Zahllose Legenden ranken sich um das kleine Inselkönigreich Khesin, das jahrtausendelang den Angriffen fremder Mächte widerstanden hat. Erzählungen darüber kursierten an den Tischen der Gasthäuser und Tavernen, von wo aus sie in alle Welt hinausgetragen wurden. Oftmals wurden kurzerhand neue, dramatische Abenteuer erfunden, um die nach Neuigkeiten dürstenden Zuhörer zufriedenzustellen. Und so begannen die wirklichen Geschehnisse allmählich in Vergessenheit zu geraten.
Für Samman, dem königlichen Archivar, war dieses Vergessen ein Ärgernis. Deshalb begann er bereits sehr früh, die mündlich geschilderten Begebenheiten niederzuschreiben. Er zog dazu Schriften aus Tempelarchiven, als auch Aufzeichnungen des königlichen Archivs heran. Großen Wert legte er aber auf Befragungen von Nachkommen der seinerzeit handelnden Personen, denn diese hatten ihre Informationen von ihren Eltern, die sie wiederum von den Eltern und Großeltern empfangen hatten. Ergänzt um Geschichten aus Wirtshäusern und Tavernen, lieferten die mühevoll gesammelten Fakten ein recht genaues Bild der Geschehnisse.
Als herausragend erwies sich die Rolle des jungen Toran. Aufgewachsen war er am Königshof in Khesa, als Sohn des königlichen Schwertmeisters und dessen Gattin Aisha. Im Alter von zehn Jahren war er von König Thar in die Hafenstadt Tharl geschickt worden, nachdem man seinen Vater ermordet und seine Mutter entführt hatte. Drahtzieher dieser Verbrechen war die Priesterschaft von Mohon, die mit politischem Geschick und mit Hilfe ivon Magie über das Festland herrschte. Lediglich das Inselkönigreich Khesin, das dem Kontinent auf der Ostseite vorgelagert ist, hatte bislang den Angriffen der Schwarzen Priester widerstanden.
Mit militärischen Mitteln war Khesin kaum zu erobern, denn seine unzugängliche Steilküste weist lediglich zwei natürliche Häfen auf. Einen im Süden der Insel, bei dem man die Hafenstadt Marrak erbaut hatte, und einen zweiten auf ihrer Ostseite, der von der Hafenstadt Tharl geschützt wurde. Besiedelt war lediglich die warme und fruchtbare Südhälfte der Insel, denn Khesins unwirtliche Nordhälfte ist durch das Felsengebirge, eine von Osten nach Westen verlaufende, nur sehr schwer zu überwindende Barriere, vom Süden getrennt.
Doch der langen Reihe teilweise dramatischer Ereignisse in jener Zeit soll hiermit nicht vorgegriffen werden. Samman, der königliche Archivar, hat die wesentlichen Begebenheiten in einer Reihe von Büchern festgehalten, deren erstes dem jungen Toran gewidmet ist. In diesem Buch sind Torans Erlebnisse geschildert, nachdem er von König Thar in den Dienst gerufen worden ist. Der Jäger entgeht nur knapp einem Mordanschlag und findet in den Bergen zwei magische Edelsteine. Von König Thar erhält er danach den Auftrag, auf dem Festland, in den Urwäldern des Landes Goor, nach einem verlorenen Zepter zu suchen.
Wertvolle Dienste leistet Toran dabei ein magisches Schwert, in dessen Besitz er vor seiner Abreise kommt. Der junge Tarax, dem er einige Tage vorher das Leben gerettet hat, begleitet ihn auf der gefährlichen Reise. Auf der Suche nach dem Tempel der goldenen Göttin, in dem sich das Zepter befinden soll, überstehen die beiden so manche gefährliche Situation.
Einen Augenblick lang verstummten sämtliche Gespräche in der Taverne zum Silbernen Schwertfisch, als ein Fremder den Raum betrat. Der hochgewachsene Mann war wie ein einfacher Kaufmann gekleidet. Aufmerksam ließ er seinen Blick durch den dunklen, aus grob behauenen Steinen gemauerten Raum schweifen.
