Jekaterinburg
Das einschläfernde auf - und abschwellende Rat-tatak-rat-tatak der Räder auf den Schienen begleitet uns jetzt schon seit Tagen, allmählich hört man es kaum noch. Verschlafene Holzhausdörfer, tauchen dann und wann entlang des Bahndamms auf, begleiten uns ein Stück, bleiben zurück. Viele Häuser sind baufällig, der Anstrich der Außenfronten ist verblichen, die Dächer windschief, verwitterte graue Zäune schützen verwilderte Gärten. Inmitten vorüber ziehender kleiner Wälder tauchen bunt umzäunte, mit Blumen geschmückte Friedhöfe auf; dann wieder breiten sich Ackerflächen aus, Wiesen und Steppen, so weit das Auge reicht. Seltener sieht man Vieh, Kühe, Schafe. Manchmal begegnen uns nicht enden wollende, mit Holzstämmen beladene Güterzüge.
Nach dem reichlichen Mittagsmahl, es gab Reis, eine scharfe Soße, Hühnerfleisch und frischen Salat, sitze ich noch bei einem Kaffee im hellen, goldbraun getäfelten Speisewagen des Zuges, über mir spenden helle Dachfenster Licht, ich büffele ein wenig Russisch. Die einzelnen, weiß gedeckten Tische sind mit dunklen schmiedeeisernen Gittern voneinander getrennt, die Luft ist hier, im Gegensatz zu meinem Abteil, angenehm kühl. Ich achte nicht auf die vorüber gleitende Landschaft, auf die endlosen, manchmal mit Kiefern und Fichten durchsetzten Birkenwälder, an ihnen hat man sich irgendwann einmal satt gesehen. Der Speisewagen des ‚Zarengold’ ist fast leer, junge adrett gekleidete Kellnerinnen räumen auf, rauchen am halboffenen Fenster neben dem Buffet, unterhalten sich lachend. Ich lerne weiter.
Danke - ßpaßibo
Wie spät ist es - kotoryj tschaß?
Gute Nacht - spakajnoj notschi!
Die Zwischentür zum Nachbarwagen öffnet sich und jede Menge Leute drängeln aufgeregt redend herein. Die meisten im sportlichen Outfit, will besagen im Haus - oder Trainingsanzug, diese Kleidung hat sich nach einigen Reisetagen sehr schnell durchgesetzt.
» Vnimanie zdes on prikhodit, on dolzhen poyavit sya v pravom - Gleich kommt er! Rechts muss er auftauchen!«
Überrascht schaue ich von meinem Vokabelbuch auf. Wer kommt und muss rechts auftauchen? Dann macht es bei mir ‚klick’. Ach ja, heute nähern wir uns der Grenze zwischen Europa und Asien, da gibt es diese berühmte Spitzsäule bei Kilometer 1.770 oder so. Rasch trete ich zu den Leuten ans Fenster, um auch einen Blick auf den Steinpfeiler zu erhaschen.
»Achtung - dort ist er!»
Jetzt sehe ich den Obelisk etwa zehn Meter neben den Gleisen auftauchen, allseitiges heftiges Hantieren mit den gezückten Kameras, dann gleitet die nicht gerade besonders ansehnliche, ehemals weiße, viereckige, oben zugespitzte Säule vorbei und verschwindet rasch aus unserer Sicht. Ich bin in Asien! Vierzig Kilometer weiter treffen wir gegen Abend in Jekaterinburg, dem früheren Sverdlovsk, ein. Jekaterinburg, im weiten Tal der Isset gelegen, ist die viertgrößte Stadt Russlands.
Der Bahnhof in Jekaterinburg wirkt nüchtern, repräsentativ, das Cafe am Bahnhof hat vierundzwanzig Stunden am Tag offen. Kein Wunder, liegt der Bahnhof doch an der Transsib Strecke. Am Hauptbahnhof ist immer noch der Schriftzug ‚Sverdlovsk’ zu lesen. Trotz der späten Stunde herrscht hier noch reger Verkehr. Helle Lampen beleuchten den Vorplatz, auf dem zahlreiche Wagen parken, viele mit Rechtslenkung, da gebrauchte Japaner offenbar billig zu haben sind. Die den Zug hier verlassende, freundliche, blonde Schaffnerin ist auf einmal in Zivil und mit Kriegsbemalung kaum wieder zu erkennen, sie wird hier von einer Kollegin abgelöst.
Ich hole Simon ab und wir betreten die Bar. In dem nicht zu großen Raum stehen hinter dem Tresen etliche Regale mit jeder Menge hochprozentiger Getränke. An einer Wand hängen einige metallene Embleme und Wappen, angebracht auf runden Holztellern; da ich mich kulturell auf diese Reise vorbereitet habe, erkenne ich darauf die Städte Kiew, Nowgorod und Smolensk, dargestellt jeweils unter Beifügung der Monomachoskappe. Daneben das Wappen Russlands mit Doppeladler und Brustschild. Ganz am Rand befindet sich ein Bild von Grigori Alexandrowitsch Potemkin, dem Vertrauten und Liebhaber der Zarin Katharina der Großen (die ihm nachgesagten Potemkinschen Dörfer sind wohl eher eine Legende). Dann folgt rechter Hand eine Wand mit einem großen offenen Kamin, in dem ein behagliches Feuer prasselt. Vor der Fensterwand gruppieren sich einige Tische mit bequemen Sesseln.
Aber nur der zur Bar nächste Tisch ist voll besetzt – natürlich mit Leuten unserer Reisegesellschaft. An einem weiteren Tisch sitzen eine blonde, gut aussehende Dame mittleren Alters, die eine Zigarette mit Zigarettenspitze raucht, und ein älterer, hagerer Mann, der anscheinend gelangweilt die lärmenden Ausländer am vollbesetzten Nebentisch beobachtet. Ansonsten ist die Bar leer.
Während sich Simon der lachenden und singenden Gruppe unserer Reisegesellschaft anschließt, setze ich mich an den Tresen. Ich bestelle einen Wodka, wozu der Barkeepers auf Deutsch freundlich grinsend bemerkt:
»Was darf es denn sein? Ich habe da von Altai bis Sibirskaya 45 ein reichhaltiges Angebot.«
Ich beginne mal mit A wie Altai und danach setze ich mit B wie Baikal fort. Als ich dieses Glas leere, stellt mir der Barkeeper ohne zu fragen ein weiteres Glas hin, zuckt mit den Achseln und murmelt entschultigend:
»Chopin, ist aber aus Polen."
Der ist ja gut!
