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Prolog

Im Königreich Zarador breitet sich unaufhaltsam die Wüste aus. Einst war es ein blühendes, reiches Land, ist aber mittlerweile zum großen Teil ausgetrocknet. Die Wälder sind verdorrt, das Wasser ist knapp und kostbar, und der Anbau von Nahrungspflanzen ist sehr schwierig geworden. Die einst blühenden Städte des Königreichs beginnen zu veröden und verfallen, und der in früheren Zeiten sehr lebhafte Handel ist - bis auf wenige Ausnahmen - weitgehend zum Erliegen gekommen. Unter diesen schwierigen Lebensbedingungen leiden die Menschen große Qualen, aber es wird immer noch heißer und der ohnehin spärliche Regen bleibt zunehmend häufiger aus.

Die Priester Omals, des Todesgottes, haben vor längerer Zeit die Macht im Königreich Zarador an sich gerissen. Sie beherrschen das Volk mit Hilfe der Blutreiter, einer Truppe grausamer Krieger. Diese Männer, die man auch auch die Vollstrecker Omals nennt, sind ganz in Rot gekleidet. Es ist die Farbe des Blutes, das sie ohne Skrupel und ohne zu zögern vergießen, wenn sie damit nur ihrem Gott dienen können.

Ihre Gegenspieler, die Bewahrer des Lebens, treten in der Öffentlichkeit nicht mehr in Erscheinung, um nicht von den Blutreitern getötet zu werden. Doch ihre Organisation existiert im Verborgenen weiter, um den geplagten Menschen eines Tages doch noch die Erlösung vom Joch der Wüste zu bringen.

In diese Situation ist die junge Aisha hineingeboren worden. Als Findelkind, aufgefunden neben einem Karawanenweg, ist sie einst zum Stamm der Nashi gekommen. In deren von der Welt vergessenen Oase ist sie groß geworden, und ihre Vermählung mit dem Sohn des Stammesführers scheint so gut wie sicher.

Da erkrankt Zaras, ihr alter Freund und Lehrer. Doch ehe er stirbt, erteilt er Aisha einen geheimnisvollen Auftrag: "Suche die letzte Blüte", steht in einer Schriftrolle, die er ihr hinterlässt. Aisha entschließt sich schweren Herzens, den Auftrag von Zaras anzunehmen und gleichzeitig nach iher Herkunft zu forschen.

Doch sie ist längst, ohne es zu wissen, zu einem Teil des Machtspiels der Omaliten geworden. Und noch ehe sie ihren Entschluss in die Tat umsetzen kann, schlagen die Blutreiter rücksichtslos zu. Durch einen Zufall entgeht Aisha dem Zugriff dieser Männer. Sie schließt sich einer Handelskarawane an, um in die Königsstadt Zaradan zu reisen. Als die Entdeckung durch die Blutreiter droht, behandelt sie sich mit Kräutern, die eine schreckliche Entstellung ihres Gesichts verursachen. So wird sie nicht erkannt und erreicht Zaradan, wo sie Unterschlupf findet.

Hier arbeitet Aisha als Heilerin. Im Rahmen dieser Tätigkeit gelingt es ihr, den jungen Fanik, den Sohn eines reichen Kaufmanns, aus dem nahenTod ins Leben zurückzuholen. Im Zusammenhang damit verschwindet auch die Entstellung ihres Gesichts. Der Kaufmann stellt ihr aus Dankbarkeit die Mittel für eine Reise zur Verfügung, und gibt ihr zu ihrem Schutz den erfahrenen Karawanenführer Palo mit. So wird Aisha in die Lage versetzt, zunächst bei der Seherin Mbala, nach ihrer Herkunft zu forschen.  

Aber ihre Anwesenheit in Zaradan ist mittlerweile den Blutreitern bekannt, die sich wieder an ihre Fersen heften. Aisha und Palo fliehen - abseits der Karawanenwege - durch die Wüste. Als sie nahe am Verdursten sind, entdecken sie in einem Tal eine riesige Tropfsteinhöhle mit Wasser. Sie suchen schließlich die Seherin auf, doch die Blutreiter haben ihre Spur abermals aufgenommen. Den beiden gelingt es aber, diesen Männern zu entkommen. Sie fliehen wieder in die Wüste.