In einer Ecke der nahezu vollbesetzten Taverne spann eine Gruppe Seeleute dickes Seemannsgarn für eine Handvoll junger Frauen, die den Erzählungen mit glänzenden Augen lauschten. Ein halbes Dutzend Soldaten, die sich am Nebentisch die Zeit mit Würfelspiel vertrieben, musterten den Neuankömmling scharf. Doch sie verloren schnell das Interesse an ihm und wandten sich alsbald wieder ihrem Spiel zu.
Ein Stück weiter tafelten vier in feinstes Tuch gekleidete Männer. Ganz offensichtlich waren sie nicht unvermögend, denn sie wurden von fünf grimmig blickenden Bewaffneten in Kettenhemden beschützt, deren wachsamen Augen nichts entging, was in der Taverne geschah. Die übrigen der roh aus Nussbaumholz gezimmerten Tische der Taverne waren mit Seefahrern aus aller Herren Länder besetzt. Doch diese mehr oder weniger betrunkenen Zecher widmeten dem Fremden nur kurz ihre Aufmerksamkeit.
Der einzige noch freie Tisch unmittelbar neben der weit offen stehenden Eingangstür war offensichtlich nicht nach dem Geschmack des Mannes, denn der wanderte unschlüssig in der Taverne umher. Bei seiner Suche nach einem freien Platz näherte er sich wie zufällig einem kleinen Tisch unmittelbar neben der Feuerstelle.
Hier saß, bei einem Becher Wein, ein etwa sechs Fuß großer, ausgesprochen kräftig gebauter junger Mann dessen lockigen schwarzen Haare bis auf die Schultern fielen. Gekleidet war er in ein ehemals grünes, von der Sonne sehr stark ausgebleichtes Wams, und in eine ebensolche Hose. Den halbhohen, ledernen Stiefeln konnte man ansehen, dass sich ihr Besitzer häufig in unwegsamem Gelände bewegte. Der Mann schien sich zu langweilen, denn er ließ die Blicke seiner auffällig grünen Augen müßig in der Taverne schweifen.
Unschlüssig verharrte der Neuankömmling einen Augenblick lang neben dem Tisch, ehe er das Wort an den Schwarzhaarigen richtete. „Bitte verzeiht mir, dass ich Euren Genuss so einfach störe, junger Mann. Ich bin nämlich ..."
Der Angesprochene wartete erst gar nicht ab, was der Fremde sagen wollte, und setzte seinen Becher ab. „Kann ich Euch behilflich sein?“, fragte er freundlich, denn ihm war die Unsicherheit des Mannes nicht entgangen.
„Ja und nein“, antwortete der Mann leise. „Wenn Ihr nicht der junge Mann seid, nach dem ich auf der Suche bin, so könntet Ihr mir vielleicht helfen, ihn schnell zu finden. Seid Ihr es aber selbst, habe ich die Botschaft eines gemeinsamen Freundes für Euch.“
Der junge Mann nickte. „Nehmt doch einstweilen an diesem Tisch Platz und genießt einen Becher dieses köstlichen Rotweins mit mir. Im Sitzen redet sich's allemal besser als im Stehen“, rief er, da er durch die Andeutungen des unbekannten Mannes neugierig geworden war.
„Dieses großzügige Angebot will ich keinesfalls ausschlagen, ist doch der gute Ruf des Silbernen Schwertfischs bis in die Hauptstadt Khesa gelangt. Hier in der Taverne soll es den besten Rotwein von ganz Khesin geben“, erwiderte der Fremde lächelnd und nahm auf der roh gezimmerten Holzbank Platz.
Ohne dass es einer Aufforderung bedurfte, stellte der beleibte Wirt einen gefüllten Krug und einen zweiten tönernen Becher auf den Tisch. "Genießt diesen Wein, fremder Mann", bemerkte er zu dem Neuankömmling. "Es ist der beste, den ich seit langer Zeit bekommen habe."
Der Fremde füllte seinen Becher und schnupperte genießerisch daran. "In der Tat köstlich. So lasst uns damit auf Euer Wohl trinken“, erklärte er schließlich und erhob seinen Becher. Mit einem unauffälligen Blick in die Runde überzeugte er sich davon, dass das Interesse der übrigen Gäste an seiner Person bereits wieder erloschen war. „Ihr seid Toran der Jäger?“, fragte er leise, im Stimmengewirr der Taverne kaum vernehmbar, während er sein Gegenüber scharf fixierte.
