Fünf Jahre waren seit den großen Aufständen vergangen, die Nasim gezwungen hatten, seine Heimat zu verlassen. Ohne einen Ort, den er sein Zuhause nennen konnte, war er umhergestreift und hatte nach dem einen Sinn in seinem Leben gesucht.
Das Schicksal meinte es in jener Zeit sehr gut mit ihm.
In einer Straßenschlacht, in die er nur zufällig hineingeraten war, rettete der junge Mann einem anderen das Leben, ohne zu wissen, dass es der spätere Sultan Bijan gewesen war. Man hatte Nasim gefangengenommen, dabei hatte dieser überhaupt keine Ahnung gehabt, wieso man ihn so behandelt hatte. Später an jenem entscheidenden Tag, hatte man ihn vor Bijan gebracht, ihn auf die Knie gezwungen und gefragt: „Kennst du diesen Mann?“
„Verzeiht, nein“, hatte Nasim geantwortet. Er hatte sich den Mann auf dem breiten Stuhl in einigen Metern Entfernung sehr genau angesehen, doch mehr als den Mann, den er in den Straßen der Stadt gerettet hatte, erkannte er nicht. Weder das dunkle, schwarze Haar noch die mandelbraunen Augen hatten ihn an den alten Sultan erinnert.
„Ich bin Bijan, Sohn des Sultans“, hatte dieser sich vorgestellt und war aufgestanden. Mit langen Schritten, die seine Roben und langen Stoffe seiner Kleidung rascheln ließen, war er zu Nasim gegangen und hatte ihm eine Hand entgegengestreckt. Zögerlich hatte Nasim die Hand des anderen ergriffen und sich auf die Beine helfen lassen. In diesem Moment hatten sich beide Männer in die Augen gesehen und eine Verbindung gespürt, die bis zum heutigen Tag angehalten hatte.
Nun stand Nasim in einer Reihe von Gästen, die Sultan Bijan zu seinem Fest eingeladen hatte. Die meisten standen weit über Nasim, doch das störte ihn nicht. Er war ein enger Freund des Sultans geworden und stand ihn, wenn es dieser so wollte, mit Rat und Tat zur Seite. Hier, in der Hauptstadt, hatte er endlich wieder ein Zuhause gefunden.
Als Nasim endlich an der Reihe war, in den großen Saal gelassen zu werden, rieb er sich unbewusst die Hände. Jedes Mal, wenn er diese Hallen betrat, musste er an sein früheres Leben denken.
„Grüße, Soroush“, begrüßte er die Wache, die er erkannte.
„Nasim“, sagte dieser und nickte Nasim zu, dann trat er beiseite und ließ ihn hinein.
Als er den Saal betrat, war er noch beeindruckter als er es sonst war, denn Bijan hatte augenscheinlich keine Kosten gescheut. Feuer brannten in großen Schalen, die ein Viereck in der Mitte des Saals abgrenzten. In diesem Bereich standen keine Tische oder Stühle, er war gänzlich leer. Nasim dachte sich, dass Bijan wieder Akrobaten und Tänzer eingeladen hatte, die die Gäste amüsieren sollten.
Nasim strich sich eine Strähne seines schwarzen Haares hinter das rechte Ohr und faltete dann die Hände vornehm vor dem Bauch. So ging er am Rand des Saals entlang, grüßte hier und da ein paar andere Gäste und ließ den Anblick all des Glanzes auf sich wirken. Er selbst war doch, trotz seiner Freundschaft mit dem Sultan, sehr bescheiden. Vor zwei Jahren hatte er sich eine Frau genommen, die nun endlich mit einem Kind schwanger war. Dies war auch der Grund, weshalb er sie hatte zuhause lassen müssen. Große Palmen in breiten Kübeln standen in den Ecken, während kleine Pflanzen, die in den wüstenhaften Gegenden sehr selten waren, im Saal verteilt hier und da auftauchten. Am Kopf des Saals stand ein langer Tisch in dessen Mitte der große, auffällig geschmückte Stuhl des Sultans stand. Als dieser Nasim auf sich zukommen sah, zeigte sich ein Lächeln auf seinem Gesicht. Er löste sich von den Gesprächen, die ihn bis zu diesem Zeitpunkt beschäftigt hatten und kam mit ausgebreiteten Armen auf Nasim zu.
