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Prolog

Im Königreich Zarador breitet sich unaufhaltsam die Wüste aus. Einst war es ein blühendes, reiches Land, ist mittlerweile aber zum großen Teil ausgetrocknet. Das Wasser ist knapp und kostbar, und der Anbau von Nahrungspflanzen ist sehr schwierig geworden. Die einst blühenden Städte des Königreichs beginnen zu veröden und verfallen, und der in früheren Zeiten sehr lebhafte Handel ist - bis auf wenige Ausnahmen - weitgehend zum Erliegen gekommen. Unter diesen schwierigen Lebensbedingungen leiden die Menschen große Qualen, aber es wird immer noch heißer und der ohnehin spärliche Regen bleibt zunehmend häufiger aus.

In dieser verzweifelten Lage haben die Priester Omals, des Todesgottes, die Macht im Königreich Zarador an sich gerissen. Sie beherrschen das Volk mit Hilfe der Blutreiter, einer Truppe grausamer Krieger. Diese Männer, die man auch auch die Vollstrecker Omals nennt, sind ganz in Rot gekleidet. Es ist die Farbe des Blutes, das sie ohne Skrupel und ohne zu zögern vergießen, wenn sie damit nur ihrem Gott dienen können.

Ihre Gegenspieler, die Bewahrer des Lebens, treten in der Öffentlichkeit nicht mehr in Erscheinung, um nicht von den Blutreitern getötet zu werden. Doch ihre Organisation existiert im Verborgenen weiter, um den geplagten Menschen eines Tages doch noch die Erlösung vom Joch der Wüste zu bringen.

In diese Situation ist die junge Aisha hineingeboren worden. Als Findelkind, aufgefunden neben einem Karawanenweg, ist sie einst zum Stamm der Nashi gekommen. In deren von der Welt vergessenen Oase ist sie groß geworden, und ihre Vermählung mit dem Sohn des Stammesführers scheint so gut wie sicher.

Da erkrankt Zaras, ihr alter Freund und Lehrer. Doch ehe er stirbt, erteilt er Aisha einen geheimnisvollen Auftrag: "Suche die letzte Blüte", steht in einer Schriftrolle, die er ihr hinterlässt. Aisha entschließt sich schweren Herzens, den Auftrag von Zaras anzunehmen und gleichzeitig nach iher Herkunft zu forschen.

Doch sie ist längst, ohne es zu wissen, zu einem Teil des Machtspiels der Omaliten geworden. Und noch ehe sie ihren Entschluss in die Tat umsetzen kann, schlagen die Blutreiter rücksichtslos zu. Durch einen Zufall entgeht Aisha dem Zugriff dieser Männer. Sie schließt sich einer Handelskarawane an, um in die Königsstadt Zaradan zu reisen. Als die Entdeckung durch die Blutreiter droht, behandelt sie sich mit Kräutern, die eine Entstellung ihres Gesichts verursachen. So wird sie nicht erkannt und erreicht Zaradan, wo sie Unterschlupf bei einer Heilerin findet.

Hier in Zaradan arbeitet Aisha als Heilerin. Im Rahmen dieser Tätigkeit gelingt es ihr, den jungen Fanik, den Sohn eines reichen Kaufmanns, aus dem sicheren Tod ins Leben zurückzuholen. Im Zusammenhang damit verschwindet auch die Entstellung ihres Gesichts. Der Kaufmann stellt ihr aus Dankbarkeit die Mittel für eine Reise zur Verfügung, und gibt ihr zu ihrem Schutz den erfahrenen Karawanenführer Palo mit. So wird Aisha in die Lage versetzt, zunächst bei der Seherin Mbala, nach ihrer Herkunft zu forschen.  

Doch ihre Anwesenheit in Zaradan ist den Blutreitern bereits bekannt, und diese heften sich wieder an ihre Fersen. Ihre Flucht durch die Wüste, abseits der Karawanenwege, ist extrem gefährlich, zumal sich am Himmel auch eines der gefürchteten Feuertore öffnen kann. Wird es Aisha gelingen, den Blutreitern zu entkommen, um Informationen über ihre Herkunft zu erhalten?