Der Angesprochene nickte. "So werde ich in der Tat hier genannt“, antwortete er nach einem prüfenden Blick auf den Fragenden. "Ihr seid ja wirklich außerordentlich gut informiert", ergänzte er, nachdem er einen weiteren Schluck Rotwein genossen hatte.
„Ich bin Zadok der Kaufmann. Ein Handelsgeschäft hat mich hierher nach Tharl geführt. Aus diesem Grund habe ich den Auftrag eines gemeinsamen Freundes angenommen, Euch eine Botschaft zu überbringen. Doch habt Verständnis dafür, dass ich mich zuerst der Tatsache versichern muss, dass Ihr auch wirklich derjenige seid, den ich suche“, erklärte der Kaufmann.
„Es spricht für Eure Zuverlässigkeit und Treue unserem Freund gegenüber, dass Ihr mich prüfen wollt. Und wie kann ich Euch beweisen, dass ich derjenige bin, den Ihr sucht?“, fragte Toran, den die Neugier jetzt endgültig gepackt hatte.
„Meine erste Frage ist sehr leicht zu beantworten: Nennt mir doch bitte den Namen der Frau, die Euch hier in der Hafenstadt Tharl großgezogen hat“, erklärte der Kaufmann.
Toran wurde es warm ums Herz, denn allein der Gedanke an die herzensgute alte Frau tat ihm wohl. „Es ist die alte Numia, die mich großgezogen hat“, flüsterte er. „Sie ist wahrhaft die gütigste Frau, die je in dieser verkommenen Hafenstadt gelebt hat.“
„Und wie lautet der Name der Heilerin, die Euch einst gesund gepflegt hat, als Ihr noch ein Kind wart? Ihr erinnert Euch sicher daran, dass man Euch seinerzeit, dem Tode näher als dem Leben, aus einem Brunnen gezogen hat, in den Ihr gefallen wart.“
„Von diesem Vorfall wissen nur sehr wenige Menschen. Der Name der Frau lautet Almara“, antwortete Toran, der ganz allmählich zu ahnen begann, von welchem gemeinsamen Freund die Botschaft kam, die der Kaufmann ihm zu überbringen hatte.
„Zum Schluss habe ich nur noch eine einzige Frage, werter Toran“, erwiderte Zadok und beugte sich vor, um ganz leise sprechen zu können. "Sie ist aber auch die schwerste. Welches ist der Name Eurer verschwundenen Mutter?“
Torans meergrüne Augen blitzten. „Den Namen kennt kaum jemand“, hauchte er. „Ich denke, dass ich jetzt weiß, wer Euch zu mir gesandt hat, werter Zadok. Dieser Mann ist wahrhaft unser aller Freund. Der Name meiner Mutter lautet Aisha. Doch jetzt beweist Ihr mir, werter Zadok, dass Ihr wirklich von dem Mann gesandt worden seid, den wir unseren Freund nennen.“
„Ich hatte nichts anderes von Euch erwartet“, erwiderte Zadok. Unauffällig ließ er unter dem Tisch einen winzigen Lederbeutel in Torans Hand gleiten. Unser Freund weilt im Augenblick nicht in seinem Haus“, erklärte er leise. „Findet Euch deshalb zum nächsten Vollmond, das ist in zwei mal sieben Tagen, bei ihm ein“, raunte er. „Doch jetzt muss ich zusehen, dass ich diese Stadt so schnell wie möglich verlasse. Ich habe nämlich den Eindruck gewonnen, dass man mich seit meiner Ankunft hier in Tharl bespitzelt.“ Lautstark fuhr er fort, sodass auch die übrigen Gäste es hören konnten: „Ich danke Euch, lieber Mann, für Eure Auskunft und für den Becher des köstlichen Weines, zu dem Ihr mich, einen durstigen Reisenden, so großzügig eingeladen habt. Dank Eurer Hilfe werde ich denjenigen, nach dem ich suche, sicher finden. Mögen Euch die Götter Eure Gastfreundschaft und Eure Hilfe vergelten und Euch auf Eurem weiteren Lebensweg beschützen.“ Danach nahm kaum jemand von ihm Notiz, als er eilig die Taverne verließ.
