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Prolog

Unaufhaltsam breitet sich die Wüste im Königreich Zarador aus. Einstmals ein reiches, fruchtbares Land, ist das Gebiet zum großen Teil bereits ausgetrocknet. Wasser ist allenthalben extrem knapp und kostbar, und der Anbau von Feldfrüchten ist schwierig geworden. Einstmals blühende Städte sind verödet und zerfallen, und der früher sehr lebhafte Handel ist - bis auf wenige Ausnahmen - weitgehend zum Erliegen gekommen. Die Menschen erleiden große Qualen unter diesen Lebensbedingungen, doch es wird immer noch heißer, und der Regen bleibt zunehmend öfter aus.

In dieser verzweifelten Lage haben die Priester Omals, des Todesgottes, bereits vor langer Zeit die Macht im Königreich Zarador an sich gerissen. Sie herrschen über das Volk mit Hilfe der Blutreiter, einer Truppe grausamer Krieger. Diese Männer sind ganz in Rot gekleidet, in die Farbe des Blutes, das sie ohne Skrupel und ohne zu zögern regelmäßig vergießen, wenn sie damit ihrem Gott dienen können.

Ihre Gegenspieler, die Bewahrer des Lebens, treten in der Öffentlichkeit nicht mehr in Erscheinung, um nicht von den Blutreitern getötet zu werden. Doch ihre Organisation lebt im verborgenen weiter, um den geschundenen Menschen eines Tages die Erlösung vom Joch der Wüste zu bringen.

In diese Situation ist die junge Aisha hineingeboren worden. Als Findelkind, aufgefunden neben einem Karawanenweg, ist sie einst zum Stamm der Nashi gekommen. In deren von der Welt vergessenen Oase ist sie groß geworden und ihre Vermählung mit dem Sohn des Stammesführers scheint so gut wie sicher.

Da erkrankt Zaras, ihr alter Freund und Lehrer. Doch ehe er stirbt, erteilt er Aisha einen geheimnisvollen Auftrag. "Suche die letzte Blüte", steht in einer Schriftrolle, die er ihr hinterlässt. Aisha entschließt sich schweren Herzens, den Auftrag von Zaras anzunehmen und gleichzeitig nach ihrer Herkunft zu forschen.

Doch sie ist längst, ohne es zu wissen, zu einem Teil des Machtspiels der Omaliten geworden. Und noch ehe sie ihren Entschluss in die Tat umsetzen kann, schlagen die Blutreiter rücksichtslos zu ...

 

 

 

Zaras' Tod

„Bring den Mann herein!“ Mit einer Handbewegung bedeutete der fette Hohepriester seiner blutjungen Dienerin, dass sie sich sputen solle. Während sich das junge Mädchen beeilte, dem Befehl nachzukommen, zupfte der Priester sein wallendes, üppig mit Goldfäden durchwirktes Gewand sorgfältig in Form.

Ungeduldig wartete er, bis die Dienerin endlich in Begleitung eines weißhaarigen, einfach gekleideten Mannes erschien. Er trommelte mit den Fingern auf das Tischchen neben seinem gepolsterten Sessel, bis der Mann den Raum durchquert hatte und sich demütig vor ihm verneigte. „Nun?“, fuhr er den Mann an.

Der zuckte zusammen und verbeugte sich abermals. „Ehrenwerter S’Imsal, wie Ihr wisst, bin ich gestern von der langen Reise zurückgekehrt, zu der Ihr mich vor fünfundzwanzig Monden ausgesandt habt.“

„Mir ist bereits zu Ohren gekommen, dass sie außerordentlich erfolgreich gewesen ist. Du hast wesentlich mehr Opfertiere für unseren Tempel mitgebracht, als es die Priesterschaft für möglich gehalten hat. Aus welchem Grund stiehlst du mir dann die Zeit?“

Verunsichert schielte der Mann zur Dienerin hin, die auf weitere Anweisungen des Hohenpriesters wartete. „Herr, ich meine … Es ist nur …“

S’Imsal blinzelte dem Mann verschmitzt zu. „Ich habe dich verstanden. Du bist müde von der Reise und möchtest dich gerne setzen, nicht wahr?“

„Nein … Ja, natürlich, mein Hohepriester. Wenn es Euch nichts ausmacht, ehrenwerter S’Imsal“, erwiderte der Mann erleichtert.