„Schön dich zu sehen, alter Freund.“
Bijan nannte Nasim schon lange ‚alter Freund‘ dabei kannten sie sich erst seit fünf Jahren. Doch hatten sie zusammen so viel durchgestanden, dass es beiden schien, als würden sie sich schon ein Leben lang kennen. Nasim hatte dem damaligen Erben des Sultans geholfen, die Aufstände niederzuschlagen, was ihm ein hohes Ansehen eingebracht hatte. Nach dem Tod des alten Sultans war Bijan an dessen Stelle getreten und seitdem lud er Nasim immer wieder in seinen Palast ein.
„Deine Feiern werden immer größer, so scheint es mir.“
„Nein“, lachte der Sultan, „wir werden kleiner.“ Er zwinkerte und trat beiseite, sodass Nasim sich neben ihn stellen und den Saal beobachten konnte. „Wie geht es Mahsati?“
„Es geht ihr gut. Sie muss sich schonen.“
„Und wann ist es soweit?“
„In ein paar Wochen, denke ich“, antwortete der baldig werdende Vater.
„Es muss ein gutes Gefühl sein, mein Freund“, sagte Bijan und klopfte dem anderen Mann auf die Schulter. „Ich freue mich für dich.“
„Das ist es“, entgegnete Nasim mit einem Lächeln. „Aber das wirst du bestimmt auch bald erfahren.“ Als Nasim diese Worte sprach, wanderten seine Augen ganz von selbst zu dem größten und längsten Tisch im Saal. Dort, wo der pompöse Stuhl des Sultans stand, saßen nun auch einige Frauen, eine schöner als die andere. Nasim achtete darauf, dass er nicht zu lange hinsah, denn das stand nur dem Sultan zu. Sie alle waren seine Frauen, eine Ehre, die nur den Schönsten und Anmutigsten Mädchen zuteilwurde.
„Ich möchte, dass du dich zu mir setzt“, sagte Bijan schließlich und bewegte sich dann langsam in Richtung des Tisches.
Nasim zögerte kurz, bevor er seinem Freund folgte, denn es war nicht üblich, dass jemand wie er am großen Tisch zusammen mit dem Sultan und seiner Familie saß. Es war eine große Ehre, die ihm im ersten Moment jedoch auch Angst machte. Mit leisen Schritten folgte er Bijan, der mit ausgebreiteten Armen auf seine Frauen zuging.
„Meine Lieben, darf ich Euch den Mann vorstellen, dem ich so vieles zu verdanken habe?“ Alle fünf Frauen – Bijan hatte, seit er Sultan geworden war, jedes Jahr eine neue Frau geheiratet – sahen ihn mit großen Augen an. Das Lächeln, welches ihre hübschen Gesichter zierte, wurde von bunten Tüchern verhüllt, doch konnte Nasim die geröteten und zusammengezogenen Wangen sehen. Die dunkel bemalten Augen der Frauen ruhten auf ihm und schienen ihn geradezu zu mustern. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren.
„Meine besten Wünsche“, begrüßte Nasim die Frauen, nachdem Bijan ihn vorgestellt hatte. Er folgte dem Sultan um den Tisch herum und setzte sich dann auf den freien Platz direkt neben Bijan.
Dann begann das Fest und Nasim durfte die köstlichsten Gerichte kosten, die der Palast des Sultans zu bieten hatte. Es gab verschiedenste Fleischsorten und ebenso viele süße Speisen. Zu seinem eigenen Bedauern war sein Bauch viel zu schnell gefüllt, sodass er gar nicht alles probieren konnte. Er dankte sich im Stillen jedoch dafür, ließ es ihn nicht wie einen gierigen Mann wirken. Seine Frau Mahsati und er waren bescheiden und so lebten sie auch. Zwar hatten sie immer genug, was sie essen konnten, im Hause, doch aßen sie nur so viel, wie es wirklich nötig war. Im Palast lebte man nach einem ganz anderes Prinzip. Hier wollte man alles genießen und nicht selten schlugen die Bewohner über die Stränge. Nasim fragte sich, ob es auch in anderen Bereichen so war, abgesehen von solch großen Essen.
