Gegen Ende des dreiundzwanzigsten Jahrhunderts ist die Menschheit an einem Wendepunkt angekommen. Die elektronische Datenverarbeitung beherrscht seit langer Zeit praktisch jeden Bereich des menschlichen Lebens, denn sie ist nahezu bis zur Perfektion entwickelt worden. Die Folge davon ist die fast vollkommene Abhängigkeit der Menschen von dieser Technologie. Gerade, als aus diesem Grund eine allgemeine gesellschaftliche Lähmung um sich greift, gibt es mehrere bahnbrechende technische Neuentwicklungen:
Das Cortex-Com wurde erfunden: Der Träger eines Cortex-Coms, im Allgemeinen kurz und bündig „C-Com-Träger“ genannt, ist immer und überall erreichbar. Er selbst kann sich ohne Zusatzgerät in jedes Datennetz von beinahe jedem beliebigen Standort aus einschalten. Aber das Cortex-Com ist nicht nur ein ins Gehirn eingepflanztes Kommunikationsgerät. Es ist Kommandogerät und Programmierwerkzeug und gleichzeitig auch ein hochwertiger Computer. Es enthält einen riesigen, frei programmierbaren Datenspeicher. Mithilfe der Visibrain-Technik kann ein C-Com-Träger beliebig Grafiken, Filme und dreidimensionale Darstellungen betrachten, Texte lesen, Tonkonserven hören – und natürlich auch bearbeiten. Und das alles ohne irgendwelche zusätzlichen Geräte.
Mitte des vierundzwanzigsten Jahrhunderts kann die Menschheit endlich darangehen, weit entfernte Sternsysteme zu erforschen und zu besiedeln, denn die überlichtschnelle Raumfahrt ist entwickelt worden. In Wirklichkeit bewegen sich die Raumschiffe gar nicht mit Überlichtgeschwindigkeit. Aber das Twister-Feld, wie es genannt wird, hat die Eigenschaft, eine quasi-unendliche Zahl von Transferkanälen in der Raumzeit aufzubauen, die das Raumfahrzeug einnimmt. Dort ist dann überlichtschneller Materietransfer möglich.
In die auf diese Weise aufgebaute Front von Kanälen „springen“ die Raumfahrzeuge praktisch hinein und das Raumschiff bewegt sich so ohne Zeitverlust ein Stück weit in dieser Transfer-Front fort. Und je schneller und vollständiger es dem Twister-Feld-Generator gelingt, diese Front immer wieder neu aufzubauen und aufrechtzuerhalten, desto schneller bewegt sich das Raumfahrzeug. Doch im Inneren des Raumschiffs ist davon absolut nichts zu spüren.
Niemand weiß mehr, wer einst den Ausdruck „Twister-Feld“ geprägt hat. Aber den Raumfahrern hat die Vorstellung, durchs All zu tanzen, einfach gut gefallen. Deshalb hat man sehr bald nur noch diesen Begriff verwendet.
Der zeitgleich eingeführte, überlichtschnelle Signaltransfer lässt den regelmäßigen Datenaustausch über kosmische Entfernungen nahezu in Echtzeit zu. Nur so sind die interstellare Datenvernetzung, schnelle interstellare und -planetare Nachrichtenverbindungen und eine effiziente Verwaltung im rasant wachsenden kosmischen Siedlungsraum überhaupt erst möglich geworden.
Und wie alles im Leben, hat die Abhängigkeit von den allumfassenden Datennetzen ihren Preis: Gelingt es einem Gegner, in diese Lebensadern einzubrechen, drohen schwerste Konsequenzen: Leben und Gesundheit von Milliarden Menschen sind in Gefahr. Doch genau dieser Fall ist eingetreten. Ein unbekannter Gegner aus den Tiefen des Alls dringt in die Datennetze ganzer Planeten ein und legt sie lahm. Millionen Menschen sterben infolge dieser Angriffe.
Gnadenlos schlägt der unbekannte Angreifer weiterhin zu. Die hochgerüstete Raumflotte hat den Angriffen nichts entgegenzusetzen, denn selbst ihre modernsten Kampfschiffe sind ihnen hilflos ausgeliefert. Mit aller Kraft sucht man beim Raumkommando nach einer Lösung, und entwickelt schließlich einen aus der Verzweiflung geborenen Plan ...
