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Prolog

Zahllose Legenden ranken sich um das kleine Inselkönigreich Khesin, das jahrtausendelang sämtlichen Angriffen fremder Mächte  erfolgreich widerstanden hat. Erzählungen darüber machten die Runde an den Tischen der Gasthäuser und Tavernen Khesins, von wo aus sie von den Seeleuten in alle Welt hinausgetragen wurden. Viele der Begebenheiten wurden von den Erzählern blumenreich ergänzt. Und oftmals wurden kurzerhand neue, dramatische Abenteuer erfunden, um die nach Neuigkeiten dürstenden Zuhörer zufriedenzustellen. Auf diese Weise begannen die tatsächlichen Geschehnisse allmählich in Vergessenheit zu geraten. 

Für Samman, dem königlichen Archivar in der Hauptstadt Khesa, war dieses Vergessen ein Ärgernis. Und so begann er bereits in jungen Jahren damit, die in den Legenden geschilderten Begebenheiten niederzuschreiben. Er zog dazu sowohl Schriften aus Tempelarchiven als auch Aufzeichnungen des königlichen Archivs heran. Großen Wert legte er allerdings auf Befragungen von Nachkommen der seinerzeit handelnden Personen. Tatsächlich waren diese Quellen am ergiebigsten. Die Befragten hatten ihre Informationen nämlich nicht an Wirtshaustischen gesammelt, sondern von ihren Eltern erhalten, die sie wiederum von den Eltern und Großeltern empfangen hatten. Ergänzt um Geschichten aus Wirtshäusern und Tavernen, lieferten die in jahrzehntelanger Kleinarbeit  zusammengetragenen Informationen ein recht genaues Bild der tatsächlichen Geschehnisse. 

Als herausragend erwies sich schon sehr bald die Rolle des jungen Toran, den man, nach seiner Tätigkeit, den Jäger nannte. Aufgewachsen war er einst am königlichen Hof in Khesa, als Sohn des königlichen Schwertmeisters und dessen Gattin Aisha. Im Alter von zehn Jahren war er von König Thar in die Hafenstadt Tharl zu einer Pflegemutter geschickt worden, nachdem man seinen Vater ermordet und seine Mutter entführt hatte. 

Drahtzieher dieser Verbrechen war die Priesterschaft von Mohon gewesen, die mit politischem Geschick und mit Hilfe ihrer magischen Fähigkeiten seit Menschengedenken über das Festland herrschte. Lediglich das Inselkönigreich Khesin, das dem Kontinent auf dessen Ostseite vorgelagert ist, hatte bislang den Angriffen der so genannten Schwarzen Priester erfolgreich widerstanden. 

Mit militärischen Mitteln war Khesin kaum zu erobern, denn seine ansonsten vollkommen unzugängliche Steilküste weist lediglich zwei natürliche Häfen auf. Einen im Süden der Insel, bei man die Hafenstadt Marrak erbaut hatte, und einen zweiten auf ihrer Ostseite, der von der Hafenstadt Tharl geschützt wurde. Besiedelt war lediglich die warme und fruchtbare Südhälfte der Insel. Khesins unwirtliche Nordhälfte ist nämlich durch das Felsengebirge, eine von Osten nach Westen verlaufende, nur sehr schwer zu überwindende Barriere, vom Süden getrennt. 

Samman, der königliche Archivar, hat die wichtigsten Begebenheiten jener Zeit in einer Reihe von Büchern festgehalten: Eine lange Kette teilweise dramatischer Ereignisse beginnt, als der junge Jäger Toran zu seinem König in die Hauptstadt Khesa gerufen wird. Er entgeht nur knapp einem Mordanschlag, ehe er sich in das Felsengebirge begibt, wo er zwei magische Edelsteine findet und schwer verunglückt. 