Nur ein einziger Mann hatte die ganze Zeit über ein geradezu auffälliges Interesse an dem Kaufmann gezeigt. Verstohlen musterte er jetzt auch den jungen Toran, der an seinem Platz geblieben war und weiter an seinem Wein nippte. Unauffällig verstaute der den winzigen Lederbeutel, den er von Zadok erhalten hatte, in seiner Gürteltasche. Mit Bedacht hatte er es vermieden, dessen Inhalt sofort in Augenschein zu nehmen. Hier in der Taverne konnte man nämlich nie sicher sein, dass einem nicht unversehens ein Paar neugieriger Augen über die Schulter spähte.
Toran war das Interesse des Mannes an Zadok nicht entgangen. Der Mann hatte kurz nach dem Kaufmann die Taverne betreten. Offensichtlich mit Bedacht hatte er an dem freien Tisch neben dem Eingang Platz genommen, von dem aus er bequem den ganzen Raum überblicken konnte. Sowohl die Kleidung als auch das Aussehen des Mannes wirkten fremdartig. Sein grobes blaues Gewand wurde anstatt von einem Gürtel mittels einer silbern durchwirkten Kordel zusammengehalten. Und irgendwie erweckte diese Kleidung bei Toran den Eindruck, als sei der Mann ein Priester.
Höchst auffällig war dessen langes, schmales Gesicht mit den tief liegenden dunklen Augen und den buschigen schwarzen Brauen. Mit stechendem Blick blickte er ab und zu in die Runde. Er ließ mit keiner Miene erkennen, ob er bemerkt hatte, dass Toran ihn beobachtete. Mit sichtlichem Behagen genoss er die einfache Mahlzeit aus Käse und Brot, die ihm der Wirt unaufgefordert gebracht hatte. Trotzdem betonten die tiefen Kerben, die von seinen Nasenflügeln bis zu den Mundwinkeln reichten, seine unangenehme Ausstrahlung von Härte. Am meisten jedoch faszinierte Toran die mächtige Hakennase des Mannes, die eindeutig verriet, dass er nicht aus Khesin stammte.
Toran suchte den Silbernen Schwertfisch gerne auf, wenn er nicht gerade auf der Jagd war. Er schätzte es, dass die Taverne ständig von fremden Seefahrern, Kaufleuten und Soldaten besucht wurde. Ungezählte Tage und Nächte hatte er bereits hier verbracht. Mit glänzenden Augen pflegte er den abenteuerlichen Geschichten dieser Menschen zu lauschen. Natürlich wurde hier so manches dicke Seemannsgarn gesponnen, doch ein aufmerksamer Zuhörer wie er konnte trotzdem eine Menge Wissenswertes über die bunte Welt jenseits des Ozeans in Erfahrung bringen.
Aber im Fall des merkwürdigen Mannes neben der Eingangstür hätte er es vorgezogen, diesem besser nicht begegnet zu sein, denn noch niemals vorher war ihm ein Mann begegnet, dessen gesamte Erscheinung ihn derart unangenehm berührt hatte.
Aus diesem Grund entschloss er sich, den Heimweg früher als sonst anzutreten. Er warf er eine Silbermünze auf den rohen Holztisch und nickte dem Wirt zu, bevor er sich, ein wenig unsicher wegen des reichlich genossenen Rotweins, auf den kurzen Heimweg begab.
Verwundert beobachtete er beim Verlassen der Taverne, dass der merkwürdige Mann neben der Eingangstür hastig seine Zeche beglich und ganz offensichtlich Anstalten machte, ihm zu folgen. Nachdenklich trat er ins Freie. Die Nacht war längst angebrochen, die bleiche Sichel des Mondes war aufgegangen, und die dunklen Schatten in der schmalen Gasse, die zum Hafen hinunter führte, waren noch tiefer geworden. Doch kaum hatte Toran mehr als eine Handvoll Schritte zurückgelegt, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung auf der gegenüberliegenden Seite der Gasse bemerkte. Beiläufig wandte er sich um, um gerade noch eine menschliche Gestalt wahrzunehmen, die sich hastig in den Schatten einer Mauernische zurückzog.