Die Reisegesellschaft singt inzwischen aus vollem Hals das Branntweinlied aus der Operette Adrienne. Da ich inzwischen bei H wie Hrenovuha angelangt bin, lasse ich es mir nicht nehmen mit einzustimmen:
»Meine Tante wohnt im russischen Reich, die große Katharina
An Macht kommt keine Fürstin ihr gleich, der großen Katharina
Es schmeckt der Branntwein in jedem Land fein,
ob an der Wolga, Düna, Njemen!
Mit Branntwein ist es wie mit Mann, man muss davon so dann und wann eine kleine Probe nehmen…«
Hier folgt begeistertes Kreischen der Damen am voll besetzten Tisch der Transsib Reisenden. Zwischendurch erzählt mir der Barkeeper russische Witze. Den vom sibirischen Klo und noch andere. Eine Frau überfährt ein Rotlicht. Der Verkehrspolizist stoppt sie und fragt, ob sie nicht gesehen habe, dass er ihr gewunken habe? Sie darauf, „ich habe es schon gesehen, aber ich bin verheiratet.“ Naja.
Habe ich mich bisher meinem leichten, dachte ich zumindest, entspannenden Rausch hingegeben, die Leute beobachtet, bekannte Lieder mitgesungen und mich mit Gary unterhalten, bemerke ich, dass die attraktive blonde Frau mit der Zigarettenspitze neben mir Platz genommen hat. Hübsches slawisches Gesicht, graublaue Augen und eine leicht konkave Nase, deren Spitze sich keck nach oben streckt. Ich versuche zu verstehen, was sie sagt und schaue dabei zwecks vermehrter Konzentration auf eine Christusskulptur in einem der Regale.
»Hallo, Jesus?«, fragt sie mit spöttischem Lächeln.
»Nein, Peer ist mein Name, nicht Jesus.«, antworte ich abwesend mit schwerer Zunge.
Ich mache Gary eine großzügige, umfassende Geste: »Schreib' alles auf mein Zimmer.« Den letzten Versuch von Gary, mich zu animieren das Wolgalied weiter mitzusingen, lehne ich ab, obwohl er sich große Mühe gibt. Vorsichtig klettere ich von meinem Hocker und verlasse in betont gerader Haltung die Bar. Auf der Treppe erwischt es mich dann beinahe, aber da ist auf einmal die blonde Schönheit bei mir, fasst meinen Arm und bewahrt mich vor einem Sturz. Ich versuche verzweifelt meine russischen Sprachkrumen zu aktivieren, was sagt sie - was kann sie für mich tun? Sie will mir helfen? Ich muss ein sehr einfältiges Gesicht gemacht haben, denn sie beginnt laut zu lachen. Irgendwie dämmert es mir nicht, was sie gemeint haben könnte. Wir sind inzwischen vor meinem Zimmer angekommen und ich überlege angestrengt, ob Gary etwas falsch verstanden hat, oder ob ich Anlass gegeben habe, dass er etwas falsch versteht.
»Wie heißt du?«
»Natascha.«
»Gute Nacht, Natascha, Natalie, spakajnoj notschi.«
Ich verstehe ihr erneutes Lachen nicht. In meinem Zimmer entkleide ich mich konzentriert, falte sorgfältig Hemd und Unterwäsche zusammen und lege sie auf das aufgeschlagene Bett, Dann erlebe ich einen überaus angenehmen, erfüllenden Traum. Ich bin fast eingeschlafen, als eine zarte Hand mir über das Haar, mein Gesicht, Brust und den ganzen Körper fährt. Warme Lippen drücken sich zart auf meinen Mund. Ein Bein schlingt sich um meine Schenkel und eine sanfte, dunkle Stimme flüstert:
»Entspanne dich … «
Die illustre Sängergemeinschaft von gestern frühstückt bereits. Ich setze mich ganz für mich an einen freien Tisch.
»Einen doppelten Wodka bitte.«
Die Bedienung verzieht keine Miene und bringt das Gewünschte. Am Nebentisch wird getuschelt und gekichert.
»Der ist doch gestern mit der blonden Russin verschwunden, wie hieß sie doch gleich?«
Ich wende mich mit ausdruckslosem Gesicht, soweit mir das am frühen Morgen möglich ist, dem Nachbartisch zu.
»Sie heißt Natascha.«
Ein weißhaariger Mann, ich glaube sein Name ist Paulsen, Paulsen aus Flensburg, meint noch mit Blick auf meinen Wodka:
»Man soll morgens wieder mit dem anfangen, mit dem man abends aufgehört hat.«
Er meint wohl den Wodka. Ohne mich weiter um meine Reisegenossen zu kümmern vertilge ich ein deftiges Frühstück, dank Wodka.
Am späten Vormittag, ich werde vom Weckdienst brutal aus tiefstem Schlaf gerissen, findet eine Stadtrundfahrtstatt, die ich sanft schlummernd über mich ergehen lasse. Mitbekommen habe ich, dass die Blutkirche an dem Ort errichtet wurde, an dem man die Zarenfamilie ermordete. Nach Moskau, Sankt Petersburg und Nowosibirsk ist Jekaterinburg die viertgrößte Stadt Russlands. Sie ist die zweitwichtigste Industriemetropole des Urals. Hier in der Nähe gibt es eine Kathedrale, in welcher Grigori Jefimowitsch Rasputin einstmals Mönch war.
Übrigens gab ein Revolutionär namens Jakob Swerdlow, später war er russischer Präsident und nach ihm wurde Jekaterinburg eine Zeitlang Swerdlowsk genannt, den Befehl zur Ermordung der Zarenfamilie. Meine Fahrt wird jetzt etwas einsamer werden. Simon, der schweizerische Mitbewohner meines Wagenabteils, musste hier in Jekaterinburg den Zug verlassen und wurde in ein Krankenhaus eingeliefert. Ich erfahre nur, dass er etwas mit dem Kreislauf hat. Zwar haben wir keine großen Kontakte geknüpft, aber man konnte sich doch zumindest über Mitreisende, Kellnerinnen, Zustand der Duschen und die kommenden Fahrtziele unterhalten.