Flucht durch die Wüste

Jämmerlich winselnd hinkte ein kleiner Hund an den Straßenrand. Der blutrot gekleidete Reiter, von dessen Pferd das Tier verletzt worden war, kümmerte sich nicht darum. Er folgte seinen Kameraden zur Karawanserei am nördlichen Stadtrand von Zaradan, wo man hastig Platz für die staubbedeckten, erschöpften Krieger schaffte.

Auch eine in aller Eile gereinigte Lehmhütte wurde den Männern zum Schlafen angeboten, doch S’Ahim, der finster dreinblickende Anführer des Trupps, lehnte das Angebot ab. „Wir benötigen lediglich einen Platz im Freien, wo wir ungestört sind, eine Feuerstelle mit Brennmaterial sowie Futter und Wasser für unsere Tiere“, erklärte er dem Mann, der sich unterwürfig nach seinen Wünschen erkundigte.

Während seine Männer die Tiere versorgten und ihr einfaches Mahl vorbereiteten, nahm S’Ahim mit seinem Stellvertreter am Feuer Platz. Mit blitzenden Augen ballte er die Fäuste: „Ist denn diese Kreatur ein Dämon, dass sie uns im letzten Augenblick entwischt ist? Sie ist spurlos verschwunden. Wie soll ich das dem Hohepriester beibringen?“

In der Tat war er es gewesen, der mit seinen Männern die Oase der Nashi aufgesucht hatte, in der Aisha aufgewachsen war. Kühl, aber nicht unfreundlich, waren sie von S’Hadin empfangen worden. Nach dem Austausch der üblichen formellen Höflichkeiten war er sogleich zur Sache gekommen: Beinahe beiläufig hatte er sich nach dem Mädchen erkundigt, dabei jedoch S’Hadin aufmerksam aus den Augenwinkeln beobachtet. Ihm war die Erregung seines Gegenübers sofort aufgefallen, als er nach dem Mädchen gefragt hatte.

„Sie hätte noch in diesem Jahr die Ehefrau meines Sohnes werden sollen“, hatte S’Hadin erklärt. „Doch wie undankbar sind oft die Menschen. Sie war für mich wie eine Tochter, denn sie ist wie eine der Unseren in unserer Oase aufgewachsen. Aber sie ist plötzlich verschwunden. Niemand hat sie gesehen, als sie die Oase verlassen hat. Sie muss zu Fuß gegangen sein, denn keines unserer Reittiere fehlt.“ Das waren S’Hadins Worte gewesen.

Natürlich hatte er keinen Grund gehabt, daran zu zweifeln. Trotzdem hatte er seine Männer vorsorglich beauftragt, die Oase nach der jungen Frau zu durchsuchen. Dabei war einer seiner Männer mit einem der Stammeskrieger aneinandergeraten. S’Hadin hatte versucht, den Streit zu schlichten, doch schließlich hatten die Schwerter gesprochen und sein Blut war geflossen. Danach waren die Stammeskrieger nicht mehr zu bändigen gewesen und hatten S’HadinsTod gerächt.

In ihrer Wut über diesen Angriff hatten die Vollstrecker Omals sämtliche Bewohner der Oase getötet. Leider hatte dabei auch er eine Reihe seiner besten Männer verloren, denn die Krieger der Nashi verstanden sich vortrefflich aufs Kämpfen.

Danach hatten sie länger als sechs Monate lang in Oasen, Städten und auf allen Karawanenwegen weit ins Umland hinein nach der verschwundenen jungen Frau geforscht. Und obwohl seine Männer längst glaubten, sie wäre in der Wüste umgekommen, war er selbst felsenfest davon überzeugt, dass sie noch lebte, denn bereits einmal, als sie noch ein hilfloses Kleinkind war, hatten er und seine Männer sie trotz aller Anstrengung nicht gefunden. Doch dieses Mal würde es anders sein. Er würde nicht ruhen, bis er ihrer habhaft geworden war oder bis er selbst tot wäre.