Nach seiner Genesung erhält Toran von König Thar einen wichtigen Auftrag. Er soll den Tempel der Goldenen Göttin aufsuchen, der sich auf dem Festland irgendwo in den geheimnisvollen Wäldern des Landes Goor befindet. Von dort soll er das lange verschollene Zepter der Könige Khesins holen. Toran gewinnt einen Reisegefährten und erwirbt ein seltsames Schwert, an das er einen der beiden gefundenen Edelsteine  schmieden lässt. Eine mächtige Waffe entsteht auf diese Art und Weise. Derart ausgerüstet, bricht Toran mit seinem Gefährten Tarax zum Tempel der Goldenen Göttin auf. 

Nach ihrer riskanten Landung an der Ostküste des Kontinents dringen die Gefährten in die Urwälder des Landes Goor ein. Toran macht dort Bekanntschaft mit seltsamen, meist sehr gefährlichen Tieren und Pflanzen und überlebt - dank seines magischen Schwerts - nur knapp den Angriff eines Astfängers, eines der gefährlichsten Tiere dieses Dschungels. Schließlich suchen die Gefährten das Heimatdorf von Tarax auf, wo sie auf einen alten Mann treffen, der in Verbindung mit einer geheimnisvollen, angeblich allwissenden Kreatur steht. Von diesem Mann erfahren sie, wo der Tempel der Goldenen Göttin zu finden ist und kommen schließlich dort an. Doch die Schwarzen Priester sind den beiden dicht auf den Fersen, denn auch sie sind auf der Jagd nach dem verschollenen Zepter.

Im Tempel der Goldenen Göttin

Die beiden jungen Männer, die dicht hintereinander einem schmalen, kaum erkennbaren Pfad durch den dichten Dschungel folgten, achteten sorgfältig darauf, kein lautes Geräusch zu verursachen. Schweigend suchten sie ihren Weg zwischen den Wurzeln mächtiger Bäume, durch ausgedehnte Haine riesiger Farne und durch dichtes Dornengestrüpp. Dabei trat der zweite Mann stets in die Fußabdrücke seines Gefährten, um so wenige Spuren zu hinterlassen wie möglich. Natürlich minderte er dadurch auch das Risiko, auf ein gefährliches Tier oder eine giftige Pflanze zu treten.

Regelmäßig wechselten sich die beiden in der Führung ab. Trotzdem waren sie erschöpft, denn sie bewegten sich seit Wochen durch den feuchtheißen Dschungel. Und wie schon so oft, blieben die beiden stehen, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen und um bei dieser Gelegenheit ihre Umgebung aufmerksam zu beobachten.

Beide Männer waren kaum zwanzig Jahre alt. Doch das war wohl die einzige Gemeinsamkeit, die sie hatten, denn auch vom Aussehen her konnten sie verschiedenartiger nicht sein: Der eine war etwa sechs Fuß hoch und hellhäutig. Sein schwarzes, lockiges Haar fiel bis auf die kräftigen Schultern. Seine schmale Nase und das eckige Kinn verrieten, dass er auf Khesin geboren war, einer Insel, die dem Festland auf seiner Ostseite vorgelagert ist. Das Auffälligste an ihm waren jedoch die leuchtend grünen Augen. 

Der andere Mann, der im Augenblick die Führung innehatte, reichte seinem Gefährten kaum bis zur Nasenspitze. Dabei war er ungeheuer muskulös und breitschultrig. Seine dunkle Haut und insbesondere seine Augen verrieten, dass er hier in den Urwäldern des Landes Goor zu Hause war. Sie standen schräg, die Augäpfel waren dunkel, und die goldene Iris mit ihrer schlitzförmigen Pupille ließ sie aussehen wie die Augen eines Raubtiers. Alle Menschen, die in den Wäldern des Landes Goor geboren sind, haben solche Augen. Die geheimnisvollen Wälder ihrer Heimat bedecken gut ein Drittel des Festlands und sind absolut tödlich für jeden Unerfahrenen, der sich in ihren Schatten wagt.

