Zunächst sah ich nur einen Helm, der sich schemenhaft aus dem milchigen Weiß abzeichnete. Sofort drückte ich meinen Karabiner fester gegen mein Gesicht und zielte über Kimme und Korn. Ein undurchdringlicher Nebel lag auf dem Kornfeld vor mir und tauchte die Landschaft in einen farblosen, stillen und doch bedrohlichen Dunst. Ich lag in einem Loch an vorderster Front. Meine Zähne klapperten und meine Hände zitterten erbärmlich. Schweiß rann mir von der Stirn unter dem Stahlhelm bis in die Augen. Ich spürte jämmerliche Angst, ich hätte mich auf der Stelle übergeben können.
Es durften auf keinen Fall mehr Helme werden. Meine Lippen flehten zitternd und lautlos diese Worte: Nicht mehr Helme. Doch dann sah ich den zweiten Helm. Ganz deutlich, da war ein zweiter Helm. Jeder Helm mehr hieß hier und heute zu sterben. Und jemand wie Gott musste mein Flehen erhört haben, denn es blieb bei den zwei. Zwei Helme hieß zwei zu eins. Ich hatte eine realistische Chance zu überleben.
Eine Stunde später hätte man mich abgelöst. Ich wäre für den Rest des Tages nach hinten gegangen. Ich hatte schon gehört, es sollte Ochsenschwanzsuppe geben, die erste warme Mahlzeit seit Tagen. Doch jetzt war ich hier. Ich lag allein in meinem Loch und überlegte, ob ich auf diese Helme schießen würde. Ich drehte mich nach meinen Kameraden um. Nichts. Vermutlich saßen sie im Bunker und tranken ihren Morgenkaffee. Der Morgenkaffee war also schuld, wenn ich heute sterben würde, dachte ich. Dann zwang ich mich, nicht mehr zu denken. Ich starrte auf das Feld vor mir, konzentrierte mich, sah nur diese beiden Helme, keine Gesichter. Sollte ich schießen? Sollte ich warten? Was würde passieren, wenn ich schoss? Was würde passieren, wenn ich nicht schoss?
Eben noch waren mir ganz andere Gedanken durch den Kopf gegangen. Eben noch schien mir der Morgen wunderbar klar und friedlich. Tagelang hatten wir den Feind nicht zu Gesicht bekommen. Nichts sprach dafür, dass ich heute sterben und dass dies mein letzter Morgen sein sollte. Das Morgenlicht kündigte den Tag immer früher an. Der Frühling kam und jeder spürte, dass der Winter vorbei war. Ich würde vielleicht bald nach Hause kommen. An unserer Front war jedenfalls nichts los. Und der Krieg war auch nicht mehr zu gewinnen. Doch nun diese verdammten Helme.
Beide Helme waren jetzt auf 200 Meter an mich herangekommen. Sie hatten jetzt auch Körper. Angstschwitzende Körper von Soldaten, die bereit waren zu töten und zu sterben. Sie liefen geduckt und in hastigen Schritten, immer wieder abwartend und sich gegenseitig Deckung gebend. Dabei liefen sie mal nach links und dann wieder nach rechts. Ich fragte mich, ob diese beiden Pechvögel sich am Ende nur verlaufen hatten. War es möglich, dass sie einfach wieder umkehrten? Ich hoffte jede Sekunde lang, sie würden bemerken, wie nah sie ihrem Tod waren, wenn sie sich auch nur wenige Meter weiter in meine Richtung bewegten. Sie sollten doch wissen, dass wir hier liegen. Wir lagen hier schon seit Wochen. Gräben, Panzerabwehrgeschütze, Maschinengewehre, Bunker und Funkstellen. Wie war es möglich, dass sie das nicht mitbekommen hatten? Bei all ihrer Überlegenheit ihrer Aufklärungsflieger, die uns jeden Tag umkreisten und jeden einzelnen von uns unter Feuer nahmen, wenn der auch nur die Nasenspitze aus dem Dreck streckte.
