Jeder Mensch konnte, wenn er es wollte, einen festen Platz in einer stabilen Gesellschaft bekommen. Doch hatte er diesen Platz erst einmal eingenommen, war es ihm so gut wie unmöglich, aus diesem System auszubrechen, um einen Richtungswechsel in der Lebensplanung zu vollziehen. Zu viel hatte die Gesellschaft in die Erziehung und Ausbildung der Individuen investiert, als dass sie es sich erlauben konnte, das geschaffene Potential zu verschwenden.

Ein Wechsel des Berufs etwa oder gar die Übersiedlung in ein anderes Land ohne dringende Notwendigkeit war schlichtweg unmöglich. Die überwiegende Mehrzahl der Menschen akzeptierte diese Einschränkung der persönlichen Freiheit, bot diese doch im Gegenzug Arbeit, materielle Sicherheit, Gesundheits- und Altersversorgung und einen gesicherten Platz in der menschlichen Gesellschaft.

Doch immer wieder wurden Menschen geboren, die mit dieser stabilen, doch in sich selbst stagnierenden Gesellschaftsform nichts anzufangen wussten. Diese Menschen wollten permanent Neues entdecken und Neues schaffen. Allein um des Entdeckens willen waren sie dazu bereit, große persönliche Risiken einzugehen, ja dafür sogar ihr eigenes Leben einzusetzen.

So geartete Menschen waren jahrhundertelang als renitente, asoziale Störenfriede betrachtet worden. Man hatte sie häufig interniert und in unwirtlichen Regionen der Erde zur Zwangsarbeit eingeteilt. Vermutlich wäre das auf Dauer so geblieben, hätte nicht eines Tages ein junger Psychologe eine der Bergbaukolonien in der Antarktis besucht.

Tony Manson, so war sein Name, hatte länger als drei Jahre lang warten müssen, bis er die Genehmigung erhalten hatte, die Station aufzusuchen. „Sie müssen verstehen, Mr. Manson, dass unsere Mittel knapp sind. Es gibt Wissenschaftler, die seit Jahrzehnten auf eine solche Chance warten. Auch wenn Sie Absolvent der legendären Harvard-Universität sind, kann ich Ihnen beim besten Willen keinen Vorrang gewähren.“ Das hatte ihm Albert Miller, Präsident der internationalen Koordinationsstelle für überregionale Forschungsprojekte, seinerzeit bedauernd mitgeteilt. Doch Manson hatte nicht nachgelassen, Regierungsstellen, Universitäten und anderen wissenschaftlichen Instituten sein Forschungsvorhaben darzulegen.

Während seiner hartnäckigen Suche nach Fördermöglichkeiten war er schließlich auf die New World Foundation gestoßen. Als er dort sein Projekt vorgelegt und einem Kreis von hochrangigen Wissenschaftlern erläutert hatte, waren ihm urplötzlich sämtliche Türen offen gestanden.

Unbegrenzte finanzielle Mittel, jegliche nur denkbare logistische und personelle Unterstützung hatte man Tony Manson seinerzeit zur Verfügung gestellt. Bereits einen Monat später hatte Manson ein geräumiges Büro in der Bergbaukolonie Topas im Herzen des antarktischen Kontinents beziehen können. Seitdem waren beinahe fünfhundert Jahre vergangen.

Doch die Manson-Theorie, die der junge Wissenschaftler später auf der Basis seines ersten eigenen Forschungsprojekts entwickelt hatte, war lebendig wie eh und je. Sie war seither die Grundlage, ja die unabdingbare Voraussetzung geworden für die Erforschung der Galaxis durch Menschen mit Pioniergeist.

Menschen mit dieser Eigenschaft verkümmerten entweder in der stagnierenden Gesellschaftsordung der Erde, oder sie wurden zu oftmals asozialen Störenfrieden oder gar Kriminellen. Auf den Kolonieplaneten aber blühten sie förmlich auf und wurden zu äußerst wertvollen Mitgleideren der menschlichen Gesellschaft.

Manson hatte ein Auswahlverfahren entwickelt, um Menschen mit dem "Kolonisten-Gen", wie er es selbst scherzhaft genannt hatte, in der Masse der Menschen aufzuspüren. Und zu aller Überraschung wurde man am allerhäufigsten in der Gruppe der vorstehend genannten Außenseiter der Gesellschaft fündig.

