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Titel

 

 

Jana S. Morgan

 

 

 

Route 66

 

 

Jäger meiner Seele

 

Widmung

Für meine Eltern,

durch Euch habe ich den Mut gefunden,

diesen Weg zu gehen.

ebenfalls erhältlich

Route 66 - Jäger meiner Seele

als Print-Version

ISBN: 978-3-7431-5278-6

Prolog

Weiche Lippen liebkosten meinen Hals und eine zarte Zunge zeichnete eine feuchte Linie auf meine Haut. Es kitzelte dort, wo sie mich berührte. Die Augen hatte ich geschlossen, denn ich wollte alles genießen, was er mir zu geben hatte. Umso mehr spürte ich die Erregung, als er sich end­lich zwischen meine Beine schob. Seine Lippen forderten meine zu einem weiteren himmlischen Kuss und unsere Zungen umtanzten einander wild in meinem Mund. Während wir einander voller Hingabe küssten, spreizte er meine Schenkel und ich ließ es geschehen. Die erste Berührung seiner Erektion mit meiner feuchten Scham ließ mich in unseren Kuss hinein stöhnen. Er rieb sich an mir, ganz langsam, und glitt dabei immer wieder über meine empfindlichste Körperstelle. Wieso zögerte er so lange und gab uns beiden nicht das, was wir wollten? Ja, er spielte gerne mit mir, ließ mich zappeln und meine Lust ins Unermessliche steigen, bis ich ihn an­flehte, mich endlich zu nehmen. So war es beim letzten Mal auch gewesen. Und doch weigerte ich mich, ihm dieses Mal so schnell nachzugeben. Er rieb sich weiter an mir, während seine Lippen die meinen verließen und meinen Hals mit leichten Küssen und Bissen reizten. Meine Hände wan­derten um seine breiten Schultern herum, und als er mich wieder an dieser einen kleinen Stelle zwischen meinen Beinen berührte, krallte ich meine Fingernägel in seinen Rücken. Er stöhnte auf und ich wusste, dass ihm ein bisschen Schmerz immer gefiel. So wie auch mir. Er packte meine Hand­gelenke und drückte sie wieder auf die Matratze, sodass ich ihm hilflos ausgeliefert war. Er lag komplett auf mir. Noch immer hatte ich die Augen geschlossen. Ich wollte ihn eigentlich ansehen, doch genau in diesem Moment schob er sich mit einer schnellen Bewegung komplett in mich. Ich stöhnte laut, weil mich seine Größe im ersten Moment, den er in mir war, immer um den Verstand brachte. Er sagte etwas, doch ich verstand kein Wort, mein Kopf blendete alles um mich herum aus. Meine Beine zitterten jedes Mal, wenn er wieder gänzlich in mir war. Ich schrie meine Lust hinaus, denn hören würde uns niemand. Dann ließ er meine Hände los und fuhr sanft mit seinen über meine Arme bis hinauf zu meinen Schultern. Er hielt mich so in Position, während er das Tempo erhöhte. Seine Finger fühlten sich so unglaublich warm an. Mit seinen Daumen massierte er leicht meine Haut, während wir uns weiter der Verbindung unserer Körper hingaben. Immer wieder durchfuhr mich ein Schauer und ich spürte, dass ich bald kommen würde. Ein süßer, intensiver Geruch lag in der Luft, der meine Lust nur noch mehr anfachte. Langsam schoben sich seine Hände weiter nach oben in Richtung meines Halses und meines Gesichts. Ich rechnete damit, dass er mich wieder küssen würde, doch stattdessen legten sich seine starken Finger direkt um meinen Hals.

Schlagartig schlug ich die Augen auf.

Die Hände um meinen Hals drückte er gleichmäßig zu, wie ein Schraubstock. Ich wollte schreien, doch es kam kein Ton über meine Lippen. Mit scharfen Fingernägeln krallte ich mich in seine Unterarme und wollten ihn von mir trennen, doch er war zu stark. Ich strampelte wild mit den Beinen, während ich immer weniger Luft in meine Lunge bekam. Was tat er da? Er würgte mich immer stärker, schnürte mir den Atem ab, während er weiter meinen Körper benutzte. Tränen traten mir in die Augen, als ich verzweifelt Sauerstoff in meine schmerzenden Lungen treiben wollte.

Die ganze Zeit über blickte ich in seine eigentlich so warmen, braunen Augen. Diese Augen hatte ich doch einst so geliebt...

Der Schmerz wurde zu groß, meine Lunge drohte zu kollabieren. Da hörte ich seine Stimme ganz deutlich in meinem Kopf, kurz bevor alles schwarz wurde.

Das passiert, wenn man mich hintergeht.

 

 

Verzweifelt rang ich nach Luft und schlug die Augen auf. Ich atmete tief durch und bemerkte erst jetzt, dass ich in meinem Bett saß. Mein Körper war schweißnass, meine Finger krallten sich in die Laken und Tränen liefen über meine Wangen.

Ein Traum.

Es war nur ein Traum.

Noch einen weiteren, tiefen Atemzug später ließ ich den Kopf auf die Brust sinken und rieb mir die schmerzenden Schläfen. Wieso träumte ich ausgerechnet in dieser Nacht wieder von ihm? Ich hatte doch damals ein­fach nur mit dieser ganzen Geschichte abschließen wollen, auch mit dem Wissen, dass es nicht leicht werden würde. Das alles lag hinter mir und so sollte es auch bleiben. Ich musste mich auf andere Dinge in meinem Leben konzentrieren, auf die wichtigen Dinge.

Leises Gequengel riss mich aus meinen Gedanken und ich verbannte eben diese aus meinem Kopf. Ich schwang mich aus dem Bett, ignorierte das Gefühl zwischen meinen Beinen und ging ins Zimmer nebenan.

»Was hast du denn, mein Schatz?«, fragte ich die Kleine, die mich mit ihren großen braunen, aber tränenverschleierten Augen ansah. Augen wie seine...

»Mami ist ja hier«, flüsterte ich ihr zu, als ich sie aus dem Kinder­bettchen hob und sie an mich drückte. Sie war das einzig Gute, was ich aus meinem früheren Leben mitgebracht hatte. Mein Ein und Alles.

»Kannst du auch nicht schlafen, mein Engel? Ich weiß, ich nämlich auch nicht.« Mit meiner kleinen Ivy in den Armen ging ich ins Wohn­zimmer, wo wir uns aufs Sofa setzten. Ich breitete eine Decke über mir aus und gab ihr eine Ecke, damit sie ein wenig damit spielen konnte. Ich beobachtete sie dabei, wie sie neugierig den Stoffzipfel ansah und anfing darauf herumzubeißen. Einige Zähnchen hatte sie ja bereits, doch wollten so langsam auch die anderen durchbrechen. Sie war gerade erst 14 Monate alt.

Unfassbar, dass ein solche Monster ein so süßes und friedliches Ge­schöpf zeugen konnte. Doch mehr als seine Augen würde sie nicht von ihm bekommen, dafür würde ich sorgen. Ich lächelte sie an und nahm ihre winzige Hand in meine. Wie schnell sie doch gewachsen war. Ich hatte das Gefühl, dass ich gerade erst aus dem Krankenhaus gekommen war. Ich erinnerte mich gerne an diese Zeit zurück, auch wenn sie mir damals wirklich große Angst gemacht hatte. Damals, so wie auch heute, gab es nur Ivy und mich und dieses Wissen war so unendlich wertvoll für mich.

Nach einer ganzen Zeit, die Ivy fröhlich mit der Decke gespielt hatte, ließ sie den Zipfel einfach los und gähnte herzzerreißend.

»Da ist wohl doch noch jemand müde«, sagte ich und tippte ihr mit der Fingerspitze leicht auf die Nase, was sie zum Kichern brachte. Dann begann ich sie leicht hin und her zu schaukeln und dabei ein Schlaflied vor mich hin zu summen. In aller Ruhe beobachtete ich, wie sich ihre Augen schlossen und sie wieder in einen tiefen Schlaf fiel.

Doch in dieser Nacht legte ich sie nicht ins Bett zurück, sondern hielt sie einfach weiter in meinen Armen. Denn da wusste ich, wo sie war und wenn sie bei mir war, konnte ich sie vor allem beschützen.

Kapitel 1

Ivy wachte gegen halb sieben wieder auf. Diesmal mit lautem Schreien, was mich aber nur lächeln ließ. Es wurde höchste Zeit, dass sie mir sagen konnte, was sie wollte, obwohl wir uns meistens auch so gut verstanden. Ich ging mit ihr in ihr kleines Zimmer zurück und begann sie zu wickeln. Damit war Punkt eins auf ihrer Schreiliste bereits abgehakt.

Danach machte ich uns beiden Frühstück. Neuerdings knabberte sie gerne an schon etwas hartem Brot herum. Das bekämpfte wohl das Kribbeln an ihrem Zahnfleisch, hatte mir der Kinderarzt erklärt. Also gab ich ihr wieder ein solches Stückchen, während ich mir zwei Scheiben in den Toaster packte.

»Du wirst noch merken, dass hartes Brot gar nicht mal so lecker ist«, sagte ich, woraufhin sie das Stück auf die Tischplatte haute und vor sich hinlachte.

»Kleiner Quatschkopf«, schmunzelte ich und stellte eine Schüssel mit Ivys Lieblingsbrei auf den kleinen Esstisch. Das Brot machte ja nicht satt, wenn sie kaum etwas davon abbekam. Ich fütterte sie und aß nebenbei selbst mein Frühstück. Nach einer halben Stunde war Ivys Gesicht voller Brei, weil sie mal wieder selbst den Löffel haben und mir zeigen wollte, wie toll sie doch alleine essen konnte. Es klappte von Tag zu Tag besser, auch wenn ein Teil immer in ihren Bäckchen kleben blieb.

»So, du kleiner Schmierfink, dann stecken wir dich mal in die Bade­wanne«, sagte ich und nahm sie hoch. Ivy war ein so fröhliches Kind, das fast immer gut drauf war und über alles und jeden lachte. Das machte vieles leichter.

Während das Wasser die Badewanne füllte, setzte ich sie auf den davorliegenden Teppich und gab ihr eines ihrer Quietschentchen, die niemals in der Wanne fehlen durften. So war sie beschäftigt, während ich uns neue Kleidung aus dem Schrank holte. Als das Wasser eine ange­nehme Temperatur hatte, zog ich erst mich aus und dann auch Ivy. Wir badeten meistens zusammen, so sparten wir Zeit und ich musste sie nicht unbeaufsichtigt lassen, wenn ich duschen ging. So war es doch am einfachsten.