„Gut dass du kommst“, empfing er den Inhaber der Karawanserei, der sich katzbuckelnd erkundigte, ob es noch an etwas fehle. „Schicke unverzüglich nach Arhan dem Blinden. Er soll sich morgen bei Sonnenaufgang hier bei mir einfinden.“

Länger als ein Jahr war er nicht mehr in Zaradan gewesen. Arhan würde viele Neuigkeiten für ihn haben. Vor mehr als sechs Monaten, auf dem Weg zur Oase der Nashi, als er fest damit gerechnet hatte, die Gesuchte zu finden, hatte er bereits einen Abstecher nach Zaradan erwogen. Doch schließlich hatte er den Gedanken verworfen, denn er hatte keine Zeit verlieren wollen.

Arhan war der beste Spitzel, den er sich vorstellen konnte, denn in Wirklichkeit war er nur auf einem Auge blind. Aber der Mann beherrschte seine Rolle perfekt. Er war so gut, daß man bei den gelegentlichen Treffen manchmal den Eindruck gewinnen konnte, dass er den Sehenden lediglich spielte. Dieser Mann würde ihm alles berichten, was sich in den vergangenen dreizehn Monaten in Zaradan zugetragen hatte. S'Ahim freute sich auf dieses Treffen, denn der Mann besaß ein ausgezeichnetes Gedächtnis und würde keine Einzelheit zu schildern vergessen.

 

Lange ritten Aisha und Palo schweigend nebeneinander her. Irgendwann hielt Aisha ihre Tiere an, um einen Lederriemen an der Last ihres Packpferdes festzuziehen. Palo indes, der stets auf Sicherheit bedacht war, spähte im goldenen Licht des Nachmittags aufmerksam nach allen Seiten. „Wir bekommen einen Weggefährten“, murmelte er nachdenklich und kratzte seinen schwarzen Bart. „Irgendwie kommt mir dieser Mann bekannt vor. Außerdem habe ich den Eindruck, dass er versucht, uns einzuholen.“

Aisha blickte von ihrer Tätigkeit auf. „Wenn er so begierig ist, uns zu treffen, dann sollten wir ihm jetzt die Gelegenheit dazu geben. Ich habe es nicht so gern, wenn während der Nacht ein Unbekannter meinen Spuren folgt.“

Auf Pfeilschussweite herangekommen, hielt der Verfolger an. „Aisha, Palo, Ihr könnt Eure Waffen stecken lassen. Ich bin es, Fanik“, rief der Mann laut.

„Fanik, was verschafft uns die Ehre deines Besuchs?“ Aisha wies auf sein Packpferd. „Du willst uns doch nicht etwa begleiten?“

Der junge Mann legte die rechte Hand auf seine Brust und verneigte sich. „Du hast richtig geraten, du Blume meines Herzens. Ich habe mir gedacht, dass in der Wüste drei Personen besser reisen als zwei und noch wesentlich sicherer als ein einzelner Mann. Gestern habe ich meinem Vater erzählt, dass ich auf dieser gefährlichen Reise nach Serfan in großer Sorge um Eure Sicherheit bin. Da hat er sich entsonnen, dass er seit langer Zeit einen Besuch in der Oase Nefan beabsichtigt. Dort lebt sein Neffe, der regen Handel mit den Stämmen des Nordens treibt. So hat er mich nun beauftragt, die Reise an seiner Stelle durchzuführen. Auf diese Weise kann ich Euch auf einem Teil des Weges begleiten. Immerhin ist es das gefährlichste Stück."

„Einen mutigen Begleiter könnten wir beide wohl gebrauchen, nicht aber einen liebestollen, balzenden Hahn, der uns sehr bald zu einer unerträglichen Last werden würde“, entgegnete Aisha stirnrunzelnd.