„Gut! Wir werden in mein Studierzimmer gehen. Dort gibt es Sitzgelegenheiten für uns beide, damit sich deine von der langen Reise ermüdeten Beine auch gebührend ausruhen können.“

Im Studierzimmer angekommen, setzte sich der Hohepriester so, dass er dem Fenster den Rücken zuwandte. Der Weißhaarige nahm ihm gegenüber auf einem reich beschnitzten Stuhl aus Akazienholz Platz. Goldener Sonnenschein flutete durch das hohe Glasfenster und beleuchtete sein wettergegerbtes Gesicht, sodass seinem Gegenüber auch nicht die kleinste Gefühlsregung verborgen blieb. „Sprich endlich! Oder hat dir meine Freundlichkeit die Sprache verschlagen?“, knurrte der Hohepriester.

Der Mann fuhr zusammen. „Verzeiht, Herr, meine schlechten Manieren“, flüsterte er. „Ich habe lange Zeit zwischen ungebildeten Menschen verbracht. Dort habe ich wohl unwillkürlich deren Benehmen angenommen. So will ich nun berichten.“ 

„Sicher erinnert Ihr Euch noch daran, werter S’Imsal, dass Ihr mich vor vielen Jahren an den Hof des Königs von Zarador gesandt habt, damit ich mich dort als Arbeitskraft verdinge. Daraufhin habe ich mehrere Jahre lang in der königlichen Küche gedient und habe stets getreulich alles berichtet, was ich über das Königshaus in Erfahrung habe bringen können.“

„Du warst damals in der Tat unser wertvollster Berichterstatter“, erklärte der Hohepriester schmunzelnd, der sich nur allzu gern daran erinnerte, dass auf diese Weise auch der intimste Hofklatsch aus dem Königshaus den Weg zu ihm in den Tempelbezirk gefunden hatte.

Der Mann dämpfte seine Stimme zu einem Flüstern. „Und Ihr habt sicher auch noch im Gedächtnis, Herr, was seinerzeit geschehen ist, kurz bevor ich aus dem Dienst am Königshof ausscheiden musste. Damals ist ein bestimmtes Kind verschwunden, nach dem man später jahrelang vergeblich gesucht hat."

„Komm endlich zur Sache“, wurde er vom Hohepriester ermahnt, der allmählich zu ahnen begann, dass die Information des Mannes von höchster Wichtigkeit für die Priesterschaft sein könnte.

Die Stimme des Mannes versagte. „Ich ... Ich habe das Kind gefunden“, raunte er schließlich.

S’Imsal gelang es nur mit Mühe, seine aufkommende Erregung zu bezähmen. „Dir ist bestimmt bewußt, dass ein qualvoller Tod auf dich wartet, falls du mich belügst“, zischte er.

Der Mann zuckte zusammen, doch sein Blick war weiterhin offen. „Herr, ich bin mir ganz sicher. Das Mädchen ist seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Eine Verwechslung ist vollkommen ausgeschlossen, denn ich habe die Frau über Jahre hinweg nahezu täglich gesehen.“

Das gewaltige Doppelkinn des Hohenpriesters wabbelte. „Wann hast du von dem Mädchen erfahren?“

„Es war kurz nach Beginn meiner Reise, um die Opfertiere zu holen. Leider sind seitdem volle fünfundzwanzig Monde verstrichen. Ich habe das Mädchen in einer kleinen Oase entdeckt, die ein Stück abseits des Karawanenwegs liegt. Wie Ihr sicher noch wisst, bin ich seinerzeit mit einer Händlerkarawane in den Süden gereist.