„Ich hätte dich gerne öfter hier im Palast“, merkte Bijan nach dem Essen an. Seine Frauen hatten sich bereits zurückgezogen, so wie auch viele andere weiblichen Gäste.
„Du weißt, dass ich hier nicht leben kann“, sagte Nasim im Vertrauen. „Auch wenn ich unsere Freundschaft sehr schätze.“
Bijan seufzte. „Einen Berater wie dich bräuchte ich hier. Erinnerst du dich an den Hinterhalt, den du dir für die Aufständischen ausgedacht hast?“
Nasim lächelte breit, denn sofort kamen die Erinnerungen wieder.
„Du hast vielen das Leben gerettet“, lobte ihn sein Sultan und schenkte ihnen beiden nach. Ja, er hatte einen solchen Hinterhalt geplant, doch wo andere die aufständischen Untertanen schlichtweg aus dem Weg geschafft hätte, so hatte Nasim eine Möglichkeit gefunden, sie zu überzeugen. Er hatte ihnen nicht gedroht, wie man es meinen konnte, nein, er hatte den Aufständischen nur vor Augen geführt, was ihnen und vor allem ihren Familien zustoßen würde. Das hatte am Ende, nach einigen langen Gesprächen, bei dem sogar der junge Sultan anwesend gewesen war, den erhofften Erfolg erzielt. Sie hatten sich ergeben und blieben, dank der Verhandlung, fast straffrei. Seitdem nannte man Bijan auch den Gnädigen, ein Beiname, der Nasim sehr gut gefiel.
„Gnade ist wertvoll“, sagte der Sultan und starrte verträumt in seinen Becher. „Das hast du mir beigebracht, mein Freund.“
Nasim schob sich, wie so oft, eine Strähne seines rabenschwarzen Haares hinter das Ohr, da es ihm abermals an diesem Abend ins Gesicht gefallen war. Immer wieder überlegte er, es sich abzuschneiden, doch dann kam seine Frau zu ihm, fuhr mit ihren schlanken Fingern durch seine Länge und flüsterte, wie sehr sie es mochte. Jedes Mal überzeugte sie ihn auf diese Weise, denn wenn sie ihre Finger in seinem Haar vergrub, ihre Fingerspitzen an seine Kopfhaut drückte, konnte er ihr nur nachgeben und ihr völlig zu Willen sein.
„Ich würde es jederzeit wieder tun“, sagte Nasim und lächelte. Hätte man ihn vor 10 Jahren gefragt, was er an diesem Abend tun würde, er wäre nie darauf gekommen, zusammen mit dem Sultan zu speisen und so vertraut mit ihm zu reden. Das Schicksal spielte manchmal ein eigenartiges Spiel.
„Steh auf“, flüsterte Bijan, als er sich erhob und seinen Becher in die Höhe hob. Nasim tat, was von ihm verlangt wurde und ergriff mit unsicheren Händen seinen Becher.
„Meine Gäste“, sprach der Sultan laut, sodass jeder im Saal ihn hören konnte. „Fünf Jahre leben wir nun schon in Frieden. Doch viele von Euch wissen nicht, wem ein großer Teil dieser Ehre gehört, denn ich bin es nicht.“ Mit den letzten Worten war seine Stimme immer leiser geworden, dann sah er zu Nasim. Plötzlich lagen alle Blicke auf ihm. Sollte er etwas sagen? Er wusste es nicht. Erst, als Bijan weitersprach und seinen Namen nannte, erlaubte Nasim sich einen tiefen Atemzug.
„Diesem Mann verdanke ich viel und ihr ebenso viel mehr. Heute Abend trinken wir auf ihn, meinen Freund Nasim.“
Becher klirrten aneinander, als die Gäste miteinander anstießen und lautstark Nasims Namen riefen.