Fanik verneigte sich theatralisch. „Aisha, dein lieblicher Anblick erfüllt mein Herz mit unendlicher Freude. Doch diese Freude birgt auch bitteren Schmerz, da ich weiß, dass die Sehnsucht meines Herzens für immer unerfüllt bleiben wird. Gerne werde ich diese Qual ein Weilchen auf mich nehmen, um dich ein Stück weit auf deinem Weg zu geleiten.“

„Deine freundlichen Worte sind wie süßer, kühlender Balsam auf die schmerzenden Wunden meines Herzens, denn nur zu gern würde ich deine Gefährtin sein. Aber du weißt, dass ich einen schweren Weg vor mir habe. Und den muss ich ganz allein gehen“, gab Aisha leise zur Antwort und wandte sich schnell ab, damit Fanik die Tränen in ihren Augen nicht sehen sollte. Sie hatte ihn, der mehr tot als lebendig war, vor kurzer Zeit geheilt und hatte seine Brautwerbung abgelehnt, um den Auftrag von Zaras, nach der letzten Blüte zu suchen, zu erfüllen. „Lasst uns endlich weiterreiten. Wer weiß, wann der nächste Sandsturm auf uns wartet“, rief sie schließlich und trieb ihr Pferd an.

Zügig, aber ohne Hast, setzten die drei Reiter ihren Weg fort und hielten nach Sonnenuntergang nur an, um die Pferde zu versorgen. Im bleichen Licht des Vollmonds ritten sie auf dem Karawanenweg bis Mitternacht. In einem abseits gelegenen Talkessel vor Sicht geschützt, entfachten sie ein kleines Feuer, um ihr karges Mahl zuzubereiten. Die Pferde durften, an den Vorderbeinen gefesselt, in der Nähe des Lagerplatzes das hier noch vorhandene spärliche Gras abweiden. Schließlich setzten sie ihren Ritt fort. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, sodass lange Zeit kein einziges Wort gesprochen wurde.

Als endlich der Morgen graute, brach Palo das lange Schweigen: „Ich denke, es wird höchste Zeit, dass wir uns um einen Lagerplatz zu kümmern, um dort die Zeit der Tageshitze zu verbringen.“

Aisha deutete nach Süden: „Dieses mächtige Bergmassiv birgt sicher einige Täler, die uns vor der Sonne und auch vor neugierigen Blicken schützen können.“

Das Gebirge war binnen einer halben Stunde erreicht. Drohend ragten rostrote, zerklüftete Felswände vor den Dreien auf. Doch bereits nach kurzer Suche hatten sie gefunden, was sie suchten: Eine schmale Schlucht mit überhängenden Felswänden tat sich vor ihnen auf. Kühle Luft wehte ihnen entgegen, als sie in das Tal vordrangen. Die Pferde schnaubten und schnupperten aufgeregt mit weit geöffneten Nüstern.

„Die Pferde riechen Wasser. Lasst uns zuerst das Lager aufschlagen und dann die Wasserstelle suchen“, schlug Aisha vor. Die beiden Männer kümmerten sich um das Lager, während sie selbst auf die Suche nach Wasser ging.

Die Schlucht sah so aus, als wäre sie einst von einem Fluss in den Fels geschnitten worden, denn allenthalben an ihren nahezu senkrechten Seitenwänden waren Auskolkungen zu sehen. Einzelne bizarr geformte, dicht belaubte Akazien reckten ihre knorrigen Äste der Sonne entgegen, deren Strahlen jeden Tag nur kurze Zeit den Weg in den engen Spalt fanden.

Der Grund des Tals erwies sich als gut begehbar und Aisha brauchte nicht lange zu suchen, bis sie fündig wurde. Hinter einer Talbiegung, gänzlich geschützt vor direktem Sonnenlicht, gab es in einigen Felsmulden reichlich klares, kühles Wasser, das für eine ganze Karawane ausgereicht hätte.