Da ein Reisender schwer erkrankt war, hat man ihn in die Oase gebracht. Ich habe den Mann damals dorthin begleitet, weil auch ich nicht ganz gesund war. So konnte ich sehen, dass der Heilerin dort ein junges Mädchen zur Hand ging. Und dieses Mädchen ist die Person, nach der Ihr sucht.“

Scharf wie ein Schwerthieb kam die nächste Frage des Hohenpriesters. „Hast du etwas über die Herkunft dieses Mädchens in Erfahrung bringen können?“

„Ich habe es versucht, Herr, indem ich mich unauffällig danach erkundigt habe. Aber kein Mensch konnte mir sagen, woher sie stammt. Es hieß, ein Mann habe sie einst als Säugling an einer Wasserstelle des Karawanenwegs gefunden.“

Der Hohepriester rieb sich die Hände, um sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen. „Kannst du dich noch an den Weg zu dieser Oase erinnern?“

„Sie ist sehr leicht zu finden, ehrenwerter S’Imsal: Ihr reist von Zaradan aus etwa zwölf Tage weit auf der Karawanenstraße nach Südwesten. Unmittelbar beim großen Tafelberg – die Stelle ist auf keine Fall zu verfehlen – biegt Ihr scharf nach Osten ab. Ein breiter, ausgetrockneter Flusslauf weist Euch den Weg zur Oase, die vom Stamm der Nashi bewohnt wird. Es ist ein Stamm von Jägern und Kriegern, doch seine Angehörigen sind dem Grunde nach friedlich.“

Der Hohepriester erhob sich, und begann im Raum umherzugehen. „Weshalb bist du damals nicht auf der Stelle umgekehrt und hast mir von deiner Entdeckung berichtet?“

„Ihr hattet mir einen anderen Auftrag erteilt, Herr. Deshalb war es mir nicht erlaubt, umzukehren, obwohl ich seinerzeit nahe daran war, es zu tun. Und einem Boten konnte ich diese wichtige Nachricht unter keinen Umständen anvertrauen.“

„Du hast damals richtig gehandelt, denn trotz deiner Entdeckung wärst du dem Todesbaum anheim gefallen, wenn du zurückgekehrt wärst, anstatt die Reise fortzusetzen.“ Spöttisch grinsend fuhr er fort: „Hab einstweilen Dank für diese Nachricht. Doch es ist von allergrößter Wichtigkeit, dass niemand sonst von dieser Angelegenheit erfährt. Hast du mich verstanden?“

Der Mann verneigte sich. „Ja, ehrenwerter S’Imsal. Ich werde tun, was Ihr verlangt, indem ich schweigen werde, wie ich bisher geschwiegen habe. Eher würde ich sterben, als dass ich irgend jemand dieses Geheimnis verraten würde.“

S'Imsal lächelte zweideutig und schlug den Gong, worauf zwei in blutrote Gewänder gekleidete, bewaffnete Männer erschienen. „Ich will diesen Mann hier für seine treuen Dienste belohnen", erklärte er den Bewaffneten. Ihr beide bürgt mit eurem Leben dafür, dass er mit niemandem spricht, ehe er seine Belohnung erhalten hat.“

Der Größere der beiden streckte die Hand aus, um einen kleinen Gegenstand entgegenzunehmen, den der Hohepriester vom Tisch genommen hatte. Und ehe er ihn in sein Gewand steckte, warf er einen kurzen Blick darauf, ohne dass der zu Belohnende sehen konnte, worum es sich dabei handelte.

„Danke, Herr, vielen Dank“, stammelte der Mann, ehe ihn die Krieger in die Mitte nahmen. Draußen zogen sie ihn durch eine unauffällige Tür in einen dunklen Gang. An seinem Ende öffnete einer der Männer ein großes Tor einen Spalt weit. Helles Sonnenlicht flutete herein. „Geh hinaus und hol dir deine Belohnung“, flüsterte der zweite Bewaffnete und schob ihn zum Tor hin. Urplötzlich riss es der andere Rotgekleidete weit auf und versetzte dem Mann einen kräftigen Stoß in den Rücken, der ihn einige Schritte weit in einen großen Innenhof stolpern ließ.