Jetzt waren es nur noch 100 Meter. Ich hielt meinen Karabiner fest auf die anrückenden Gestalten. Den Finger am Abzug. Ich war mir sicher, dass sie mich nicht ausmachen konnten. Ich lag lang ausgestreckt in einem gut getarnten Loch. Sie würden mich erst erkennen, wenn sie unmittelbar vor mir standen. Eigenartig, dachte ich, dieser auffällige Größenunterschied zwischen den beiden Männern. Der eine war ein kleiner Mann, der andere ein bulliger Riese. Das war fast lächerlich. Ich überlegte sofort: Der Kleine war wendig und schwer zu treffen, der Große schwerfällig und ein leichtes Ziel. Ich sollte besser in Ruhe zielen und den ersten Schuss auf Kleinen abgeben. Dann würde ich mir den Größeren vornehmen. Aber würde ich überhaupt schießen? Ich hatte noch niemals geschossen. Es hatte sich bisher nicht so ergeben. Vielleicht waren diese beiden auch nicht allein. Möglicherweise lag da eine ganze Armee im Nebel. Ein Schuss würde ihnen nur meine Position verraten. Der Krieg war nicht zu gewinnen mit diesem Schuss. Ich hoffte, dass ich nicht schießen musste.
75 Meter. Jetzt konnte ich ihre Gesichter genauer erkennen. Grau. Angespannt. Entschlossen. Die automatischen Gewehre im Anschlag. Ich hörte den Atem und das bedrohliche Klirren ihres Kochgeschirrs und der Munition in ihren Taschen. Der Kleinere von den beiden lief vorweg, der Große hinterher. Sie würde jeden Augenblick links von mir auf die Gräben mit meinen eigenen Leuten stoßen. Doch dort rührte sich nichts. Ich war scheinbar der Einzige hier draußen, der überhaupt merkte, dass wir angegriffen wurden. Ich verfluchte diese ganze Bande. Die haben sich sicher nach hinten verdrückt. Tratschten und qualmten ein paar Zigaretten mit den Leuten von der Flak. Die sind gegangen, ohne mir Bescheid zu geben. Warum auch? Einen Offizier hatte ich hier schon seit Tagen nicht mehr gesehen. Den Letzten hat es gleich an seinem ersten Tag mit einem Kopfschuss erwischt. Was muss er auch immer so laut rumschreien? Die Scharfschützen der Amerikaner sind nicht taub und auch nicht dumm. Was war das nur für ein Krieg? Jeder kämpfte und starb für sich allein. Wenn nicht heute, dann mit Sicherheit bei der nächsten Gelegenheit.
Der kleinere Amerikaner stoppte am Deckungsgraben vor mir. Wurde ihm jetzt bewusst, dass er einen verhängnisvollen Fehler gemacht hatte? Geh nicht weiter, sagte ich zu mir. Geh einfach zurück, dahin wo du hergekommen bist. Einfach nur zurückgehen. Denk an deine Familie, die dich wieder sehen will. Deine Mutter, dein Vater, deine Frau, wenn du eine hast. Und wenn nicht, denk an die, die du noch nicht hast, aber haben wirst. Wenn du jetzt nicht schaltest und nachdenkst, wirst du mit großer Sicherheit nie eine haben. Spürst du denn nicht, dass ich hier bin? Dass ich, dein Ende, hier auf dich lauert? Misstrauisch blickte der kleine Soldat den Graben ab und machte dem zweiten Mann ein Zeichen. Dann ging er in die Hocke. Seine verkniffenen Augen suchten angespannt die Umgebung ab.