So schlug man zwei Fliegen mit einer Klappe: Die Erde wurde einen großen Teil ihrer Störenfriede los. Auf der anderen Seite erhielten die jungen Kolonien Menschen, die sich von Problemen nicht leicht aus der Spur werfen ließen und unbeirrbar, uneigennützig und mit großem Engagement ihre Ziele verfolgten.

 

Das Dröhnen der Triebwerke der Landefähre wurde leiser. „Aufsetzen auf Zielkoordinaten in einer Minute, dreißig Sekunden“, quäkte die Stimme des Bordcomputers.

 

Das Gewächs

Mit hochrotem Kopf und ohne vorher anzuklopfen, stürmte Ian Smith in Jacques Legrands Büro. „Das müssen Sie sich unbedingt ansehen, Sir“, schrie er wild gestikulierend.

„Was ist denn los? Ist irgendetwas Besonderes vorgefallen?“, erwiderte der Angesprochene unwirsch, denn er konnte es auf den Tod nicht ausstehen, auf diese Art und Weise gestört zu werden.

„Kommen Sie schnell, bevor die Leute des Arbeitstrupps etwas Unüberlegtes tun. Ich erkläre es Ihnen unterwegs – so kommen Sie doch endlich!“ Ungeduldig zog Ian seinen Vorgesetzten am Arm mit sich.

Erschrocken ließ Rose Fieldings, seit fünf Jahren Legrands Sekretärin, ihren Schreibstift fallen, als die beiden Männer ungestüm durch ihr Büro stürmten. Lächelnd blickte sie den beiden nach. „Männer“, murmelte sie. „Manchmal benehmen sie sich wie kleine Kinder.“

Ian hatte mittlerweile die Energieversorgung des Geländewagens aktiviert, den er vor dem Haus geparkt hatte. Und kaum hatte Legrand in seinem Konturensessel Platz genommen und sich angeschnallt, als das sechsrädrige Fahrzeug schon vorwärtsschoss.

In der Kabine war lediglich leises Summen zu hören, das von den starken Elektromotoren in jeder Radnabe erzeugt wurde. Die riesigen Räder des Geländemobils wurden in ihrer Leistung separat von der Bordelektronik reguliert, sodass es problemlos möglich war, mit dem Fahrzeug auch das schwierigste Gelände zu bewältigen. Den benötigten Strom lieferte eine speziell entwickelte Brennstoffzelle im Heck des Wagens.

Wie so ein unscheinbares Ding vierhundert Kilowatt Leistung erzeugen konnte, würde für Legrand wohl ein ewiges Rätsel bleiben. Trotzdem war er stolz darauf, dass der Wasserstoff, den die Zelle zum Betrieb benötigte, aus der eigenen Produktion der Kolonie stammte.

Ein leistungsstarkes Solarkraftwerk erzeugte diesen umweltfreundlichen Energieträger. Man wollte einfach von vornherein verhindern, dass das einfache Ökosystem des Planeten gleich zu Beginn der Kolonisation über Gebühr belastet wurde. Die gravierenden Fehler, die in früheren Zeiten auf der Erde und später auch auf anderen Planeten begangen worden waren, sollten hier tunlichst vermieden werden.

Legrand begann erwartungsvoll zu grinsen. „Nun schießen Sie mal los, junger Mann“, forderte er Ian auf, der das Fahrzeug mittlerweile nahezu bis auf Höchstgeschwindigkeit beschleunigt hatte.

„Einen Augenblick noch, Boss“, erwiderte der gepresst und lenkte das Fahrzeug haarscharf an einer kleinen Herde der für diesen Planeten eigens genetisch modifizierten Rinder vorbei. „Diese Bauernlümmel kümmern sich doch einen Dreck darum, dass es andere Leute eilig haben könnten“, brummelte er missmutig.

„Ich bin wirklich sehr gespannt darauf, was derart wichtig ist, dass Sie mich beinahe mit Gewalt von meiner Arbeit weggezerrt haben – ist es denn wirklich notwendig, derart zu rasen?“, fragte Legrand kopfschüttelnd.

„Ja, Sir. Andernfalls befürchte ich, dass die Jungs das Ding kaputtmachen werden. Wäre wirklich schade, wenn Sie es nicht sehen könnten.“

„Jetzt haben Sie mich aber wirklich neugierig gemacht“, erwiderte Legrand. "Lassen sie mich deshalb nicht länger warten."

