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Prolog

Zahllose Legenden ranken sich um das kleine Inselkönigreich Khesin, das jahrtausendelang sämtlichen Angriffen fremder Mächte  erfolgreich widerstanden hat. Erzählungen darüber machten die Runde an den Tischen der Gasthäuser und Tavernen Khesins, von wo aus sie von den Seeleuten in alle Welt hinausgetragen wurden. Viele der Begebenheiten wurden von den Erzählern blumenreich ergänzt. Und oftmals wurden kurzerhand neue, dramatische Abenteuer erfunden, um die nach Neuigkeiten dürstenden Zuhörer zufriedenzustellen.

Auf diese Weise begannen die tatsächlichen Geschehnisse allmählich in Vergessenheit zu geraten. Für Samman, dem königlichen Archivar in der Hauptstadt Khesa, war dieses Vergessen ein Ärgernis. Und so begann er bereits in jungen Jahren damit, die in den Legenden geschilderten Begebenheiten niederzuschreiben. Er zog dazu sowohl Schriften aus Tempelarchiven als auch Aufzeichnungen des königlichen Archivs heran.

Großen Wert legte er allerdings auf Befragungen von Nachkommen der seinerzeit handelnden Personen. Tatsächlich waren diese Quellen am ergiebigsten. Die Befragten hatten ihre Informationen nämlich nicht an Wirtshaustischen gesammelt, sondern von ihren Eltern erhalten, die sie wiederum von den Eltern und Großeltern empfangen hatten. Ergänzt um Geschichten aus Wirtshäusern und Tavernen, lieferten die in jahrzehntelanger Kleinarbeit  zusammengetragenen Informationen ein recht genaues Bild der tatsächlichen Geschehnisse.

Als herausragend erwies sich schon sehr bald die Rolle des jungen Toran, den man, nach seiner Tätigkeit, den Jäger nannte. Aufgewachsen war er einst am königlichen Hof in Khesa, als Sohn des königlichen Schwertmeisters und dessen Gattin Aisha. Im Alter von zehn Jahren war er von König Thar in die Hafenstadt Tharl zu einer Pflegemutter geschickt worden, nachdem man seinen Vater ermordet und seine Mutter entführt hatte.

Drahtzieher dieser Verbrechen war die Priesterschaft von Mohon gewesen, die mit politischem Geschick und mit Hilfe ihrer magischen Fähigkeiten seit Menschengedenken über das Festland herrschte. Lediglich das Inselkönigreich Khesin, das dem Kontinent auf dessen Ostseite vorgelagert ist, hatte bislang den Angriffen der so genannten Schwarzen Priester erfolgreich widerstanden.

Mit militärischen Mitteln war Khesin kaum zu erobern, denn seine ansonsten vollkommen unzugängliche Steilküste weist lediglich zwei natürliche Häfen auf. Einen im Süden der Insel, bei man die Hafenstadt Marrak erbaut hatte, und einen zweiten auf ihrer Ostseite, der von der Hafenstadt Tharl geschützt wurde. Besiedelt war lediglich die warme und fruchtbare Südhälfte der Insel. Khesins unwirtliche Nordhälfte ist nämlich durch das Felsengebirge, eine von Osten nach Westen verlaufende, nur sehr schwer zu überwindende Barriere, vom Süden getrennt.

Samman, der königliche Archivar, hat die wichtigsten Begebenheiten jener Zeit in einer Reihe von Büchern festgehalten: Eine lange Kette teilweise dramatischer Ereignisse beginnt, als der junge Jäger Toran zu seinem König in die Hauptstadt Khesa gerufen wird. Er entgeht nur knapp einem Mordanschlag, ehe er sich in das Felsengebirge begibt, wo er zwei magische Edelsteine findet und schwer verunglückt.