Quietschend schloss sich die stählerne Zellentür hinter Tommy. Noch vollkommen schockiert vom Ablauf der Gerichtsverhandlung taumelte er zur Pritsche und ließ sich auf der schäbigen Wolldecke nieder. „Acht Jahre Zwangsarbeit in den Cora-Minen auf Janghay“, hörte er den Schnellrichter immer noch sagen. Die Erinnerung an den dumpfen Laut des abschließenden Hammerschlags ließ ihn noch einmal zusammenzucken.
Er war schier unfähig zu glauben, was er soeben erlebt hatte. Es war einfach undenkbar, schlichtweg unmöglich. Er war ein de Vriere! Genauer gesagt Tom de Vriere, der einzige Sohn und Erbe des Datennetzkönigs Tory de Vriere. Seine Familie beherrschte einen der wichtigsten Zweige der Datenverarbeitung: die überlichtschnelle Datenübertragung und Datenvernetzung im interstellaren Bereich.
John Vizmaroon, der ein Jahr älter war als er, aber in die gleiche Klasse des Colleges ging, hatte für ein ganz ähnliches Delikt vor einem halben Jahr nur eine „ernsthafte Verwarnung“ erhalten, verbunden mit der Androhung, im Wiederholungsfall vom Elitecollege zu fliegen. Natürlich hatten Johns Eltern für den Schaden aufkommen müssen. Aber die zwei Millionen waren für sie nicht mehr als eine größere Bagatelle gewesen.
Zugegeben, er selbst hatte einen Schaden von einer knappen Milliarde verursacht. Aber weshalb auch sicherte die World Commercial Credit ihre Kundendateien so schlecht ab? Eigentlich sollte man ihm dort dankbar sein, dass er die Sicherheitslücke entdeckt hatte, bevor die Datamaff dort in das System einbrach. Außerdem war die WCC gut versichert. Und er hatte das Geld ja nicht für sich selbst genommen, sondern es auf Kreditkonten mit hoch negativem Saldo umgeleitet. Ein kleines bisschen fühlte er sich deshalb, als wäre er der legendäre Robin Hood, der vor vielen Jahrhunderten den Armen geholfen hatte.
Sicher würde er morgen früh aufwachen, und der Gefängnisdirektor würde sich bei ihm wegen des Irrtums entschuldigen. Onkel Jorge würde ihn bereits vor dem Gefängnis erwarten, um ihn vielleicht zu einem kleinen Erholungstrip auf seiner Segelyacht nach Hawaii abzuholen. Natürlich würde ihm sein Vater ordentlich den Kopf waschen. Aber so schlimm konnte das nicht werden, denn Dad war während seiner eigenen Jugendzeit selbst ein auf der ganzen Welt berüchtigter Hacker gewesen.
Weil ihm nichts Besseres einfiel, zupfte Tommy umständlich seinen maßgefertigten Anzug in Form. Der kleine Taschenspiegel, den die Wachen offensichtlich übersehen hatten, half ihm, seinen perfekten Sitz zu kontrollieren. Geziert schüttelte er seinen blonden Lockenkopf zurecht und strich sich mit der angefeuchteten Spitze seines Zeigefingers die Augenbrauen glatt. Mit seinem parfümierten Taschentuch wedelte er vor seinem Gesicht herum und hüstelte gekünstelt hinein. Doch niemand kam, um ihn aus diesem Albtraum herauszuholen.
Entnervt streckte er sich schließlich auf der harten Gefängnispritsche aus und gelangte dabei zu der Überzeugung, dass er in dieser Nacht kein Auge würde zutun können. Schließlich streckte er trotzig die Zunge in Richtung der Aufnahmeoptik der Überwachungskamera heraus, und zog sich die kratzige, harte Decke über den Kopf.