Doch wer ist Zafira, das junge Mädchen, das Aisha so ähnlich sieht und von den Blutreitern entführt wird?

Als Aisha und Palo auf ihrer Flucht in einen gewaltigen Sandsturm geraten, der durch eines der gefährlichen Feuertore verursacht worden ist, verlieren sie ihre Pferde und erreichen mit Mühe und Not das Tal mit der Höhle, das sie auf der Hinreise entdeckt haben. Und da sie ohne Reittiere ihre Reise durch die Wüste nicht fortsetzen können, folgen sie einem Traum Aishas und beschließen, in der Höhle weiterzuwandern. 

Doch auch in der dunklen Tiefe drohen Gefahren. Und Aisha und Palo wissen nicht, wohin sie ihr Weg tief unter der Erde letzten Endes führen wird ...

Der Wurm aus der Tiefe

Die rußende Fackel warf flackerndes gelbes Licht auf die vielfarbigen, bizarren Steingebilde in der Höhle, sodass es zuweilen so aussah, als würden sich diese bewegen.

„Mir erscheint es wie ein Frevel, mit dieser ekelhaft stinkenden und qualmenden Fackel die reine Luft hier in der Unterwelt zu verpesten“, murmelte Palo.

Aisha blieb kurz stehen, um ihrem Begleiter ins Gesicht zu sehen. „Ich empfinde es so wie du. Doch bleibt uns etwas Anderes übrig?“, antwortete sie leise.

„Trotzdem fühle ich mich irgendwie schuldig, diesen reinen Ort auf diese Art und Weise zu entweihen“, murmelte der Mann und schritt kräftig aus, dicht hinter dem tanzenden gelben Lichtschein her, den Aishas Fackel an die Höhlenwände warf.

Seit vielen Stunden waren die beiden bereits in der Dunkelheit unterwegs. Doch noch immer graute es Palo, wenn er sich an die Durchquerung des unterirdischen Sees erinnerte. Ohne Scheu hatte Aisha am Ufer ihre Kleidung abgelegt, sodass sie schließlich völlig nackt im Licht der Fackel gestanden war. Die junge Frau war wirklich wunderschön. Er hatte seinen Blick nicht abwenden können von ihrem Körper, der in der vollen Blüte der Jugend stand. Ihre zarte Haut war noch makellos und glatt.

Seine Augen waren unwillkürlich von den kräftigen Schultern zu ihren vollen Brüsten gewandert. Er hatte die vollkommene Rundung ihrer Schenkel bewundert und den mädchenhaft flachen Bauch …

„Hast du noch nie im Leben eine nackte Frau gesehen oder willst du hier Wurzeln schlagen?“, hatte ihn Aisha kichernd gefragt. Beschämt hatte er den Blick von ihr abgewandt und eine Entschuldigung gemurmelt. Aber Aisha war ihm nicht böse gewesen. „Ich sah keine Lüsternheit in deinem Blick“, hatte sie erklärt.

Als er sich schließlich abgewandt hatte, nachdem er seine Kleidung abgelegt hatte, hatte sie hinzugefügt, dass einer Heilerin nichts verborgen bliebe. „Bloße Nacktheit ist nichts Anstößiges“, hatte sie ergänzt, als er immer noch gezögert hatte.

So hatte er sich wieder ungezwungen bewegen können. Mit beinahe kindlicher Freude hatte Aisha seinen gestählten, muskelbepackten Körper bewundert, der die Narben zahlreicher Kämpfe trug. Doch schnell hatten beide wieder zur Wirklichkeit zurückgefunden. Ihre Kleidung war jeweils zu einem Bündel verschnürt worden, das sie zusammen mit ihrer Ausrüstung auf dem Kopf getragen und mit einer Hand gestützt hatten.