Nun ist das gegenüberliegende Bett leer, die Kissen sind spitzkegelig auf der bunten Decke drapiert. Beim Fenster daneben ist der dunkelrote Vorhang fast ganz zugezogen, auf dem Tischchen über der Heizung steht eine schlichte blaue Vase mit den täglich frischen Blumen, heute sind es rote Nelken. Zumindest kann ich jetzt ohne zu fragen wählen, ob ich Musik hören möchte oder nicht. Durch das Fenster ist eine flache Landschaft mit wenigen Hügeln zu sehen. Tümpel und Pfützen stehen auf den Weideflächen. Der Zug hält oft für einige Minuten an größeren Bahnhöfen und hier warten meist ältere weibliche Einheimische, Babuschkas, Mütterchen, die den Reisenden Gartenprodukte, gebratenes Fleisch, getrockneten Fisch, Bier und Joghurt für die Weiterreise anbieten. Oft fährt der Zug die Nacht durch, um Kilometer zu machen und hält tagsüber für Stadtbesichtigungen oder kleinere Einkäufe.
Vorüber fliegt die russische Taiga, dann wieder herrschen Wälder aus Tannen, Fichten, Lärchen und immer wieder schwarzweißen Birken vor. Der Sommer neigt sich dem Herbst entgegen und die niedrigen jetzt hauptsächlich mit Lärchen bewaldeten Hügel beginnen in Gelb zu leuchten. Manchmal galoppieren jugendliche Reiter eine kurze Zeit neben der Transsib her, winken und johlen. Regelmäßig klopft die neue Schaffnerin an und fragt nach meinen Wünschen, ob ich einen Kaffee oder Tee möchte. Auch ist der Samowar mit heißem Wasser für heiße Getränke in jedem Wagen ständig in Betrieb, so dass man sich ohne Weiteres selbst ein Getränk brauen kann.
Tjumen - nach Tjumen beginnt die Tundra, Omsk, dann Novosibirsk mit dem ausgelobt schönsten Bahnhof der
Strecke. In Nowosibirsk wurde an der engsten Stelle des Ob für die Transsib eine siebenhundert Meter lange Brücke
errichtet. Ich erinnere mich auch an eine lange Stahlgitterbrücke über den Jenissei bei Krasnojarsk, die war fast
einen Kilometer lang.
Verhaftung
Der Zug fährt an und in einer kleinen Kurve werde ich unsanft gegen die Zwischentür gedrückt. Ich halte mich am Türgriff fest, Sekunden später geht es wieder geradeaus. Schon beim Betreten des Ganges sehe ich, dass die Tür zu meiner Kabine einen Spalt offen steht. Davor steht die Zugschaffnerin, die sich schnell abwendet, als sie mich sieht. Sie eilt zur Tür am anderen Ende des Wagons und zieht diese hinter sich zu. Das macht mich stutzig. Meine Abteiltür war abgeschlossen, als ich gegangen bin, da bin ich mir ganz sicher. Als ich die Tür zu meiner Kabine öffne, stehe ich vor zwei Männern, denen der Schriftzug Geheimpolizei auf der Stirn geschrieben scheint. Ein dicker, schnauzbärtiger Mann ist gerade dabei die Betten zu durchwühlen. Was ist hier los? Der zweite Mann, ein langer, aber kräftiger Mensch mit kurz geschorenem, grauem Haar und einem früher mal gebrochenem Nasenbein, zieht mich weiter in das Abteil, schubst mich gegen das Tischchen am Fenster, die Vase kippt um. Barsch herrscht er mich an:
»Pokazhite nam vash ID!«
Er will wohl meinen Pass sehen. Als ich mich zu meiner Bettstelle drehen will, werde ich grob festgehalten. »Stop!«
Verwundert frage ich:
»Was soll das, mein Pass ist in meiner Tasche, ich will ihn nur heraus nehmen."
»Ist das deine Tasche?«, er zeigt auf Simons verlassenes Bett.
Ich schaue zu der Tasche, die auf dem leeren Bett liegt. Diese Tasche ist mir völlig unbekannt.
»Nein, meine Tasche ist größer und blau, diese braune Tasche habe ich noch nie gesehen!«
»Und wo ist deine Tasche?«
Ich zeige unter mein Bett. Die Tagesdecke wird hochgerissen, aber da unten ist keine Tasche. Ich beginne zu
schwitzen. Was zum Teufel ist hier los? Die braune Tasche wird umgekippt, und unter einer Lage Pullover, Hemden und
alter Wäsche kommen jede Menge Plastiktütchen zum Vorschein, die ein weißgelbes Pulver enthalten. Mit einem Mal
beginne ich das Ausmaß meines Problems zu erkennen und mir wird flau in der Magengegend.
»Wie heißt du?«
»Mein Name ist Frank, Peer Frank aus Deutschland, ich habe hier in der Transsib nach Wladiwostok
gebucht! Und das ist nicht meine Tasche, diese Tasche wurde mir untergeschoben!«
»Zeig mir deinen Pass!«
»Der ist in meiner blauen Tasche, und die ist gestohlen worden, wie es aussieht!«
»Wo ist dein Ticket?«
»Auch in der blauen Tasche!«
Die beiden haben die braune Tasche offenbar schon vor meiner Ankunft genauer durchsucht und wissen genau, wo
da drin Papiere zu finden sind. Ein abgewetzter Ausweis mit undefinierbarem, zerknittertem Foto wird mir unter die
Nase gehalten:
» Peer Frank aus Deutschland, bist du also, so! Und was steht
hier für ein Name? Da steht nicht Frank, da steht Blinow, Russlanddeutscher aus dem Oblast Nowosibirsk!«
Ich protestiere aufgeregt und lautstark.
«Frag doch die Wagenschaffnerin, die war doch eben noch hier!«
Aber darauf gehen die beiden Männer nicht ein und die Schaffnerin bleibt auch weiterhin spurlos verschwunden.
Der Mann mit dem kurz geschnittenen Haar schaut mich kalt an und macht eine abschließende Handbewegung.
»Das werden wir umgehend klären, aber erst einmal kommst du mit.«
Alle Einwände sind vergeblich und beim nächsten kurzen Halt, ich glaube es war Bolotnaja, werde ich gegen meinen
erbitterten Widerstand energisch aus dem Abteil und anschließend aus dem Zug befördert. Als ich mich weiter
wehre, bekomme ich mehrere Schläge mit einem Gummiknüppel über gebraten. Der dicke Mann mit dem
Gummiknüppel telefoniert und nach einer guten Stunde kommt ein Polizeiauto, ich denke mir zumindest, dass es
eines ist, und man stößt mich brutal da hinein. Der Schreck sitzt mir in allen Gliedern, ich bin auf einmal wie gelähmt.
Niemand im Zug hat meine ‚Entführung’ wohl als solche wahrgenommen.
Ich bin mit zwei Zivilisten ausgestiegen, hatte eine Auseinandersetzung mit ihnen und der Zug ist weitergefahren. Die
Mitreisenden werden annehmen, dass ich, Herr Frank, wohl den Zug verpasst habe. Falls man es überhaupt
wahrgenommen hat.