Nach seiner Genesung erhält Toran von König Thar einen wichtigen Auftrag. Er soll den Tempel der Goldenen Göttin aufsuchen, der sich auf dem Festland irgendwo in den geheimnisvollen Wäldern des Landes Goor befindet. Von dort soll er das lange verschollene Zepter der Könige Khesins holen. Toran gewinnt einen Reisegefährten und erwirbt ein seltsames Schwert, an das er einen der beiden gefundenen Edelsteine  schmieden lässt. Eine mächtige Waffe entsteht auf diese Art und Weise.

Derart ausgerüstet, bricht Toran mit seinem Gefährten Tarax zum Tempel der Goldenen Göttin auf. Nach ihrer riskanten Landung an der Ostküste des Kontinents dringen die Gefährten in die Urwälder des Landes Goor ein. Toran macht dort Bekanntschaft mit seltsamen, meist sehr gefährlichen Tieren und Pflanzen und überlebt - dank seines magischen Schwerts - nur knapp den Angriff eines Astfängers, eines der gefährlichsten Tiere dieses Dschungels.

Schließlich suchen die Gefährten das Heimatdorf von Tarax auf, wo sie auf einen alten Mann treffen, der in Verbindung mit einer geheimnisvollen, angeblich allwissenden Kreatur steht. Von diesem Mann erfahren sie, wo der Tempel der Goldenen Göttin zu finden ist und kommen schließlich dort an. Doch die Schwarzen Priester sind den beiden dicht auf den Fersen, denn auch sie sind auf der Jagd nach dem verschollenen Zepter

Tatsächlich finden die beiden Tempel und Zepter und erreichen, ungeachtet aller Gefahren des Dschungels, wohlbehalten die Küste des Kontinents, von wo aus sie die Seereise nach Khesin antreten. Dort angekommen, werden die Gefährten von den Schwarzen Priestern und ihren Helfershelfern bereits erwartet. Doch auch deren Angriffe überstehen sie und übergeben das Zepter an König Thar, der Toran zum königlichen Schwertmeister ernennt.

Der König beauftragt seinen neuen Schwertmeister, nach der nahezu vergessenen  Löwenbruderschaft zu suchen, um dort den zweiten magischen Edelstein an das Zepter schmieden zu lassen. Toran hat in Erfahrung gebracht, dass die Bruderschaft irgendwo nördlich des Felsengebirges, im Land der Feuerberge, zu finden ist, und begibt sich unverzüglich allein auf die gefährliche Reise. Doch bereits während er das Gebirge überquert, gerät er ernsthaft in Gefahr. ...

 

 

 

Der Schneesturm

Ein eiskalter Windstoß peitschte feinen glitzernden Schnee in die schmale Felsspalte, in der zitternd ein junger Mann kauerte. Buchstäblich im letzten Augenblick hatte er hier notdürftigen Schutz vor dem aufkommenden Schneesturm gefunden. Seine schulterlangen schwarzen Locken waren mit Eisbrocken verkrustet, die leise klingelten, sobald er den Kopf bewegte. Zähneklappernd zog er das warme Schaffell enger um sich, das ihm Ahim, der königliche Gewandmeister, im letzten Augenblick noch aufgedrängt hatte, ehe er zu dieser Reise aufgebrochen war.

Doch trotz des dicken Fells und der warmen Kleidung, mit der ihn der Mann ausgestattet hatte, drang ihm die beißende Kälte buchstäblich bis ins Knochenmark. Dabei hatte er erst etwa zwei Drittel des Wegs hinauf zur Passhöhe zurückgelegt. Er schauderte bei dem Gedanken daran, was ihn weiter oben auf der Höhe noch erwarten mochte. Das Bündel Feuerholz, das er mühsam heraufgeschleppt hatte, war längst verbraucht. Dabei hatte er es lediglich mitgenommen, um sich während der wenigen Nächte, die er auf dem Berg zu verbringen erwartete, ein wenig zu wärmen.