Von der Sonne geblendet, versuchte der alte Mann blinzelnd, deutlicher zu sehen, erblickte jedoch nichts außer einem uralten, knorrigen Baum, dessen mächtige Krone nahezu den gesamten Innenhof überspannte. Verständnislos starrte er den Baum an. Und als er endlich begriffen hatte, dass er selbst es war, nach dem die reichlich mit langen, spitzen Dornen gespickten Äste und Zweige des Baums tasteten, wandte er sich zur Flucht. Doch das Tor hinter ihm war bereits geschlossen. Entsetzt vernahm er, wie ein schwerer Riegel leise knirschend in seine Verankerung glitt.

Die beiden Bewaffneten auf der anderen Seite der Pforte verharrten einen Augenblick lang, um zu lauschen, dann begaben sie sich auf den Rückweg. Und als sie schließlich die Tür zum Gemach des Hohenpriesters öffneten, zeigten ihnen grässliche Schreie an, dass der Mann die versprochene Belohnung erhalten hatte.

Einer der Männer fasste in sein Gewand und holte den kleinen Gegenstand heraus, den er kurz zuvor von S’Imsal erhalten hatte. Grinsend nahm ihn der Hohepriester zurück. Er legte ihn auf sein Schreibpult, wo ihn ein feiner Sonnenstrahl traf, sodass der winzige Totenschädel silbern zu schimmern begann.

„Herr, Ihr habt diesen Mann reich beschenkt, denn er hat bereits bekommen, was wir alle noch herbeisehnen“, erklärte der zweite Bewaffnete, ehe er, zusammen mit seinem Begleiter, aus dem Raum verschwand wie ein blutiger Schatten.

Nachdem die leisen Schritte der Männer verklungen waren, wandte sich S’Imsal seufzend um und öffnete das Fenster. Bis zu diesem Augenblick war es ihm gelungen, seiner Erregung Herr zu werden. Sie hätte ihn um ein Haar übermannt, als ihm der alte Mann die Nachricht von dem jungen Mädchen überbracht hatte. Doch jetzt packte ihn der Zorn. Zähneknirschend ballte er die Fäuste und stampfte heftig mit dem Fuß auf. „Das Erscheinen dieses Weibsstücks wirft alle unsere sorgfältigen Planungen der vergangenen eineinhalb Jahrzehnte über den Haufen“, zischte er. „Das kann und darf nicht sein.“

Bleich vor Wut starrte er hinaus in den weitläufigen, sonnendurchfluteten Tempelgarten. Der Anblick der grünen, dicht belaubten Bäume, der üppig blühenden Sträucher und der verschwenderischen Fülle der Blumen tat ihm wohl. Das Plätschern der Wasserspiele und das Zwitschern der Vögel in den Bäumen verschmolz mit dem Summen der zahllosen emsigen Bienen zu einer leisen Symphonie, der er verzückt zu lauschen begann. In der Folge legte sich sein Zorn, sodass er wieder klar zu denken vermochte. Aber wie er die Angelegenheit in Gedanken auch drehte und wendete: Unweigerlich kam er jedes Mal zum gleichen Ergebnis. Entschlossen trat er an sein Schreibpult und läutete mit einem kleinen, vergoldeten Glöckchen.

„Sorge dafür, daß sich S’Ahim, Truppführer der Vollstrecker Omals, unverzüglich bei mir meldet“, befahl er der eintretenden Dienerin.

 

Der hagere, schwarzhaarige Mann mit den stechenden gelben Augen verharrte respektvoll an der Tür des Studierzimmers. „Ihr habt mich rufen lassen, mein Hohepriester?“, schnarrte er.

S’Imsal, der wieder ans offene Fenster getreten war, wandte sich nicht nach ihm um, sondern winkte ihn schweigend zu sich heran. Seht es Euch ruhig an, S’Ahim. So wie dieser blühende Garten hat das Königreich Zarador einstmals fast überall ausgesehen, ehe es durch das uns allen bekannte Ereignis verwüstet worden ist. Bedauerlicherweise ist seinerzeit auch die Elite der Priesterschaft Omals viel zu früh in das Reich der Schatten abberufen worden.“

Schweigend ließ der Bewaffnete den Blick über die prächtige Gartenlandschaft schweifen. Das Betreten der inneren Tempelgärten war ihm und seinen Männern zwar nicht verboten, aber auch nicht ausdrücklich erlaubt. Allein aus diesem Grund hatte er es während der vielen Jahre, die er der Priesterschaft mittlerweile diente, niemals gewagt, auch nur einen Fuß in die Gärten zu setzen.