Wir spielten eine ganze Zeit zusammen, bis ich endlich einen Wasch­lappen nahm und das eigentliche Prozedere startete. Leider war dies eines der wenigen Dinge, die Ivy nicht so gut gefielen. Wenn ich ihn einmal in die Hand nahm und sie ihn sah, verzog sich sofort ihr Gesicht. Nicht einmal die Quietschentchen konnten sie dann noch ablenken. Nicht selten weinte sie, auch wenn ich nicht sagen konnte, was sie so sehr daran störte. Das Wasser konnte es nicht sein und auch sonst war ich sehr vorsichtig beim Waschen. Doch da mussten wir zusammen wohl durch. Und nichts konnte mich davon abbringen, diese süße Maus abgöttisch zu lieben. Sie macht mich einfach glücklich. Kaum zu glauben, dass ein so kleiner Mensch meine Welt verändern konnte. Sie war es, der ich danken musste und die mich aus meinem Tief herausgerissen hatte, als ich damals von Chicago nach L.A. geflohen war. Da hatte ich noch nicht einmal gewusst, dass ich schwanger gewesen war. Zu Beginn hatte es mich Überwindung gekostet, das Baby in meinem Bauch zu behalten, doch nun, wo ich dieses wunderbare Geschöpf kannte, wusste ich, dass ich die richtige Entschei­dung getroffen hatte.

Es war Ivys leiblicher Vater, vor dem ich vor ungefähr zwei Jahren geflohen war. Zu meiner Familie hatte ich nicht gehen können, das hätte er herausgefunden und so war ich einfach in Los Angeles abgetaucht. Seitdem hatte ich nichts mehr von ihm gehört. Und das war gut so.

Meiner Familie hatte ich nur einen Brief geschrieben, dass es mir gut ging, aber dass ich sie wohl eine ganze Zeit nicht mehr würde besuchen können. Zu Ivys erstem Geburtstag hatte ich meinem Vater ein Bild von ihr geschickt, damit er wusste, wie seine Enkelin aussah. Das war das Mindeste, was ich hatte tun können.

Was ich selbst erst vor vier Jahren erfahren hatte, war, dass ich noch eine Halbschwester hatte. Unser gemeinsamer Vater war meiner Mutter nicht ganz treu gewesen und hatte sie noch vor meiner Geburt einmal betrogen. Es hatte ihn selbst zerrissen und ihm sehr leidgetan, dass es passiert war, und meine Mutter hatte ihm schließlich verziehen. Ansons­ten hätte es mich wohl gar nicht gegeben. Dass die Frau, mit der mein Vater einmal geschlafen hatte, aus dieser Nacht ein Kind bekommen hatte, hatten wir erst später erfahren.

Und wie das Leben nun mal spielte, lebte sie in L.A. Wir hatten uns einige Male getroffen und ich hatte feststellen müssen, dass Bethany Fields ein toller Mensch war. Schnell hatte ich sie als meine Schwester akzeptiert. Eine Schwester, von der er nichts wusste. Nur mit ihrer Hilfe war es mir möglich gewesen, ein neues Leben in L.A. aufzubauen.

Und auch Ivy hatte einen Narren an Beth gefressen. Die beiden konnte man ruhig den ganzen Tag zusammenlassen und sie amüsierten sich prächtig, sowohl das Kind als auch die erwachsene Frau.

Es tat wirklich gut, sich auf jemanden verlassen zu können.



Am Nachmittag saßen wir beide in der U-Bahn und waren auf dem Weg zu meiner Schwester.

»Freust du dich schon auf Tante Beth?«, fragte ich Ivy, die sich mal wieder mit einem Band an meiner Jacke beschäftigte. Sie gluckste unheimlich süß und lächelte mich an. Ja, sie freute sich auf ihre Tante. Wir mussten etwa zwanzig Minuten fahren um zu Beths Wohnung zu kommen, doch das hatten wir schon so oft getan, dass uns die Zeit immer kürzer vorkam.

Mit Ivy auf dem Arm und einer großen Umhängetasche über der anderen Schulter verließ ich schließlich die U-Bahn und ging das letzte Stück zu Beths Wohnung zu Fuß. Die Straßen waren wenig befahren, lag ihre Wohnung doch in einem ruhigen Viertel. Als wir uns dem Haus näherten, erhaschte Ivy auch schon den ersten Blick auf die lange Hecke mit den hellgelben Blumen. Diese lockte immer sehr viele Schmetterlinge an und die liebte Ivy besonders. Wir blieben einen Moment an der Hecke stehen und genossen es, als einige der kleinen Geschöpfe um uns herumflatterten. Ivy juchzte vor Freude und klatschte lachend in die Hände.

»Euch hört man bis hier oben«, vernahm ich mit einem Mal meine Schwester sagen. Sie stand in der Tür und grinste uns beide an.

»Du weißt doch, wie sehr sie die Tiere liebt.«

»Natürlich weiß ich das«, erwiderte sie und kam mit ausgebreiteten Armen auf uns zu. Sie nahm mir Ivy ab und knuddelte die Kleine, die ebenfalls die Arme um ihre Tante gelegt hatte, ordentlich durch. Es war schon über eine Woche her, dass wir Beth besucht hatten und Ivy vermisste ihre Tante immer besonders schnell.

»Na mein kleiner Engel. Wollen wir erst mal hoch gehen? Und nachher machen wir einen schönen Spaziergang, ja?«

Es war so eine Eigenart, dass Beth meistens gar nicht mit mir redete, sondern mit Ivy. Ich hatte mich daran gewöhnt, von ihr ignoriert zu werden, galt dafür ihre Aufmerksamkeit meiner Tochter.

So gingen wir die Treppen bis in den dritten Stock und betraten Beths kleine aber gemütliche Wohnung. Beth war 29 und somit drei Jahre älter als ich, doch es fühlte sich manchmal so an, als wäre sie jünger. Vor allem in den Momenten, wenn sie sich mit ihrer Nichte beschäftigte. Ich beobachtete die beiden so gerne zusammen. Ich setzte mich aufs Sofa und atmete einmal ruhig durch. Es tat auch mal gut, nicht die ganze Zeit auf ein kleines Kind achten zu müssen.

Wir tranken schließlich einen Kaffee zusammen, während meine Tochter freudig an einem kleinen Stück Butterkuchen herum kaute.

»Kommt ihr klar?«, fragte Beth mich, als wir beide, völlig hypnotisiert von Ivys Kauversuchen, sie dabei beobachteten, wie sie über ein zweites Stückchen Kuchen hermachte.

Ich sah sie an und erkannte wieder einmal die Ähnlichkeiten zwischen uns. Ihr Haar war ebenso braun wie meines, nur trug sie es in einer modischen Kurzhaarfrisur, die ihr wirklich gut stand. Ich hatte mein Haar lange nicht mehr geschnitten, denn mir fehlte einfach die Zeit, weswegen es mir mittlerweile bis unter die Schulterblätter reichte. Auch war es eher von Wellen durchzogen und nicht so glatt wie ihres.

»Ja. Es geht schon.«

»Alex, wenn du was brauchst, sag nur Bescheid, ja?« Beth legte ihre Hand auf meine.

»Ich weiß«, antwortete ich lächelnd und drückte kurz ihre schlanken Finger. Ich wünschte, ich könnte ihr alles erklären. Einfach alles, was vor Jahren in Chicago passiert und wieso ich nun in L.A. war, auch, wer Ivys Vater war. Ich hatte einfach zu viele Geheimnisse und ich sehnte mich danach, sie mit jemandem teilen zu können, ohne dass diese Person durch das Wissen in Gefahr geriet.

Und genau da lag das Problem. Sie würden in Gefahr geraten und deshalb musste ich alles für mich behalten.

Meiner Familie hatte ich nur eine notdürftig ausgedachte Geschichte erzählt, wieso ich mit einem Mal eine Tochter hatte. Diese Geschichte beinhaltete eine Party, zwei betrunkene Personen und einen unge­schützten One-Night-Stand. Natürlich kamen die Fragen, wieso ich dem Vater nichts sagte, doch auch damit hatte ich gerechnet und einfach behauptet, ich könnte mich nicht mehr an ihn erinnern. Zu meinem Glück hatten sie mir meine Version nach einiger Zeit geglaubt. Und wer konnte schon sauer auf mich sein, dass ich eine so wundervolle Tochter hatte?

Später kam dann auch Ivy zu ihrem versprochenen Spaziergang. Wir gingen durch einen nahegelegenen Park, der einen wirklich schönen Spielplatz hatte. Dort tollten viele Kinder herum und auch wir setzen uns auf die große Wiese und genossen die angenehme Nachmittagssonne.

»Kann ich euch ein bisschen alleinlassen? Ich müsste da noch etwas erledigen und ein bisschen was einkaufen.«

»Da fragst du noch?«, sagte Beth neckisch und hielt Ivy eine kleine Butterblume hin.

»Sicher?« Ich ließ meine Tochter ungern allein, doch bei Beth war sie gut aufgehoben.

»Na klar. Geh schon.«

Ich drückte ihr einen Kuss auf die Wange und verabschiedete mich von Ivy. Diese war allerdings viel zu abgelenkt und zupfte feinfühlig die einzelnen Blätter des Blümchens ab. Ich strich ihr einmal über das weiche Haar und machte mich dann auf den Weg.

Es gab leider einige Angelegenheiten bei denen es leichter war, ohne ein Kind zu erscheinen. Mein Termin bei einer Bank gehörte dazu. Es war mittlerweile die dritte, die ich aufsuchen musste. Aus meinem früheren Leben hatte ich nur Ivy mitgenommen, weder Geld noch irgendetwas anderes war mir geblieben. Und da ich gerade nicht arbeiten konnte, weil ich niemanden hatte, der sich tagtäglich um meine Kleine kümmern konnte, war ich auf diese Bank angewiesen.

Ich war auch dank der Busverbindung pünktlich und konnte meinen Termin einhalten.

»Bitte Miss Lynne, folgen Sie mir«, sagte die Frau an der Information und führte mich in eines der Besprechungszimmer. Hinter dem edel aussehenden Schreibtisch saß ein Mann mittleren Alters. Und dieser Mann sollte nun entscheiden, ob ich meine Tochter weiterhin ernähren konnte...

»Guten Tag Miss Lynne. Mein Name ist Keith Meyer. Ich habe von meiner Sekretärin erfahren, dass Sie gerne einen Kredit bei uns auf­nehmen möchten.«

»Das ist richtig«, sagte ich und setzte mein hübschestes Lächeln auf.

»Dann freut es mich schon einmal, dass Sie sich für unsere Bank entschieden haben. Damit haben Sie schon die erste, richtige Entschei­dung getroffen. Wir können Ihnen einen sehr individuell angepassten Kredit anbieten, ganz auf Ihre Bedürfnisse zugeschnitten...«

Es folgten haufenweise Zahlen und Richtlinien, an die ich mich halten sollte, wenn ich den Kredit annahm. Vieles davon ging an mir vorbei, denn es waren hauptsächlich Phrasen aus irgendwelchen Verträgen.

»Und wie würde das laufen, wenn ich einen festgelegten Betrag und zusätzlich eine Zahlungspause benötige?« Ich legte die Hände in meinem Schoß zusammen und sah dem Mann vor mir in die Augen.

»Von was für einem Zeitraum reden wir hier?«, fragte er mich.