Später, als die Drei an der Glut eines kleinen Lagerfeuers beisammensaßen und heißen Tee schlürften, erzählte Fanik, weshalb er sich Sorgen um die Sicherheit seiner Freunde gemacht hatte: „Ihr müsst wissen, dass auf diesem Weg im Lauf des vergangenen Monats drei Karawanen überfallen worden sind. Alle Menschen fand man hingemetzelt an ihren Lagerplätzen. Doch die von ihnen mitgeführten Waren, auch ihre Tiere, blieben spurlos verschwunden.

So weiß man bis heute nicht, wer für die Überfälle verantwortlich ist. Zwei dieser Karawanen waren sogar von einem Trupp schwer bewaffneter Reiter begleitet. Aber auch diese haben ausnahmslos den Tod gefunden. So könnt ihr sicher verstehen, warum ich mir so große Sorgen um euch beide gemacht habe“, schloss Fanik seinen Bericht.

„Gibt es denn keinen anderen Weg nach Serfan? Es muss doch mehr als nur eine einzige Karawanenstraße geben“, warf Palo ein.

Fanik nickte. „Es gibt noch zwei andere Möglichkeiten: Ihr könntet die alte Route über Sil’Athan nehmen, doch müsstet ihr dazu noch fünf Tage auf diesem gefährlichen Weg hier bleiben. Die dritte Möglichkeit wäre, die kahle Hochebene im Südwesten bis zum Kliff am Sandmeer zu überqueren. Dieser Weg ist nicht zu verfehlen, denn auch entlang des Steilabfalls lässt es sich bequem nach Sil’Athan reiten. Und von dort aus ist es nicht mehr weit bis nach Serfan.

Es gibt da allerdings ein Problem. Der Weg wird nicht mehr begangen, obwohl sich ein Reisender, der sich nach dem Sonnenstand richtet, niemals verirren kann. Es genügt, auf der kahlen Ebene einfach bis zum Kliff nach Westen zu gehen und diesem dann nach Norden zu folgen. Doch seit vielen Jahren nimmt kein Reisender mehr diese Route. Es gibt dort nämlich kein Wasser, denn sämtliche Brunnen in den zahlreichen runden Tälern sind versiegt. Die wenigen Oasen, die es einst dort gab, wurden bereits vor langer Zeit von ihren Bewohnern verlassen.“

„Sprachst du soeben von runden Tälern, Fanik?“, fragte Aisha interessiert.

„Ja, die kleineren sind oft kreisrund, manche sind lediglich kleine Trichter voller Felsbrocken. Einzelne Senken sind dagegen sehr groß. Einst soll es sogar Weiden und Äcker dort gegeben haben.“

Aisha fasste einen Entschluss. „Wir werden den Weg über die Hochebene nehmen. Der Mörderbande zu begegnen, wäre unser sicheres Verderben. Die Wüste dagegen ist meine Heimat. Ich bin sicher, dass sich dort Wasser und auch ausreichend Futter für unsere Tiere finden lässt.“

 

Am folgenden Morgen, das erste Sonnenlicht war gerade am östlichen Horizont sichtbar geworden, wurde S’Ahim von einem seiner Krieger geweckt. Sofort war er auf den Beinen. „Führe den Blinden zu mir“, befahl er. Die Begrüßung der beiden fiel nicht sonderlich herzlich aus, denn Außenstehnde sollten nicht sehen, dass sie sich schon lange kannten. Die Wachtposten wurden angewiesen, niemanden auf Hörweite an das Feuer heranzulassen.

Erst als Arhan ächzend Platz genommen und genießerisch einige Becher heißen Tee geschlürft hatte, begann er zu sprechen. „Ihr habt lange nichts von Euch hören lassen, werter S’Ahim. Vieles hat sich im alten Zaradan seitdem ereignet.“

 

Das Gespräch dauerte bis zum Abend. Es wurde lediglich von Essenspausen unterbrochen oder zu den Gelegenheiten, wenn frischer Tee gebracht wurde. Der Spitzel erzählte viel Klatsch, aber auch sehr viel, das zu wissen von Nutzen für die Vollstrecker Omals sein konnte. Denn wer beachtete schon einen blinden alten Bettler? So mancher vergaß deshalb, bei seiner Annäherung die Stimme zu dämpfen.