Überraschenderweise hatte Aisha während der Durchquerung des Sees darauf bestanden, die Fackel selbst zu tragen. „Folge mir dichtauf und achte auf den Weg“, hatte sie gesagt. „Schau nicht nach links in den Abgrund. Das Wasser hier wird uns lediglich bis zur Brust reichen. Aber achte auf die Vertiefungen am Grund und zögere nicht, mir zu folgen“, hatte sie erklärt und war ohne Zaudern in das eiskalte Wasser gestiegen.

Die Durchquerung hatte sich als einfach erwiesen. Der Boden war einigermaßen eben und hatte ihren nackten Füßen ausreichend Halt geboten. Im Licht der Fackeln waren die Vertiefungen am Grund gut zu erkennen und zu umgehen gewesen. 

Doch weshalb hatte es Aisha so eilig gehabt? Einmal, als er stehen geblieben war, um einen kurzen Blick in den dunklen Abgrund zur Linken zu werfen, hatte sie ihn mit weit aufgerissenen Augen angeblickt und stumm zur Eile gemahnt. Doch trotz ihrer Hast hatte sie es vermieden, Wellen aufzuwerfen. Obwohl er den Grund dafür nicht gekannt hatte, war er ebenso vorsichtig gegangen.

Auf diese Weise waren sie etwa drei Steinwürfe weit gekommen, als Aisha plötzlich angehalten hatte. „Etwas ist dort unten erwacht“, hatte sie ihm zugeflüstert. „Wir müssen uns beeilen. Das Ufer ist nur mehr einen halben Steinwurf weit entfernt. Geh schnell. Jetzt!“

Der Wasserspiegel hatte beiden an dieser Stelle nur mehr bis zum Bauch gereicht, sodass sie das kurze Stück schnell hatten zurücklegen können. Doch als die Wellen nur mehr ihre Knie umspült hatten, hatte Aisha plötzlich laut zu rufen begonnen. „Lauf“, hatte sie plötzlich geschrien. „Lauf um dein Leben!“

Das Wasser war hoch aufgespritzt, als sie beide die letzten Schritte bis zum Ufer gerannt waren. Aisha hatte das trockene Ufer als Erste erreicht. Sie hatte ihre Lasten abgeworfen und hatte sich umgewandt, um ihm beim Heraussteigen aus dem Wasser zu helfen.

Schon hatte er den linken Fuß aufs Ufer gesetzt, als ihn mit einem Mal unsägliches Grauen durchflutet hatte. Gelähmt vor Furcht hatte er undeutlich wahrgenommen, dass Aisha den Packen von seinem Kopf gerissen und ans Ufer geworfen hatte. Sie hatte ihn angeschrien, er solle aus dem Wasser herausgehen, und hatte grob an seinem Arm gezerrt.

Doch vor lauter Entsetzen war er nicht in der Lage gewesen, sich zu bewegen. Erst als er einen scharfen Schmerz in der rechten Wade verspürt hatte, war der erfahrene Kämpfer in ihm erwacht. Gequält aufschreiend und mit letzter Kraft hatte er sich aus dem Wasser heraus ans Ufer geworfen.

Sobald er aber das Wasser vollständig verlassen hatte, war schlagartig das Grauen von ihm gewichen. Geblieben war lediglich ein prickelnder Schmerz in seinem allmählich taub werdenden Bein. Wie in Trance hatte er das leise Geräusch gehört, als Aisha das Schwert aus der Scheide gerissen hatte.

Erschrocken hatte er an seinem Bein hinuntergeblickt, doch es war nicht mehr notwendig gewesen, die Waffe zu benutzen. Schwarz und schleimig war es zurück ins Wasser geglitten. Ein Kranz winziger blutender Wunden an seiner Wade war zurückgeblieben.

Und gerade, als er erleichtert aufgeatmet hatte, war Aisha zu ihm getreten, den Mund zu einem stummen Schrei des Entsetzens aufgerissen. Mit zitternder Hand hatte sie auf das Wasser gedeutet. Dunkel wie die Nacht war es dort emporgequollen, eine wimmelnde, schleimige Masse schwarzen Gewürms.