»Ein Jahr.«

»Und welches Summe schwebt Ihnen vor?«

»20.000 Dollar.«

»Das ist eine Menge Geld für eine alleinstehende Frau.«

»Können wir, was diese zwei Punkte angeht, eine Einigung finden?« Ich hatte keine Lust hier meine Zeit zu verschwenden, also kam ich lieber auf den Punkt.

»Nun, um Ihnen eine so hohe Summe auszahlen zu können, benötige ich einige Sicherheiten. Welcher Arbeit gehen Sie nach?«

»In einem Jahr werde ich wieder als Korrekturleserin anfangen und mich dann weiter als Journalistin oder Kolumnistin bewerben. Ich hatte bereits einige Gespräche.« Aber bisher keine Zusage, fügte ich in Gedanken hinzu.

Meyers Lippen formten sich zu einer schmalen Linie. »Das reicht für eine solche Summe nicht aus.«

»Und wenn Sie mir genau das geben, was ich möchte, und für den Fall, dass ich in einem Jahr nicht bezahle, jemand eine Bürgschaft übernimmt?« Auch ich hatte mich innformiert.

»Hm... Das würde es mir schon eher ermöglichen«, sagte er endlich, nachdem er einige Zeit auf den Bildschirm seines Computers gestarrt hatte. »Derjenige muss natürlich ebenfalls alles Benötigte vorweisen, Sie verstehen das sicher.«

Ich stand auf und lächelte freundlich. »Dann werde ich das mit der Bürgschaft in den nächsten Tagen klären und mache dann einen weiteren Termin mit Ihnen?«

»Das wäre in Ordnung, Miss Lynne.«

»Hat mich gefreut, Mister Meyer.«

»Ich begleite Sie noch nach draußen«, sagte er und erst vorne am Informationsstand verabschiedete er sich wirklich. Nun gut, immerhin war er freundlich.

Das ganze Gespräch hatte dann doch fast eine Stunde gedauert. Beth und Ivy waren bestimmt schon wieder zuhause, also würde ich auf dem Weg zu ihnen nur noch kurz etwas einkaufen, bevor ich dann wieder mit Ivy heimfuhr.

Ich wusste, dass es gleich um die Ecke einen Supermarkt gab und so machte ich mich auf den Weg um die benötigten Kleinigkeiten zu besorgen. Es mangelte zuhause nämlich an frischem Obst und auch Brot wurde wieder knapp. Außerdem brauchte ich noch einige Flaschen Saft, den Ivy so gerne trank, wenn ich ihn mit Tee vermischte. Ich tat doch einfach alles für die Süße und genauso sollte es sein.

Ich kramte gerade noch in meiner Handtasche herum und suchte mein Handy, als ich den Laden verließ und ohne auf den Weg vor mir zu achten mit jemandem zusammenstieß. Meine Tüte fiel auf den Boden, wo sich ein Teil des Inhalts auf der Straße verteilte. Mit leicht genervtem Gesichtsausdruck, wieso ich nicht lieber die Augen auf den Gehweg vor mir gerichtet hatte, als auf den Inhalt meiner Handtasche, schaute ich zu der Person, mit der ich zusammen gerasselt war. Blaue Augen sahen mir entgegen, während der dazugehörige Mann sich ein Handy ans Ohr hielt.

»Ja, Großer, ich bin schon auf dem Heimweg. Gib deiner Mutter einen Kuss von mir.« Damit legte er auf und lächelte. »Verzeihung«, sagte er zu mir und ging in die Hocke um meinen Einkauf zurück in die Plastiktüte zu packen und diese aufzuheben. Er hielt sie mir entgegen und ich konnte sein sympathisches Lächeln einfach nur erwidern.

»Nicht weiter schlimm«, meinte ich und nahm die Tasche dankend an mich.

»Dann einen schönen Abend noch«, sagte er grinsend und wandte sich wieder von mir ab um in den Supermarkt zu gehen.

Auch ich suchte mir die nächste Bushaltestelle und wartete auf den richtigen Bus um dann endlich wieder zu Beths Wohnung zurückzu­kommen.

Kapitel 2

Wie ich es vermutet hatte, waren meine beiden liebsten Menschen bereits wieder da und saßen im Wohnzimmer auf dem Boden, wo sie zusammen spielten. Ich winkte beiden nur kurz zu und ließ mich dann in den großen Ohrensessel fallen, meine Füße brachten mich um. Zu lange war ich in diesen unbequemen Schuhen umhergelaufen. Ich kickte sie einfach von mir und beobachtete die beiden beim Spielen. Ivy war nun dabei immer wieder aufzustehen, und wie es aussah, konnte es ihr nicht schnell genug gehen, endlich laufen zu können. Wie rasch doch die Zeit verging...

»Kann ich kurz dein Telefon benutzen?«

»Natürlich«, kam Beths Antwort, doch sie hatte sowieso nur Augen für meine Tochter, die sich, an ihrer Tante festhaltend, immer wieder auf die Beine zog und freudig lachte, wenn sie ein paar Schritte gegangen war. Meist landete sie dann aber immer wieder schnell auf ihrem kleinen Hintern.

Ich nahm mir also das Haustelefon und schlich in die Küche um in Ruhe sprechen zu können. Ich wählte die Nummer und nach dem vierten Klingeln nahm jemand ab.

»Lynne«, meldete sich mein Vater an der anderen Leitung. Seine Stimme klang rau.

»Hey Dad, hab ich dich geweckt?« Unser Vater lebte in Maine, dort, wo ich auch aufgewachsen war. Demnach war es bei ihm bereits drei Stunden später als bei uns.

»Nein, Kleines. Bin nur vorm Fernseher ein bisschen eingenickt. Wie geht es meiner Enkelin?«

Kleines... so nannte er mich schon mein ganzes Leben lang und würde wohl auch nicht mehr damit aufhören.

»Der geht es gut«, sagte ich, als ich einen kurzen Blick ins Wohn­zimmer warf.

»Wann sehe ich euch denn endlich mal? Ich könnte euch doch be­stimmt bei Gelegenheit besuchen, oder?«

»Bei Gelegenheit, Dad. Du weißt, dass das nicht so einfach ist.«

»Ja, das sagst du immer. Aber den Grund, wieso es nicht geht, ver­heimlichst du mir schon, seit du wieder aufgetaucht bist, mit einem Kind in deinem Bauch, von dessen Vater du mir auch nur das Notdürftigste erzählt hast.«

Immer wieder dieselbe Geschichte... Ich seufzte schwer.

»Dad, bitte. Ich will mich nicht mit dir streiten.«

»Wo bist du, Alexandra?«

»Bei Beth.«

»Grüß sie von mir. Ich finde es schön, wenn meine beiden Mädchen aufeinander aufpassen.«

»Machen wir. Da brauchst du dir nun wirklich keine Sorgen zu ma­chen.«

»Weshalb rufst du denn an, Kleines?«

»Ich habe dir doch von dem Termin bei der Bank erzählt. Ich brauche jemanden, der eine Bürgschaft für mich übernimmt«, fiel ich mit der Tür ins Haus. Bei meinem Vater wusste ich allerdings, dass er es lieber so hatte, als wenn ich stundenlang um den heißen Brei herumredete.

»Über wie viel?«

Ich nannte ihm die Summe. »Ich brauche nur noch ein Jahr, bis ich Ivy in die Kinderbetreuung bringen und wieder arbeiten kann. Ich habe mit der Bank abgesprochen, dass ich eine Zahlpause von einem Jahr kriegen kann, wenn jemand die Bürgschaft übernimmt. Ich habe bisher immer meine Schulden bezahlt.«

»Das weiß ich doch«, sagte mein Vater und ich musste lächeln. Auf ihn war einfach immer Verlass. »Lass mir die Unterlagen zuschicken, dann bekommt ihr beide, was ihr braucht. Gib meiner Enkelin einen Kuss von mir.« George Lynne war kein Mann der vielen Worte – zumindest nicht, wenn sie über ein Telefon ausgetauscht wurden.

»Das mache ich, Dad. Und danke. Du wirst sie nicht wirklich über­nehmen müssen. Die Bürgschaft, meine ich.«

»Ich vertraue dir, Alex. Lieben Gruß auch an Beth.«

»Richte ich aus. Mach's gut, Dad, und schlaf gut.«

»Ihr auch. Meld dich bald wieder.«

»Mache ich.«

Damit legte ich auf und atmete erleichtert durch. Gut, somit war mein erstes Problem aus der Welt geschafft. Nun musste ich morgen nur noch einmal in die Bank gehen und ihnen mitteilen, sie sollten die Unterlagen für die Bürgschaft an meinen Vater in Maine schicken. Mit dem Telefon in der Hand kam ich zurück ins Wohnzimmer.

»Schönen Gruß von Dad«, sagte ich zu Beth, bevor ich mich zu ihnen auf den Boden setzte und mein kleiner Engel mit zwei Schritten auf mich zukam. »Dein Opa lässt dich grüßen, mein Schatz.«

»Hat er sie schon mal gesehen?«

»Nein. Ich habe ihm mal ein Bild geschickt, aber das ist schon einige Zeit her.«

»Hat es was mit der Geschichte zu tun, über die du nicht mit mir redest?«

Ich nickte nur.

»Je weniger du weißt, desto besser ist es.«

»Das sagst du jedes Mal«, brummte Beth und ich konnte nicht anders, als bei dieser Ähnlichkeit zu unserem Vater zu grinsen.

»Ich muss morgen noch mal in die Bank, könntest du...?«

»Was für eine Frage. Und wenn Ivy dann schon mal bei ihrer Tante Beth ist, kann sie gleich über Nacht bleiben«, beschloss sie kurzerhand und kitzelte Ivy so, dass die Kleine sich vor Lachen den Bauch hielt.

»Das musst du nicht, ich kann sie doch danach wieder abholen.«

»Keine Widerrede. Ich habe dann einen ganzen Abend und eine Nacht mit meiner Nichte und du gehst endlich mal wieder aus.«

»Ich will gar nicht ausgehen«, sagte ich leise und sehnte mich dabei viel mehr nach einer heißen Badewanne, einem Glas Wein und einem Buch.

»Komm schon, das wird dir guttun. Glaub es mir, du brauchst das.« Sie zwinkerte mir zu und grinste mich breit an.

Vielleicht hatte sie ja Recht und es würde mir guttun, mal wieder auszugehen und mich zu entspannen. Ja, Entspannung und einen Cocktail konnte ich wirklich mal gebrauchen. Ich liebte meine Kleine – jetzt nannte ich sie auch schon so wie mein Vater mich – aber eine kurze Auszeit, und wenn es auch nur einen Abend war, würde uns bestimmt beiden gefallen. Vor allem liebte sie ihre Tante Beth über alles. Die beiden würden schon klarkommen.