Ich überlegte, wie viele Patronen ich im Magazin hatte. Ich konnte mich einfach nicht erinnern, ob ich das Magazin nun geladen hatte oder nicht. Ich hoffte, ich hätte wenigsten noch einen Schuss. Jetzt das Gewehr zu laden, wäre mit Sicherheit gefährlich, wenn nicht gar tödlich. Die Augen des Kleinen fuhren den Graben entlang, immer näher auf mich zu. Wenn er mich erblickte, würde er sofort in Deckung springen und ich könnte ihn nicht mehr erwischen. Er würde Alarm geben. Er könnte meine Position an die Granatwerfer weitergeben und die würden mich innerhalb von Minuten aus meinem Deckungsloch sprengen. Tun konnte ich dagegen nichts. Ich wäre geliefert. Ich wäre tot. Sie würden mich zerfetzen, und wenn ich weg lief, würden mich ihre Maschinengewehre, die es da mit Sicherheit irgendwo in diesem Nebel gab, in einzelne Teile zerlegen. Wo blieben nur meine Kameraden? Ein ungezielter Feuerstoß von ihrer Seite würde den Amerikaner da vorn verscheuchen. Er würde sich zurückziehen. Doch es tat sich nichts. Und der Amerikaner war aufs Töten aus. Der Hass trieb ihn an, sein Wunsch ein Held zu sein, war bis zu mir zu spüren. Wie ein Raubtier witterte er mich, seinen Feind in allernächster Nähe. Ich hielt den Atem an. Lag da wie tot. Hoffte und versuchte mein Zittern in den Griff bekommen. Über kurz oder lang musste er mich sehen. Ich war kein Korn, auch wenn ich so aussah. Ich war kein Baum, auch wenn ich es mir so sehr wünschte. Ich wollte nur Erde sein, verschmolz mit dem Boden unter mir und sank tief hinein. Niemand würde mich sehen. Ich war nicht zu sehen. Ich war gar nicht mehr da. Doch trotzdem. Zentimeter für Zentimeter schwenkte der Amerikaner seinen messerscharfen Blick heran an meine Position. Er verharrte plötzlich. Hatte er mich gesehen? Oder sah er über mich hinweg? Irgendetwas hatte ihn alarmiert. Sein Gefühl? Sein Instinkt? Ich spürte seine Anspannung. Wieder eine fast unmerkliche Kopfdrehung in meine Richtung. Ich hatte dass Gefühl, er sähe mir direkt in die Augen. Er würde jeden Augenblick rufen, sich ducken, sein Gewehr ansetzen, zielen …
Ich schoss. Das heißt, eigentlich kann ich mich nicht daran erinnern, geschossen zu haben. Möglicherweise ist das Gewehr auch von allein losgegangen, weil meine Finger so zitterten. Der Amerikaner jedenfalls schaute erschrocken und verwirrt. Er hielt sich die Hand an den Hals, schaute wieder zu mir rüber. Ich hatte ihn also am Hals erwischt. Ich schoss ein zweites Mal. Diesmal bewusst. Nun war es egal. Ich war mir jedoch nicht sicher, ob ich ihn getroffen hatte. Dann sah ich, wie er fiel und hörte sein entsetztes Jammern und Hilfeschreien.
Dann ging alles schnell. Der Große stürzte zu ihm. Ich nahm ihn ebenso ins Visier. Er war wirklich ein wahrer Koloss. Es schien, als könne er den kleinen Mann mit einem Arm auf seine Schulter werfen. Ich wartete, bis er den Verletzen geschulterte hatte. Es war fast unmöglich, ihn zu verfehlen, als er mir seinen breiten Rücken anbot. Das Geschoss schlug von hinten erbarmungslos durch beide Körper. Ich konnte sehen, wie die Kugel noch vorn aus dem Bauch wieder austrat. Ein glatter Durchschuss. Ungeachtet seiner Verwundung bewegte sich der große Mann mit aller Entschlossenheit Schritt für Schritt vorwärts. Er war auf dem Weg, ein Held zu werden. Mit allem, was er war und je sein würde, lief er mit seinem verletzen Kameraden auf der Schulter einer imaginären und nicht erreichbaren Ziellinie zu. Der zweite Schuss traf ihn in die Hüfte. Dies hatte die irrwitzige Wirkung, dass er sein rechtes Bein hinter sich herzog, während der Rest seines Körpers immer noch zu laufen schien. Der nächste Schuss traf wieder seinen Körper und riss ihm dabei auch das Gewehr aus der Hand. Noch stand er. Er war stehen geblieben und sah zurück auf sein Gewehr im Sand. Sein Gewehr würde ein Soldat niemals aufgeben. Niemals, das hatte man ihm antrainiert, wie einem Hund. Noch nun lag es neben ihm im Feld, und er war nicht in der Lage, es an sich zu nehmen. Jetzt setzte der Riese den Verletzten vorsichtig ab, streifte sich den Helm ab und warf ihn wütend von sich auf den Boden. Dabei grölte und schrie er laut. Sein Brüllen erinnerte mich an einen Stier im Stierkampf, der erkennt, dass das Spiel niemals fair war. Niemals würde die jubelnde Menge ihn leben lassen. Egal, wie gut er kämpfte und wem er noch seine Hörner in den Leib spießte. Am Ende war sein Tod immer beschlossene Sache.