Mit einem Mal war Toran nüchtern. Dieser Mann hatte sicherlich nichts Gutes vor, denn sonst hätte er sich nicht vor ihm versteckt! Er ließ sich jedoch nichts anmerken und schlenderte, munter ein Liedchen summend, weiter gemächlich die Gasse entlang. Während er fieberhaft überlegte, ob es möglich war, dass der Mann ihn bespitzelte, fiel ihm siedendheiß der kleine Lederbeutel ein, den er von Zadok erhalten hatte. Hatte man es vielleicht darauf abgesehen? Aber das Kleinod, welches er darin zu finden erwartete, durfte unter keinen Umständen in die Hände eines Fremden fallen! Was also konnte er tun?
Ganz in Gedanken trat er in den nachtschwarzen Schatten eines Hauses, das man vollständig aus grob behauenen Balken errichtet hatte. Und ehe er sich’s versah, stolperte er in der Dunkelheit über einen großen, am Boden liegenden Gegenstand, der sich merkwürdig weich anfühlte. Im Fallen registrierte er mit merkwürdiger Klarheit, dass kurz nacheinander zwei Pfeile über ihn hinwegzischten und sich misstönend in die hölzerne Hauswand neben ihm bohrten.
Geschickt fing er seinen Sturz ab und blieb vollkommen regungslos liegen. Alsbald verriet ihm leises Stöhnen, über was für einen Gegenstand er gestolpert war. „Seid Ihr verletzt?“, hauchte er. Als der Unbekannte nicht antwortete, streckte Toran vorsichtig eine Hand nach ihm aus. Unter seinen tastenden Händen fühlte er das feste Tuch der Kleidung und einen breiten, mit großen metallenen Knöpfen verzierten Ledergürtel. Diesen Gürtel kannte er! Zadok der Kaufmann hatte so einen getragen.
Toran unterdrückte den aufkommenden Schrecken und zwang sich, ruhig zu bleiben. Zadok, seid Ihr es?“, flüsterte er. „Falls Ihr verletzt seid, sagt mir, wie ich Euch behilflich sein kann.“
Der Mann nehmen ihm atmete schwer und stöhnte, ehe er endlich antwortete. „Toran, Ihr seid es wirklich?“, ließ er sich schließlich kaum hörbar vernehmen. "Seid ihr wohlauf?"
„Ja, ich bin es, Toran. Und ich bin unverletzt“, antwortete Toran leise und ließ seine Hand behutsam über den Oberkörper des Mannes gleiten. Doch als eine warme, klebrige Flüssigkeit über seine Finger zu rinnen begann, hielt er entsetzt inne.
„Den Göttern sei Dank! Aber mit mir … geht es zu Ende“, murmelte Zadok. „Bringt … Bringt Euch in Sicherheit … Sie wollen das Kleinod … Es darf nicht … in Ihre Hände … Bewahrt es …“, stammelte er kaum verständlich, ehe er für immer verstummte.
Schleichende Schritte in der Gasse verrieten Toran, dass Zadoks Mörder nicht mehr weit waren. Wenn er jetzt auch nur den kleinsten Fehler beging, würde er das Schicksal des Kaufmanns teilen. Und zu allem Unglück hatte er an diesem Tag, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, den Silbernen Schwertfisch unbewaffnet aufgesucht. Nicht einmal sein gutes Jagdmesser trug er bei sich.
Während sich die leisen Schritte unaufhaltsam näherten, tastete Toran Zadoks Körper hastig nach einer Waffe ab. Er biss die Zähne zusammen, als er bei dem Toten nichts fand, womit er sich hätte verteidigen können. Verzweifelt begann er seine Suche von Neuem. „Ihr Götter“, hauchte er, als er eine lederne Scheide entdeckte, die Zadok an die Innenseite seines linken Unterarms geschnallt trug. Die Waffe, die sie enthielt, ein kurzer, zweischneidiger Dolch mit schwerer, scharf geschliffener Klinge und leichtem Griff, würde sich sicherlich gut werfen lassen.