Und so zückte S’Ahim am Abend einen mit Silberstücken gespickten Beutel und warf ihn Arhan zu.  „Hab Dank für den unterhaltsamen Tag“, brummte er. „Ich hoffe, dass wir uns bei meinem nächsten Aufenthalt in Zaradan wieder treffen werden.“

„Euch zu treffen, war mir Vergnügen und Ehre zugleich, werter S’Ahim. Wann immer Ihr wieder nach Zaradan kommt, Arhan der Blinde wird Euch stets zu Diensten sein“, erwiderte der Spitzel grinsend, während er die Ausbuchtung seines Gewandes liebkoste, unter der sich der Beutel mit den Silberstücken befand. „Doch sagt mir, was hat Euch nach Zaradan geführt? Kann ich Euch irgendwie behilflich sein?“

Normalerweise sprach S’Ahim nicht über seine Aufgaben, schon gar nicht über einen fehlgeschlagenen Auftrag. Doch an diesem Tag machte er eine Ausnahme. „Ach, weißt du, wir waren auf der Suche nach einer jungen Frau im Alter von etwa siebzehn Jahren“, sagte er leichthin. „Sie war allein in der Wüste unterwegs und ist seitdem unauffindbar. Aber das ist lange her. Wahrscheinlich ist sie längst verdurstet. Soweit es uns bekannt ist, ist sie vor sechs Monaten verschwunden.“

„Ist das nicht merkwürdig?", erwiderte Arhan. "Vor etwa sechs Monaten kam eine junge Frau hier in Zaradan mit einer Karawane aus dem Süden an. Der Karawanenführer brachte sie zu der alten, seinerzeit ständig betrunkenen Heilerin Almara, die hier in Zaradan seit vielen Jahren tätig ist. Seitdem lebt sie bei der alten Frau und hilft ihr bei der Arbeit.“

Auf der Stelle war S’Ahim hellwach. „Wie sieht das Mädchen aus?“, fragte er betont lässig.

„Sie ist schlank, hat lange dunkle Haare und dunkle Augen, die etwas schräg geschnitten sind.“ Mit den Fingern zog Arhan seine Augenwinkel ein wenig nach oben. „Merkwürdigerweise ging sie seit ihrer Ankunft stets verschleiert, so dass nur ihre Augen zu sehen waren. Kein Mensch hat jemals ihr Gesicht gesehen – bis vor zwei Tagen, als ihr ein Betrunkener den Schleier vom Gesicht riss. Es heisst, dass sie wunderschön ist. Aber jetzt ist der Vogel ausgeflogen. Wie es aussieht, hat sie sich den Sohn eines reichen Kaufmanns geangelt. Vor zwei Tagen sind sie abgereist.“

S’Ahim gähnte betont gelangweilt. „Wohin, sagtest du, wollten sie reisen?“

„Ich sagte es noch nicht, werter S’Ahim, doch ich habe es zufällig in der Schänke erfahren, in der die Alte immer zu trinken pflegte. Sie sind nach Serfan aufgebrochen, auf dem alten Karawanenweg.“

S’Ahim, der nicht die geringste Lust verspürte, dem Spitzel noch mehr Silber in den unersättlichen Rachen zu werfen, winkte ab. „Wir suchen nach einem blondhaarigen Mädchen mit grünen Augen. Sie soll nach Süden unterwegs gewesen sein. Doch trotzdem danke ich dir für die Auskunft. Immerhin hätte es ja sein können, dass du das richtige Mädchen gesehen hast. Aber jetzt halte uns nicht länger auf. Wir müssen weiter. Der Hohepriester wartet sicher schon ungeduldig auf unseren Bericht.“

Er geleitete seinen Besucher noch bis zum Tor der Karawanserei. Als der Mann nicht mehr zu sehen war, spuckte er verächtlich aus. „Wenn ich die Dienste dieses Packs nicht immer wieder benötigen würde, ließe ich ausnahmslos sämtliche Spitzel töten. Diese Menschen sind absolut nichts wert. Niemand würde sie vermissen“, murmelte er zwischen zusammengebissenen Zähnen und eilte zurück zu seinen Männern. „In einer Stunde brechen wir auf. Versorgt die Pferde und esst und trinkt ausreichend, denn wir haben einen anstrengenden Ritt vor uns“, erklärte er ihnen.