So machten Ivy und ich uns am nächsten Nachmittag wieder auf zu Beth, aber diesmal mit Sack und Pack. Für Ivy hatte ich alles eingepackt, was sie irgendwie benötigen konnte. Von ihrem Lieblingskuscheltier über den Saft, den sie so gerne trank, bis hin zu ihrer für Kleinkinder geeigne­ten Waschlotion. Ein bisschen kam ich mir schon wie eine alte Glucke vor, aber es war das erste Mal, dass sie außerhalb unserer Wohnung schlief. Und das auch noch, wenn ich gar nicht bei ihr war.

»Freust du dich schon auf einen Abend bei Tante Beth?«, fragte ich sie, als wir in der U-Bahn saßen. Ivy grinste mich breit an und schien sich sehr darauf zu freuen, auch wenn sie sofort wieder das Gesicht verzog und ängstlich auf die vorbeiflitzenden Lichter im U-Bahn-Tunnel starrte. Die U-Bahn schien ihr noch immer etwas unheimlich zu sein, auch wenn sie nicht mehr sofort anfing zu weinen, sobald wir nur die Treppe hinunter­gingen. Zu der Zeit waren wir gezwungen immer mit dem Bus zu fahren und bei denen hatten wir das Pech, ständig umsteigen zu müssen.

Schon als wir die Treppen im Wohnhaus von Beth hinaufgingen, hatte ich das Gefühl meine Kleine bereits zu vermissen. Meine Bedenken, sie alleinzulassen verschwanden aber genauso schnell, wie sie gekommen waren, denn als ich meine Schwester in der Tür zu ihrer Wohnung sah, wusste ich, dass es keinen besseren Ort gab, an dem ich meine Tochter lassen könnte.

»Na mein Schatz«, begrüßte sie Ivy, die sich sofort Beth entgegen streckte und auf ihren Arm wollte. »Wir machen uns heute einen wirklich tollen Abend.«

»Freut mich auch, dich zu sehen«, sagte ich sarkastisch und bekam dafür nur Beths Zunge und ein Zwinkern als Antwort. Lächelnd schüttelte ich den Kopf und brachte die große Tasche mit Ivys Sachen und die kleinere mit meinen ins Wohnzimmer, dem immerhin größten Raum der Wohnung.

»Also, hier ist alles drin, was sie brauchen könnte. Und falls ihr...«

»Alex, wir kommen schon klar«, sagte Beth grinsend und ich konnte nur verlegen mit den Schultern zucken. »Es wird ihr hier an nichts fehlen.«

»Das weiß ich doch«, murmelte ich und setzte mich aufs Sofa, lächelte meine Schwester an. »Sie ist halt mein Baby.«

»Mach es dir gar nicht erst zu bequem«, lachte Beth, »geh dich lieber umziehen.«

Ich seufzte etwas zu dramatisch und stand dann mit einem gespielt gequälten Gesichtsausdruck auf, nahm die kleinere der beiden Taschen und ging ins Badezimmer. Es war klein, aber irgendwie gemütlich. Wie gewöhnlich war es weiß, doch hatte Beth eine Vorliebe für Rot. Überall fanden sich rote Accessoires und selbst der Teppich und die Handtücher hatten denselben Rotton.

Ich kramte in meiner Tasche und zog eine schwarze Hose und eine einfache dunkelblaue Bluse heraus, die ich sehr gern trug, weil ich fand, dass sie mir ein wunderschönes Dekolleté zauberte. Als ich mich umgezogen hatte, nutzte ich den Mascara und etwas von Beths Make-up. Das würde sie schon nicht stören. Und mein braunes lockiges Haar band ich mir zu einem einfachen aber festen Pferdeschwanz zusammen.

Fertig.

Als ich dann wieder aus dem Bad kam, war das Erste, was ich hörte, Ivys giggelndes Lachen.

»Lasst ihr mich so gehen?«, fragte ich lächelnd und zog so die Auf­merksamkeit meiner beiden liebsten Menschen auf mich.

»Nein.«

»Was?« Ich hätte mich beinahe an meiner eigenen Spucke verschluckt...

»Nein«, lachte Beth und stand mitsamt Ivy auf, die sie mir in die Arme drückte. »Warte kurz.«

Ivy grinste mich an und streckte ihre kleine Hand zu mir aus. Sachte berührte sie meine leicht rötlichen Lippen. Ich küsste ihre Hand und sie zog sie ganz schnell lachend zurück. Das Ganze wiederholte ich schmun­zelnd auch noch bei ihrer anderen.

»Du ziehst den hier an«, sagte mit einem Mal Beth, die gerade aus ihrem Schlafzimmer kam. In ihren Händen hielt sie einen schneeweißen Rock.

»Dein Ernst?« Ich war skeptisch.

»Zieh ihn an, Schwesterherz. Der wird dir stehen.«

»Aber ich bin eine Mom!« Da zog man doch keine weißen Röcke an!

»Ja, eine junge, hübsche und äußerst sexy Mom, sobald du diesen Rock anhast«, meinte Beth und fuhr sich mit der Hand durch ihr kurzes Haar.

Mit einem Seufzer tauschte ich den Rock gegen Ivy und verzog mich ein weiteres Mal ins Bad. Nun gut, schlecht sah er wirklich nicht aus. Er war immerhin knielang, hatte eine schöne A-Form und schwang wunderbar mit, wenn ich mich bewegte. Ein wirklich schönes Teil.

»Das ist viel besser«, fand Beth, als sie mein Outfit von Neuem be­trachtete. »Was meinst du, Ivy? Sieht deine Mami nicht heiß aus?«

Ivy lachte – so wie immer – und auch wir mussten lachen. Als ob sie das schon verstehen würde. Um ehrlich zu sein, würde ich mir Sorgen machen, wenn sie das so verstand, wie es gemeint war.

Ich verabschiedete mich schließlich von den beiden und nahm den nächsten Bus, der mich zur Bank bringen würde. Es war nicht ungewöhn­lich, dass die Banken bis spät abends geöffnet hatten, L.A. gehörte schließlich zu den Städten, die niemals schliefen.



Er betrachtete ihr Bild auf dem Monitor.

Alexandra Lynne war eine wirklich schöne Frau. Groß, nach seinen Schätzungen etwa sechs Fuß, schlank aber mit tollen Kurven. Sie hatte breite Hüften, die sich in der Jeans und dem einfachen Shirt deutlich abzeichneten. Ebenso wie ihr üppiger Busen. Und auch ihre Schlüssel­beine konnte man sehr gut sehen, was sie auch zierlicher erscheinen ließ. Ein Widerspruch, der ihm sehr gefiel. Sein Blick wanderte höher und er betrachtete genauer ihr Gesicht. Stechend grüne Augen blickten ihm von diesem Bild entgegen. Sie hatte ein hübsches Gesicht mit leichten Sommersprossen, recht symmetrisch, wenn er es beurteilen müsste. Dazu die braunen, langen Locken, die ihr bis in die Mitte ihres Rückens reichten.

Ein Bild von einer Frau!

Selten waren die Objekte, die er suchen sollte, dermaßen hübsch.

Vor allem hatte er mehrere Wochen gebraucht, um sie tatsächlich ausfindig zu machen. Sie wollte wohl nicht gefunden werden...

»Ist sie das?«

»Ja«, sagte er, sah aber nicht von dem Monitor auf. »Das ist sie«, fügte er leise hinzu und wusste dabei, dass der andere Mann es nicht mehr hören konnte. Er würde dem anderen nichts sagen, denn er arbeitete immer allein. Abwartend sah er den anderen an, bis dieser endlich den Raum verließ und er wieder auf den Monitor sehen konnte.

Ihr Gesichtsausdruck auf diesem Bild war wirklich süß. Etwas über­rumpelt und doch so, als wäre sie in Hektik. Ihre Augen leuchteten. Dass sie genau in seine versteckte Kamera geblickt hatte, konnte sie gar nicht bemerkt haben. Er selbst hatte sie nur sehr kurz angesehen, als er sich bei ihr entschuldigt hatte.

Ein zufälliges Anrempeln und es war ihm möglich gewesen diese perfekte Aufnahme von ihr zu machen.

Nun wusste er es mit Sicherheit. Sie war in L.A. und er würde sie wiedersehen.

Kapitel 3

Ich erreichte die Bank gerade noch rechtzeitig, um den kurzfristigen Termin, den ich per Telefon ausgemacht hatte, wahrzunehmen. Die Eingangshalle war schon erstaunlich leer, als ich hineinging und nach einer kurzen Aufforderung direkt in das Büro von Mister Meyer geführt wurde. Er erwartete mich schon lächelnd.

»Guten Abend, Miss Lynne«, begrüßte er mich und streckte mir seine Hand entgegen, die ich natürlich ergriff. »Bitte setzen Sie sich doch.« Er deutete auf den Stuhl gegenüber von seinem und wir setzten uns beide.

Es war ungewohnt für mich, mal wieder in einem Rock zu stecken, und so achtete ich sehr penibel darauf, dass er auch ja ordentlich saß. Hosen waren doch so viel einfacher. Ich schlug ein Bein über das andere und sah dann zu Mister Meyer.

»Nun, Miss Lynne. Haben Sie noch immer Interesse an diesem speziellen Angebot zu den gestern genannten Konditionen?«

»Das habe ich«, sagte ich und zog einen Zettel aus der Handtasche, auf den ich die Adresse von meinem Vater geschrieben habe. »Und ich habe jemanden, der die Bürgschaft, auch wenn sie nicht nötig sein wird, übernehmen würde.«

»Um wen handelt es sich dabei?«

»Um meinen Vater, George Lynne. Macht es die Sache schwieriger, dass er in Maine lebt?«

Mister Meyer lachte und notierte sich kurz den Namen meines Vaters. »Nein. Zu Ihrem Glück haben wir auch einige Filialen in Maine. Das sollte kein Problem sein.« Er schrieb noch einige andere Details auf einen Vordruck und wollte dann nur noch eine Unterschrift von mir haben. Ich setzte sie auf die Linie und schob die Unterlagen mitsamt dem Kugel­schreiber zu Mister Meyer zurück.

»Ich werde die Dokumente nach Maine schicken. Ihr Vater sollte dann seine Unterschrift daruntersetzen. Sobald diese Unterlagen wieder hier sind, werde ich mich bei Ihnen melden.«

»Klingt sehr gut«, sagte ich und erhob mich. Wir schüttelten noch einmal die Hände und schon verließ ich die Bank wieder. Das Ganze war erstaunlich schnell gegangen.

Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es erst kurz nach acht Uhr am Abend war. Ich konnte mich jetzt doch noch nicht in irgendeine Kneipe setzen und Alkohol trinken. Die Entscheidung wurde mir dann aber doch sehr einfach abgenommen, als mein Bauch anfing zu knurren. Vielleicht sollte ich den Abend erst einmal mit einem kleinen Essen und einer Tasse Kaffee beginnen. Ich ging die Straße entlang, und da ich kein spezielles Ziel hatte, schaute ich hier und da durch die Fenster der kleinen Cafés und Restaurants. Schlussendlich entdeckte ich ein kleines Bistro, welches ich sehr ansprechend fand. Es gab viele, vereinzelnd stehende Tische, an denen immer zwei bis vier Stühle standen. Der Tresen wirkte sehr elegant und war in warmen Brauntönen gehalten. Es schien im Ganzen sehr gemütlich und freundlich. Dort bestellte ich mir am Tresen ein belegtes Sandwich und einen Milchkaffee und suchte mir dann einen freien Tisch mit gutem Blick auf den Rest des Bistros. Nach dem Snack blieb ich noch eine ganze Zeit sitzen und war immer wieder verwundert, wie viele Menschen doch zu so einer Uhrzeit noch etwas zu Essen kauften, bevor sie vermutlich nach Hause fuhren. Dieses Bistro schien einen guten Ruf zu haben, denn alle Tische waren nur kurze Zeit später besetzt. Da ich noch nicht vorhatte zu gehen, bestellte mir ein Wasser, damit es nicht so aussah, als würde ich den Platz nur zu meinem Vergnügen blockieren. Außerdem fand ich es immer sehr spannend, die Menschen um mich herum zu beobachten. Manche waren hektisch, andere kaputt von einem langen Arbeitstag und wieder andere, zu denen ich mich gerade auch zählte, wollten vor einem hoffentlich schönen Abend noch etwas essen, bevor es schließlich in eine der Diskotheken oder Bars ging. Das hatte ich schon früher immer gerne getan. Mit einem leckeren Getränk in der Hand, konnte ich stundenlang das Treiben um mich herum beobachten und es wurde nie langweilig.

»Ist der Stuhl hier noch frei?«, sprach mich mit einem Mal jemand an.

Ich sah zu der Person auf, die mit einer Tasse dampfendem Kaffee an meinen Tisch herangetreten war.

»Ähm, ja«, sagte ich und schob meinen leeren Teller zur Seite, damit er seine Tasse mit auf den kleinen runden Tisch stellen konnte.

»Ich hoffe, es stört Sie nicht. Aber nach einem ganzen Tag auf den Beinen bin ich froh, ein wenig sitzen zu können.« Er lächelte charmant und zeigte dabei seine weißen geraden Zähne. Seine blauen Augen musterten mich neugierig. Wieso kam er mir denn so bekannt vor?

»Sagen Sie mal, kenne ich Sie irgendwoher?«, fragte ich ungeniert und lächelte.

Er sah mich noch einen Moment lang an, fuhr sich währenddessen mit der Hand durch sein blondes strubbliges Haar, bevor sein Lächeln breiter wurde. »Jetzt weiß ich, was Sie meinen«, sagte er. »Ohne Ihre Einkaufs­tasche habe ich Sie gar nicht erkannt.«

Natürlich, da fiel es mir auch wieder ein. Er war der Mann, mit dem ich vor dem Supermarkt zusammengestoßen war. Es war ja nur ein flüchtiger Blick gewesen und doch hatte ich mich nicht geirrt, dass er mir bekannt vorkam.

»Richtig«, schmunzelte ich. »Klein ist die Welt.«

»Sie sagen es. Mein Name ist Noah Black, freut mich, Sie noch mal so zufällig zu treffen«, meinte er lächelnd und streckte mir seine Hand entgegen.

»Alexandra Lynne. Aber nennen Sie mich ruhig Alex.«

»Gerne, Alex. Was machen Sie hier? Ganz allein?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Nichts Besonderes«, gab ich zu und konnte nicht anders, als ihm immer wieder in diese faszinierend blauen Augen zu sehen. Ich wollte ihn gerade dasselbe fragen, als sein Handy klingelte.

»Entschuldigen Sie mich kurz?«

Ich nickte und beobachtete, wie er das Bistro verließ und draußen an sein Handy ging. Er redete nur kurz, lächelte dabei immer wieder bevor er es wieder in seiner Hosentasche verstaute und zu unserem Tisch zurückkam. Er sah wirklich schick aus, das musste ich zugeben. Mit der schwarzen Hose, einem weißen Shirt, und der offen getragenen Leder­jacke schaute er gleichzeitig lässig und gut aus. Was mir erst auffiel, als er sich wieder setzte, war sein V-Ausschnitt und das sich leicht kräuselnde helle Brusthaar, welches ein kleines bisschen zu sehen war.

»Mein Sohn«, erklärte er sich.

»Ich hoffe, es ist alles in Ordnung?«

»Ja«, winkte er ab. »Er wollte mir nur Gute Nacht sagen.«

»Wieso sind Sie denn dann nicht bei ihm?« Gerade als ich die Worte ausgesprochen hatte, hätte ich mir am liebsten die Zunge abgebissen. »Oh, Entschuldigung. Das geht mich natürlich nichts an«, versuchte ich die Situation zu retten.

Doch Noah lächelte nur und nahm einen Schluck von seinem Kaffee. »Nein, alles in Ordnung. Seine Mutter und er leben in Montana. Ich sehe ihn deshalb nur selten. Seit ich ihm ein eigenes Handy geschenkt habe, ruft er mich jeden Abend an.«

»Das ist eine schöne Idee. Sie leben wegen Ihres Jobs in L.A.?«

»Wollen wir das Sie nicht sein lassen?« Er sah mich an und zog eine Augenbraue neckisch nach oben.

»Okay. Also lebst du wegen deines Jobs in L.A.?«, wiederholte ich meine Frage, nur dass ich zwei kleine Wörtchen verändert hatte.

»Ja. Und auch wegen der Tatsache, dass ich Abstand zu meiner Frau brauchte. Es läuft nur noch zum Schein.«

»Dein Sohn weiß das noch gar nicht?«

Noah schüttelte den Kopf. »Nein. Wir wollen es ihm bald sagen, aber zurzeit ist es schlecht.«

Es blieb einen ganzen Moment ruhig zwischen uns und ich war ver­wundert, dass ich gerade mit einem eigentlich wildfremden Mann über persönliche Dinge redete. Nun, es waren seine persönlichen Dinge, aber dennoch. Und ich musste feststellen, dass er einen wirklich netten Eindruck auf mich machte und dass es mir gefiel, mich ein wenig mit Noah zu unterhalten.

»Aber genug von meinen Beziehungsproblemen«, sagte er und sah mich auffordernd an.

»Was ist mit dir, Alex?«

»Ich lebe allein.« Gut, das war nicht ganz die Wahrheit, aber ich musste einem fremden Mann nicht gleich auf die Nase binden, dass ich eine Tochter hatte. »Momentan bin ich noch auf Jobsuche.«

»Was möchtest du denn machen? Vielleicht kenne ich ja jemanden, der dir helfen könnte.«

Ich lachte. »Eigentlich wollte ich immer Journalistin werden, habe aber keine passende Ausbildung. Mir würde es auch erst mal reichen, bei einem Verlag als Aushilfe oder so anzufangen.«

»Und dann die Karriereleiter emporklettern?«

»Im Idealfall.«

Nun war es Noah, der lachte.

»Was machst du beruflich, wenn wir gerade beim Thema sind?«, fragte ich neugierig und innerlich dankte ich Beth bereits, dass sie mir so in den Hintern getreten hatte, damit ich ausging.

»Ich bin Vertreter. Und bevor du etwas sagst, ja es ist genauso lang­weilig, wie es klingt, aber es bringt Geld in die Kasse.«

»Darf es für Sie noch etwas sein?«, fragte uns mit einem Mal eine Bedienung, doch wir lehnten beide ab und baten lediglich um die Rechnung. »Zusammen oder getrennt?«, erkundigte sie sich und legte den Ausdruck der Rechnung auf den Tisch.

»Zusammen.« – »Getrennt«, sagten wir zeitgleich und noch bevor ich etwas erwidern konnte, hatte Noah die Rechnung komplett bezahlt und der Bedienung auch noch ein ordentliches Trinkgeld spendiert.

»Das wäre wirklich nicht nötig gewesen«, murmelte ich und fühlte mich ein bisschen schlecht deshalb. Schließlich kannte ich ihn doch gar nicht.

»Ich finde schon.«

»Danke, Noah.« Sein Name klang irgendwie schön, wenn man ihn laut aussprach...

»Was hattest du denn jetzt vor?«

»Ich wurde quasi dazu verdonnert, mal wieder auszugehen. Ich hab bisher kein spezielles Ziel, aber irgendeine Kneipe wird sich schon finden lassen.«

»Da bist du in der richtigen Straße. Hier gibt es alle zwanzig Meter ein anderes Lokal.«

»Dann sollte es ja nicht lange dauern, eines zu finden«, lächelte ich. Ich nahm also meine Tasche und schlüpfte in meine Jacke. Als wir das Bistro verließen, hielt Noah mir die Tür auf. Ich hatte völlig vergessen, wie schön es war, mit einem anständigen Mann auszugehen.

Doch halt! Dieser Mann war verheiratet und hatte einen Sohn. Von dem sollte ich gepflegt die Finger lassen.

Obwohl... Er hatte gesagt, dass mit seiner Frau nichts mehr lief...

Ach, was sollte es schon!

»Hast du noch Lust mich zu begleiten?«, sprach ich die Worte aus, die mir durch den Kopf schwirrten. »Auf ein Bier oder so.«

»Aber nur eins«, lachte er, »ich muss nämlich noch fahren.«

»Einverstanden«, sagte ich.

Dann gingen wir ruhig die Straße entlang und fanden auch bald schon eine kleine Bar, die wirklich gemütlich aussah und zu meiner Freude konnte man dort auch Cocktails bestellen und nicht nur die üblichen Mixgetränke und Bier.

Nach einem großen Strawberry Colada für mich und einem einfachen Bier für Noah setzten wir uns in eine der gerade freigewordenen Sitzecken.

»Darf‘s noch etwas sein?«, fragte eine der Bedienungen.

»Ich nehme noch so einen«, sagte ich grinsend und spürte dabei schon den Alkohol in meinem Körper. Er glühte auf meinen Wangen, ließ mich sicherlich eine gesunde Gesichtsfarbe bekomme. Es schmeckte aber auch einfach zu gut und außerdem musste ich den heutigen Abend ein wenig ausnutzen. Wann bekam ich schon mal die Gelegenheit in einer Bar einen Cocktail zu trinken?

»Für mich ein alkoholfreies Bier.«

»Alkoholfrei«, murmelte ich belustigt und kassierte dafür einen ver­schmitzten Blick von Noah.

»Ich sagte doch, ich muss noch fahren.«

»Ja, ich habe es nicht vergessen«, grinste ich. Meine Güte, es fühlte sich wirklich mal wieder richtig toll an, ein unbeschwertes und einfaches Gespräch zu führen.

»Wie alt bist du eigentlich, Alex?«, fragte Noah mich, als wir unsere Getränke bekamen.

»26.«

»Ich bin 31. Das darf man eigentlich gar nicht zugeben, oder?«

»Ach was. Das sieht man dir gar nicht an«, lachte ich. Was war denn nur mit mir los? Es war doch nur ein Drink gewesen – und der zweite, aber von dem hatte ich noch nicht viel getrunken.