Ausbruch
Langsam versucht mein Gehirn eine plausible Erklärung für den Vorgang zu finden. Ein Krimineller und Dealer namens Blinow hat bemerkt, dass beim letzten Bahnhof Polizisten zugestiegen sind, hat rein zufällig meine Kabine gewählt, aufgebrochen und die Taschen vertauscht. Oder steckt die Wagenbegleiterin mit diesem Blinow unter einer Decke? Und als eine plötzliche Kontrolle gemacht wurde, dachte sie an mein Abteil, dass mittlerweile nur noch von mir bewohnt wurde? Die beiden konnten die für Blinow gefährliche Tasche auf Simons Bett gestellt haben und Blinow saß derweil im Abteil der Schaffnerin? Oder auf dem Klo. Und sie hat den Kontrollierenden einen Hinweis auf meine Kabine gegeben? Oder sie war überrascht worden, als sie die Kabine verlassen wollte? Ich werde es nie erfahren. Jedenfalls ist dieser Blinow mit meinem Ausweis, meiner Fahrkarte und allen meinen Sachen verschwunden. Man könnte sich auch denken, dass die beiden eine größere Sache durchziehen wollten und die fremde Tasche ein Ablenkungsmanöver war. Jetzt sitze ich mit der untergeschobenen Dealerware da, ich nehme an, dass es sich um Kokain oder Heroin handelt, oder etwas in dieser Preisklasse. Unterwegs erfahre ich von dem einsilbigen grauhaarigen Menschen mit der angebrochenen Nase neben mir, der vom Fahrer Ponomarjow genannt wird, aber nicht wie ein Messdiener aussieht, dass es sich bei den Päckchen um ‚Kokain’ handelt Er meint nämlich auf meine diesbezügliche Frage:
»Du musst doch selbst am besten wissen, was du da schnupfst.«
Wir fahren Stunde um Stunde. Die beiden sprechen nicht mehr mit mir. Auf der M5 ist viel Verkehr und scheinbar wird den hier auf der oft mit Spurrillen durchzogenen Teerstrasse rasenden Fahrern das Gehirn durcheinander geschüttelt. Hier scheint alles erlaubt zu sein. Irgendwo habe ich gelesen, dass Fernfahrer sich einen Spaß daraus machen solange aufeinander zuzuhalten, bis einer die Nerven verliert und ausweicht. War das vielleicht auf dieser Strecke gewesen? Als ein PKW hinter uns bei Gegenverkehr überholt und ein entgegen kommendes Fahrzeug in den Strassengraben drängt, geht das so schnell, dass ich nicht einmal dazu komme die Luft anzuhalten. Aber der Unfall scheint ‚meine’ Polizisten nicht weiter zu interessieren.
"TÜV-Plaketten und Führerscheine werden heute im Internet gehandelt", knurrt unser Fahrer, oder so etwas Ähnliches.
Als ich aus meinem Dahindämmern aufschrecke, sehe ich ein Ortsschild vorüber huschen: Тулун, Tulun, wir biegen ab und folgen einer Straße nach Süden. Diese Straße als solche zu bezeichnen ist schon ein Hohn. Schlammiger Hauptfeldweg wäre die richtigere Bezeichnung. Nach einiger Zeit wird die Landschaft bergiger und aus den weiten tundraartigen Ebenen wird langsam ein hügeliges Land. Immer mehr Felsen ragen empor, dunkle Wälder tauchen auf, verschlafene Dörfer huschen vorbei. Öfter muss ein hier fließender Bach überquert werden, die steinernen, bemoosten Brücken sehen aus, als wären sie schon Jahrhunderte in Betrieb. Warum sollten sie gerade heute einstürzen?
Wir fahren schweigend bis tief in die Nacht über die von Schlaglöchern übersäte Straßen. Auf die Umgebung gebe ich kaum noch Acht, ich bin noch immer wie betäubt, nur die Stellen, an denen mich der Schlagstock traf, nehme ich schmerzhaft wahr, wenn es den Wagen in einem besonders tiefen Schlagloch wieder einmal durchschüttelt. Es geht immer weiter, holprige, staubige Wege, an den Straßenrändern ist nur selten ein Licht zu sehen. Die Scheinwerfer stechen grell in das Dunkel der Nacht, Insekten werden von ihnen angezogen und prasseln gegen Windschutzscheibe und Kühler. Mit einem Ruck hält der Wagen inmitten eines ausgedehnten Waldgebietes. Im Scheinwerferlicht sehe ich zwei kleinere, fast baufällig zu nennende Gebäude, welche ein altersschwacher, halb zerfallener Zaun umgibt.
Ich werde roh aus dem Wagen gestoßen und in das erste Gebäude gezerrt. Von der Transsib aus habe ich Dutzende ähnlicher Häuser im Vorbeifahren gesehen, nun sehe ich eines von Innen. Der Raum ist kahl bis auf einen staubigen Tisch und drei altersschwache Stühle. Der grauhaarige Mann, Ponomarjow, legt einen Schalter um und ein müder Stromgenerator bringt eine verschmutzte, gelbe Birne an der fleckigen Decke zum Leuchten. Man sperrt mich in eine schmale, schmutzige Zelle, die Tür wird von außen zusätzlich mit einem Querbalken gesichert. Die Männer schweigen auf alle meine Unschuldsbeteuerungen, meine Forderung mit einer Deutschen Vertretung zu sprechen, einen Rechtsanwalt einzuschalten, ja sogar darauf, mich mit Wasser und Essen zu versorgen. Wortlos gehen sie, schließen die Eingangstür ab, Türen schlagen draußen, der Wagen wird angelassen und entfernt sich. Denen ist ihr Einschüchterungsverhalten so zur zweiten Natur geworden, dass sie gar nicht anders können, denke ich mir. Durch das mit rostigen Eisenstäben gesicherte Türfenster kann ich im matten Mondlicht, das von draußen durch verdreckte Scheiben dringt, den Tisch erkennen, auf dem die braune, umgekippte Tasche liegt, offenbar ist sie jetzt fast leer.