Jedoch blieb ihm nur diese einzige Chance. Ging der Wurf im Dunkeln fehl, würde sein Leben keinen Pfifferling mehr wert sein! Angestrengt spähte er in die Gasse. Mittlerweile war es noch dunkler geworden, denn eine Wolke hatte die Mondsichel verdeckt. Endlose Augenblicke lang war Toran nicht in der Lage, auch nur das Geringste zu erkennen. Schließlich nahm er eine langsame, für das Auge kaum wahrnehmbare Bewegung wahr. Jemand lauerte kaum mehr als zehn Schritte entfernt, auf der gegenüberliegenden Seite der schmalen Gasse.
Vorsichtig, um nicht das geringste Geräusch zu verursachen, richtete er sich auf die Knie auf und schleuderte den Dolch mit aller Kraft. Ein schriller Schrei, gefolgt von leisem Wimmern, tat ihm kund, dass die Waffe ihr Ziel nicht verfehlt hatte.
Toran nutzte die Überraschung des unsichtbaren Gegners dazu, um blitzschnell aufzuspringen und zu fliehen. Dabei brauchte er nicht erst lange zu überlegen, in welche Richtung er sich wenden sollte. Als zehnjähriger Junge war er einst aus der Hauptstadt Khesa nach Tharl gekommen. Seine restliche Kindheit und auch seine Jugendzeit hatte er hier verbracht. Wie kaum ein Anderer kannte er deshalb jeden Hinterhof und jeden Schlupfwinkel in der uralten, verschachtelt gebauten Stadt.
Bis zur nächsten Quergasse auf der rechten Seite waren lediglich ein Dutzend Schritte zurückzulegen. Wieselflink huschte er um die Ecke und bog in die Gasse ein. Leise überquerte er sie und sprang durch eine schmale Bresche in einer halb zerfallenen Mauer, die im Dunkeln auch aus der Nähe so gut wie nicht zu erkennen war. Erleichtert landete er in einem verwahrlosten Garten. Auf dessen gegenüberliegender Seite wusste er, gut hinter allerlei Gestrüpp verborgen, ein niedriges Loch in der Umfassungsmauer. Er hatte die Öffnung bereits vor vielen Jahren entdeckt, als er dort mit den Nachbarjungen Verstecken gespielt hatte.
Kaum hatte er die Mauer erreicht und lag unter einem niedrigen, in voller Blüte stehenden Strauch verborgen, als er eilige Schritte von der Gasse her vernahm. Aufgeregtes Getuschel verriet ihm, dass ihm nicht nur ein einzelner Mann gefolgt war. Die Blüten des Strauches dufteten honigsüß und reizten Toran zum Niesen. Krampfhaft verzog er das Gesicht und schnitt in der Dunkelheit allerlei Grimassen, um dem drängenden Niesreiz nicht nachgeben zu müssen. Das Bedürfnis zu niesen wurde schließlich so stark, dass er meinte, jeden Augenblick zerplatzen zu müssen. Seine Augen tränten und der Schweiß begann in Strömen über sein Gesicht zu rinnen, doch es gelang ihm, das Niesen zu unterdrücken.
Die Verfolger schienen sich in der Gasse häuslich einrichten zu wollen, denn es dauerte eine gute Weile, bis sie begannen, sich zögernd zu entfernen. Und erst lange, nachdem ihre Schritte in der Gasse verklungen waren, wagte Toran, sich zu bewegen. Merkwürdigerweise war der schreckliche Niesreiz wie weggeblasen, nachdem seine Verfolger endlich verschwunden waren.
Die Maueröffnung erwies sich, obwohl er kein Kind mehr war, immer noch als leidlich gut passierbar, so dass er sich beim Hindurchzwängen lediglich einige blutende Abschürfungen an den Schultern zuzog. Toran befand sich jetzt im Garten der alten Numia, der sich unmittelbar an ihr schmales, aus Bruchsteinen gemauertes Häuschen anschloss. Die gute Seele hantierte in ihrer ebenerdigen, lediglich durch die offene Feuerstelle erleuchtete Küche. So konnte er die Treppe erreichen, ohne dass Numia sein Kommen bemerkte.