 Der Führende wandte sich um und wies auf eine Lücke zwischen den Baumwipfeln. "Siehst du die hohen Felsen dort, Toran? An ihrem Fuß werden wir den Eingang zum Tempel finden. Zum Problem kann aber das Dorf werden, das ganz in der Nähe liegt. Die Gefahr, entdeckt zu werden, ist groß." Er deutete auf einen riesigen, krumm und knorrig gewachsenen Baum. "Dieser Baum kommt uns gerade recht. Auf ihn werden wir hinaufklettern. Dort oben, im Schatten seiner Blätter, sind wir bis zum Mittag gut aufgehoben, wenn die Hitze am größten ist und die Dorfbewohner ruhen.“

„Können wir das Dorf nicht meiden, Tarax?“, raunte Toran, dem der Schweiß in Strömen von der Stirn rann. "Ich kann es kaum erwarten, in den Tempel der Goldenen Göttin hineinzugehen, um das Zepter der Könige endlich an mich zu nehmen."

„Wir werden es auf seiner Ostseite umgehen. Im Inneren des Tempels müssen wir äußerste Vorsicht walten lassen, denn seine Wächter sollen äußerst gefährlich sein. Wir müssen unbedingt darauf achten, dass wir sie auf keinen Fall wecken, wenn wir in den Tempel eindringen. Sie sollen beinahe so zahlreich sein wie die Sterne am Himmel. Man sagt, dass sie schneller fliegen als der Wind, wenn sie eine Beute wittern.“

Toran schüttelte den Kopf. „Das Land, in dem du geboren bist, Tarax, ist ein merkwürdiges Land. Jeden Tag erfahre ich hier neue Wunder und erlebe Neues und Kurioses. Und manchmal frage ich mich, ob es überhaupt etwas im Lande Goor geben kann, das nicht gefährlich, giftig oder gar tödlich ist“, erwiderte er leise.

 

Als die Sonne am höchsten stand, gab Tarax das Zeichen zum Aufbruch. „Lass uns jetzt hinunterklettern, Toran. Normalerweise verschlafen die Menschen hier die heißesten Stunden des Tages. Mit ein wenig Glück werden wir niemandem begegnen.“

Toran, der in einer dicken Astgabel liegend, ein wenig gedöst hatte, streckte sich wohlig und seufzte. „Wie schön könnte doch das Leben sein, Tarax. Jeder hätte sein Auskommen, doch immer wieder gibt es Menschen, die den Frieden stören. Weshalb lässt man uns nicht einfach in Ruhe?“

Tarax lächelte zweideutig. „Vielleicht haben wir es nicht anders verdient, Toran. Wäre die Welt aber friedlich, dann würde uns nichts Anderes übrig bleiben, als faul zu Hause zu bleiben. In diesem Fall wären wir mit Sicherheit in kürzester Zeit so fett wie die khesinischen Hängebauchschweine.“

Mit gespieltem Entsetzen starrte Toran seinen Gefährten an. „So fett wie ...? - Nein mein Freund, bevor ich das in Kauf nehme, quäle ich mich lieber noch weitere drei Monate durch die Wälder des Landes Goor und lasse mich zu guter Letzt auch noch von einem ausgehungerten Pilz verspeisen.“

Schweigend bewältigten die beiden den restlichen Abstieg. Doch obwohl sie sich vollkommen geräuschlos bewegten, blieben sie nicht unbeobachtet. Ein kleiner Junge aus dem Dorf, der seiner Mutter weggelaufen war, hatte sie entdeckt, als er ausgerechnet den Baum ersteigen wollte, von dem die beiden herabkletterten. Geistesgegenwärtig kauerte er sich unter ein großes grünes Blatt, wo er unbeweglich sitzen blieb und kaum zu atmen wagte.