Bereits vor zwei Sommern hatte er diesen Weg zur gleichen Jahreszeit begangen. Doch seinerzeit hatte es hier weder Schnee noch Eis gegeben, geschweige denn einen Schneesturm. Lediglich auf der Passhöhe selbst waren die Nächte empfindlich kalt gewesen. Und wie sollte es jetzt weitergehen? Wenn der Sturm nicht bald nachließ, würde er noch während des Tages jämmerlich in seinem zugigen Unterschlupf erfrieren. Und wenn nicht? Der Mann biss die Zähne zusammen, bis sie knirschten.

Mit tränenden, rotgeränderten Augen starrte er hinaus in die blendend weiße Hölle aus Eiseskälte, Sturm und wirbelndem Schnee. Und falls er diesen Tag und auch die darauf folgende Nacht wider Erwarten überleben sollte? Nun, dann würde er eben einen Tag später sterben.

Umzukehren kam nicht mehr in Frage, denn seit nunmehr drei Tagen kämpfte er sich durch den stellenweise brusttiefen Schnee nach oben. Er würde hier oben jämmerlich erfrieren, noch ehe er das rettende Tal erreichte. Vielleicht sollte er jetzt einfach der bleiernen Müdigkeit nachgeben, die ihn zu übermannen drohte. Er würde einfach friedlich einschlafen, um nie wieder zu erwachen.

„Schlafen … schlafen“ Der junge Mann erschrak, als er seine eigenen Worte hörte, die er unwillkürlich mit seiner von der Kälte heiseren Stimme gerufen hatte. „Nein“, versuchte er das ohrenbetäubende Brausen des Sturms zu überschreien, dessen Kraft immer noch zunahm. „So lange mir die Götter erlauben zu atmen, so lange werde ich mit meiner ganzen Kraft um mein Leben kämpfen.“

Unwillkürlich berührte er den Knauf seines Schwertes, den ein dunkelvioletter Edelstein zierte. Der herrliche Kristall war ein magischer Omm, den er vor einigen Monden selbst in einer Kluft des Felsengebirges gefunden hatte, das er jetzt im Begriff war, zu überschreiten. Silgor, der beste Schmied der Hafenstadt Tharl, hatte das Kunststück vollbracht, den Edelstein an das Schwert zu schmieden. Der Schmied hatte das alte Stück einst von einem durchreisenden Kaufmann als Bezahlung für eine kleine Reparatur erhalten.

Auf geheimnisvolle Weise hatte sich durch den Schmiedevorgang die Magie des Omm mit der magischen Kraft verbunden, die im Schwert schlummerte. Auf diese Weise war das mächtige Schwert Feuerklinge wiedererstanden, das seit Generationen als verschollen gegolten hatte.

Und Silgor hatte ihm seinerzeit die Waffe im Tausch gegen einige Seeotterfelle überlassen! Zweifellos waren die Felle von großem Wert. Doch auch dieser hohe Kaufpreis wurde dem Wert des Schwertes nicht einmal annähernd gerecht, denn Feuerklinge, auch genannt das Schwert aller Schwerter, war einst das magische Schwert der Könige Khesins gewesen.

Und kürzlich war er selbst, ein einfacher Mann, den man bis zu diesem Tag Toran den Jäger genannt hatte, vom König selbst dazu auserkoren worden, dieses mächtige Schwert zum Wohl seiner Heimat zu tragen: Seit kurzer Zeit war er sogar Schwertmeister des kleinen Inselkönigreichs Khesin.

König Thar, der weise Herrscher Khesins, hatte ihn, Toran, alsbald ausgesandt, um die geheimnisvolle Löwenbruderschaft aufzusuchen. Angeblich war sie nördlich des großen Felsengebirges zu finden, das die Insel Khesin in zwei nahezu gleiche Hälften teilte. Die fruchtbare Südhälfte erfreute sich eines warmen, sonnigen Klimas, während die weitgehend unbewohnte Nordhälfte als rau, unwegsam und gefährlich galt.