Langsam und unaufhaltsam sank der Stier auf die Knie. Keine Kraft und kein Wille der Welt konnte ihn mehr auf den Beinen halten. Er war bereit für das Ende. Ein weiterer Schuss traf ihn mitten in der Brust. Der Soldat sackte langsam nach vorwärts um. Ich lud nach und wartete. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich wartete und auf was ich wartete. Ich rechnete damit, dass weitere Helme aus dem Nebel auftauchten oder sich irgendwas anderes tat. Doch es tat sich nichts. Es brauchte eine erstaunlich lange Zeit, bis mir klar wurde, dass ich überlebt hatte. Vorsichtig hob ich meinen Kopf aus der Deckung und sah mich um. Meine Schüsse hatten niemanden alarmiert. Ich war immer noch allein. Von meinen Kameraden war nichts zu sehen oder zu hören. Hatten sie überhaupt mitbekommen, was passiert war? Ich hätte ebenso mausetot hier liegen können, wie die beiden Amerikaner vor mir. Scheinbar war das hier mein Krieg. Ihr Krieg fand woanders statt.
Ich stand auf und schritt vorsichtig nach vorn zu den Amerikanern. Mein Gewehr immer noch im Anschlag, achtete ich auf jede Regung im Nebel. Schritt für Schritt ging ich vorwärts. Meine Bewegungen waren so langsam, dass ich Minuten brauchte, die paar Metern zurückzulegen. Jeden Augenblick fürchtete ich weitere Helme. Fast spürte ich schon, wie die Kugel des Feindes meine Brust durchschlug, doch es war nur mein Herz, das wie irrinnig pochte.
Erst traf ich auf den kleineren Soldaten. Er lag eigenartig verrenkt da. Ich wusste beim ersten Blick, dass er tot war. Ein paar Schritte weiter fand ich den Riesen. Er war in ein Loch gefallen und lag auf dem Rücken. Sein Blick ging in den Himmel. Als ich näher kam, sah ich, dass seine Lippen sich bewegten. Was immer er auch sprach, mir schien es, als würde er immer noch fluchen. Erst als ich über ihm war, bemerkte er mich und schwieg dann. Seine Augen waren jetzt ruhig. Nur auf mich gerichtet. In diesem Augenblick verstanden wir beide, dass er sterben würde. Und das beschämte mich. Ich wusste nicht, was ich für ihn tun konnte. Ich war nur ein Deutscher und würde nichts von dem verstehen, was er in seinem Leben noch zu sagen hätte.
Ich setze mich zu ihm. Er sah weiter ausdruckslos vor sich hin. Blut lief ihm aus dem Mund und bildete Blasen am Rand. In seiner Brust röchelte es bei jedem Atemzug. Plötzlich war es so ruhig geworden auf dem Kornfeld. Das Geräusch des Windes, der durch die Kornähren fuhr, war verschwunden. Es war nur noch dieses Röcheln zu hören. In meinen Ohren wurde es nahezu unerträglich laut. Ich blickte über ihn hinweg. Der Nebel schien dichter zu werden. Aber keine Helme. Wir waren allein hier draußen. Wie ein Vorhang verhüllte das milchige Weiß die Szene vor fremden Blicken.
Ich setze mich zu ihm und legte mein Gewehr ab. In seinen Augen sah ich keine Angst mehr, eher eine Frage. Dann nahm ich mein Taschentuch aus der Hose und drückte es auf das schwarzgeränderte kleine Austrittsloch am vorderen Teil seiner Uniform, aus dem Blut im Rhythmus seines immer noch schlagenden Herzens strömte. Ich drückte mein Tuch auf die Wunde, bis es völlig blutgetränkt war. Er quittierte dies wortlos und still mit aufrichtiger Dankbarkeit. Er griff nach meiner Hand, und ich spürte seine schon kalte Haut auf der meinen. In meiner Erinnerung schienen diese Minuten nie zu vergehen. Ich vergaß sogar Luft zu holen.
Dann tat er seinen letzten Atemzug. Ich hielt seine Hand noch eine Weile. In diesem Augenblick wünschte ich so sehr, ich könnte etwas ungeschehen machen. Ich war bereit, mein Leben dafür zu geben, so wie niemals zuvor und niemals danach. Tränen liefen mir über die Wangen, ohne dass ich es spürte. Dann legte ich seine Hand auf seine Brust und schloss seine Augen.
Tag der Veröffentlichung: 20.02.2011
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Widmung:
In Gedenken an die Toten ungezählter Kriege