Toran und Tarax schlichen so nahe an seinem Versteck vorbei, dass der Junge lediglich die Hand hätte auszustrecken brauchen, um sie zu berühren. Vor Aufregung am ganzen Körper zitternd, verharrte er dort, bis die beiden Fremden außer Hörweite waren, und beobachtete, wohin sie gingen.

Danach rannte er so schnell, wie er noch nie in seinem Leben gerannt war, zurück ins Dorf. Und als er dort angekommen war, tat er instinktiv genau das Richtige: Anstatt laut schreiend von Hütte zu Hütte zu laufen und damit auch die Fremden zu warnen, suchte er den alten Zauberer auf, der die größte und schönste Hütte in der Mitte des Dorfes bewohnte.

Krampfhaft nach Luft ringend, stürzte er in die Behausung des Zauberers. Der Alte, der einen leichten Schlaf hatte, war sofort hellwach. „Was gibt es?“, fragte er heiser, denn er war äußerst ungehalten über die unerwartete Störung.

Der Junge ließ sich jedoch nicht von den grimmigen Blicken des alten Mannes einschüchtern. „M’Usunga ... kwali M’Usunga“, keuchte er und zeigte in die Richtung, in welcher er Toran und Tarax wusste.

„Fremde, sagst du? Und es sind wirklich zwei Männer?“, fragte der Zauberer, der dem Kleinen angesichts der Wichtigkeit der Nachricht die Störung seiner Mittagsruhe längst verziehen hatte. "Hast du gesehen, was die beiden vorhaben?" 

"Ich weiß nicht, was sie vorhaben. Aber sie ... sie schleichen um das Dorf herum. Ich glaube, dass sie ... zum Tempel gehen wollen“, stieß der Junge hervor und sank erschöpft in die Knie.

Behände wie ein junger Mann sprang der alte Zauberer jetzt auf die Beine und trat eilig vor die Hütte. Eine Reihe sattgelber Blüten, kopfgroß und geformt wie Lampions, waren dort unter dem Vordach zum Trocknen aufgehängt. Mit spitzen Fingern prüfte sie der Alte. Vier der Blütenhüllen gaben dem zarten Druck seiner Fingerspitzen nicht nach. Zufrieden nickend nahm sie der Mann ab und trippelte mit schnellen, eigenartig rhythmischen Schritten in die Hütte neben seiner Behausung.

Er brauchte den dort Ruhenden jedoch nicht mehr zu wecken. Durch die leisen Schritte des Zauberers war er bereits erwacht und erwartete unterwürfig die Anweisungen seines Meisters. „M’Usunga“, raunte der alte Mann. „Sie wollen den Tempel entweihen. Hole die anderen, denn ich will die Fremden gefangen nehmen. Die Tempelwächter hatten schon lange keine richtige Mahlzeit.“

Geräuschlos verschwand der Mann aus der Hütte, während sich der Zauberer eilig auf den Pfad zum Tempel begab, wo ihn alsbald seine vier Gehilfen einholten. „Was werden wir unternehmen, Zelor?“, fragte der Mann, den der Alte in seiner Hütte aufgesucht hatte.

Der Zauberer deutete nach Osten. „Die beiden Fremden umgehen das Dorf auf dieser Seite. Sie kommen im Wald nicht schnell genug voran, sodass wir den Tempel eher als sie erreichen werden. Wenn sie dann aus dem Wald heraustreten, werden wir sie ergreifen.“ Grinsend hielt er die gelben Blüten hoch. „Das hier wird sie besänftigen, sodass wir ihre Waffen nicht zu fürchten brauchen.“

 

Angestrengt spähte Toran durch das dichte Gestrüpp am Waldrand. „Anscheinend ist niemand beim Tempel. Oder kannst du jemanden sehen?“, raunte er und duckte sich wieder hinter die riesige Baumwurzel, hinter der auch Tarax kauerte.