Die Wasseroberfläche hatte zu brodeln begonnen, als ob sich das Wasser hätte erheben und sie beide hätte verschlingen wollen. Entsetzt waren sie vom Ufer zurückgewichen, bis sie die raue Felswand an ihrem nackten Rücken gespürt hatten. Doch die Kreaturen hatten das Wasser nicht verlassen. Nach einer Weile waren sie wieder in die Tiefe gesunken, und das Wasser hatte sich beruhigt.

Erst sehr lange, nachdem keine Bewegung mehr unterhalb der Oberfläche zu sehen gewesen war, hatten sie sich wieder ans Ufer gewagt. Sie hatten ihre Sachen geholt und hatten, nackt wie sie waren, ihren Weg fortgesetzt. Auf diese Weise waren sie so lange schweigend weiter getappt, bis ihre Fackel beinahe heruntergebrannt war.

Endlich, als sie geglaubt hatten, sich weit genug von dem Grauen entfernt zu haben, waren sie stehen geblieben. Schnaufend hatten sie ihre Lasten abgelegt und die Kleiderbündel fallen lassen. Die Fackel hatten sie in eine Felsspalte gesteckt.

Aisha war ihm daraufhin schluchzend in die Arme gefallen. „Oh Palo, beinahe hätte ich uns beide ins Verderben geführt.“

Mit seinen starken Armen hatte er sie umfangen und sanft ihr langes, schwarzes Haar gestreichelt. Schließlich hatte sie zu zittern aufgehört und hatte sich eng an ihn geschmiegt.

Erst dann war ihm bewusst geworden, dass er die begehrenswerteste junge Frau umfangen hielt, die er in seinem ganzen Leben kennen gelernt hatte. Er hatte ihre weiche, heiße Haut an seinem Körper gespürt und ihren schneller werdenden Atem gehört. In tiefen Zügen hatte er ihren weiblichen Duft eingeatmet.

Ganz ruhig waren sie in der Höhle gestanden, bis ihr Blut in Wallung geraten war. Und um ein Haar hätte er sich diesem süßen Rausch hingegeben. Nur mit allergrößter Willensanstrengung hatte er es fertiggebracht, die Umarmung zu lösen und Aisha sanft auf die Stirn zu küssen. „Es wäre nicht recht“, hatte er geflüstert.

Aisha war erwacht wie aus einem Traum. Mit verschleierten Augen hatte sie ihn angesehen und hatte ihm einen Kuss auf die Lippen gehaucht. „Ich danke dir aus ganzem Herzen, Palo. Es wäre wirklich nicht recht gewesen. Jetzt weiß ich mit Bestimmtheit, dass es richtig war, dir mein Vertrauen zu schenken“, hatte sie geflüstert.

 

Der in die Farbe des Blutes gekleidete Krieger verhielt sein Pferd. "Ihr Götter", murmelte er, denn er mochte nicht glauben, was er sah: Eine halben Steinwurf vom alten Karawanenweg entfernt, reckte ein knorriger Baumriese seine dornengespickten Äste in den Himmel. Vor einer Woche, als er diese Stelle passiert hatte, war der Baum noch nicht dagewesen.

Doch was den Mann mit Entsetzen erfüllte, war nicht so sehr das plätzliche Erscheinen des Baums. Es war die Last, die der Baum auf seine Ästen trug: Es waren die mumifizierten Leichen dreier Männer. Ihre Gesichter waren gut erhalten, sodass überdeutlich zu erkennen war, dass diese Männer unter schrecklichen Qualen den Tod gefunden hatten.

Der Krieger schauderte. In seinem Leben als Vollstrecker des Todesgottes Omal hatte er zahllose Tote zu Gesicht bekommen. Und sehr häufig hatte er selbst dazu beigetragen, diese Menschen ins Reich Omals zu befördern. Doch niemals zuvor hatte er auch nur in einem einzigen menschlichen Gesicht derartiges Entsetzen wahrgenommen wie bei den drei Leichen im Baum.

Was den Krieger jedoch noch mehr schockierte, war die Tatsache, dass die drei Toten ebenso gekleidet waren wie er selbst: Sie waren Blutreiter, Vollstrecker des Todesgottes.