Mein Magen beginnt sich knurrend zu melden und ich habe Durst. Die Zelle hat ein verdrecktes Klo, die Spülung funktioniert nicht. Ein Wasserbecken ist nicht vorhanden. Eine primitive Pritsche, nur aus Holzlatten, steht an der einen Wand, die mit russischen Zoten vollgekritzelt ist. Die Holzlatten ächzen, als ich mich auf ihnen niederlasse. Ein winziges, spinnwebenbedecktes, staubblindes Fenster an der Rückwand steht halb offen, ein wenig Nachtkälte dringt herein und langsam beginne ich zu frieren. Wie komme ich hier raus? Das Fenster ist viel zu klein, die Wände sind aus stabilem Mauerwerk. Offenbar bezieht sich die Baufälligkeit nur auf das Schindeldach.
Die einzige Möglichkeit zur Flucht besteht durch das vergitterte Türfenster, etwa anderthalb Meter über dem Beton Boden. Ich erinnere mich an einen skurrilen Westernfilm, in dem die Helden mittels nasser Hemden, sie hatten darauf uriniert, Gitterstangen verbogen haben. Sie banden die nassen Hemden fest um vier Stäbe und diese zogen beim Trocknen über Nacht die Gitterstäbe zusammen, so dass eine Lücke entstand. Aber die Gitter an der Tür sind so kurz, dass diese Methode hier keinen Erfolg verspricht. Trotzdem liegt in diesem Türfenster die einzige Chance für mich. Ich schaue mir das Gitter genauer an. Die kurzen rostigen Gitterstäbe sind offenbar stabil in einen eisernen Rahmen eingeschweißt. Bei dem Versuch, sie mit den Händen zu verbiegen, oder an ihnen zu rütteln, tut sich gar nichts. Ich setze mich auf die Pritsche und denke eine Weile nach.
Einen Hebel brauche ich, mit so einem langen Arm, dass die übersetzte Kraft richtig wirken kann. Mir kommt ein Gedanke und einen Versuch ist es allemal wert. Ich nehme meinen Ledergürtel, schnalle ihn zweimal um zwei Gitterstäbe und gurte ihn fest. Dann breche ich aus der Pritsche einen schmalen, zwei Meter langen Balken und führe ihn durch den Gürtel. Den Balken drehe ich nun, bis es nicht mehr geht, wobei ich darauf achte, dass sich das längere Balkenteil auf der Seite der Zelle befindet, die mir Platz zur Kraftausübung gibt.
Ich ziehe und ziehe, die Stäbe im verrosteten Gitterrahmen scheinen nachzugeben, die alte Tür ächzt. Noch einmal fasse ich das lange Balkenende, springe hoch, klammere mich an den Balken und lasse mich mit angezogenen Armen fallen, den Balken mit beiden Händen weiter fest umklammernd. Mit einem trockenen, platzenden Geräusch springen die beiden umwickelten Gitterstäbe oben aus ihren Schweißstellen. Dabei mache ich eine Entdeckung. Dadurch, dass die Hebelwirkung ein wenig schräg angesetzt wurde, ist der Eisenrahmen am entgegengesetzten Türende aus seiner Verankerung im Türholz heraus gebrochen! Ich nehme den Gürtel wieder an mich und mit dem stabilen Balken setze ich zwischen herausragendem Rahmen und der Tür den Hebel an und hänge mich mit aller Kraft an das lange Balkenende. Es gibt einen Ruck und ich stürze samt Balken unsanft zu Boden. Noch einige Male und das Gitter ist aus der Tür heraus gebrochen.
Schnell ist die Pritsche unter das nun offen gähnende Loch in der Tür geschoben und ich winde mich, was nicht ohne Schrammen abgeht, hindurch und lasse mich, Kopf voran, auf der anderen Seite an der Holztür entlang zu Boden gleiten, pralle hart mit den Händen auf den staubigen Betonboden und schlage anschließend mit dem Körper auf. Im Raum ist es, bis auf das an der Vorderseite durch zwei schmutzige Fenster in den Raum gelangende dämmrige Mondlicht, dunkel.
Die Einrichtung des Raumes ist dürftig, außer dem klobigen, rissigen Tisch mit der leeren Tasche und den drei wackeligen Stühlen ist nichts weiter zu sehen, bis auf ein kleines Wasserbecken, dass aber außer Betrieb ist. Mit meinem Durst muss ich mich noch gedulden. Ansonsten ist der Raum völlig kahl und leer, die ehemals weiß gekalkten Wände sind staubverdreckt, an der Decke und in den Ecken hängen alte, staubige Spinnweben. So wie ich bin, ohne ausreichende Kleidung und Ausrüstung, werde ich nicht weit kommen.
Die wackelige Tür nach draußen ist verschlossen, aber ein paar kräftige Tritte und das Schließblech bricht aus der morschen, hölzernen Türzarge. Ich nehme die fremde Tasche vom Tisch, schütte die schmuddelige Wäsche aus und trete vorsichtig auf die vom Mond schwach erhellte Straße hinaus. Die tiefen Furchen der Lehmstraße verschwinden rechts und links irgendwo in der Dunkelheit des dichten Waldes. Eine große Wolke schiebt sich vor den bleichen Mond, es beginnt zu tröpfeln, ein kräftiger Wind kommt auf, weht mir den Straßenstaub in die Augen und es beginnt stärker zu regnen. Schnell laufe ich zu dem zweiten maroden Gebäude hinüber, welches sich ein paar Meter weiter befindet. Auch dieses Gebäude ist verschlossen. Diese Tür scheint stabiler zu sein und ich verzichte darauf, mir Fuß oder Schulter zu verstauchen.
Auf der Rückseite des Hauses finde ich eine Art zerfallenen, offenen Schuppen und unter einem Haufen Gerümpel entdecke ich verrostetes Werkzeug, das früher einmal dem ursprünglichen Zweck der beiden alten Gebäude gedient haben mochte, nämlich der Reparatur von allem Möglichen, vom Ackergerät bis zu Motorrädern und Autos. Ich schnappe mir einen kräftigen Vorschlaghammer mit halbem Griff und verschiedene verrostete Stahlkeile. Damit ist die Eingangstür im Nu geöffnet und ich sehe mich drinnen aufmerksam im grellen Schlaglicht aufleuchtender Blitze um. Auf einem Tisch befindet sich ein Teller mit einem Kerzenstummel und daneben liegen Streichhölzer. Nachdem die Kerze angezündet ist, erweist sich der Innenraum als ein ziemlich kahles, schmutziges Büro mit einem WC, dessen Spülung auch nicht funktioniert, daneben steht ein leerer, verrosteter Wassereimer.