„Du ehrst mich“, hauchte er sprachlos und senkte respektvoll den Kopf vor seinem Sultan. Nasim wusste nicht, ob er so eine Ehrung schon einmal miterlebt hatte. Gerade konnte er kaum einen klaren Gedanken fassen.
„Nur, weil du es verdienst.“ Da gab Bijan ein Zeichen und die Musik ertönte wieder, nur lauter und mit schnelleren Klängen. Aus alle Ecken tauchten plötzlich Tänzerinnen auf, die geradezu durch die Reihen an Gästen schwebten, so grazil sah es aus. In genau eingeübten Bewegungen tanzten sie durch die Reihen, drehten sich, sodass die bunten, bodenlangen Röcke um sie herum flogen und bewegten sich so anmutig, wie es nur Tänzerinnen konnten. Nasim zählte acht von ihnen und wusste nicht, wohin er sehen sollte. Ihre Bewegungen machten ihn neugierig, versetzten ihm ein Prickeln in den Fingerspitzen, welches er so nicht kannte. Als sie dann in der Mitte des Saals, dort wo man etwas mehr Platz gelassen hatte, zusammenkamen, konnte Nasim nicht anders, als sich vorzulehnen. Interessiert beobachtete er das Schauspiel. Die Tänzerinnen bewegten sich nun kreisförmig, bewegte ihre Arme in einer solchen Einheit, dass Nasim beim Zuschauen leicht schwindelig wurde. Rhythmisch ließen sie ihre Arme kreisen, beschrieben Wellen mit ihnen, bis sie in der Mitte zusammenkamen. Eng an eng standen sie in einem Kreis und verharrten dort. Die Musik wurde leiser und verstummte und für einen Moment wusste Nasim wirklich nicht, was dort vor sich ging. Er war angespannt und nervös, konnte nur auf diese acht Tänzerinnen blicken. Da wurde schließlich das Licht gedämmt. Hier und da löschten Bedienstete die großen Feuerschalen bis nur noch ein schwache Licht herrschte. Nasim brauchte eine ganze Zeit, bis er wieder nahezu so viel wie zuvor sehen konnte.
Leise raschelnde Geräusche drangen an sein Ohr, als die Musik, wie bei einem zarten Flüstern, wieder einsetzte. Sie steigerte sich nur ganz langsam, riss dabei aber jeden mit. Das Rascheln drang bis in seine Fingerspitzen und kribbelte dort, während die tieferen Trommelschläge bis tief in sein Innerstes vibrierten. Er wollte nur eines, wissen, was dort auf der freien Fläche des Saals passierte. Unsicher warf er einen Blick zur Seite und musterte den Sultan, der mit einem Lächeln ebenfalls das Schauspiel beobachtete. Ging es nur Nasim so, dass er es kaum aushielt? Er war so gespannt, hatte sich völlig mitreißen lassen in diesen Tänzen, dass er kaum mehr wusste, wo oben war und wo unten. Die Musik steigerte sich nur langsam wieder, doch es waren nur die kräftigen Trommeln, die lauter wurden. Zu jedem Schlag, der Nasim bis in sein Innerstes erschütterte, bewegten sich die Tänzerinnen wieder und gaben, nach und nach, den Blick auf eine weitere Person frei. In der Mitte des Kreises saß nun eine kleine Gestalt, den Kopf hinter den Knien verborgen, die Arme um eben jene geschlungen. War sie ihm vorher schon aufgefallen? Nein, dachte Nasim, es waren nur acht gewesen, keine neun Tänzerinnen. Wo war sie hergekommen?
Nasim lehnte sich noch weiter vor, wollte nicht eine Sekunde dieser Darbietung verpassen. Als sich die kleine Gestalt schließlich rührte, stockte ihm kurz der Atem. Sie bewegte ihren Kopf so schnell, dass er sich auf der Stelle ertappt fühlte, sah sie ihn doch direkt an. Doch was bildete er sich eigentlich ein? Sie sah nicht ihn an, sondern Bijan, ihren Sultan. Jede Darbietung und jeder Tanz war für ihn. Nur weil Nasim an diesem Tag die Ehre hatte, neben ihm zu sitzen, so würde doch alles nur für den Sultan sein. Doch, wieso kam es ihm trotzdem so vor, als würde sie ihn ansehen?