„Alles ist ruhig“, erwiderte Tarax leise. „Wie es aussieht, hat man uns nicht bemerkt. Lass es uns trotzdem schnell hinter uns bringen. Mir ist einfach nicht wohl dabei, einen Tempel zu entweihen, der einer fremden Göttin gewidmet ist.“

Sorglos traten die Gefährten ins Freie. Am gegenüberliegenden Rand der Lichtung gähnte der Eingang des Tempels in der Felswand wie ein riesiger schwarzer Schlund. Einen halben Steinwurf links davon gab es noch eine kleinere Öffnung im Fels.

Gerade wollte Toran den Arm heben, um Tarax auf die kleinere Höhle hinzuweisen, als ihn ein leises Geräusch aufhorchen ließ. Es hörte sich so an, als würde eine reife Frucht zerplatzen. Der merkwürdige Laut ertönte noch drei weitere Male aus dem Geäst des Baumes, der seine mächtigen Äste halb über die Lichtung streckte. Erstaunt blickten die Gefährten nach oben, um festzustellen, dass feiner, im Mittagslicht silbern glitzernder Staub geräuschlos auf sie herabrieselte.

Tarax packte seinen Gefährten am Arm, um ihn fortzuziehen. „Komm schnell, wir müssen …“ Weiterzusprechen gelang ihm nicht mehr, denn unvermittelt umfing ihn tiefe Dunkelheit. Wie Toran sank er besinnungslos zu Boden.

Erst, nachdem sich der Silberstaub restlos verzogen hatte, erschienen die vier Männer aus dem Dorf mit dem Zauberer, um die beiden zu fesseln. Mit vereinten Kräften schleppten sie die Gefährten in die kleine Höhle neben dem Tempel, wo sie ihre Gefangenen achtlos auf den harten Felsboden fallen ließen.

Der alte Mann gab seinen Helfern schweigend einen Wink, wonach diese erleichtert die Höhle verließen. Später entzündete er umständlich eine Fackel, um die Schlafenden ausgiebig zu betrachten. „Zwei kräftige Männer. Die Tempelwächter werden sich freuen“, kicherte er und trat Toran kräftig in die Rippen. Doch der, obwohl er gerade aus der Betäubung zu erwachen begann, gab mit keiner Regung zu erkennen, dass er den Tritt gespürt hatte.

„Ja, Fremder, schlafe nur weiter. Bald wirst du erwachen, um deinem Tod ins Auge zu sehen“, flüsterte der Alte und begann, seine Gefangenen mit rhythmischen Schritten zu umkreisen, während er mit heiserer Fistelstimme einen monotonen Gesang anstimmte.

Toran konnte die Worte des Zauberers nicht verstehen, doch der Rhythmus und die Melodie des Liedes ließen ihn alsbald frösteln. Unvermittelt hatte er die schreckliche Vision von scharfen Zähnen, die in seinen Eingeweiden wühlten. Gleichzeitig rissen schwarze Klauen sein Gehirn Stück für Stück aus dem Schädel. Die Vorstellung war so machtvoll, dass er entsetzliche Qualen litt und trotz der Dunkelheit versuchte, an seinem Körper hinunterzusehen, wo sich glitzernde Ströme heißen Blutes aus seinem aufgerissenen Leib auf den kalten Felsboden ergossen.

Stunden schienen vergangen zu sein, als der Gesang des alten Mannes mit einem letzten klagenden Ruf  abbrach. Toran atmete erleichtert auf, da sich im selben Augenblick auch seine schmerzhafte Vision verflüchtigte. Mit geschlossenen Augen lauschte er den Schritten des Zauberers, der scheinbar ziellos in der Höhle umherschlurfte, sodass nicht zu erkennen war, was er tat. Schließlich tappte der Mann hinaus. Gelegentlich war noch das Geräusch fallender Wassertropfen zu hören. Ansonsten war es totenstill.