 

Bekümmert wandte sich Fanik an Palo und Aisha. „Heute ist der dritte Tag, den wir miteinander verbringen. Ich wünschte, wir könnten unseren Weg noch längere Zeit gemeinsam gehen. Deshalb bin ich traurig, dass wir heute voneinander Abschied nehmen müssen. Ich selbst muss die nördliche Abzweigung des Weges in Richtung Nefan nehmen. Ihr beide mögt euch nach Westen wenden, wann immer es euch beliebt. Die Hochebene ist nahezu flach. Da es keine Hindernisse gibt, ist der Weg bis zum Kliff, das euch nach Sil’Athan führen wird, überall frei.“

Auch Aisha war traurig, da sie Fanik längst ins Herz geschlossen hatte. „Wir werden uns auf die Hochebene begeben, unmittelbar, nachdem wir uns voneinander getrennt haben. Jede Stunde weniger auf diesem gefährlichen Weg ist eine Stunde weniger Sorge um unsere Sicherheit.“ Und um ihre Trauer vor Fanik zu verbergen, ritt sie ein Stück voraus auf eine kleine Anhöhe, um Ausschau zu halten.

In der Ferne, am nordwestlichen Horizont, und infolge der vor Hitze flimmernden Luft kaum zu erkennen, bewegte sich ein einzelner dunkler Punkt. Aisha wies Palo, der in der Zwischenzeit zu ihr aufgeschlossen hatte, darauf hin. Es zeigte sich, dass der Mann so scharfe Augen hatte wie ein Adler. „Es ist nur ein einzelner Reiter. Doch lasst uns trotzdem vorsichtig sein. Hinter einem harmlosen Äußeren kann sehr viel Schlimmes verborgen sein“, warnte er seine Begleiter.

Es vergingen jedoch noch mehrere Stunden, bis sie sich dem Mann so weit genähert hatten, dass sie Einzelheiten zu erkennen vermochten. Der Neuankömmling ritt, wie sie selbst auch, eines der zähen, ausdauernden Steppenpferde, die für Reisen in jeder Wüste geeignet waren, wenn ausreichend Wasser zur Verfügung stand. 

Der Reiter war wie ein Kaufmann gekleidet, doch er war außerordentlich gut bewaffnet. Er trug Bogen, Krummschwert und Dolch. In einiger Entfernung hielt der Fremde sein Pferd an. Zum Zeichen, dass er friedliche Absichten hegte, streckte er seine leeren Hände mit den Handflächen nach oben aus. „Seid gegrüßt“, rief er den Gefährten zu. „Es tut gut, in dieser Ödnis wieder menschliche Gesichter zu sehen. Ist aber ein Antlitz darunter, das so schön und so frisch leuchtet wie die Blüte der Taublume am Morgen, dann fließt einem Mann das Herz vor Wonne über. Erlaubt mir, Eure Schönheit zu preisen, hochverehrte Fremde, denn mein Mund quillt über von Worten, die Herrlichkeit zu beschreiben, die meinen Augen zu sehen vergönnt ist.“ 

Aisha richtete sich im Sattel auf. „Kommt näher und seid uns willkommen. Eure Worte sind Balsam auf die Seele einer von der heißen Sonne verbrannten und vom Schmutz

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Anton Heinzinger/Otto Förster
Bildmaterialien: Covergestaltung: T. Anzinger; Coverbilder: forcdan - Fotolia.com; lg0rZh - Fotolia.com; antonel - Fotolia.com.
Tag der Veröffentlichung: 23.08.2013
ISBN: 978-3-7309-4515-5

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