„Also, ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, Sir … Sie erinnern sich doch sicher noch an Pedro Gonzales, unseren Mechaniker, der sich vor sechs Wochen das Genick gebrochen hat.“

Legrand nickte lächelnd. „Selbstverständlich erinnere ich mich an Pedro. Er war ein guter Kamerad und zuverlässiger Arbeiter. Aber was hat er mit dem – Ding – zu tun, das ich mir ansehen soll?“

„Genau deshalb habe ich Sie ja sofort geholt, Sir. Das Ding ist während der vergangenen Nacht auf der Baustelle gewachsen - und es wächst immer noch.“

„Nun erzählen Sie alles mal schön der Reihe nach, Ian", unterbrach ihn Legrand.  Was genau wächst - und wo wächst es?“

„Sir, Sie haben unserem Arbeitstrupp doch Anfang letzter Woche den Auftrag gegeben, durch das kleine Blauholzwäldchen drei Meilen westlich der Siedlung eine Schneise zu schlagen, damit die Straße weitergebaut werden kann. Gestern Abend sind wir endlich damit fertig geworden. Wir haben am Abend sogar noch die letzten Wurzelstöcke der Blauholzbäume herausgerissen und haben die Trasse planiert. Aber als wir heute früh weitermachen wollten, da stand es mitten auf dem Weg.“

„Mann, jetzt erzählen Sie mir doch endlich, worum es sich handelt, bevor ich noch vor Neugier zerplatze. Spannen Sie mich doch nicht so auf die Folter", ächzte Legrand.

„Nun, als ich losgefahren bin, war es ungefähr zehn Fuß hoch. Es ist hellbraun und sieht etwa so aus wie ein riesiger Pilz. Und der Stiel von dem Ding hat eine Ausbuchtung, die Pedros Gesicht trägt. Übergroß, mit sämtlichen Einzelheiten. Seine Augen sind geschlossen, sogar die Platzwunde auf seiner Stirn ist da. Er sieht genauso aus, wie wir ihn vor sechs Wochen in den Sarg gelegt haben.“

Prüfend musterte Legrand seinen Nebenmann. „Sie sind doch nicht etwa betrunken, Ian? Sie wissen, dass ich ernsthafte Konsequenzen ziehen müsste, sollte meine Vermutung zutreffen.“

„Aber wo denken Sie hin, Sir? Könnte ich dieses Ungetüm dann noch sicher steuern?“ Mit halsbrecherisch schneller Fahrt schoss das Fahrzeug in eine enge Kurve. Legrand stockte einen Augenblick lang der Atem. Doch Ian lenkte das Gefährt traumhaft sicher in die nächste, noch engere Wegbiegung. „Hoffentlich kommen wir noch rechtzeitig an, bevor sie es tun“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Was – tun? Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Würden Sie es freundlicherweise unterlassen, in Rätseln zu sprechen?“

Ian räusperte sich. „Die Arbeiter glauben, das Ding sei Teufelszeug. Keiner traut sich mit dem Werkzeug ran. Deshalb habe ich mich ja auch gleich auf den Weg zu Ihnen gemacht. Aber leider gibt es im Rüstwagen noch den Sprengstoff, mit dem wir sonst die Felsblöcke beseitigen, die im Weg sind. Als ich den Arbeitstrupp alleingelassen habe, hatten sie gerade damit angefangen, darüber zu diskutieren, ob man Teufelszeug mit Sprengstoff beseitigen kann.“

Das besagte Wäldchen war mittlerweile in Sicht gekommen. Ian schob den kleinen Steuerknüppel bis zum Anschlag nach vorn. Mit Höchstgeschwindigkeit jagte das Geländefahrzeug auf sein Ziel zu. Erst als der Wagen die ersten der riesigen blauschwarzen Bäume passiert hatte, die den Weg zu beiden Seiten säumten, reduzierte er die Fahrgeschwindigkeit. Knapp vor einem Pulk lautstark diskutierender Arbeiter brachte er den Wagen zum Stehen.

„Ihr könnt nicht weitergehen“, wurden die beiden von einem stoppelbärtigen, südländisch aussehenden Mann aufgehalten. "Gleich wird gesprengt."

„Wer will unseren Boss aufhalten?“, brummte Ian und schob den Mann einfach beiseite. Nur widerwillig machten die Männer Platz, um die beiden passieren zu lassen. Nach ein paar Dutzend Schritten hatten sie ihr Ziel erreicht.

Mit offenem Mund betrachtete Legrand das „Ding“, wie es Ian genannt hatte. Mittlerweile mehr als zwanzig Fuß hoch, überragte es sogar den großen Erdhobel am Wegrand.