»Oh vielen Dank«, lachte Noah und nahm einen Schluck seines alko­hol­freien Biers. »Hast du einen Freund?«

Ich sah in seine blauen Augen und es schien mir so, als würden Fun­ken in ihnen herumwehen. Faszinierend.

Ich schüttelte nur den Kopf und rührte in meinem Cocktail. Ich hatte gar keine Zeit für die Suche nach einem neuen Mann gehabt. Die letzten Monate war ich einfach viel zu beschäftigt gewesen.

»Das glaube ich dir nicht! Eine so schöne, attraktive Frau.«

Hatte er mich gerade als schön und attraktiv beschrieben?

Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss. Wann war das letzte Mal gewesen, dass mir jemand ein solches Kompliment gemacht hatte? Ich bekam eine Gänsehaut, hatte wohl völlig verlernt, wie man mit Komplimenten umging.

»Danke. Aber es hat sich in der letzten Zeit einfach nicht ergeben.«

»Und doch sitzt du jetzt hier mit mir.«

Wieder dieses Funkeln in seinen Augen...

»Sieht so aus, oder?« Ich erwiderte seinen intensiven Blick. Ich war tatsächlich dabei, mit diesem gutaussehenden Mann zu flirten! Dass ich das noch mal erleben durfte...

Doch mit einem Mal fühlte ich mich unwohl. Was erhoffte Noah sich von mir, nun, wo er mir den ganzen Abend über Getränke ausgegeben hatte und wir hier so zusammensaßen und über uns redeten? Ich wusste, wie Männer tickten. Sie dachten, dass jede angetrunkene Frau nach ein paar Drinks weiter gehen würde als eine nüchterne. Und für das, was die meisten dann erwarteten, war ich definitiv noch nicht bereit.

Es war schön gewesen, ja, aber vielleicht war es nun besser, es bei einer schönen Erinnerung zu belassen. Ich wollte schließlich nicht, dass er schlecht von mir dachte. Es sollte in seinen Augen nicht so aussehen, als hätte ich mich den Abend über von ihm verköstigen und ihn dann einfach fallen gelassen.

»Was ist mit dir?«, riss Noah mich aus meinen Gedanken. Seine Hand legte sich leicht auf meine und ich widerstand dem Drang, sie zurückzu­ziehen. »Du wirkst mit einem Mal so verstört. Alles in Ordnung?«

»Ja, alles okay«, sagte ich und ich hoffte inständig, dass er das leichte Zittern in meiner Stimme nicht bemerkte. »Ich glaube nur, ich hatte genug.« Ich deutete mit einem Lächeln auf meinen Cocktail.

»Möchtest du lieber gehen?«

Ich nickte und griff nach meiner Jacke. Wir verließen die Bar und ich hielt Ausschau nach der nächsten Bushaltestelle.

»Komm, ich nehme dich mit. Mein Auto steht nur eine Querstraße von hier.«

»Ist schon gut, ich bin auch mit dem Bus hergekommen.«

»Die fahren doch aber zu so bescheidenen Zeiten um diese Uhrzeit. Na los.«

Ich nickte und folgte ihm den Weg entlang. Viel sprachen wir nicht, während wir zu seinem Wagen gingen. Es wurde nachts schon sehr kalt und so war ich mehr damit beschäftigt, mich fester in meine Jacke zu wickeln und meine Füße weiter anzutreiben, mich noch dieses Stück zu tragen, als ein neues Gespräch mit ihm anzufangen. Ich war diese hohen Schuhe einfach nicht gewohnt.

»Er steht gleich hier um die Ecke«, sagte Noah und ging in eine recht dunkle Seitenstraße.

Alle Alarmglocken in meinem Kopf läuteten wie wild. Das war mir definitiv zu unheimlich. Nur langsam ging ich hinter ihm her. Noah wartete kurz und nebeneinander schritten wir durch die Gasse. In etwa zwanzig Metern Entfernung, vom Schatten der angrenzenden Häuser fast gar nicht zu sehen, stand ein schwarzer Chevrolet.

Mein Bauch sagte mir, dass das keine gute Idee mehr war. War sie das jemals gewesen?

Meine Schritte wurden wie von selbst langsamer, bis ich schließlich stehen blieb. »Ach weißt du, ich will dir wirklich keine Umstände machen und nehme doch lieber ein Taxi.«

»Das musst du doch nicht.«

»Nein, ist schon okay so. Hat mich gefreut, Noah«, sagte ich und drehte mich um, um aus dieser Gasse wieder heraus zu kommen.

Ich hörte Schritte hinter mir, als Noah mir hinterherlief.

»Alex«, rief er, und als ich mich umdrehte, da ich damit rechnete, er wollte sich nur von mir verabschieden, erstarrte ich zu Stein. »Du steigst sofort in das Auto!«, hallte seine Stimme bedrohlich laut durch die Gasse.

Mein Blick war wie gefangen. Gefangen von einem Gegenstand in Noahs Hand.

Denn ich starrte genau in den Lauf einer Pistole.

Kapitel 4

Bethany hatte es kaum erwarten können, Alex mal wieder zum Aus­gehen zu bewegen, und sie freute sich riesig auf einen Abend mit ihrer Nichte. Dass die Kleine ein so aufgewecktes Gemüt hatte, verblüffte sie immer wieder. Ivy war fast immer gut drauf, nur wenn sie wirklich etwas hatte, weinte sie. Im Ganzen war sie einfach ein Engel.

»Worauf hast du Lust?«, fragte sie Ivy, die sie auf einer Decke auf dem Boden abgesetzt hatte und die nun lachend zu ihrer Tante aufblickte. Beth musste sie einfach anlächeln. Sie setzte sich zu ihrer Nichte und konnte nicht anders, als die Kleine ein bisschen zu kitzeln. Beth liebte dieses unbeschwerte Lachen. Wie gut es diesem Mädchen gehen musste, da konnte man wirklich neidisch werden.

Ivy gluckste und strahlte, hielt sich dabei immer wieder die Hände vors Gesicht, doch ihre Tante war unnachgiebig. Als sie sich beide vor Lachen kaum noch halten konnten, nahm Beth Ivy in den Arm und ging mit ihr in die Küche. Zusammen zauberten sie ein einfaches aber leckeres Abend­essen. Alles was Beth an Gemüse gemacht hatte, wurde für Ivy noch ein wenig kleiner geschnitten und ganz kurz püriert. Dazu bekam sie, wie Alex ihr gesagt hatte, etwas hartes Brot, damit ihr Zahnfleisch nicht so sehr juckte, weil die kleinen Zähnchen hindurchwollten.

Nach dem Essen hieß es dann für Ivy, in die Badewanne zu hüpfen, und auch wenn Beth es gar nicht vorgehabt hatte, so wurde sie doch so nass, als wäre sie selbst mit in der Wanne gewesen. Es machte dennoch beiden einen Heidenspaß. Als Ivy fertig gebadet und mit ihrem Schlaf­anzug, auf dem kleine Teddybären waren, angezogen war, setzte Beth sie ab und zog sich ebenfalls ihre Pyjama an, da ihre Sachen viel zu nass waren, um sie noch länger zu tragen.

Sie spielten noch eine ganze Zeit im Wohnzimmer miteinander, wäh­rend im Fernsehen ein animierter Kinderfilm lief, den Ivy immer wieder fasziniert verfolgte.

Ein herzhaftes Gähnen zeigte Beth schließlich, dass es Zeit war, ins Bett zu gehen. Da sie selbst kein Kinderbett hatte, würde Ivy einfach mit in ihrem Doppelbett schlafen. Da gab es genug Platz, und da Beth ohnehin einen sehr leichten Schlaf hatte, würde sie es mitbekommen, falls Ivy aufwachte. Die Gefahr, dass sie aus dem Bett fiel, war natürlich da, doch vertraute Beth darauf, dass sie sich auch im Schlaf bestens ver­standen.

Sie legte Ivy zu ihrer Linken und deckte sie zu. Fix holte Beth noch Ivys Lieblingskuscheltier und gab ihr den Teddybär.

»Mama«, brabbelte die Kleine, die zwar schon einige Worte sagen konnte, aber dennoch ziemlich sprechfaul war.

Kurz überlegt Beth, ob sie Alex anrufen sollte, doch dann entschied sie sich dagegen. Ihre Schwester sollte den Abend genießen und wahrschein­lich hatte sie gerade erst abgeschaltet, da war es nicht sinnvoll, sie gleich in ihre Welt zurückzuholen.

Beth lächelte und umarmte ihre heißgeliebte Nichte. »Deine Mama ist doch ausgegangen. Und vielleicht lernt sie auch jemanden kennen, der dich mal genauso lieb hat wie ich.«

Was erzählte sie da eigentlich? So wie sie ihre Schwester einschätzte, würde es noch Jahre dauern, bis sie sich mal wieder auf einen Mann einließ. Zwar hatte Alex ihr nie viel über Ivys Herkunft erzählt, doch es war nicht schwer zu erraten, dass sie keinen Wert auf einen neuen Mann in ihrem Leben legte.

»Lass uns schlafen, meine Süße, ja?«

Ivy rieb sich gähnend die Augen. Schon nach kurzer Zeit schlummerte sie friedlich und atmete ganz ruhig. Und auch Beth schloss die Lider und fand gleich nach Ivy in den Schlaf.



Ich konnte mich nicht bewegen und starrte einfach nur in den Lauf der Pistole. Mein Körper begann zu zittern.

Wieso richtete Noah eine Waffe auf mich? Und wieso wirkten seine vorhin noch so freundlichen Gesichtszüge nun so hart und eiskalt?

»Was soll das, Noah?«, wimmerte ich, da mir zu mehr die Kraft in der Stimme fehlte.

»Steig in den Wagen!«, wiederholte er sich und deutete auf den Chevrolet Impala, wie ich ihn nun erkennen konnte. Wo war dieser nette Mann von vorhin? Seine blauen Augen funkelten mich zornig an. Hatte ich ihm etwas getan?

»Warum? Was...« Doch ich erstarrte mitten im Satz, als ein lauter Knall durch die Gasse hallte und die Kugel eine blecherne Mülltonne neben mir traf. Mein Herz setzte einen Schlag aus.

»Beim nächsten Mal treffe ich dein Bein«, drohte er mir und ich brachte mich tatsächlich dazu, einen Schritt auf das Auto zuzugehen. »Und jetzt beweg dich.«

Ich nickte panisch, konnte meinen Blick aber nicht von der Waffe lösen, die er noch immer auf mich richtete. Ich verstand das alles nicht, auch wenn mein Unterbewusstsein mich anschrie, dass ich es doch eigentlich hätte wissen müssen. Es hatte doch unmöglich ein Zufall sein können. Wieso war mir das nicht aufgefallen? Ich kannte schließlich nur einen Mann, der zu so etwas fähig war. Doch ich hatte mich täuschen lassen. Von Noahs blauen Augen und seiner charmanten Art.