Toran strengte seine Augen an, um besser zu sehen. Doch in der nahezu vollkommenen Dunkelheit war außer einer Andeutung von Licht aus der Richtung des Höhleneingangs nicht das Geringste zu erkennen. Leise fluchend versuchte er seine Fesseln zu lockern. Aber je mehr er sich abmühte, desto fester schlossen sich die schmalen Lederschlingen um seine Hand- und Fußgelenke zusammen. Entnervt gab er schließlich auf.

„Ich kann erkennen, dass du endlich Vernunft angenommen hast“, ertönte eine vertraute Stimme aus dem Dunkel neben ihm. „Wenn du noch ein Weilchen an den Riemen gezerrt hättest, so hätten sie dir Hände und Füße abgetrennt. Ich kenne diese Art von Fesseln. Sie sind eine Spezialität der Zauberer von Goor. Akzeptierst du sie, werden sie dir nicht schaden. Kämpfst du aber gegen sie an, dann durchtrennen sie dir die gefesselten Glieder.“

Toran fiel ein großer Stein vom Herzen. „Tarax! Den Göttern sei Dank, dass du auch hier bist. Weißt du, was mit uns geschehen ist? Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass wir aus dem Wald gekommen sind. Und dann bin ich hier in dieser Höhle aufgewacht."

„Man hat uns mit dem Blütenstaub des Kleinen Todes vergiftet. Atmest du diesen Staub ein, fällst du beinahe augenblicklich in einen tiefen, todesähnlichen Schlaf. Alle Zauberer in diesem Land sind außerordentlich begabte Pflanzenkenner und Giftmischer. Wir brauchen uns also der Gefangennahme nicht zu schämen.“

„Was heißt hier schämen?“, schnaubte Toran. „Ich habe ein ungutes Gefühl bei dieser Sache und will so schnell wie möglich wieder aus dieser Höhle hinaus. “

„Wer wollte das nicht, wäre er an unserer Stelle?“, gab Tarax lakonisch zur Antwort. „Doch im Augenblick, so denke ich, sind wir in einer äußerst prekären Lage. Die Leute hier haben irgendetwas mit uns vor. Vielleicht wollen sie uns ja der Goldenen Göttin opfern. Dabei könnte sich eine Gelegenheit zur Flucht ergeben.“

„Dann wird es zu spät sein, Tarax, denn zu unserer Tötung wird mit Sicherheit das gesamte Dorf versammelt sein. Wie sollten wir da eine Gelegenheit zur Flucht finden? Sämtliche Dorfbewohner würden sich auf der Stelle kreischend an unsere Fersen heften. Nein, Tarax, wir müssen versuchen, sofort zu fliehen.“

„Du hast sicher Recht, Toran. Aber wie sollen wir das, um der Götter Willlen, in dieser Lage bewerkstelligen?", brummte Tarax. - "Oder hast du vielleicht eine Idee, wie uns dabei dein Zauberschwert helfen könnte?“

„An das Schwert habe ich im Augenblick gar nicht gedacht“, gab Toran erstaunt zurück. „Ich weiß nämlich immer noch nicht, was es alles zu leisten vermag. Aber wenn es Stahl und Stein schneidet, ohne seine Schärfe zu verlieren, vermag es vielleicht auch die Zauberfesseln des Landes Goor zu durchtrennen.“

„Das ist ja wirklich wunderbar! Dann steh doch bitte auf der Stelle auf, hole dein Schwert und schneide uns unverzüglich los“, antwortete Tarax resigniert. „Aber hast du überhaupt eine Ahnung, wo unsere Waffen geblieben sind?“

„Ich denke, dass wir bald wissen werden, ob sie überhaupt noch  in der Nähe sind“, knurrte Toran und schloss die Augen. Er schob alle anderen Gedanken beiseite, konzentrierte sich ausschließlich auf sein Schwert und rief in Gedanken nach ihm.

Tarax sog die Luft scharf ein, als plötzlich grellrotes Licht durch die Höhle flutete. Torans Schwert sowie auch die übrigen Waffen der beiden lagen außer Reichweite in einem entfernten Winkel der Höhle. Der Edelstein am Schwert Torans war die Quelle des hellen Lichts.