Doch sollte er bereits jetzt scheitern, noch ehe er das Gebirge überquert hatte? Abgrundtiefe Verzweiflung erfasste Toran. Er durfte jetzt einfach nicht versagen. Viel zu viel hing für seine Heimat Khesin von dieser Reise ab. Unbeholfen strich er noch einmal mit seinen vor Kälte steifen Fingern über den magischen Stein. Und er spürte – Wärme!

„Feuerklinge, du hältst mich doch nicht etwa zum Narren?“, flüsterte er. Doch es gab nicht den geringsten Zweifel: Der magische Omm hatte sich unter seiner Berührung erwärmt.

Ein steter Strom köstlicher, neue Kraft spendende Wärme begann jetzt aus dem Stein zu fließen. Zunächst erwärmte er Torans Hand, seinen Arm und seine Seite. Später war er sogar gezwungen, sein Schaffell zu öffnen, da es darunter unerträglich heiß geworden war. Entschlossen rammte er schließlich das Schwert in eine Felsritze, nahe dem Eingang seines Unterschlupfs.

Der Omm erglühte dunkelrot und seine Hitze vertrieb alsbald die beißende Kälte aus der Felsspalte. Nahezu augenblicklich begann der Schnee zu schmelzen, den der Sturm allenthalben in ihrem Inneren aufgehäuft hatte. Angenehme Wärme begann Toran zu durchfluten, und er biss die Zähne zusammen, als das Leben unter stechenden Schmerzen in seine in der Eiseskälte taub gewordenen Glieder zurückkehrte.

Die heftigen, bitterkalten Windstöße, die weiterhin fauchend in die Felsspalte hereinbrachen, erreichten ihn lediglich als lauwarmer Hauch. Und allmählich begann sich an der tiefsten Stelle der Felsspalte eine klare Pfütze aus Schmelzwasser zu sammeln. Der Anblick des Wassers rief den brennenden Durst, den Toran verspürte, in sein Bewusstsein zurück. Seit zwei Tagen hatte er nämlich keinen einzigen Tropfen getrunken. Mit bebenden Händen schöpfte er das kalte, kristallklare Nass und trank davon, bis er meinte, zerplatzen zu müssen.

 

Stunden später, Toran war in einen unruhigen Schlummer verfallen, erwachte er mit bleischweren Lidern. Er hatte einen merkwürdigen Traum gehabt: Verzweifelt hatte er immer wieder gegen ein mächtiges dunkles Wesen gekämpft, das seine Heimat Khesin bedrohte. Mit Kälte und Hitze, mit Dürre, Regen und Sturm hatte es das Königreich Khesin verwüstet. Auf diese Weise versuchte es, es die Macht des Königshauses zu brechen, um selbst die Herrschaft über die Insel anzutreten.

Toran schüttelte sich, denn obwohl er längst erwacht war, verspürte er noch immer die schreckliche Eiseskälte, mit der das Wesen sein Herz erfüllt hatte. Trotzdem sank er bald in einen tiefen, traumlosen Schlaf, den er so lange hatte entbehren müssen.

 

Auch den nächsten Tag überstand Toran ohne Erfrierungen, ja nahezu gänzlich ohne das unangenehme Gefühl von Kälte unter seinem Fell. Feuerklinges Knauf spendete fortgesetzt wohlige Wärme, sodass er begann, das ständige Toben des eisigen Sturms nicht mehr als unmittelbar lebensbedrohende Gefahr zu betrachten.

Doch auch dieser lange Tag war vergangen, ohne dass er einen geschützten Ort fand, an dem er die Nacht hätte verbringen können. Seit vielen Stunden schon kämpfte er sich Schritt für Schritt steil bergan, wobei er oftmals bis zu den Hüften im lockeren Schnee versank. Die senkrechte Felswand zu seiner Rechten war von tiefschwarzer Farbe und so glatt, als hätte man sie mit einem scharfen Messer abgeschnitten. Und nur wenige Schritte zu seiner Linken stürzte die Wand in Schwindel erregende Tiefe ab, deren Grund er in dem dichten Schneetreiben nicht einmal zu ahnen vermochte.