In einer Ecke steht ein blecherner Büroschrank, dessen abgenutzte, zum Teil abgeblätterte Farbe und die vielen Beulen und Schrammen auf ein langes, ehemaliges Büroleben schließen lassen. Weiter gibt es einen großen, rostigen Kanonenofen voll stinkender, alter Asche und nebenan eine Kammer mit Liege und Holzschrank. Im Holzschrank finde ich eine alte, abgewetzte Fellparka mit Kapuze, verdreckte Winterstiefel und eine löchrige, fleckige Wolldecke. Nachdem ich Parka und Stiefel, ohne Rücksicht auf etwaige sechsbeinige Bewohner, angezogen habe, widme ich mich wieder dem Blechschrank. Das Ungetüm mochte einige Zentner wiegen. Da hat sich wohl niemand um einen Diebstahl sorgen müssen. Schloss und Türrahmen zeugen allerdings trotzdem von einigen, vermutlich nicht sehr erfolgreichen, Versuchen ihn zu öffnen.
Ich setze einen schmalen Keil an und arbeite mit dem Vorschlaghammer eine Ansatzstelle für den nächst größeren Keil heraus. Beim vierten Keil, den ich mit Brachialgewalt hinein treibe, gibt der Schrank auf und ich drücke jetzt mit aller Kraft gegen die in den Angeln verzogene Tür, die knarrend nachgibt.
Ein altes, öliges Gewehr, eine VSS Vintorez mit Zielfernrohr, in einer alten zerschrammten Lederhülle und einige Päckchen Munition kommen zum Vorschein. Dann ist da noch eine große verschlossene Blechlade, die nach dem Aufbrechen einige dicke Geldbündel frei gibt. Ich jubele innerlich, als ich das Ergebnis meiner Mühe vor mir sehe. Allerdings sind nirgends Lebensmittel zu finden, keine Konserven, nichts Essbares, nur leere Coladosen und leere Plastikflaschen. Ich packe die Decke und zwei der Plastikflaschen in die Tasche, stecke auch die Streichhölzer und die Restkerze ein. Das Gewehr passt soeben, diagonal gelegt, in die Reisetasche. Ein letzter Blick, dann reiße ich noch zwei vergilbte Landkarten von der Wand und stecke sie ebenfalls ein.
Kharanty
Draußen hat es noch immer nicht aufgehört zu regnen, gut, das ist für mich von Vorteil. Ich hänge die Tasche um und mache mich auf den Weg, entgegengesetzt zu der Richtung, aus der wir mit dem Wagen herkamen. Nach einer guten halben Stunde kreuzt ein Bach die Straße, ich steige hinein, das Wasser reicht mir eiskalt bis an die Waden, die löchrigen Stiefel laufen voll. Erst einmal heißt es, nicht wieder entdeckt zu werden. Da ich damit rechnen muss, dass irgendjemand nach Tagesanbruch nach mir sehen und meine Flucht bemerken wird, folge ich dem Bachlauf gegen die Strömung. Die algenbedeckten Steine im Bach sind glitschig, mehrmals stolpere ich, muss ins kalte Wasser greifen und mich am nassen Bachuntergrund abstützen, um nicht zu fallen. Nach einer Stunde hört der Regen auf, die Sonne kommt hervor und der Wind vertreibt letzte Wolken. Überall perlen Wassertropfen von den Blättern des dichten grünen Walddaches neben dem Bach, fallen auf mich herab. Ich spüle die beiden Plastikflaschen mit Sand mehrmals durch und fülle sie mit dem klaren Bachwasser. Mein Magen knurrt mittlerweile gewaltig. An einer Stelle, an dem einige Steine am Ufer schmale Spalten bilden, greife ich vorsichtig hinein. Nach einigen vergeblichen Versuchen spüre ich eine leichte Bewegung. Vorsichtig ertaste ich einen sich leicht bewegenden Leib – langsam gleitet meine Hand an einem Fischkörper entlang, erreicht die harten Kiemen, ich packe ich fest zu und hole die Forelle aus ihrer Felsspalte. Ich schlage ihren Kopf gegen einen Felsen und beginne, den Fisch im Gehen roh zu verzehren. Ein Feuer könnte mich nur verraten. Als die Sonne den Zenit ihrer Bahn erreicht hat mache ich Rast. Die Stiefel ziehe ich aus und stelle sie mit den Öffnungen nach unten in die Sonne, wringe die Beine meiner Jeans aus und hänge diese an einen Ast zum Trocknen auf.
Mittlerweile sind meine Sachen in der warmen Sonne getrocknet. Es wird Zeit, sich mit der Landschaft um mich herum näher vertraut zu machen. Eine der schmutzigen Karten zeigt die russischen Grenzen zu den Nachbarländern und die Grenzen der einzelnen Provinzen untereinander. Die andere Karte ist wohl die hiesige Oblast Karte und von dem mit Rotstift gekringelten Kreis nehme ich an, dass er den Ort des ‚Büros’ markiert. Es scheint mir eher ein Schlupfloch und Treffpunkt für Tätigkeiten zu sein, die das Tageslicht scheuen. Zumindest ist ihr Äußeres eine gute Tarnung. Also, wenn ich die Karte richtig lese, diese gottverdammte kyrillische Schrift, den Sonnenlauf der letzten Stunden einbeziehe, befinde ich mich irgendwo südlich der Straße M53, in der Nähe eines Ortes namens Zdravo Odzemyy im Irkutskaja Oblast, südlich von Tulun. Und einige hundert Kilometer von der mongolischen Grenze und vom Munku Sardyk, dem höchsten Berg des Sajan Gebirges, entfernt. Der Bach neben mir kommt von Osten, also eigentlich aus der Richtung des Baikal Sees. Ein recht menschenleeres Gebiet ist das hier, will mir scheinen.
Immer wieder hänge ich dem Geschehen des letzten Tages nach. Vom begüterten Transsib Reisenden zum geflohenen Gefangenen irgendwo in der Taiga, welch ein Abstieg. Langsam beginnt sich bei mir der Verdacht zu festigen, dass die Geheimpolizisten von gestern in dieses Drogengeschehen verwickelt sind. Möglicherweise bekamen sie einen Tipp über einen Drogentransport und nahmen mich erst mal fest, weil das Kokain in meinem Abteil war. Auch wenn sie inzwischen entdeckt haben, dass sie einen Fehler gemacht haben, müssen sie mich als Beteiligten im Zusammenhang mit einem Drogendeal suchen und sie werden die Beweislage eindeutig zu meinen Lasten auslegen, um sich selbst zu schützen. Aber jetzt, nach meiner Flucht, müssen sie mich todsicher verschwinden lassen, gleichgültig, ob sie mich jetzt für Frank oder Blinow halten. Das Kokain wurde ganz gewiss noch in der Nacht meiner Gefangennahme gegen gute Rubel verhökert, zumindest gehe ich davon aus. Solche und ähnliche Gedanken gehen mir immer wieder durch den Kopf. Gleichgültig wie ich es auch drehe und wende, man wird mich wochenlang in einer russischer Untersuchungshaft festhalten und das ist das Wenigste, was ich erhoffen kann. Vielleicht werde ich ja auch im Gefängnis einen Unfall erleiden, oder auf der Flucht erschossen werden, was wahrscheinlicher ist.