„Nun“, ließ sich der Hohepriester hören. „Gefällt Euch, was Ihr dort draußen sehen könnt?“

S’Ahims blutrotes Gewand raschelte, als er den Arm hob, um auf die blühende Pracht zu weisen. „Mein Hohepriester, wird das Königreich Zarador eines fernen Tages wieder so aussehen wie diese Gärten?“

„Das ist eine sehr gute Frage“, antwortete S’Imsal schmunzelnd und schloss das Fenster. „Allein der Tatsache, dass Ihr sie gestellt habt, entnehme ich, dass Ihr ein Kenner der alten Prophezeiungen seid. Deswegen hätte ich gute Lust, sie Euch zu beantworten. Aber die Zeit drängt. Lasst uns darum gleich zu der Angelegenheit kommen, derentwegen ich Euch habe rufen lassen: Omal, der Gott des Todes, hat eine neue Aufgabe für Euch und Eure Männer.“

 

Der weißhaarige, abgemagerte Mann auf dem einfachen Lager aus ungegerbten Ziegenfellen begann leise zu stöhnen. Sofort huschte ein junges Mädchen an seine Seite. Es hatte kurz am Eingang seiner armseligen Hütte aus dürren Palmwedeln verweilt, um nach dem Wetter zu sehen. Zärtlich strich es dem Mann übers Haar und tupfte die glitzernden Schweißperlen von seiner bleichen Stirn.

„Zaras, kann ich irgendetwas für dich tun?“, fragte es leise. „Soll ich dir noch einmal zu trinken bringen?“

„Nein, mein Kind“, flüsterte der Mann. „Lass es gut sein. Ich habe keinen Durst.“ Draußen trieb der ungewöhnlich heiße Wind gelbgraue Wolken vor sich her. Der Staub drang durch den offenen Eingang in die Hütte und reizte den Mann zum Husten. „Ein Sandsturm wird bald losbrechen, nicht wahr?“, fragte er mit brüchiger Stimme. „Das Ende dieses Sturms werde ich nicht mehr erleben, Aisha“, flüsterte er. „Komm bitte etwas näher und lass dich ein letztes Mal von mir anschauen.“

Das Mädchen ergriff seine Hände. „Zaras, ich will nicht, dass du mich verlässt“, schluchzte es.

Der Mann musterte es mit glänzenden Augen. „Viele Jahre lang habe ich nach dir gesucht und ich war todkrank, als ich dich schließlich durch eine Fügung der Götter doch noch gefunden hatte. Doch du hast mich gesundgepflegt und hast mir damit ein Stück Leben geschenkt. Doch jetzt bin ich alt und schwach und es ist Zeit für die Heimkehr. Aber bevor ich gehe, möchte ich dir noch etwas schenken.“ Mit der Hand wies er auf ein kleines, in ein Stück rohes Leder eingeschlagenes Bündel zu seinen Füßen. „Bewahre es als Andenken an mich auf. Was sich darin befindet, wird dir vielleicht eines Tages von Nutzen sein.“ Umständlich nestelte er eine kleine, versiegelte Pergamentrolle aus seinem Hemd.

„Nimm diese Schriftrolle an dich und öffne sie, sobald ihr mich begraben habt. Nachdem du sie gelesen hast, wirst du verstehen, aus welchem Grund es so wichtig für mich war, dich zu finden.“

Aishas Augen füllten sich mit Tränen. „Zaras, mein lieber Zaras“, flüsterte sie, während sie die Rolle in ihrem Gewand barg.