Aber wie waren diese Männer in die Fänge des Todesbaums geraten? Zweifellos handelte es sich um einen solchen: Nur ein einziges Mal, anlässlich der Verpflichtung, sein Leben Omal zu widmen, hatte er einen solchen Baum  zu Gesicht bekommen.

S'Imsal, Omals Hohepriester, hatte ihn einen Blick in einen Hof des Inneren Tempelbezirks von Ommaran werfen lassen. "Was Ihr vor Euch seht, ist ein Chan-An, ein viele Tausend Jahre alter Todesbaum", hatte der Hohepriester erklärt. "Jedes warmblütige Lebewesen, gleich ob Mensch oder Tier, das in die Reichweite seiner Äste gerät, stirbt einen entsetzlichen Tod. 

Und merkt gut auf: Als Vollstrecker Omals seid Ihr zu absolutem Gehorsam verpflichtet. Fehlt Ihr dabei auch nur ein einziges Mal, so fallt Ihr - zu Omals Ehre - unweigerlich dem Todesbaum anheim." Das waren die Worte des Hohenpriesters gewesen. 

Aber woher kam plötzlich der zweite Chan-An? War es möglich, dass er ihn bei früheren Reisen übersehen hatte? Andererseits stand der Baum an einem Weg, der auch von den Vollstreckern Omals regelmäßig benutzt wurde. Jedem Blutreiter war das Aussehen eines Todesbaums bekannt. Hätte er sich schon immer an dieser Stelle befunden, wäre das unweigerlich unter den Dienern Omals bekannt geworden.

Kopfschüttelnd blickte sich der Krieger nach Spuren um, doch in der Umgebung des Baums fand sich lediglich ein halb mit Sand bedeckter, verkohlter Haufen. Ganz offensichtlich hatte man die Sättel und die Ausrüstung der Männer, deren sterbliche Überreste jetzt im Todesbaum hingen, aufgestapelt und in Brand gesteckt. Doch wer steckte hinter dieser schändlichen Tat? Auf jeden Fall musste S'Ahim, der Anführer seines Trupps, unverzüglich Kenntnis davon erhalten.

In seiner Erregung - er war nicht vom Pferd gestiegen - bemerkte der Blutreiter nicht, dass er in die Reichweite der Äste des Todesbaums geraten war. Er wurde es erst gewahr, als es zu spät war. Ein dornengespickter Ast rollte sich beinahe liebevoll um sein linkes Handgelenk. Unwillkürlich schrie er auf und gab seinem Reittier die Sporen. Das Tier erschrak und tat einen mächtigen Satz nach vorn, sodass der Mann tatsächlich aus der Umklammerung des Baums entkam.

Die Dornen des Baums aber hatten aber bereits damit begonnen, sich in seinen Arm einzugraben und hatten ihre Spuren in seiner Haut hinterlassen. Erschrocken betrachtete der Krieger den Kranz aus tiefen, dreieckigen Malen rund um sein Handgelenk. Das Brennen, das von diesen Wunden ausging und sich allmählich in seinem Arm auszubreiten begann, ließ ihn ahnen, dass seine Lebensspanne möglicherweise nicht mehr allzu groß bemessen war. Deshalb trieb der der Mann sein Reittier rücksichtslos an, um zu seinem Trupp zurückzukehren, den er einen halben Tagesritt entfernt wusste.

 

Aisha leuchtete Palo mit der Fackel ins Gesicht. „Du hinkst seit einiger Zeit ein wenig. Hast du Schmerzen in deinem Bein?“

Der Mann zog eine Grimasse. „Ich habe schon wesentlich Schlimmeres ausgehalten: Die Schmerzen sind einigermaßen erträglich, aber sie werden von Stunde zu Stunde stärker.“

„Zeig mir die Wunde.“ Aisha legte ihren Packen ab und nahm die Verletzung in Augenschein, die ihm der Wurm zugefügt hatte. „Merkwürdig, die Bissstelle hat sich kaum verändert“, murmelte sie. „Aber mir gefällt die grünliche Flüssigkeit nicht, die aus ihr heraussickert. Ich habe dergleichen noch nie vorher gesehen. Deshalb weiß ich im Augenblick nicht, wie ich die Verletzung behandeln könnte. Wir werden abwarten und sehen, ob ich sie nicht beizeiten aufschneiden muss. Ich hoffe nur, dass sie dich nicht allzu sehr beim Gehen behindert.“

Palo schüttelte den Kopf. „Beim Laufen habe ich keine Probleme. Lediglich die Schmerzen nehmen ständig zu. Lass uns einfach weitergehen“, brummte er.