Ihr Gesicht war von einem roten Tuch verdeckt. Es ließ nur einen Spalt für ihre Augen frei, welche, soweit er es erkennen konnte, schwarz ummalt waren. Wie schwarze, funkelnde Steine sahen ihre Augen aus, umrandet vom Weiß der Augäpfel wirkte sie angsteinflößend und verführerisch zugleich. Passend zum Trommeln streckte sie beide Arme zu den Seiten aus und bewegte sie, wie man es von einer Schlange kannte. Weitere farbige Tücher, darunter rote und lila Stoffe, waren locker um ihre Arme gewickelt. Sie gaben leise, klimpernde Geräusche von sich, denn an den Seiten hingen kleine münzenähnliche Anhänger, die bei ihren Bewegungen immer wieder aneinander schlugen. Sie erhob sich ganz grazil mit ausgestreckten Armen und ausgeprägter Körperspannung. Als sie stand beschrieb sie mit den Armen einen Kreis und führte dann ihre Handflächen vor ihrer Brust zusammen. So stand sie da und kurz verstummte die Musik. Ein paar quälende Augenblicke war es wieder ganz still. Jeder im Saal schien die Luft anzuhalten. Nasim spürte gerade, dass sich eine angenehme Ruhe in ihm ausbreitete, als die Musiker wieder anfingen zu spielen. Er zuckte zusammen, denn die Töne, die von den Instrumenten kamen, waren plötzlich so viel lauter.
Die einzelne Tänzerin – die anderen acht waren verschwunden – stand da, mit dem Gesicht Nasim und Bijan zugewandt. Ihr Blick war durchdringend, stechend und doch so, dass Nasim es nicht wagte, wegzusehen. Diese schwarzen Tiefen, die ihre Augen waren, zogen ihn immer weiter zu ihr. Wie in einen Strudel fühlte Nasim sich zu ihr hingezogen. Er hatte nur in ihre Augen sehen müssen und es war geschehen. Wie sie vor ihnen stand, die Hände noch immer aneinander gelegt, begann sie nun sachte mit der Hüfte zu wippen. Es waren kleine, zarte Bewegungen, die nur ihre Mitte betrafen, der Rest ihres Körpers blieb still. Nasim zwang sich, sich von ihren Augen zu lösen, doch stattdessen wanderte sein Blick nur an ihr herab. Die Tücher von ihren Armen wickelten sich auch um ihren schlanken Hals und fielen dann an ihrem Rücken hinab. Ein violettes Brusttuch verhüllte sie, gab aber den Blick auf ihren glatten Bauch frei. Dort blieben Nasims Augen etwas länger hängen, denn eine feine, goldene Kette funkelte dezent an dieser Stelle. Ihre Hüfte bewegte sich anmutig und leicht, beschrieb sachte Drehungen und ließ Nasims Gedanken ebenso kreisen.
Plötzlich machte sie einen großen, langgezogenen Schritt nach vorne und glitt hinab in einen Spagat. Es war eine einzige, fließende Bewegung, die sie vollführte und die sie bis zum Boden hinab brachte. Doch sie blieb nicht lang in dieser Pose, denn mit einer Drehung zog sie die Beine an den Körper und erhob sich wieder. Erst dann begann sie wirklich mit ihrem Tanz. Sie drehte sich, schwang ihre Hüfte, ließ ihre Arme frei kreisen und drehte sich. Alles Zugleich. Nasim wusste nicht, wohin er wirklich schauen sollte, doch jedes Mal, wenn sie ihm in ihren Drehungen ihr Gesicht zeigte, blickte er direkt in ihre Augen. Und sie in seine. Das Lächeln, welches von ihrem Schleier verborgen wurde, konnte Nasim nicht sehen, doch es machte ihr große Freude, ihre Reize spielen zu lassen.
„Was tut sie da?“, flüsterte er atemlos seinem Freund zu. „Sie... diese Augen.“
„Sie beobachtet dich, so wie du sie beobachtest“, meinte Bijan und lehnte sich zufrieden zurück.