Der Ratssaal in Sydney hatte selten so viele Ratsmitglieder auf einmal gesehen wie an diesem Tag. Bestenfalls zur Initiierung eines neuen Ratspräsidenten oder zu gelegentlichen, ähnlich bedeutsamen Ereignissen fanden sich die Ratsmitglieder persönlich dort ein. Die gewöhnlichen Sitzungen wurden per interstellarem Datennetz und Cortex-Com abgehalten, denn die Räte waren ausnahmslos C-Com-Träger. Natürlich war es theoretisch möglich, dass eine Person ohne dieses Gerät zum Ratsmitglied gewählt wurde, doch hätten diese so gut wie keine Chance gehabt, dem Verlauf einer Sitzung zu folgen.
Insgesamt waren sechshundertdreiundfünfzig der sechshundertsechzig gewählten Ratsmitglieder anwesend. Aus diesem Grund hatte man entsprechend umfangreiche Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Über die normalerweise schon strengen Kontrollen hinaus hatte man die Bannmeile um den Sitzungsort um das Zehnfache erweitert. Zusätzlich war die interstellare Garde, eine Elitetruppe des Commonwealth, zur Sicherung eingesetzt. Mehrere Überwachungssatelliten waren von der Admiralität positioniert worden, und man hatte sogar ein komplettes, kampfbereites Raumgeschwader im Raumsektor über dem australischen Kontinent zusammengezogen.
Ratsmitglied O’Leary berichtete gerade über die Ereignisse, die zu dieser außergewöhnlichen Sondersitzung des Rats geführt hatten. Geisterhaft huschten Lichter durch die dreidimensionale Projektion der von Menschen besiedelten Region der Galaxie. Pfeile, Linien und Flächen wurden eingeblendet und mancher Raumsektor farbig markiert. Ausschließlich die C-Com-Träger konnten die begleitenden Erklärungen O’Learys hören. Für alle anderen Anwesenden ohne C-Com blieb der Redner stumm. Sie konnten der Ratssitzung deshalb nur in sehr eingeschränktem Umfang folgen.
Isaak Northam, einer der beliebtesten Kommentatoren von World TV, selbst C-Com-Träger, kommentierte die Ratssitzung für den New English sprechenden Teil der Bevölkerung, und erklärte, was im Einzelnen vorging.
„Die rätselhaften Ereignisse in der Region um Gigas Giganteus finden durch den jüngsten Bericht des von dem unbekannten Gegner attackierten Patrouillenkreuzers "Invincible" eine logische Erklärung. Das Schiff konnte sich nach dem Angriff glücklicherweise zurückziehen, obwohl seine Bordelektronik auf das Schwerste vom Feind beschädigt worden war", schloss O'Leary seinen Vortrag.
Eine hitzig geführte Diskussion setzte daraufhin ein, worauf sich der Ratspräsident auf der Präsidialebene meldete. „Bitte bewahren Sie Disziplin! So kommen wir nicht weiter.“
„Der Gegner kann unsere Datensperren überwinden, als wären sie überhaupt nicht vorhanden. Bedeutet das nicht, dass sämtliche Rechner mit Neuronalnetz-Technologie eine potenzielle Gefahr darstellen? Damit wären doch fe facto ausnahmslos alle höheren Computer jederzeit angreifbar, eingeschlossen die C-Coms“, warf der Vertreter der Sirius-Kolonien in die Diskussion.
Einen Augenblick lang herrschte betretenes Schweigen auf der Kommunikationsebene, bis der Abgesandte der Vereinigten Planeten von Tau Ceti das Wort ergriff: „Weshalb benutzt der Feind dann nicht schon längst unser interstellares Datennetz, um uns zu übernehmen?“
Georgios Othos, ein Anthropologe, meldete sich daraufhin zu Wort. „So seltsam es scheinen mag, aber eine Analyse der Vorgehensweise des Feindes spricht mit signifikanter Wahrscheinlichkeit dafür, dass wir ihm nicht unbekannt sind. Einer der hauptsächlichen Hinweise darauf ist die Tatsache, dass es ihm offensichtlich möglich ist, unsere Software zu analysieren. Und das muss gleich von Anfang an möglich gewesen sein.