Toran biss die Zähne zusammen. Mit Feuerklinges Wärme würde er auch die kommende Nacht im Freien überleben, doch würde diese Zeit trotzdem alles Andere als angenehm für ihn werden. Angestrengt kniff er die Augen zusammen und versuchte, im dichten Schneetreiben einen Anhaltspunkt zu finden. Aber die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, sodass es bis zum Einbruch der Dunkelheit nicht mehr lange dauern würde.

Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte er sich durch den an dieser Stelle brusttiefen Schnee. Schließlich begann er sich mit den bloßen Händen neben der glatten Felswand einzugraben, um mit ihr im Rücken wenigstens halbwegs vor dem eiskalten Wind geschützt zu sein.

Doch kaum hatte er den Schnee zur Hälfte weggeräumt, als unvermittelt der Boden unter ihm nachzugeben begann. Verzweifelt begann er, mit Armen und Beinen um sich zu schlagen, doch er rutschte unaufhaltsam in die Tiefe. Schließlich überschlug er sich und blieb kopfüber im lockeren Schnee stecken. Zudem war es, zu allem Unglück, plötzlich auch noch stockdunkel.

Als er vorsichtig versuchte, sich zu bewegen, kam der Schnee abermals ins Rutschen und riss ihn mit sich. Und während der folgenden Augenblicke hatte er bereits mit seinem Leben abgeschlossen, als er unerwartet hart aufprallte. Tatsächlich hatte er festen Boden erreicht!

Mühsam wühlte er sich aus dem eiskalten Schnee heraus und rappelte sich auf. Aber sofort stieß er sich schmerzhaft den Kopf an. Während er leise schimpfend die dicke Beule massierte, die an seinem Hinterkopf zu wachsen begann, offenbarte ihm das Licht des Omm, dass er sich im niedrigen Eingang zu einer kleinen Höhle befand. „Ihr Götter“, flüsterte er, denn ausgerechnet oberhalb von dieser Öffnung im Fels hatte er damit begonnen, sein Nachtlager zu graben.

Der enge Zugang weitete sich nach wenigen Mannslängen zu einer geräumigen Kammer, von der eine kleine Nische abzweigte. Toran hatte den Eindruck, als befände er sich in einer riesigen Blase, deren Wände und Boden bedeckt waren mit winzigen funkelnden Kristallen, die so zahlreich waren wie die Sterne am Himmel. „Ihr Götter“, entfuhr es ihm bei dem herrlichen Anblick ein zweites Mal. Und als er sich endlich an dem Glitzern und Funkeln sattgesehen hatte, begann er sich in der Höhle häuslich einzurichten.

Sein Schwert klemmte er in den schmalen Zugang, sodass keine Kälte mehr eindringen konnte. Zudem war durch die scharfe Schneide der Waffe der Zutritt zu seiner Zuflucht versperrt.

Sehr schnell wurde es wohlig warm in der Höhle. Doch obwohl Toran, nachdem er sich an seinen Vorräten gestärkt hatte, rechtschaffen müde war, fand er nicht den erhofften Schlaf. Ruhelos wälzte er sich auf seinem warmen Fell von einer Seite zur anderen.

Als er schließlich doch einschlief, träumte er von Dämonen und schrecklichen Ungeheuern, die ihn bedrohten. Er erwachte zähneklappernd, nachdem ihn im Traum ein riesiges Untier fauchend und zähnefletschend angesprungen hatte. Sein Herz klopfte zum Zerspringen. Mühsam zwang er sich dazu, gleichmäßig zu atmen, um sich zu beruhigen. Schließlich streckte er sich wieder auf seinem Lager aus und hoffte, wenigstens noch die eine oder andere Stunde Schlaf zu finden.

Doch eiskalter Schrecken ließ sein Herz beinahe gefrieren, als er in seiner Höhle das nämliche Fauchen hörte, das er soeben im Traum vernommen hatte. Ohne lange zu überlegen, zog er sein Jagdmesser und richtete sich auf. Aufmerksam spähte er in der durch den magischen Omm dämmrig erleuchteten Höhle umher, konnte jedoch nichts Auffälliges entdecken. Sollte er sich getäuscht haben? Oder hatte er das Fauchen nur geträumt?