„Aber...“
„Kein aber, Nasim. Genieße es.“
„Wer ist sie?“, fragte Nasim flüsternd, als sie ihnen den Rücken zuwandte und sein Blick unausweichlich tiefer rutschte.
„Ihr Name ist Yegane. Ein sehr talentiertes, junges Ding.“
„Sie... sie ist...“
„Atemberaubend? Schön? Verführerisch? Genau deswegen ist sie hier.“ Bijan sprach alles aus, was Nasim durch den Kopf ging, dabei presste er die Beine zusammen und zwang sich, seine Gedanken im Zaum zu halten. Doch es fiel ihm so unglaublich schwer.
Yegane kam wieder näher, tanzte nun direkt vor Nasim, dem der Atem abermals stockte. Ihr Bauch und ihre Hüfte tänzelten vor seinen Augen. Hier und da eine schnelle Bewegung, dann wieder sanfte, langsame ließen diese kleine Kette schwingen. Sie hypnotisierte ihn mit ihren Bewegungen, bis er kaum mehr einen klaren Gedanken fassen. Wie viel zeit wirklich verging, konnte Nasim nicht mehr sagen. Sein Blut geriet in Wallung als sie mit ihren geschmeidigen und hinreißenden Bewegungen zu ihm kam. Nur ganz kurz, streckte sie die Hand nach ihm aus, berührte federzart sein Kinn und trat dann wieder zurück. Tief hatte sie ihm dabei in die Augen geschaut und unweigerlich ein Bild in seinem Kopf hervorgerufen, welches er sich niemals erlaubt hätte, wäre er noch bei sich gewesen. Nasim hatte sie gesehen, auf einem Bett liegend mit nur ein paar Tüchern, die sie an den wichtigsten Stellen blickdicht bedeckten, sich räkelnd und lüstern zu ihm blickend. Es war nur ein kurzer Moment, in dem das Bild vor seinen Augen auftauchte, dann war es auch schon wieder verschwunden und er zurück im Hier und Jetzt. Verwirrt blinzelte er und musste feststellen, dass die Vorstellung vorbei war. Die Tänzerin stand in ihrer Abschlusspose auf der freien Fläche. Sie verneigte sich und lief dann, mit schnellen Schritten und unglaublicher Anmut zur Tür hinaus.
Teilweise enttäuscht und auch erleichtert, sah Nasim ihr nach. Was hatte sie nur mit ihm angestellt? Kein Wort war gesprochen worden, keine direkten Gesten gemacht und doch hatte sie ihn fasziniert. So sehr, er hätte sich beinahe selbst vergessen.
"Nasim?"
Erschrocken drehte sich der Angesprochene zu seinem Sultan, der ihn mit einem deutlich wissenden Grinsen ansah.
"Wie ich sehe, hat es dir gefallen", merkte dieser an und lachte.
Nasim nickte nur stumm, fühlte sich ertappt und wurde rot auf den Wangen. Ja, es hatte ihm gefallen, doch seine eigene Reaktion hatte ihn selbst sehr überrascht und ein wenig Angst gemacht. Seit wann verfiel er so leicht einer Versuchung? Nun, wirklich verfallen war er ihr nicht, doch in seinem Kopf... Nasim ertappte sich selbst dabei, wie er erneut daran dachte.
Plötzlich klopfte ihm jemand auf die Schulter. "Komm und folge mir", sagte Bijan, der sich bereits erhoben hatte. Zusammen verließen sie den Saal und gingen einige Gänge entlang, bis der Sultan schließlich vor einer Tür stehen blieb. "Geh hinein." Bijan hatte Nasim ganz genau beobachtet und wusste, dass es eine wahre Überraschung für seinen Freund sein würde.
Nasim öffnete die Tür und erstarrte kurz in der Bewegung, denn das was er sah, konnte er nicht glauben, zu stark erinnerte es ihn an dieses eine Bild in seinem Kopf. Unsicher trat er ein und versuchte nicht allzu gebannt vom Anblick der Tänzerin zu sein. Nur leise hörte er, wie die Tür hinter ihm geschlossen wurde.