Wären wir ihm gänzlich unbekannt, hätte er - insbesondere bei den ersten Begegnungen - zwangsläufig gravierende Fehler begangen. Meine Damen und Herren, diese Logik lässt sich natürlich auch problemlos umkehren. Das heißt, so gut uns der Gegner kennt, so gut kennen wir ihn. Mithin bedeutet es, dass wir nicht von einer Rasse von Aliens angegriffen werden, sondern von Menschen.“
Othos unterbrach seinen Vortrag und wartete, bis das Auditorium sich wieder beruhigt hatte. Dann fuhr er fort: „Möglicherweise handelt es sich dabei um eine seit Längerem von uns getrennt lebende Kolonie, die in der Zwischenzeit eine eigenständige Entwicklung genommen hat.“
Nachdem man einige Zeit über diese Möglichkeit diskutiert hatte, meldete sich Ratsmitglied Li Yang, ein Historiker, zu Wort: „Im Zusammenhang mit dieser Vermutung ist lediglich eine relativ kurze Zeitspanne nach der Entwicklung der überlichtschnellen Raumfahrt für uns von Interesse. Wohlhabende Sekten, aber auch reiche Privatleute und private Gesellschaften haben sich seinerzeit Raumschiffe gekauft. In der Hoffnung auf Profit sind diese damals zu den verschiedenartigsten Zielen aufgebrochen.
Nur sehr wenige waren und sind inzwischen reguläre Mitglieder des Commonwealth geworden. Die weitaus meisten aber sind nach ihrer Abreise verschollen und haben vermutlich nicht überlebt. Falls es sich bei unserem Gegner um eine derartige Gruppierung handelt, können wir den Zeitraum der Isolation vom Rest der Menschheit auf zwischen einhundertzwanzig und einhundertsechzig Jahren eingrenzen.
Nicht viel weiter als einhundertsechzig Jahre zurück, denn entsprechende Techniken werden erst seit dieser Zeit angewandt. Nicht weniger als einhundertzwanzig Jahre, denn seitdem sind ausnahmslos sämtliche Raumflüge lückenlos dokumentiert. Wenig später wurde jede Kolonie ohnehin mit einer überlichtschnellen Datenverbindung ausgestattet.“
Die plötzliche Fehlermeldung des Bordcomputers riss Lieutenant Doreen Hathaway aus ihren Träumereien. Doch kaum eine Sekunde später wurde der Alarm ohne ersichtlichen Grund abgebrochen. Das war äußerst ungewöhnlich. Ohne darüber nachzudenken, berührte Doreen den Sensor, der den Rotalarm im Schiff auslöste, obwohl ihre Instrumente keinerlei Veränderung anzeigten. Doch der Alarm blieb nur etwa zwei Sekunden lang aktiv, bevor er ebenfalls abgeschaltet wurde.
Doreen rieb sich die Augen, als auf ihrem Instrumenenpaneel eine Anzeige nach der anderen erlosch. Aus den Augenwinkeln konnte sie erkennen, dass offensichtlich das Gleiche mit Peters Instrumenten geschah. Peter war, zusammen mit seinem Copiloten Mningula, damit beschäftigt gewesen, die Kontrolle über die Steuerung des Patrouillenkreuzers zu behalten. Und zu allem Unglück meldete Mningula, dass das Schiff den Kontakt zur Relaisstation Nikolaus Kopernikus verloren hatten, ihrer überlichtschnellen Verbindung mit dem Flottenkommando.
Unvermittelt verstummte das allgegenwärtige Vibrieren des Hauptgenerators. Die Beleuchtung erlosch und die Notbeleuchtung tauchte alles in ein unwirkliches rotes Licht. Jetzt wusste Doreen mit Bestimmtheit, dass etwas völlig Unvorhersehbares, ja Undenkbares geschehen sein musste. Seltsam war nur, dass die Reaktorkammer des Generators nicht implodiert war. Das wäre bei einer derart raschen Totalabschaltung eigentlich zu erwarten gewesen.
Jemand berührte sie am Arm. Kapitän Yamamoto, der Kommandant des Kreuzers, stand hinter ihr. Doch wie sah der Mann aus! Schweiß rann in Strömen über sein Gesicht, und seine Augen waren blutunterlaufen und quollen förmlich aus ihren Höhlen. Yamamotos Gesicht war verzerrt und zuckte, als würde er gegen etwas ankämpfen.