Während er noch überlegte, ertönte es abermals und trieb ihm eine Gänsehaut den Rücken hinunter. Jetzt war er auch in der Lage auszumachen, woher es kam: Sein Ursprung lag  außerhalb der Höhle. Richtig, er hatte ja sein Schwert Feuerklinge in deren Eingang geklemmt! Dadurch waren weder Mensch noch Tier imstande, den schmalen Gang zu passieren.

„Es ist gut so, wie es ist“, rief er mit fester Stimme und packte unwillkürlich sein Jagdmesser fester. „Was jetzt außerhalb ist, mag auch fürderhin draußen bleiben.“

Als er schreckliches Gebrüll als Antwort erhielt, standen ihm die Haare zu Berge. Doch er legte sich zufrieden zurück auf sein wohlig warmes Lager. Was für ein Tier sich dort draußen auch herumtreiben mochte, ihm selbst konnte es nicht das Geringste anhaben. Wenn es in dem schrecklichen Schneesturm den Weg in diese eisige Höhe zu bewältigen imstande war, dann war es mit Sicherheit auch in der Lage, den Sturm lebend zu überstehen. Und sogar wenn es dort draußen im Freien erfror, was kümmerte es ihn? Er hatte genug mit sich selbst zu tun und war froh, überhaupt noch am Leben zu sein.

Abermals erklang das Brüllen des Tieres. Doch dieses Mal schien es deutlich schwächer zu sein als vorher. Toran versuchte, nicht hinzuhören, als die Kreatur draußen wieder zu fauchen begann. Doch seine Neugier war geweckt. Was für ein Tier mochte dort draußen in der Kälte auf Einlass warten? Er begann ernsthaft in Erwägung zu ziehen, ob er nicht doch nachsehen sollte.

Toran spitzte die Ohren, als das Tier abermals brüllte. So entsetzlich es sich für ihn auch anhören mochte, waren da nicht Schmerz und Verzweiflung aus diesem schrecklichen Schrei herauszuhören? Damit war seine Entscheidung gefallen. Was konnte es schon schaden, wenn er nachsah? Er war doch geschützt durch sein Schwert Feuerklinge, das den Eingang für Mensch und Tier gleichermaßen versperrte. Im Nu hatte er die kleine Höhle durchquert und kroch, das blanke Messer immer noch in der Hand, auf allen Vieren durch den kurzen schmalen Gang bis zu der Stelle, an der er Feuerklinge zurückgelassen hatte.

Beißender Raubtiergeruch schlug ihm entgegen, als er sich dem Höhleneingang näherte. In dem roten Dämmerlicht, das der magische Omm an Feuerklinges Knauf verbreitete, konnte er sehen, dass sich etwas sehr Großes hinter dem Schwert bewegte. Riesige glühende Augen starrten ihn aus dem Halbdunkel an.

„Wie die Augen einer Katze“, murmelte Toran und kroch langsam näher, um das Tier nicht unnötigerweise zu reizen. „Ein Berglöwe“, hauchte er, als er endlich erkannt hatte, was da draußen lauerte: Ein riesiger Berglöwe mit schneeweißem Fell kauerte in dem engen Gang.

„Was, um der Götter Willen, hat dich in diesem schrecklichen Schneesturm hierhergeführt?“, flüsterte Toran. Und als er unwillkürlich seine Hand nach dem Tier ausstreckte, wechselte der magische Omm plötzlich die Farbe und begann tiefblaues Licht auszustrahlen.