Ich erreichte das Auto und öffnete die Tür. Noah stand auf der Fahrer­seite und stieg fast zeitgleich mit mir zusammen ein. Auf diesem engen Raum im Wagen war mir die Waffe mit einem Mal viel näher. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter und fasste den Mut, meinen Blick von der Waffe zu lösen und dafür in Noahs Augen zu sehen.

»Öffne das Handschuhfach.« Seine Stimme klang tief, rau und bedroh­lich. Nicht mehr so zart und freundlich wie zuvor.

Mich überkam eine weitere Gänsehaut, dann streckte ich meine Hand aus und öffnete das Fach. Neben Papierkram lagen dort ein Paar Handschellen.

»Leg sie an.«

Mit zitternden Händen nahm ich die kühlen Fesseln und ließ die erste um mein Handgelenk zuschnappen. Ich warf einen kurzen Blick zurück auf Noah, doch er starrte mich nur ausdruckslos an. Dann befestigte ich die Handschelle auch an meinem anderen Handgelenk. Ich ließ meine Hände sinken und bettete sie auf meinen Beinen.

»Gut. Jetzt bleib ruhig sitzen«, sagte er, und als ich nickte, steckte er die Waffe endlich weg.

Ich atmete noch einmal tief durch und war erleichtert, dass die Pistole aus meinem Blickfeld verschwunden war.

»Was soll das, Noah?« Meine Stimme zitterte und ich spürte bereits die ersten Tränen in meinen Augen. Ich versuchte sie wegzublinzeln, doch sie waren hartnäckig und kamen immer wieder.

»Es ist nichts gegen dich, Alex, nur mein Job«, sagte er und startete den Motor. »Und ich muss meinen Auftrag erfüllen.«

»Deinen Job?«

»Ja«, war seine einfache Antwort.

»Für wen?« Meine Stimme hatte ihre Kraft zurück. Ein beschissener Auftrag?

»Das darf ich dir nicht sagen.« Er verriegelte die Türen und fuhr aus der Gasse auf die nächste Straße. Noah hielt sich genau an die Geschwin­dig­keitsbegrenzungen, sodass wir erst gar nicht auffallen konnten. Niemand würde etwas sehen, das in irgendeiner Weise merk­würdig erschien, nur zwei Personen, die in einem Auto saßen.

Ich musste etwas tun. Ich konnte mich unmöglich so von ihm ver­schleppen lassen. Doch was sollte ich unternehmen? Ich war gefesselt und auch körperlich war ich Noah weit unterlegen. Ein irrwitziger Gedanke kam mir in den Sinn: War der Angriff nicht manchmal die beste Deckung?

»Sag mir, wer dir diesen Auftrag erteilt hat«, forderte ich und sah ihn an.

In Noahs Gesicht rührte sich keine Miene, er starrte nur auf die Straße und achtete auf den Verkehr.

»Sprich mit mir!«

»Halt die Klappe! Oder willst du, dass ich dir einen Knebel in dein vorlautes Mundwerk stopfe?«, brüllte er und ich zuckte unweigerlich zusammen. Ich biss die Zähne zusammen, überlegte, was ich tun konnte.

Während ich über eine mögliche und erfolgreiche Flucht nachdachte, fuhren wir weiter und schon bald erreichten wir die Vororte von Los Angeles. Hier war es um diese Uhrzeit totenstill und ziemlich leer. Nur hier und da sah ich ein paar Jugendliche oder Menschen, die ihre Hunde ausführten. Es war erschreckend, denn mir lief die Zeit davon. Mir musste einfach etwas einfallen.

»Ich kann dir Geld geben. Mehr als du für diesen Auftrag bekommst.« Klasse, etwas Besseres konnte mir ja auch nicht einfallen. Als ob er darauf eingehen würde...

»Du hast kein Geld«, sagt er, und dabei war es wie eine Feststellung formuliert.

»Aber ich kann es besorgen.«

»Von deinem Vater in Maine?«

Ich starrte ihn verdutzt an. Woher wusste er von meinem Vater?

»Ja, ich weiß, wer er ist und wo er lebt. Also wenn du nicht brav bist und jetzt deinen süßen Mund hältst, muss ich wohl einen Umweg über Maine machen.«

»Nein!«, brachte ich schnell hervor und sah ihn mit großen Augen an. »Bitte, ich... bin auch still«, sagte ich schließlich und blickte auf meine gefesselten Hände. Hatte das nicht auch etwas Gutes, dass er als Druckmittel meinen Vater benutzte? Es war eine kuriose Feststellung, dennoch beruhigte sie mich. Wenn er so viel über mich wusste, war es da nicht sinnvoller, eine Mutter mit ihrem eigenen Kind zu bedrohen als mit ihrem Vater? Ich schöpfte Hoffnung, dass er vielleicht gar nichts von Ivy wusste. Sollte ich tatsächlich so viel Glück haben?

Noah fuhr den Chevy schließlich auf die Interstate 15, auf der wir L.A. verließen. Ein ungutes Gefühl wuchs in mir, je weiter wir uns von der Stadt entfernten. Mein Magen verkrampfte sich jedes Mal, wenn ich an meine Befürchtung dachte. Ich wollte es einfach nicht wahrhaben, dass sie sich bestätigten. Dieses Gefühl, welches ich hatte, wollte jedoch nicht verschwinden. Ich hatte so eine Ahnung, wer hinter dieser ganzen Sache steckte, und wenn ich damit Recht hatte, dann wusste ich auch ganz genau, wo Noah mich hinbringen würde.



Noah hätte nicht gedacht, dass er sie tatsächlich mit seiner Waffe bedrohen musste, um sie in sein Auto zu bekommen. Eigentlich hatte er gehofft, sie würde einfach einsteigen, denn dann hätte er sie mit zu der präparierten Wohnung genommen und sie da für die Fahrt bereit gemacht. Doch nun waren sie bereits auf der Interstate 15 und ein Umkehren würde viel zu lange dauern.

Alex war die vergangenen zwei Stunden sehr ruhig gewesen.

Gerade fuhren sie bei Barstow auf die Interstate 40, da schien sie sich ihrer Lage wieder bewusst zu werden, denn sie versteifte sich in ihrem Sitz und zitterte unaufhörlich.

»Ist dir kalt?«, fragte er, denn schließlich sollte er sie unversehrt ab­liefern. Frostbeulen gehörten da nicht an ihren schlanken Körper und würden ihn wahrscheinlich um einige Hunderter bringen.

Sie sagte nichts, dennoch stellte er die Heizung an, da er sehr gut verstehen konnte, wenn sie in einem so dünnen Rock fror. Die Jacke hatte sie eng um sich gezogen und versuchte dabei, ihre Hände so ruhig wie möglich zu halten, damit sie das Klappern der Handschellen nicht ständig daran erinnerte, in welcher Situation sie sich befand.

Dieses Verhalten hatte er schon oft beobachten können. Am Anfang widersetzten sie sich alle, manche jedoch mehr als andere. Alex war da sehr ruhig geblieben, als Noah ihren Vater erwähnt hatte.

Danach folgte meist eine Phase, in der sie in sich gekehrt dasaßen und aus dem Fenster starrten. Er hasste diese Zeit, denn da sie keine ihrer Emotionen nach außen hin zeigten, fiel es ihm schwer sie einzuschätzen. Alex hielt er auf keinen Fall für dumm, weshalb er nicht dachte, dass sie irgendein gewagtes Fluchtmanöver aus einem fahrenden Wagen heraus veranstalten würde.

Ja, auch das hatte es bereits gegeben. Jedoch nur einmal. Danach hatte er die Beifahrertür so eingestellt, dass sie nur von außen geöffnet werden konnte, und auch das Fenster ging nur ein kleines Stück auf, damit sie nicht mit ihren langen dünnen Armen hindurchgreifen und so von außen die Tür öffnen konnten. Bei seinen ersten Aufträgen hatte er wirklich viel dazugelernt.

Nein, sie zu anständig und gefasst, dachte mehr über ihre Situation nach als andere.

»Brauchst du etwas?«, versuchte er sie zum Reden zu bewegen, doch wieder blieb sie ruhig und schüttelte nur den Kopf.

»Antworte mir gefälligst!«, rief er strenger und auch lauter, was sie zusammenzucken ließ. Er spürte ihren Blick auf sich und sah zu ihr. Ihre wachsamen grünen Augen musterten ihn neugierig.

»Nein«, sagte sie und wandte den Blick wieder ab, um weiter aus dem Fenster in die tiefschwarze Nach zu schauen.

Er würde sie schon noch zum Reden bringen. Sie alle fanden früher oder später die Worte wieder, denn in ihnen allen tobten unzählige Fragen.

Kapitel 5

Er hatte eine wirklich herrische Art. Das hatte er mir gerade klar gemacht. Trotzdem war ich nicht gewillt, so schnell aufzugeben. Wenn er mich schon mit einer Waffe bedrohte und mich wer weiß wohin fuhr, wollte ich wenigstens wissen, wem er diesen Auftrag zu verdanken hatte.

Machte er so etwas öfters?

Es war sein Job, das hatte er gesagt. Wie wurde man hauptberuflich zu einem Entführer? Oder war er eher ein Kopfgeldjäger? Doch wo lag da der Unterschied?

Vielleicht sollte ich ihn nicht gleich nach seinem Auftraggeber fragen, sondern erst einmal etwas über ihn in Erfahrung bringen.

»Machst du das öfter? Frauen zu einem Drink einladen und sie dann entführen?«

Noah schwieg und achtete auf die Straße. Es war pechschwarz um uns herum, nur hier und da erkannte man in der Entfernung einige Städte.

»Freiberuflicher Killer oder wie sollte ich deinen Job nennen?«, fragte ich bissig, doch lachte Noah nur und warf mir einen amüsierten Blick zu.

»Das Vögelchen hat seine Singstimme wieder«, scherzte er und am liebsten hätte ich ihm eine Ohrfeige verpasst.

»Sag schon«, forderte ich.

»Es ist mein Job, nimm es hin oder lass es, aber mehr Details be­kommst du von mir nicht.«

»Und wie oft bist du diesem Job schon nachgegangen?«

»Ich zähle nicht.«

»Ach.« Ich war gerade einfach nur stocksauer. In meinem Schoß ballte ich die Hände zu Fäusten, um mich selbst irgendwie ruhig zu halten.

»Ja, ach«, mimte er mich nach und lächelte. Dieses Lächeln sah nun wieder genauso aus wie im Café.

»Wohin fahren wir?« Ich musste es einfach wieder fragen, denn ich glaubte, dass er mir irgendwann darauf antworten würde. Er musste einfach, wenn ich beharrlich genug blieb. Doch er blieb still, sagte kein Wort, sondern fuhr weiter die Interstate 40 entlang. Es machte mich wahnsinnig, dass er nichts sagte. Rein gar nichts. Genervt stieß ich die Luft aus. Klasse. Jetzt saß ich hier, an den Händen gefesselt, mit einem Mann in seinem Auto, der wahrscheinlich nicht mal Noah Black hieß und mich gerade entführte. Und er weigerte sich mir zu sagen, wohin wir fuhren oder wer ihm überhaupt diesen Auftrag gegeben hatte, mich zu entführen.