„Es … es ist sinnlos, Doreen. Lass die Kontrollen und … und komm mit.“ Nur mit Mühe konnte Doreen verstehen, was ihr Yamamoto stockend und mit merkwürdig kehliger Stimme mitteilte. Sie war mehr als überrascht, dass der Kapitän sie duzte und sie mit ihrem Vornamen ansprach. Widerspruchslos löste sie die Gurte und folgte ihm. Yamamoto nahm sie an der Hand und zerrte sie mit sich durch den engen Zentralschacht.
„Schnell, nach SC-Null-Vier.“ Die zwischen den Zähnen hervorgestoßene Angabe war nahezu unverständlich, aber Doreen wusste, dass sie der Kapitän zu den Rettungskapseln bringen wollte. Er legte die Handfläche auf die manuellen Kontrollen der Luftschleuse, doch sie öffnete sich nicht. Gequält schloss er die Augen und konzentrierte sich. Die Adern an seinen Schläfen begannen anzuschwellen, als wollten sie platzen, und ein hellroter Blutfaden schlängelte sich aus seiner Nase.
„Hier, Doreen“, nuschelte er, und drückte ihr einen slberglänzenden Chip in die Hand, während sich die Luke schließlich doch öffente. „Das muss zur Raumflotte.“ Unvermittelt zog er sie an sich und küsste sie zart auf den Mund. "Es hätte so schön sein können - nun geh endlich hinein!"
Doreen rührte sich nicht von der Stelle. „Aber, wir können die übrigen Besatzungsmitglieder nicht im Stich lassen“, wandte sie schüchtern ein. "Es sind doch genügend Rettungskapseln vorhanden."
„Ich kann nur diese eine Kapsel starten. Und ich kann es nicht mehr lange kontrollieren – geh endlich.“
Doreen hatte immer noch nicht verstanden, was vor sich ging, aber sie kletterte gehorsam in die Kapsel und bestieg ihren Konturensitz. Erstaunt wurde sie gewahr, dass Yamamoto immer noch vor der Doppelschleuse wartete."Was ist los?", rief sie und wies auf den zweiten Sitz neben sich.
„Ich komme nicht mit, sonst würde keiner von uns überleben. Deaktiviere den automatischen Signalgeber.“ Geduldig wartete der Mann, bis Doreen den Sensor betätigt hatte. „Benutze ausschließlich die passiven Ortungsanlagen und schalte unter keinen Umständen den Bordrechner ein. Und nur, wenn du ohne jeden Zweifel bist, dass sich ein Schiff der Raumflotte nähert, nimm Funkkontakt mit ihm auf. Viel Glück!“
Entschlossen klappte Doreen die Sichtscheibe ihres Helms zu, versiegelte die Handschuhe und ließ die Sicherheitsgurte einschnappen, während sich die Einstiegsluke schloss und geräuschvoll einrastete. Beinahe im selben Augenblick fühlte sie, wie die Kapsel abgesprengt wurde. Donnernd zündete das Fluchttriebwerk und presste sie gewaltsam in ihren Sitz.
Mit fliegenden Fingern bediente Doreen nach Brennschluss die manuelle Lagekontrolle der Kapsel. Aber als es ihr endlich gelungen war, die Kapsel zu wenden, um einen Blick auf den Kreuzer zu werfen, war es bereits zu spät. Sie erblickte nur mehr eine weit entfernte, im Licht der riesigen Sonne grell leuchtende Explosionswolke und verwaschene Fahnen rapide expandierender, teilweise gefrorener Gase. Der Patrouillenkreuzer war verschwunden.
Kapitän Yamamoto hatte die Selbstvernichtungsschaltung manuell betätigt. Es schien fast so, als habe er ihre Flucht tarnen wollen. Aber weshalb und wovor? Tränen begannen Doreens Blick zu verschleiern, und sie hatte plötzlich das Gefühl, etwas Wunderschönes unwiederbringlich verloren zu haben.
„Verehrte Ratsmitglieder“, eröffnete Ratspräsident Anderson die überraschend anberaumte, zweite Sondersitzung des Rats des Commonwealth, die unter völliger Geheimhaltung stand. „Bereits wenige Stunden nach unserer letzten Zusammenkunft müssen wir uns abermals mit demselben Thema befassen. Wie Sie alle bereits wissen, haben uns äußerst beunruhigende Nachrichten aus dem Raumsektor um Gigas Giganteus erreicht.