Toran erschien es, als ob sich der Berglöwe dadurch beruhigen würde. Hatte es für ihn zunächst so ausgesehen, als würde das Tier sprungbereit auf dem Felsboden kauern, so gewann er jetzt den Eindruck, als ob es eine halbwegs bequeme Körperhaltung einnehmen wollte. Im Vertrauen auf die beruhigende Wirkung von Feuerklinges Licht berührte er eine der riesigen Vordertatzen des Löwen und begann sie sanft zu kraulen. Ungläubig schüttelte er schließlich den Kopf. Er vermochte einfach nicht zu glauben, was er jetzt zu hören bekam: Das Tier begann in der Tat zu schnurren.

„Weshalb willst du unbedingt zu mir in die Höhle? Da wo du bist, ist es doch warm genug für so einen wie dich in seinem warmen Pelz“, rief er dem Löwen zu. Der riss das Maul weit auf und legte den Kopf in den Nacken.

Wegen des ohrenbetäubenden Gebrülls, das alsbald ertönte, hielt sich Toran mit beiden Händen die Ohren zu. „Warum schreist du denn so?“, fragte er, als das Brüllen endlich verstummt war. „Du bist doch nicht etwa verletzt?“

Neugierig spähte er in den dunklen Spalt zwischen der Felswand und dem massigen Tier. Es fiel ihm schwer, dort im Schatten etwas zu erkennen, doch schließlich pfiff er leise durch die Zähne. „Das ist es also“, flüsterte er. Kopfschüttelnd betrachtete er den abgebrochenen Schaft eines Pfeils, der aus der linken Schulter des Löwen ragte. Also aus diesem Grund suchte das Tier die Wärme der Höhle! Mit dieser schweren Verletzung würde es den Schneesturm im Freien mit Sicherheit nicht überleben.

Aber sollte er den Löwen tatsächlich zu sich hereinlassen? Seine kleine Zuflucht mit einer ausgewachsenen Raubkatze zu teilen, erschien ihm alles Andere als erstrebenswert. Doch wenn er wirklich wollte, dass das Tier überlebte, blieb ihm nichts anderes übrig, als es in seinen Unterschlupf hereinzuholen. Der magische Omm würde möglicherweise dafür sorgen, dass ihm nichts geschah!

Behutsam löste er Feuerklinge aus der Felsspalte, in der er sie verankert hatte, und begann, rücklings wieder in die Höhle hinein zu kriechen.

Der Löwe beobachtete wachsam jede seiner Bewegungen. Als Toran das kurze Stück Weg zurück nahezu vollständig zurückgelegt hatte, setzte sich das Tier unvermittelt in Bewegung. Es kam so schnell auf ihn zu, dass ihm keine Zeit zum Ausweichen blieb. Mit seiner gesunden Schulter schob ihn der Löwe zur Seite und quetschte sich durch die verbleibende enge Öffnung. Drinnen angekommen, suchte er sich einen Platz in der Nähe des Höhleneingangs und machte es sich auf dem Felsboden bequem.

Toran, dem das Tier einen gehörigen Schrecken eingejagt hatte, begann unterdessen nachzudenken, was er für den Löwen tun könnte. Noch zögerte er aus gutem Grund, etwas zu unternehmen. Sich ihm zu nähern, würde bestimmt nicht ungefährlich sein. Aber das Tier litt zweifellos große Schmerzen. Es benötigte dringend Hilfe, denn der Pfeil musste so bald wie möglich aus der Wunde entfernt werden.

Aber sollte er es tatsächlich wagen, ihn einfach herauszuziehen? Und wenn ihn der Löwe deswegen angreifen würde? Doch wie er das Problem auch drehte und wendete: Er musste es einfach wagen, denn andernfalls würde das prächtige Tier elend krepieren. Doch zu allererst brachte er Feuerklinge wieder an ihren Platz, denn in der kleine Höhle war es mittlerweile unangenehm kalt geworden.

Um zu vermeiden, dass sie vom

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Anton Heinzinger
Bildmaterialien: Covergestaltung: T. Anzinger, Coverbild: © puwanai - Fotolia.com
Tag der Veröffentlichung: 25.06.2013
ISBN: 978-3-7309-3400-5

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