 

Vom schrillen Wiehern eines Pferdes war Zafira wach geworden. Neugierig streckte sie den Kopf zwischen den Vorhängen der Sänfte hinaus. Während der ersten Tage war ihr infolge des Schaukelns der Sänfte ständig übel gewesen. Doch inzwischen hatte sie sich an die Bewegung des gemächlich schreitenden Kamels gewöhnt.

Ganz zu Anfang hatte sie darüber hinaus auch noch Probleme mit ihrer übervollen Blase gehabt. Keiner der schweigenden, blutrot gekleideten Krieger, die sie von dem schmierigen Sklavenhändler gekauft hatten, hatte auf ihre wiederholten Bitten reagiert, deswegen einen Halt einzulegen. Doch dann hatte sie am Boden der Sänfte ein loses Brett gefunden, welches sich mit einiger Mühe hatte verschieben lassen. Auf diese Weise konnte sie sich jederzeit, von den Männern unbeobachtet, erleichtern.

Von ihnen bekam sie stets ausreichend zu essen, auch an Wasser mangelte es ihr nicht. Und in ihrer Sänfte war sie tagsüber vor der grellen Sonne, nachts vor der bitteren Kälte der Wüste geschützt. Weiche Kissen schenkten ihr überdies eine Bequemlichkeit, die sie vom harten Boden ihrer ärmlichen Lehmhütte in Serfan nicht gewohnt war.

Unvermittelt ertönte lautes Wiehern von der Spitze der Karawane. Zafira kniff die Augen zusammen und spähte aus ihrer Sänfte. Einer der Reiter scherte aus und sprang aus dem Sattel. Sein Pferd ging tappend noch einige Schritte, dann brach es röchelnd zusammen. Der Mann nahm seinen Wasserschlauch und seinen Proviantbeutel vom Sattel und reihte sich zu Fuß in die Karawane ein, die nicht einen Augenblick lang stehen geblieben war.

Beinahe  ununterbrochen reisten sie auf diese Weise. Nur wenige Stunden am Tag, während der Zeit der größten Hitze, wenn die Sonne im Zenit stand, hatten Mensch und Tier Zeit zum Rasten. Selbst den genügsamen Kamelen war die Erschöpfung anzusehen, doch die Blutreiter schienen niemals zu ermüden. Aufrecht saßen sie im Sattel, den scharfen Blick ihrer blitzenden dunklen Augen stets auf die Umgebung gerichtet.

Aber was wollten die Männer von ihr? Anfangs hatte sie nicht einmal gewagt zu schlafen, da sie befürchtete, einer der Männer würde dann über sie herfallen. Doch keiner der Vollstrecker Omals, des Todesgottes, kümmerte sich um sie. Sie wurde behandelt wie ein wertvoller Gegenstand, den sie zwar zu hüten hatten, der ihnen jedoch darüber hinaus vollkommen gleichgültig war.

Und wertvoll war sie zweifellos, wenn sie den mit Goldstücken prall gefüllten Beutel in Betracht zog, den der Sklavenhändler als Kaufpreis für sie erhalten hatte. Doch welchen Wert stellte sie für diese Männer dar? Als Waise war sie im Schmutz und Elend der unaufhaltsam verkommenden Stadt Serfan am Rand der großen Sandwüste aufgewachsen. Was nur hatte die Blutreiter dazu getrieben, sie von dem Sklavenhändler einfangen zu lassen?

Doch von ihren Bewachern hatte sie kein Sterbenswörtchen erfahren, denn keiner hatte mit ihr auch nur einen einzigen Satz gesprochen: Gab es etwas zu essen, hieß es „Iss“. Gab es Wasser, so hieß es „Trink“. Zwar unterhielten sich die Männer mit gedämpfter Stimme untereinander, doch wenn sie sich näherte, verstummten auf der Stelle sämtliche Gespräche.