Dass wir diese Ratssitzung so kurzfristig anberaumt haben, hat jedoch einen weit ernsteren Grund. Glücklicherweise ist es uns bislang gelungen, diese Nachrichten vor der Öffentlichkeit geheim zu halten, um Panik unter der Bevölkerung des Commonwealth zu verhindern. Ich bitte nun Rätin Sinh, als unmittelbar Betroffene, uns aus erster Hand zu berichten.“ Der Ratspräsident nahm wieder Platz. In seine sonst glatte Stirn hatten sich Sorgenfalten eingegraben. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und seine normalerweise frische und rosige Haut war grau und teigig.
Rätin Sinh, gekleidet in das traditionelle, tiefblaue Seidengewand ihrer Kaste, erhob sich. Ernst blickte sie in die Runde und berichtete dann mit monotoner Stimme, ohne das C-Com zu benutzen: „Die Welt der Morgenröte, meine Heimatwelt, ist vor vierzehn Stunden vom Gegner übernommen worden.“ Im Ratssaal herrschte betroffenes Schweigen, als ihre Stimme brach. Nachdem sich die Rätin wieder gefasst hatte, fuhr sie fort. „Die letzten Meldungen haben uns vor knapp zwei Stunden erreicht. Danach ist die Verbindung abgebrochen.“
In der Folge berichtete Rätin Sinh von den Zuständen auf dem Planeten. Nahezu sämtliche Steueranlagen und Kontrollgeräte waren innerhalb weniger Minuten fast gleichzeitig ausgefallen. Als unmittelbare Folge davon war die gesamte Energieerzeugung des Planeten vollständig zum Erliegen gekommen. Die Trinkwasserversorgung war nur noch regional intakt und drohte vollends zu versagen, ebenso die Entsorgungssysteme für Abwasser und Abfälle. Nachrichtenverbindungen gab es lediglich über einzelne leistungsschwache Kleinsender, deren Betrieb noch ohne zentrale Computerkontrolle möglich war.
Die Flugverbindungen waren ausnahmslos unterbrochen, und auch sämtliche Verkehrsleitsysteme waren ohne Funktion. In der Folge waren zahlreiche Flugzeuge abgestürzt, und eine unübersehbare Serie von Unfällen mit Bodenfahrzeugen hatte alle wichtigen Straßenverbindungen blockiert. Eine Unzahl von Schiffen war in Seenot geraten und dümpelte antriebs- und steuerungslos auf den Meeren, den Stürmen schutzlos preisgegeben.
Brände hatten ganze Städte bis auf die Grundmauern zerstört. Die automatischen Löscheinrichtungen hatten zwar anfänglich noch funktioniert, aber die Feuerwehren und der Katastrophenschutz erreichten entweder die Einsatzorte nicht, oder sie waren total überlastet.
Die Krankenhäuser konnten die zahllosen Unfallopfer nicht mehr aufnehmen. Innerhalb und außerhalb dieser Einrichtungen spielten sich deshalb unvorstellbare Szenen ab. Patienten verstarben während der Operation, Kranke mit computergesteuerten Lebenserhaltungssystemen starben auf der Straße, im Büro, im Bett, wo immer sie sich gerade aufhielten.
Bereits während der ersten Stunden hatten sich spontan Horden alkoholisierter Jugendlicher zusammengerottet, die plündernd umherzogen und dabei viel mehr zerstörten, als sie stehlen konnten. Mit den regionalen Ordnungskräften waren mancherorts Feuergefechte im Gang, und aufgrund des umgehend verhängten Kriegsrechts hatte man bereits in der Anfangsphase der Katastrophe zahlreiche standrechtliche Erschießungen durchgeführt.
Die Berichterstatter schätzten, dass innerhalb der ersten zwölf Stunden bereits ein Zehntel der Bevölkerung zu Tode gekommen war. Und das war geschehen, obwohl die Welt der Morgenröte im Vergleich mit anderen Welten von ländlichen Siedlungen dominiert wurde. Diese waren naturgemäß mehr auf Selbstversorgung ausgelegt, und nicht zu hundert Prozent abhängig von zentral gesteuerten elektronischen Netzwerken.