In seiner bescheidenen Kammer fand Toran auch im Dunkeln das, wonach er suchte: Zur Rechten an der Wand hing sein schwerer Jagdbogen und der stets mit Pfeilen bestückte Köcher. Zur Linken hatte das Kurzschwert seinen Platz, das er sich sogleich auf den Rücken schnallte. Eine Umhängetasche, bereits fertig gepackt mit Vorräten für einen längeren Aufenthalt in den Bergen, stand neben seiner Lagerstatt auf dem Boden. Er hatte sie am Tag vorher gefüllt, da er geplant hatte, am nächsten Morgen auf die Jagd nach den scheuen Bergziegen des nahen Felsengebirges zu gehen. Und ehe er den Raum verließ, legte er noch seinen Gürtel mit dem Jagdmesser an und griff nach seinem warmen Schlaffell, denn die Nächte in den Bergen konnten empfindlich kalt werden.
Gelegentlich pflegte Toran den Wachen an der Stadtmauer einen Teil seiner Jagdbeute zu überlassen, wenn die Jagd gut gewesen war. Nicht zuletzt aus diesem Grund öffnete man ihm auch an diesem Abend sofort die kleine Pforte neben dem Stadttor, ohne ihn erst lange nach der Herkunft des frischen Blutes an seinen Händen und an seiner Kleidung zu fragen. So befand sich Toran kaum eine Stunde nach dem Vorfall bereits auf dem Weg, der ihn zum Felsengebirge bringen würde.
Dieser Schwindel erregend hohe Gebirgszug verläuft nördlich Tharls von der Ostküste Khesins quer über die Insel bis zu seiner Westküste. Diese Berge, deren Gipfel von ewigem Eis bedeckt sind, trennen die fruchtbare, dicht besiedelte Südhälfte Khesins von der wilden, unbewohnten Nordhälfte der Insel mit ihren nahezu undurchdringlichen Urwäldern, den Feuerbergen und den eisigen Gebirgslandschaften ganz im Norden.
Auf einer Waldlichtung, weit entfernt von der Stadt, öffnete Toran schließlich den kleinen Lederbeutel, den ihm Zadok überreicht hatte. Zwar spendete die noch schmale Sichel des Mondes kaum Licht, doch er erkannte den königlichen Siegelring auf den ersten Blick. Ein breiter silberner Reif trug einen runden Edelstein, der golden schimmerte wie die Augen der wilden Berglöwen. In den Stein hatte man die königlichen Insignien geschnitten: Das runde, unverkennbare Symbol der Sonne sowie Zepter und Schwert.
Es verhielt sich also tatsächlich so, wie er längst vermutet hatte: König Thar benötigte dringend seine Dienste. Dabei musste es sich um einen außerordentlich wichtigen Auftrag handeln, denn sonst hätte ihm der König nicht diesen Ring überbringen lassen.
Von Tharl in die Hauptstadt Khesa zum Sitz des Königs waren es lediglich vier bequeme Tagereisen zu Fuß. Doch was sollte er in der Zwischenzeit dort tun, bis der König wieder in seinem Palast weilte? Und möglicherweise würde sich in der Hauptstadt wieder das Mordgesindel, dem er für den Augenblick entkommen war, an seine Fersen heften. Was nur mochte der König von ihm wollen, das so wichtig war, dass man seinen Boten ermordet hatte und anschließend versucht hatte, auch ihn, Toran, zu töten?
Er selbst hatte den größten Teil seiner Kindheit im Königspalast verbracht, als Sohn Palodors, des königlichen Schwertmeisters und seiner bezaubernden Ehefrau Aisha. Doch eines Tages war Palodor ermordet worden.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Anton Heinzinger
Bildmaterialien: Covergestaltung: T. Anzinger, Coverbilder: foaxon - Fotolia.com, dimitarchowski - Fotolia.com
Tag der Veröffentlichung: 08.06.2013
ISBN: 978-3-7309-3156-1
Alle Rechte vorbehalten