Der Mann antwortete nicht, sondern betrachtete sie liebevoll. Mit zitternder Hand streichelte er ihr glänzendes schwarzes Haar, das ihr beinahe bis zur Taille reichte. Mit dem Zeigefinger fuhr er sanft die Konturen ihres schmalen, ebenmäßigen Gesichtes nach. Ein allerletztes Mal nahm er die dunkelbraunen, mandelförmigen Augen des Mädchens wahr, den roten Mund mit den vollen, geschwungenen Lippen, ihre schlanke, doch kräftige Gestalt und ihre schmalen Hände, die ihn seinerzeit so liebevoll gesundgepflegt hatten.

„Aisha - meine Blüte“, hauchte er, richtete sich halb auf und nahm die rechte Hand des Mädchens. „Vergiss deinen alten Freund Zaras nicht“, flüsterte er kaum hörbar, ehe er zurück auf sein Lager sank.

Eine plötzliche Windbö peitschte das dürre Dornengestrüpp vor der Hütte und wirbelte gelben Staub ins Innere, worauf den alten Mann ein neuerlicher Hustenanfall plagte. Schließlich wurde sein Atem ruhiger. „Aisha“, hauchte er und schloss langsam die Augen.

Das Mädchen beugte sich zu ihm hinunter und legte ihr Ohr auf seine Brust, um seinen Herzschlag zu hören. Ein allerletztes Mal raffte sich der alte Mann auf. „Aisha, geh jetzt zu den Anderen. Der Sandsturm kann jeden Augenblick losbrechen.“

Das Mädchen schluchzte. „Zaras, du musst mit mir kommen. Der Sturm wird dich hier in dieser Hütte töten.“ Es nahm den Sterbenden bei der Hand, doch dem alten Mann gelang es nicht mehr, die Augen zu öffnen.

„Beeile dich, Aisha. Ich bin bereits auf dem Heimweg. Der Sandsturm … Er kann mir nichts mehr anhaben“, flüsterte der Mann kaum hörbar und drückte die Hand des Mädchens.

Tränen malten dunkle Linien in Aishas mittlerweile mit feinem gelbbraunem Staub bedecktes Gesicht. Schließlich raffte sie sich widerstrebend auf und verließ die Hütte. Drohend hing eine dunkle, gelbgraue Wand über der Oase. Aisha wandte sich zur Mitte der kleinen Siedlung aus einfachen Lehmhütten und lief hastig auf das größte Gebäude der Oase zu, das man nahezu vollständig in den Boden eingelassen hatte. Lediglich sein Dach, das man mit großen flachen Steinen beschwert hatte, ragte kniehoch heraus.

Es war Zaras’ Vorschlag gewesen, es zum Schutz der Bewohner der Oase und ihrer Tiere zu bauen. Eine natürliche Mulde war geringfügig vertieft worden. Steinmauern, von allen Seiten bis oben hin mit Erde angeschüttet, sowie ein flaches, winddichtes Dach waren einfache, aber wirksame Mittel, Wind und Staub draußen zu halten.

Beinahe drei Monate hatte es seinerzeit gedauert, das Bauwerk zu errichten. Ausnahmslos alle Bewohner der Oase hatten dabei mitgeholfen. Und die Mühe hatte sich gelohnt: Bereits vier Mal hatte das Gebäude allen Bewohnern der kleinen Oase Schutz vor den immer häufigeren und an Stärke zunehmenden Stürmen geboten. Die Verluste an Tieren, die sonst regelmäßig zu beklagen gewesen waren, hatten gänzlich aufgehört. Und auch Menschen waren seither nicht mehr ernsthaft zu Schaden gekommen.

Verzweifelt meckernd irrte ein Ziegenkitz auf der Suche nach seiner Mutter zwischen den Lehmhütten umher. Aisha fing es geschickt ein und nahm es in die Arme. Mit langen Schritten lief sie auf den schmalen Eingang des Gebäudes zu. Sie war keinen Augenblick zu früh gekommen, denn als sie den mehrfach abgewinkelten Eingangsbereich betreten hatte, verschlang eine dunkle Wand aus Sand und Staub das Tageslicht.