Sinh sprach mit stockender, gequälter Stimme. Sie zeigte bedrückende Bilder und Videoausschnitte. Der Weltuntergang konnte kaum schlimmer aussehen. Was aber würde erst auf den bevölkerungsreichen Welten geschehen, die noch mehr auf technische Systeme angewiesen waren? Wie würde sich die Situation auf der dichtbesiedelten, hochtechnisierten Erde mit ihren mehr als zehn Milliarden Bewohnern bei einem derartigen elektronischen Angriff entwickeln?
„Was hat unser Militär gegen den Gegner unternommen?“, fragte Ratsmitglied Pettersen als Vertreter eines der Sonnensysteme, die dem Planeten der Morgenröte am nächsten waren.
Konteradmiral Rüdiger von Hohenfels erhob sich. „Wie wir bei der letzten Ratssitzung beschlossen hatten, ist die militärische Präsenz in der fraglichen Randregion stark erhöht worden.“ Der Konteradmiral berichtete von den Maßnahmen und deren Ergebnissen anhand von Kartendarstellungen und Grafiken.
„Wir kommen anhand dieser Daten und der nachträglichen Auswertung von Jahrzehnte alten, bislang unerklärlichen Messungen zu folgendem Schluss: Der Gegner benutzt keinen mit unserem Twister-Feld-Generator vergleichbaren Überlichtantrieb, sondern einen nach dem Stand unserer Technik zwar veralteten, jedoch hoch entwickelten Statik-Feld-Generator. Deshalb wissen wir, dass er den Zwang zum künstlichen Koma der Besatzung während des Überlichtflugs nicht überwinden konnte.
Das erklärt zwei Tatsachen: Erstens, dass der Gegner bis vor wenigen Wochen praktisch inaktiv bzw. passiv geblieben ist, obwohl seine ersten Aktivitäten mittlerweile mit Sicherheit bis etwa zwei Jahrzehnte zurück verfolgt werden können. Nachdem er aber einige moderne Einheiten unserer Flotte unbeschädigt aufgebracht und den Umgang mit dem Twister-Feld-Generator erlernt hatte, hat er damit begonnen, die Außenbereiche des Commonwealth anzugreifen.
Zweitens, dass er uns bezüglich der Datenverarbeitung in einigen Bereichen weit überlegen ist: Der Statik-Feld-Generator erfordert eine gezielte Weiterentwicklung der Computertechnik. Die Raumschiffbesatzungen werden während des Überlichtflugs in künstlichem Koma gehalten. Sämtliche lebenswichtigen Entscheidungen müssen deshalb von den Bordrechnern getroffen werden. Aus diesem Grund musste die Datenverarbeitung in Richtung Reaktionsschnelligkeit und der Fähigkeit der Rechner, Entscheidungen auf der Basis von komplexen, aber oft unzureichenden Informationen zu treffen, sehr weit entwickelt werden.“
Der Konteradmiral legte eine kleine Pause ein, um den Ratsmitgliedern Gelegenheit zu geben, die Informationen zu verarbeiten und zusätzliche Daten aus seinem C-Com abzurufen. „Im Lauf der vergangenen Tage hatte unsere Raumflotte offensichtlich Feindberührung, denn wir vermissen mittlerweile sechs Patrouillenkreuzer, ohne dass uns diesbezügliche Meldungen vorliegen. Wie Sie sehen, kulminiert das Verschwinden der Einheiten im Raumsektor von Gigas Giganteus. Das stimmt auch mit den Messwerten unserer Sonden überein. Der Gegner muss also irgendwo in der auf dieser Darstellung rot markierten Region sitzen. Doch diese ist außerordentlich groß und beherbergt zahlreiche Sonnensysteme.
Es gäbe natürlich die militärische Option. Wir könnten jedoch keineswegs sicherstellen, dass wir den Planeten treffen, auf dem sich der Feind befindet. Außerdem würde eine derartige Offensive unter Umständen mehrere Jahre dauern. Zudem wissen wir aus
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Anton Heinzinger / Otto Förster
Bildmaterialien: Covergestaltung: T. Anzinger; Coverbilder: zothen - Fotolia.com, JBOY - Fotolia.com
Tag der Veröffentlichung: 03.07.2013
ISBN: 978-3-7309-3509-5
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