Toran grinste verbissen und kniff die Lippen zusammen. „Nun, wie du sehen kannst, Tarax, sind sie nicht weit entfernt von uns. Und vielleicht kann das Schwert ja noch mehr als zu kämpfen. Einen Versuch ist es jedenfalls wert.“

Gespannt beobachtete Tarax seinen Gefährten, um zu sehen, was weiter geschehen würde. Toran hielt seine Augen geschlossen und blieb bewegungslos liegen. Allmählich traten dicke Schweißtropfen auf seine Stirn und rollten glitzernd über seine Schläfen. Als die Farbe des Lichts sich zu Violett veränderte, wandte Tarax den Kopf zur Waffe hin. Fassungslos beobachtete er, wie das Schwert sich ruckweise aus der Scheide heraus zu bewegen begann. Schließlich stand es, die Spitze nach unten gerichtet, senkrecht in der Luft.

Toran keuchte vor Anstrengung, ließ aber in seinem Bestreben nicht nach, die Waffe vollständig unter seine Kontrolle zu bringen. Langsam schwebte das Schwert über ihn und senkte sich - widerspenstig und zögernd, wie es Tarax erschien - über Torans gefesselte Hände.

Als die Schwertspitze die Fessel berührte, begannen von unten nach oben leuchtende blaue Funken über die Klinge zu wandern, bevor sie sich mit lautem Knistern am Heft auflösten. Das Schwert begann zu schwanken und zu zittern, doch Toran entließ es nicht aus seiner geistigen Umklammerung. Schließlich zerplatzte knallend ein letzter blauer Funke, dann war die Fessel durchtrennt.

Torans Schläfenadern schwollen vor Anstrengung an, während er sich blitzschnell zur Seite rollte. Der Gedanke dazu war ihm einen Herzschlag zuvor in den Sinn gekommen. Und das war auch gut so, denn jetzt verließ ihn urplötzlich die Kraft.

Kreischend bohrte sich das Schwert an der Stelle, an der er soeben noch gelegen hatte, bis zum Heft in den Fels. Ein gewaltiger blauer Blitz schlug mit ohrenbetäubendem Knall vom Schwertknauf zur Höhlendecke. Große Felsbrocken polterten herunter und feiner grauer Staub senkte sich auf die zutiefst erschrockenen Männer, während der Edelstein weiterhin in violettem Licht erstrahlte. In seinem Schein entledigte sich Toran seiner Fußfesseln, die sich wie durch ein Wunder von selbst gelöst hatten.  

Als er sich seinem Freund zuwandte, hatte der ebenfalls seine Fesseln abgestreift und erhob sich ächzend. „Mir sind die Füße eingeschlafen“, murmelte Tarax auf den fragenden Blick Torans hin. „Aber wie bekommst du jetzt dein Schwert wieder aus dem Stein heraus?“

Toran runzelte zweifelnd die Stirn, doch als er die Waffe zögernd ergriff, glitt sie zu seiner großen Erleichterung wie von selbst aus dem massiven Felsen heraus, wobei sie wieder ihr schrilles Lied sang.

 

Draußen ergriff Tarax das Wort, nachdem sich die beiden davon überzeugt hatten, dass die Höhle nicht bewacht wurde. „Den Göttern sei Dank für dieses Schwert. Denn wenn einer von uns versucht hätte, die Fesseln mit einer gewöhnlichen Waffe zu durchtrennen, wäre es uns beiden mit Sicherheit schlecht bekommen.“

Nachdenklich strich Toran über den Edelstein am Schwertknauf. „Und trotzdem wäre der Versuch um ein Haar gescheitert. Stell dir nur vor, was geschehen wäre, hätte ich mich nicht rechtzeitig in Sicherheit gebracht.“

„Die Götter waren eben wieder einmal mit uns“, seufzte Tarax, während sich Toran entschlossen dem Eingang des Tempels näherte. „Es wird wohl das Beste sein, wenn du mir draußen den Rücken frei hältst“, rief er seinem Gefährten zu, bevor er in die klaffende, dunkle Felsspalte eindrang, die sich bereits nach wenigen Schritten zu einer riesigen Halle auftat.