Ich dachte nach. Wohin führte die Interstate 40? Welche Orte lagen in ihrer Nähe und könnten das Ziel dieses Mannes sein? Doch das brachte mich auch nicht weiter. Es sei denn, es machte ihm Spaß, einmal quer durch die Vereinigten Staaten zu fahren. Denn genau so verlief die Interstate 40, von Kalifornien bis nach North Carolina.

Verdammt!

Tränen stiegen mir in die Augen, doch ich weigerte mich, vor diesem Mistkerl wie ein dummes Ding zu heulen. Ich musste nach Hause. Ich musste zu meiner Tochter, und doch hatte ich keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte. Eine ganze Zeit blieb ich noch ruhig, immer wieder wollten diese zornigen Tränen aus meinen Augen laufen, was ich nicht zuließ.

Du bist stark, sagte ich zu mir, denk daran, was du alles schon durchgestanden hast. Denk an Ivy, sie wird dich brauchen.

Und doch wuchs mit jeder Meile, die wir fuhren, die wir uns weiter von meiner Familie entfernten, meine Verzweiflung. Ich biss die Zähne zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. Mein ganzer Körper war angespannt, als ich versuchte die aufkommende Panik zu bekämpfen. Diese Mischung aus Angst, Unwissenheit und Wut machte mich wahnsinnig.

»Wo fahren wir hin?«, fragte ich noch einmal, doch musste ich mich wirklich zusammenreißen, um ihn nicht gleich anzuschreien. Ich wollte es auf eine ruhige Art versuchen, die ihn nicht sofort wieder diese schweig­same Barriere zwischen uns aufbauen ließ. Doch ich hatte damit kein Glück. Noah – oder wie sein Name auch immer war – sagte wieder kein Wort, doch entging mir nicht das leichte Lächeln auf seinen Lippen. Das war der Tropfen, den es brauchte, um das Fass zum Überlaufen zu bringen.

»Ich will es wissen! Also sag es mir!«, schrie ich, und ohne nachzu­denken, griff ich ihm ins Lenkrad und zog es nach rechts. Plötzlich wurde mein ganzer Körper durchgeschüttelt und mein Kopf schlug, als der Wagen holpernd von der Straße abkam, gegen die Seitenscheibe. Es ging alles so unheimlich schnell. Noah riss das Lenkrad zurück, um den Wagen wieder etwas in Richtung Straße zu bringen. Erst als der Impala parallel zur Fahrbahn fuhr, packte er mein Handgelenk und trennte meine Finger vom Lenkrad. Fast im selben Moment spürte ich das Brennen meines Gesichts, als er mich mit der flachen Hand schlug. Ich stöhnte auf vor Schmerz und hob meine Hände für einen Moment an meine brennende Wange. Dieser Schmerz war schlimmer als die Stelle an meinem Kopf, an der ich mich gerade gestoßen hatte.

Dann trat Noah die Bremse so stark durch, dass ich mit der Stirn vorne auf das Armaturenbrett schlug. So kamen wir auf dem holprigen Seitenstreifen zum Stehen. Der Gurt schnitt sich in meine Haut, drückte mich zurück an den Sitz und verhinderte, dass ich mich stärker verletzen konnte oder durch die Vorderscheibe flog. Ich stöhnte auf, und erst als ich erkannte, dass wir tatsächlich standen, suchte ich nach dem Türgriff. Ich wollte aus diesem verdammten Auto kommen, doch sosehr ich versuchte, die Tür aufzudrücken, sie ließ sich nicht öffnen.

Da war die Verzweiflung wieder da. Ich schrie hoffnungslos und trat mit den Beinen gegen das Handschuhfach. Den Schmerz in meinem Knie ignorierend, den ich spürte, als ich immer wieder gegen das harte Plastik der Frontkonsole stieß, hätte ich am liebsten den ganzen Wagen auseinandergenommen.

»Was sollte das denn?«, brüllte er mich an, drehte sich zu mir und griff erneut nach meinen gefesselten Händen. Er drückte sie nach unten in meinen Schoß und hielt sie dort fest. Dann packte er mich am Hals und preste mich in den Sitz.

Seine blauen Augen funkelten mich wütend und eiskalt an, während ich die Muskeln an seinem Kiefer bemerkte, als er immer wieder die Zähne zusammenbiss. Pulsierend und rhythmisch kamen die kleinen Stränge immer wieder zum Vorschein.

»So etwas tust du nicht noch mal, haben wir uns verstanden?«, sagte er ernst, als sich seine große Hand fester um meinen Hals schloss.

Ich zwang mich, tief einzuatmen, doch er drückte mir immer weiter die Kehle zu. Sofort bekam ich Panik, denn mir fehlte die Luft. Meine Beine zuckten unkontrolliert und Tränen sammelten sich in meinen Augen.

»Nicke, wenn du mich verstanden hast.«

Nun liefen die Tränen meine Wangen hinunter und ich nickte, wäh­rend ich einfach nur noch atmen wollte. Unweigerlich drängte sich die die Erinnerung an meinen Traum in meinen Kopf. Doch dieses Mal war das Gefühl, gewürgt zu werden, real. Dann lockerte er den Griff und ich schnappte nach Luft. Es brannte in meiner Lunge und ich hustete stark, schmeckte das eisenartige Aroma von Blut auf meiner Zunge. Wollte mich dieser Mistkerl umbringen?

»Wo fährst du mich hin?«, wimmerte ich.

Ich sah, wie er die Augen verdrehte und sich wieder mir zuwandte.

»Wie oft willst du mir diese Frage denn noch stellen?«

»Bis ich eine Antwort bekomme«, sagte ich leise, kläglich, und schluckte den Kloß in meinem Hals herunter, was höllisch wehtat.

Noah sah mir in die Augen und sein Blick wurde etwas weicher.

»Ich kann es dir nicht sagen, Alex.«

»Ist Noah dein richtiger Name?« Meine Stimme wurde ruhiger.

»Was glaubst du?«, fragte er und grinste schelmisch.

Ich stieß genervt die Luft aus und drehte mich von ihm weg.

Wie hatte ich mich nur so von ihm täuschen lassen können? Diese Zufälle, wie wir uns über den Weg gelaufen waren, das waren eben keine Zufälle gewesen. Es war alles geplant. Ich hätte es doch merken oder zumindest ein mulmiges Gefühl haben müssen. Er hatte so nett gewirkt, hatte von seinem Sohn erzählt und ich hatte geglaubt, wir hätten uns wirklich gut verstanden. Das hatten wir ja auch – so gut, dass er mich so einfach um den Finger hatte wickeln können und ich fast freiwillig mit zu ihm ins Auto gestiegen wäre. Und als es mir dann klar geworden war, war es zu spät gewesen.



Noah hatte sie wirklich nicht für so verzweifelt gehalten, dass sie ihn bei 65 Meilen die Stunde von der Straße abgedrängt hätte. Das hätte für sie beide sehr schlimm enden können. Das staubige Gelände neben der Fahrbahn war uneben und das Auto hätte sich leicht überschlagen können. Das war aber nicht passiert, wofür Noah dankbar war.

Er hatte sie gar nicht so hart anfassen wollen, doch sie musste ver­stehen, dass er so etwas nicht tolerierte. Niemals. Ja, sie war verwirrt und ja, sie hatte wahrscheinlich auch eine Scheißangst, doch sie hatte sich in ihr Schicksal zu fügen, zumindest so lange, bis er sie abgeliefert hatte. Danach ging sie ihn nichts mehr an.

Nach seiner kleinen Attacke auf sie war sie nun ziemlich still und starrte wieder gebannt aus dem Fenster, während er schon wieder weiterfuhr.

Noah warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel, um festzustellen, dass weit und breit kein Licht eines anderen Fahrzeugs zu sehen war. Er ließ das Auto ausrollen und lenkte es dann wieder von der Straße.

Er bemerkte, wie Alex sich versteifte, als ihr klar wurde, dass sie anhielten. Als der Wagen dann stand, stellte er den Motor ab und zog den Schlüssel aus dem Zündschloss.

Alex öffnete den Mund, als wollte sie ihn schon wieder eine ihrer unzähligen Fragen stellen, doch er grinste sie nur an.

»Keine Sorge, es geht gleich weiter«, sagte er und stieg aus. Er beo­bachtete sie, als er um den Wagen herumging und sich dann mit dem Rücken zu ihr hinstellte und seine Hose öffnete.

Was muss, das muss, dachte er und erleichterte sich.

Noah konnte Menschen gut einschätzen, und nachdem er ihr sehr deutlich klargemacht hatte, dass sie keinerlei Fluchtversuche starten sollte, wenn sie am Leben bleiben wollte, glaubte er nicht, dass sie etwas derartig Dummes noch einmal unternehmen würde. Als er fertig war, schloss er seine Hose wieder und drehte sich zum Wagen um. Es war fast schon süß, wie Alex im Inneren saß und gebannt nach vorne guckte. Als ob es ihn stören würde, wenn sie ihm dabei zusah.

Er trat an das Auto heran und zog im selben Moment seine Waffe. Dann öffnete er dir Tür.

»Steig aus«, befahl er und nach einem kurzen Zögern tat sie, was er von ihr wollte. Noah deutete mit seiner Waffe in die Dunkelheit und sagte: »Jetzt du.«

»Was?«, kam es schlagartig von ihr zurück, doch brachte das Noah nur noch mehr zum Grinsen. Er hatte ihre kratzbürstige Art schon vermisst.

»Na los«, forderte er sie auf, »ich habe keine Lust, wegen dir später noch mal anhalten zu müssen.«

»Ich muss aber nicht«, kam ihre Antwort und sie funkelte ihn böse an.

»Sicher? Wenn du mir den Wagen...«

»Ich bin kein beschissener Köter, der sich nicht beherrschen kann!«, fauchte sie, während sie sich umdrehte und zum Wagen zurückging, um sich wieder hineinzusetzen.

»Nun gut. Deine Entscheidung.« Er folgte der kleinen Kratzbürste und schloss die Beifahrertür wieder zu. Dann nahm er seinen Platz hinter dem Steuer ein und ließ den Motor aufheulen.

»Willst du etwas trinken?«

»Nein.«

Er beließ es dabei. Schließlich waren erst einige Stunden vergangen, die sie bei ihm war, und in dieser Zeit stellten sie sich immer stumm und bockten rum. Aber auch das würde sich legen.



Als ob ich vor seinen Augen

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Jana S. Morgan
Bildmaterialien: Juliane Schneeweiss, www.juliane-schneeweiss.com Bildmaterial: depositphotos.com
Lektorat: Dr. Andreas Fischer
Tag der Veröffentlichung: 05.11.2016
ISBN: 978-3-7396-8681-3

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