Ich bemühe mich, meine Situation ruhig zu analysieren. Meine beiden Geheimdienstler werden aller Voraussicht nach eine Verfolgung organisieren, mit der Begründung, ich sei ein entwichener Drogenkurier namens Blinow. Sie werden davon ausgehen, dass ich, sprachunkundig als Frank, gewiss nicht in besiedeltes Gebiet fliehen werde, d.h. ich würde nach ihrer Überlegung nach Süden fliehen müssen, zur Mongolei hin. Und damit werden sie Recht haben, denn es ist der einzige Fluchtweg für mich. Nehmen sie aber an, ich sei der Russlanddeutsche Blinow, wird sie das wenig kümmern, der Blinow ist für sie aber genau so entbehrlich, da die Drogen von ihm befördert wurden und jetzt nicht mehr da sind. Das bedeutet, der Geflohene, gleich ob Blinow oder Frank, darf nicht entkommen, das gäbe nicht nur interne sondern vielleicht auch noch politische Schwierigkeiten. Sie werden mich auf der Flucht erschießen, das ist für sie das Allereinfachste. Zu diesem Schluss komme ich nach langem Nachdenken. Schöne Aussichten.
Aber weiter, halten sie mich für Frank, so werden sie vermuten, dass ich die Straße nach Kharanty nehmen werde und da dies für sie der am ehesten anzunehmende Fall ist, werden sie diesen sicher einkalkulieren. Und, ich vermute das nur, weil sie nicht über ausreichende Personalstärke verfügen, werden sie mich dort in der Nähe dieses kleinen Bergnestes vor der mongolischen Grenze abfangen wollen; dort finden sie eine ausreichende logistische Voraussetzungen, d.h. Nahrung, Strom und Unterkunft sind dort vorhanden.
Auf der Karte sind es von Kharanty bis zur mongolischen Grenze Luftlinie etwa zweihundert Kilometer. Die Straße nach Kharanty folgt im Wesentlichen dem Verlauf des Flusses Chernaya Zima, aber meist läuft sie über Hügel oder an den Hängen der Bergrücken entlang. Der Weg über Kharanty zur mongolischen Grenze ist meine einzige Möglichkeit. Alles andere wären gewaltige Umwege, welche die Gefahr in sich bieten aufzufallen.
Nachdem ich so weit gekommen bin, laufe ich gegen Abend los. Tagsüber verkrieche ich mich auf einen der Berghänge, von denen aus ich den weiteren Verlauf der Straße übersehen kann. Ist alles unverdächtig, mache ich mich im letzten Sonnenlicht auf den Weg. Aber meist nicht immer auf der Straße, denn deren tief ausgefahrene Spuren sind auf den flachen Strecken oft schlammig und man sinkt bei jedem Schritt knöcheltief ein. So bleibt fast immer nur der Weg durch das Unterholz am Wegrand, durch dichten Wald und mittels Abkürzungen über langgestreckte, bewaldete Hügel.
Vor mir liegt eine kleine Ortschaft, deren Namen ich auf meiner Karte nicht gefunden habe. Während ich noch zögere, bellt ein Hund und schon fallen alle Hunde im Ort zu kläffen und zu jaulen an. In einem Gebäude geht Licht an und während ich über einen nassen Acker davon haste, schreit jemand Flüche und Verwünschungen.
»Chert sbrod vorov!«
Ein Gewehr wird abgefeuert und ich hoffe nur, dass die Hunde nicht losgelassen werden. Ich stolpere in einen Bach und wate diesen gebückt im Schutz der Ufersträucher entlang. Über die Schulter und durch die Büsche am Bachrand sehe ich, dass weitere Lichter im Dorf angegangen sind. Als ich meine, das Dorf weit hinter mir gelassen zu haben, verlasse ich das kalte Wasser des Baches und erreiche nach einiger Zeit wieder die Spurrillen der Straße. Später verziehe ich mich auf einen Hügel und verbringe dort die restliche Nacht, bin sehr unruhig, lausche auf Geräusche unten von der Straße. Aber nichts geschieht, die Sonne geht auf und ich falle in einen unruhigen Schlaf. Das ist mir eine lehrreiche Erfahrung, ich werde noch vorsichtiger sein müssen. Bis in die Nähe des Ortes Kharanty kann ich mich schnell vorwärts bewegen, trotzdem bemühe ich mich von nun an, alle einsamen Gehöfte und kleinen Siedlungen, von denen es aber nicht viele gibt, rechtzeitig auszumachen und weiträumig zu umgehen. Nach der Karte muss der kleine Gebirgsort Kharanty ganz in der Nähe sein.
Vor mir fällt der Berghang steil ab, an bröckelige Vorsprünge und schmale Spalten im Fels klammern sich kleine Fichten, dazwischen wachsen Gräser und Moose. Es riecht nach Erde und nach dem harzigen Holz der Fichten hinter mir. In etwa zwei Kilometer Entfernung liegt da unten die Lehmstraße, hinter deren Biegung sich kurz darauf Kharanty befinden muss. Ich schaue durch das Zielfernrohr der Vintorez, alles scheint ruhig zu sein, keine Fahrzeuge auf der Straße. Es ist früher Morgen und die Sonne ist vor einer Stunde hinter mir im Osten aufgegangen. Links von mir, im Süden, blitzt zwischen Büschen und Bäumen eines kleinen Gehölzes Licht auf. Der Lichtblitz verschwindet, taucht wieder auf, verschwindet, ganz unregelmäßig. Da beobachtet jemand die Straße, genau wie ich, durch ein Fernglas!
Demnach ist die direkte Strecke nach Süden bereits durch Posten besetzt. Das war ja auch zu erwarten. Die Verfolger haben mich entweder tagsüber, wenn ich ruhte, überholt oder wurden mit Hubschraubern hierher gebracht. OK, was mache ich jetzt? Das sind ausgebildete Profis, die verstehen ihr Handwerk. Ich kann also davon ausgehen, dass das Gelände vor dem Dorf bis zu den Berghängen im Westen abgeriegelt ist. Unterwegs habe ich alle Kraft auf das Vorwärtskommen gebündelt. Da dies der einzige Weg für mich ist, war mir klar, dass ich mich der Situation anzupassen habe, die ich bei Kharanty vorfinden werde. Also, was ist nun mein Plan? Wo werden sie mich am wenigsten erwarten?