Staunend blickte sich Toran um. Vom Eingang her fiel genügend Licht herein, sodass das Innere des Tempels gut erkennbar war. Es war beinahe einen Steinwurf lang und etwa halb so breit. Die Höhlendecke lag sehr hoch und wies unzählige Nischen, Risse und Vorsprünge auf. Und nahezu an jeder dieser Felsnasen hing kopfüber eine riesige schwarze Fledermaus. Zumindest sahen die Tiere aus wie Fledermäuse, wenn man einmal davon absah, dass sie nahezu so groß waren wie Hauskatzen.

Ein beißender Geruch nach Exkrementen nahm Toran beinahe den Atem. Beim Gehen sank er bis über die Knöchel in den trockenen Dung der Tiere ein. Vorsichtig darauf bedacht, kein lautes Geräusch zu verursachen, schlich er weiter, denn es konnte böse Folgen haben, wenn er die Wächter des Tempels wecken würde. Der alte Zamir hatte sie ja eindringlich davor gewarnt. Eine nach der anderen passierte er eine Anzahl doppelt mannshoher steinerner Statuen aus Stein, die seitlich an der Höhlenwand aufgereiht waren. Grob aus schwarzem Gestein gehauen, zeichneten sie die Umrisse nackter menschlicher Gestalten nach.

Doch im Hintergrund, an die Schmalseite der Höhle angelehnt, ragte eine wesentlich größere Statue auf. Es war die Darstellung einer Frau, sicherlich fünf Mannslängen hoch und wesentlich besser ausgearbeitet als die Statuen an den Seitenwänden des Tempels. Ihrer Farbe und ihrem Glanz nach zu urteilen, schien sie aus purem Gold zu bestehen.

„Die Goldene Göttin“, hauchte Toran. „Es gibt sie also wirklich.“ Leise begann sein Schwert zu summen. Sein Knauf flammte auf und tauchte die Statue in rotes Licht. Erschrocken blickte Toran hoch, denn auch der in die Stirn der Statue eingesetzte violette Edelstein begann zu erglühen. Die gleißende Helligkeit zwang Toran, die Augen abzuwenden, und ein gänzlich fremdartiger Laut drang plötzlich in sein Bewusstsein. Der Ton war so tief und so machtvoll, dass sich sein Magen sofort schmerzhaft zusammenzog. Auch seine Zähne begannen zu schmerzen und er begann unkontrolliert zu zittern. Doch was für ein Ton war das?

Obwohl mittlerweile sein Kopf angefangen hatte, gewaltig zu dröhnen, horchte Toran aufmerksam auf den Klang. Zunächst konnte er es nicht glauben, doch gab es keinen Zweifel: die Statue sprach zu ihm. „Ommmmm …“, erklang es tief und machtvoll. Und nach einer kurzen Pause, erklang es wieder: „Ommmmm …“ Das Summen seines Schwertes wurde lauter. Und abermals erklang die Stimme der Statue: „Ommmmm …“ Dieses Mal hatte die Lautstärke deutlich zugenommen.

Torans Inneres wollte sich nach außen kehren, doch er ließ sich davon nicht aufhalten. Verbissen kämpfte er sich Schritt für Schritt voran, obwohl schmerzhafte Krämpfe in seinem Körper tobten. Zu Füßen der Statue, auf einem steinernen Opferaltar, entdeckte er

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Anton Heinzinger
Bildmaterialien: Covergestaltung: T. Anzinger, Coverbild: cheri131- Fotolia.com
Tag der Veröffentlichung: 12.06.2013
ISBN: 978-3-7309-3222-3

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