„Hier könnt ihr nicht bleiben“, bellte Hans Richter, ein blonder, vierschrötiger Hüne. „In zwei Minuten zünden wir.“

„Wer hier was zündet, und wann das geschieht, entscheide immer noch ich, als Leiter dieser Kolonie“, donnerte Legrand. „Wer hat Ihnen überhaupt die Befugnis erteilt, dieses Gewächs zu zerstören?“

„Verzeihung, Sir, dass ich Sie in der Eile nicht sofort erkannt habe. Ich meine natürlich - niemand, Sir.“

Legrands Stirn umwölkte sich. Er trat so dicht vor den Mann hin, daß der seinen Atem spüren konnte. „Und was ist das hier?“

Hans schniefte. „Das sind Sprengladungen, Sir. Das Modernste, das die chemische Industrie der Erde heutzutage zu bieten hat. Nuklearsprengstoff ist ein Dreck dagegen.“

 „Wie lautet das erste Gebot des Kolonisten?“, fragte Legrand leise. „Hat man es vielleicht versäumt, Ihnen das während Ihrer Ausbildung beizubringen, Hans?“

„N… Nein, Sir“, stotterte der Mann und wischte sich verlegen den Schweiß von der Stirn. „Zerstöre nichts, das du nicht kennst, denn es könnte sich als überlebenswichtig für die Kolonie herausstellen.“

Legrand wies grimmig auf die Sprengladungen. „Aha – und wie verträgt sich das da mit dem Ersten Gebot?“, zischte er.

„Es ist Teufelszeug, meinen die Männer. Und Teufelszeug muss weg - ist doch Teufelszeug, Sir?“

„Auf der Stelle entfernen Sie die Ladungen von dem Gebilde. Und machen Sie schnell, sonst lasse ich Sie im Gefängnis schmoren, bis Sie schwarz werden“, zischte Legrand. „Und das gilt für euch alle“, setzte er etwas lauter für die drei Männer hinzu, die gerade dabei waren, weitere Ladungen herbeizuschaffen.

Während er die Männer bei der Arbeit beobachtete, trat er beiseite und aktivierte seinen Kommunikator, den er am linken Handgelenk trug. „Sicherheitsdienst, Captain Block“, meldete sich quäkend eine Lautsprecherstimme.

„Hier spricht Jacques Legrand. Ich brauche hier dringend zwei Sicherheitsteams mit schwerer Ausrüstung. Die Koordinaten wurden Ihnen soeben automatisch übermittelt. Und machen Sie fix, es gilt Alarmstufe Rot.“

„Verstanden, Sir. Ich sehe nach, ob die Helikopter zurzeit flugbereit sind – ja, das erste Team wird in etwa sieben Minuten bei Ihnen eintreffen. Genügt Ihnen das, Sir?“

 

Atemlos kam ein Mann in die kleine Bar gestürzt. „Hast du es schon gehört, Jerome? Pedro Gonzales soll von den Toten auferstanden sein.“

Der Barkeeper im einzigen Lokal von Freetown, so nannte sich stolz die erste Siedlung der neuen Kolonie, fuhr lächelnd fort, seine Gläser zu polieren. Nach kurzem Zögern knallte er schweigend ein Glas mit dem offiziell hergestellten Brandy auf den Tresen.

„Ehrlich, Jerome, ich will dir keinen Bären aufbinden. Soeben erst habe ich es über das Netz mitbekommen.“

„Trink erst einmal einen Schluck, Björn. Wenn dein Kopf dann wieder klar ist, erzählst du mir die ganze Geschichte. Aber bitte von Anfang an.“

Björn fuhr entrüstet hoch. „Nun mach aber mal ‘nen Punkt, Jerome. Hat dich Björn Andersson schon jemals angelogen?“

Der Barkeeper wurde nachdenklich. „Natürlich nicht, Björn. Aber du bist dafür bekannt, dass du gelegentlich gewaltig einen über den Durst trinkst. Da rutscht einem schon mal eine Räubergeschichte ’raus. Ich meine natürlich, nicht absichtlich ... eben nur mal so.“

„Eben nur mal so“, ereiferte sich der Björn, ein bleicher Blondschopf Ende zwanzig. „Eben nur

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Anton Heinzinger
Bildmaterialien: Covergestaltung: T. Anzinger, Coverbilder: Vivid Pixels - Fotolia.com, Elenarts - Fotolia.com
Tag der Veröffentlichung: 22.09.2013
ISBN: 978-3-7309-5075-3

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