Nur wenige Öllampen erhellten den niedrigen Raum. Ernst saßen die Bewohner der Oase im gelben Lichtschein der leicht flackernden Flammen. Von draußen war das Tosen des Sturms zu hören. Obwohl das Gebäude keine Fenster besaß und Aisha die einzige Tür wieder dicht verschlossen und doppelt mit Tüchern verhängt hatte, begann feiner Staub in den Raum einzudringen. Gelbgrauer Nebel ließ die Konturen in dem schwachen Licht verschwimmen.

S’Hadin, der Stammesführer der bereits auf das Mädchen gewartet hatte, winkte es zu sich heran. „Setz dich zu doch uns, Aisha“, rief er freundlich.

Aisha setzte sich in den Kreis, S’Hadin gegenüber, hielt jedoch demütig den Kopf gesenkt. Erst wenn das Wort an sie gerichtet wurde, durfte sie in die Runde schauen oder sprechen. So war es hier bei den Nashi Tradition. Dieser Brauch galt für Männer und Frauen gleichermaßen. Erst nachdem der in einem Kreis neu Hinzugekommene von einem der Anwesenden angesprochen worden war, durfte er sich als dazugehörig betrachten. Dann war er in den Kreis aufgenommen worden und durfte sprechen. Doch bis es so weit war, hatte der Neuankömmling zu schweigen und den Blick bescheiden gesenkt zu halten.

Aisha hielt immer noch das zitternde Ziegenkitz in ihren Armen. Zärtlich streichelte sie es und wiegte es leise summend an ihrer Brust. Mit Wohlwollen ließ S’Hadin seine Blicke auf dem Mädchen ruhen. Wie sehr hatte er sich immer eine solche Ehefrau für seinen Sohn Ah’mad gewünscht. Jetzt war Aisha zur jungen Frau erblüht und in heiratsfähigem Alter. Sie würde sich bestimmt glücklich schätzen, einen Ehemann wie Ah’mad zu bekommen.

Der alte Mann, den sie vor zwei Jahren gesundgepflegt hatte, und an dem sie seitdem rührend hing, würde das Jahr mit Sicherheit nicht überleben. Nach seinem Tod würde man die Hochzeit ausrichten und Aisha würde ihm prächtige Enkelsöhne schenken. Aber wo war der alte Mann? Besorgt richtete er das Wort an Aisha. „Wo hast du Zaras gelassen, meine Tochter? Ich habe ihn hier noch nicht gesehen.“

Mit tränennassen Augen blickte Aisha auf. „Zaras wollte nicht mit mir kommen. Er sagte, dass ihm der Sturm nichts mehr anhaben könne, da er heimkehren würde.“

S’Hadin nickte ernst. „Für jeden von uns bricht irgendwann der Tag an, an dem wir heimkehren zu den Göttern. Die Zurückgebliebenen mögen den Tod jedes Einzelnen betrauern. Bedenke aber, dass sie heimkehren in eine andere, schönere Welt. Lasst uns deshalb die Götter bitten, Zaras gnädig in ihr Reich aufzunehmen. So wie er gelebt hat, gütig und hilfsbereit, so soll er fortan in jener anderen Welt unendliche Güte erfahren.“

Lautes Weinen und Wehklagen erhob sich nach seinen Worten im Kreis der Stammesangehörigen. Aisha wurde von Weinkrämpfen geschüttelt. Der Schmerz über den Verlust ihres väterlichen Freundes und Lehrers hatte sie übermannt. „Zaras, oh Zaras“, wiederholte sie immer wieder. Und wie durch einen Schleier nahm sie wahr, dass eine alte Frau sich neben ihr niedergelassen hatte.

Sanft nahm die Frau Aisha in die Arme. „Weine dich aus bei mir, mein Täubchen, weine dich nur aus. Die alte Alzetha ist bei dir.“

Erst nach langer

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Anton Heinzinger / Otto Förster
Bildmaterialien: Buchcover: T. Anzinger, Coverbilder: udra 11 - Fotolia.com, antonel - Fotolia.com
Tag der Veröffentlichung: 05.08.2013
ISBN: 978-3-7309-4089-1

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