In ihrem Stützpunkt, der sich aller Wahrscheinlichkeit nach in Kharanty selbst befindet! Ich bleibe erstmal liegen. Mitten in der folgenden Nacht arbeite ich mich zur Straße vor und überquere sie noch bevor der Morgen graut. Dann geht es einen Berghang, am Rand einer Moräne. hinauf. Vom rötlich grünen Tal aufwärts folgt dichter Fichten und Kiefernwald, danach ist der Hang übergangslos ziemlich steil und steinig, kein Gras oder Moos. Auf der anderen Seite krieche ich vorsichtig bis zur Baumgrenze hinunter und verberge mich im dichten Gehölz. Es folgen noch etliche Kilometer bergauf und bergab durch dichten Bergwald. Hier oben in den Bergen ist es um diese Jahreszeit kühl, aber der schäbige Parka ist besser als sein Aussehen und hält einigermaßen warm. Er schützt mich auch vor dem Regen, der jetzt wieder aus tief hängenden Wolken auf mich hernieder prasselt. Gegen Abend nähere ich mich immer mehr den Weiden und Äckern im Tal, zum Schluss fast Zentimeter für Zentimeter, immer alles im weiten Umkreis lange und genau abcheckend. Gerade will ich einen schmalen, vom Regen ausgewaschenen Pfad auf Finger- und Stiefelspitzen überqueren, als ich zwischen den Bäumen eine Bewegung wahrnehme. Gerade noch rechtzeitig robbe ich zwei Meter zurück in eine Ansammlung kleiner, eng beieinander stehender Fichten, da ist der Wanderer auch schon heran, aber er bemerkt mich nicht.
Aufatmen, es ist nur ein Bauer, der eine Sense geschultert hat und zu einer der Hochwiesen geht, die ich eben noch umgangen habe. Vor der ersten abgezäunten Weide verbringe ich den Tag, versteckt im dichten Gebüsch am Rand eines hohen Fichtenwäldchens. In einiger Entfernung lehnt eine verrostete Spitzhacke mit abgebrochenem Stiel an einem Weidepfosten. Der Tag in meinem Versteck wird lang, Hirten treiben Vieh auf die Weide und Bauern ernten die letzten Felder ab. Ich kann die schmale Straße einsehen, die hier von Osten in das Dorf führt und sich danach in einige Feld- und Weidewege auflöst.
Die Bauern und Viehhirten kehren bei Anbruch der Dämmerung in das Dorf zurück. Das ist die Chance, auf die ich gewartet habe. Im Halbdunkel folge ich einer kleinen Gruppe, die müde von der Feldarbeit ins Dorf zieht. Ein leichter Nieselregen setzt ein, Nebel kriecht aus den Bergen herab und treibt in Schwaden über den Weg. Den Kopf zu Boden gesenkt stülpe ich mir, wie es die Gruppe vor mir macht, die Kapuze über. Den Gewehrlauf habe ich an den abgebrochenen Stiel der Hacke gebunden, so dass nur der intakte Teil des Holzstiels mit dem eisernen Teil ganz natürlich aus der umgehängten Tasche ragt, die Decke habe ich unter dem Parka so um mich gewickelt, dass ich im Dunkeln als dicker Bauer durchgehen kann. Kurz vor den ersten Häusern schließe ich unauffällig zu den drei vor mir gehenden Männern auf. Die achten nicht auf mich, haben wohl nur ihren Feierabend im Sinn. Außerdem sind seit kurzem sowieso viele Fremde in der Gegend. Wenn sie mich wahrnehmen, halten sie mich vielleicht für einen der Fremden und ich hoffe, dass die Fremden mich für einen hiesigen Bauern halten. Meine Schritte sind müde, beinahe stolpernd, wie nach einem langen Arbeitstag, dazu brauche ich mich gar nicht zu verstellen, ich bin müde. Wir erreichen das Dorf, eine Ansammlung windschiefer Holzhütten mit abblätternder Farbe. Nur zwei oder drei alte Backsteinbauten liegen am Weg, es riecht nach Gülle und Stall. Wir gehen an einem Mann mit einer Maschinenpistole vorbei, der an einer Hausecke lehnt, eine Zigarette raucht und uns kaum eines Blickes würdigt. Die Männer vor mir machen einen verschlossenen Eindruck, wenn überhaupt murmeln sie leise Grüße. »Dobryy vecher.« Der Mann antwortet nicht. Ich halte den Blick wie die vor mir Gehenden gesenkt und nicke dem Mann mit der Maschinenpistole kaum merklich zu, dann sind wir auch schon an diesem Posten vorbei. Die Gruppe zerstreut sich im Dorf, ich wende mich einem einzelnen Gehöft zu, das am westlichen Teil des Dorfes steht, etwas einen Hang hinauf. Ich passiere das Bauernhaus, alles bleibt still, kein Hund bellt. Ein Obstgarten taucht auf und in seinem Schutz verschwinde ich unauffällig im angrenzenden dichten Wald, der sich hinter den Obstbäumen bergaufwärts zieht.
Gut, die Linie wäre glücklich durchbrochen. Nach einer Weile wende ich mich nach Südwesten, folge einem schmalen, feuchten Tal mit einem kleinen Wasserlauf. Ein weiteres Tal biegt nach Süden ab, dem ich vorsichtig folge. In einem dichten Birken- und Fichtenwald verkrieche ich mich und versuche zu schlafen. Gegen Morgen weckt mich die Kälte, fröstelnd stehe ich auf und folge dem Tal weiter, mich stets innerhalb des Waldes haltend. Bald sorgen die ersten Sonnenstrahlen für etwas Wärme nach der kalten Nacht. Berge, Lichtungen und Wälder schälen sich aus den nächtlichen Schatten und bald entfaltet sich die wilde Schönheit der Landschaft unter einem leuchtend blauen Himmel.
Nach beschwerlichen zwanzig Kilometern überquere ich eine Wasserscheide und sehe unten einen See schimmern. Saftige Bergwiesen umrahmen das im hellen Licht der Nachmittagssonne schimmernde Wasser. Hellgrüngelbe Lärchenwälder bedecken Hänge, graue Felsrippen ziehen sich den nahen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: alle
Tag der Veröffentlichung: 01.12.2023
ISBN: 978-3-7554-6257-6
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