Wenn die Karawane hielt, durfte sie sich zwischen den Tieren und den Männern frei bewegen. Einmal hatte sie sich träumend ein Stück weit entfernt. Doch sehr schnell hatte sie begriffen, dass sie das nicht wieder tun durfte. Eine Peitschenschnur war pfeifend durch die Luft gesaust. Ohrenbetäubend hatte es neben ihrem linken Ohr geknallt, sodass sie vor Schreck zu Boden gestürzt war.

Der Anführer der Blutreiter hatte kein Wort gesprochen. Er hatte ihr nur einen finsteren Blick zugeworfen. So hatte sie sich hastig aufgerappelt und ihm unterwürfig zugenickt, während sie zu ihrer Sänfte zurückgelaufen war.

Zwischenfälle hatte es bisher nur einen einzigen gegeben: Einer der Männer war von einer Sandviper gebissen worden. Man hatte ihn sterbend zurückgelassen, auf dem Boden liegend und den Blick zum Himmel gerichtet. Von diesem Tag an durfte sie die Sänfte immer erst verlassen, nachdem der Lagerplatz sorgfältig nach Schlangen abgesucht worden war. Und mehr als einmal wurden die Männer bei ihrer Suche fündig, was den eintönigen Speisezettel ein wenig bereicherte.

  

Mehrere Stunden lang mochten Aisha und Palo gewandert sein. Ihr Weg hatte sie stetig bergab geführt. Oftmals hatten sie riesige Hallen durchquert, deren Decken vom schwachen Licht der Fackel nicht erreicht wurden. An anderen Stellen war die Höhle sehr eng gewesen. Und immer wieder hatten sie gebückt gehen müssen, wobei sie manchmal sogar gezwungen waren, auf allen Vieren zu kriechen.

Allenthalben waren die oft atemberaubend schönen Gebilde aus Stein zu sehen, die von der Decke hingen oder aus dem Boden gewachsen zu sein schienen. Auch die Spuren fließenden Wassers waren allgegenwärtig. Und immer wieder  war ein blaugrün schimmernder, eiskalter Teich zu durchqueren gewesen.

„Den Göttern sei Dank“, hatte Palo mehr als einmal geseufzt, als sich keine Spur von Leben im Wasser gezeigt hatte. Allmählich hatte er sich auch an die in der Höhle herrschende Stille gewöhnt. Nur der Klang ihr Schritte und das Geräusch ihres Atems hatten die Ruhe der Tiefe gestört.

So war er gewaltig erschrocken, als sich Aisha unvermittelt zu ihm umgewandt und ihn angesprochen hatte. „Weißt du was? Ich habe fürchterlichen Hunger. Wäre es nicht allmählich an der Zeit, etwas zu essen und ein wenig auszuruhen?“, hatte sie gerufen und war in Gelächter ausgebrochen, als sie seine entsetzte Miene gesehen hatte.

So saßen sie jetzt auf einem glatten Felsen und ließen sich die harten Brotfladen und das getrocknete Antilopenfleisch schmecken, die sie als Proviant mit sich führten. Dazu tranken sie das kristallklare, köstlich schmeckende Wasser aus der Höhle.

Mit vollen Backen kauend, wandte sich Palo an Aisha: „Ich kann mir einfach nicht erklären, woher du wusstest, auf welche Art und Weise wir den unterirdischen See durchqueren mussten. Du hast den Weg beschrieben, als wärst du schon einmal dort gewesen.“

Aisha stützte nachdenklich den Kopf in die Hände „Vielleicht war ich ja tatsächlich schon einmal dort. Zwar habe ich es seinerzeit für einen Traum gehalten, doch wer weiß?“

Palo musterte sie

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Anton Heinzinger / Otto Förster
Bildmaterialien: Covergestaltung: T. Anzinger, Coverbilder: pio3 - Fotolia.com, Fyle - Fotolia.com, antonel - Fotolia.com
Tag der Veröffentlichung: 05.10.2013
ISBN: 978-3-7309-5388-4

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