"Überrascht?", flüsterte sie und kam einen Schritt näher. „Ich soll Euch an diesem Abend Gesellschaft leisten“, sagte sie, ihre Stimme so melodisch wie ihre Bewegungen grazil waren. Sie legte ihre Hände auf seine und zog ihn mit sich, ehe sie ihn leicht zurück schob. Erst als er einen Widerstand an seinen Beinen spürte, stoppte er und ließ sich auf den Stuhl drücken. Seine Beine zitterten, ihm wurde heiß und kalt zugleich.
„Was bedeutet dein Namen?“, fragte er, da ihm nichts anderes einfiel. Sein Kopf schien leer zu sein.
„Er bedeutet die unvergleichlich Schöne.“ Sie kicherte und wären ihre Wangen nicht von Stoff verborgen gewesen, so hätte Nasim schwören können, dass ein roter Hauch auf ihnen zu sehen sein würde.
„Yegane“, hauchte er unbewusst ihren Namen.
Nasim schluckte. „Ich habe eine Frau“, fügte er unter großer Anstrengung hinzu.
„Also möchtet Ihr es nicht?“
Kurz biss er die Zähne zusammen.
„Ihr wollt mich nicht?“ Anzüglich stand sie vor ihm und begann wieder ihre Hüfte, die sich nun direkt vor seinen Augen befand, zu bewegen. „Der Sultan ist großzügig zu Euch.“
Nasim nickte abwesend. Alles was er konnte war, auf ihren kleinen, zarten Bauchnabel zu schauen. Doch genau in diesem Moment erschien in seinem Kopf eine andere Frau. Seine Frau. Mahsati. Ihr Bauch, so rund er auch gerade war, war früher ebenso flach gewesen. Und nun trug sie sein Kind unter dem Herzen, also was tat er hier?
„Ich kann euch nicht wollen, Yegane.“
„Also kann ich rein gar nichts für Euch tun? Der Sultan wird nicht erfreut sein.“ Sie wirkte gekränkt und senkte den Blick.
„Doch, eines gibt es.“
„Möchtet Ihr, dass ich noch einmal tanze?“
„Nein.“
Wieder senkte sie den Blick, doch dieses Mal ließ Nasim es nicht zu. Er legte eine Hand an ihr Kinn, fühlte den Stoff, der ihr Gesicht verbarg und sah ihr in die tiefschwarzen Augen. „Zeig mir dein Gesicht.“
Yegane nickte, was die kleinen münzenähnlichen Metalle wieder klimpern ließ. Dann löste sie das Tuch, welches ihr Gesicht verhüllte und ließ es sinken. Nasim wollte ihr ganzes Gesicht auf sich wirken lassen, nur einmal, bevor er sich zurückzog und was er erblickte, war viel mehr als die schwarzen Augen, die ihn nicht loslassen wollten. Komplett wirkte sie noch so viel jünger, ihre Augen weltoffen und schön, doch nicht mehr so düster und verführerisch. Sie wirkte vielmehr wie eine normale, junge Frau. Eine schmale Nase hatte sie und dazu schmale Lippen, die zu ihrem Gesicht aber wunderbar passten.
„Dein Name passt zu dir“, sagte Nasim und wandte sich von ihr ab.
„Und Eure Frau muss sehr glücklich sein, Euch zu haben.“
Er lächelte ihr noch einmal zu, dann neigte er den Kopf und ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Zwar hätte er die Nacht im Palast verbringen können, auch allein, wenn er es so gewollt hätte, doch es drängte ihn, in seinem eigenen Heim zu schlafen. Bei seiner Frau.
Mit schnellen Schritten machte er sich auf den Weg durch die schwarze Nacht und machte erst Halt, als er neben seiner schlafenden Frau stand. Er legte so leise wie möglich seine Sachen ab und schiegte sich dann an sie.
„Wie war es beim Sultan?“, fragte Mahsati verschlafen.
„Er war überaus freundlich und ehrte mich. Mehr erzähle ich dir morgen“, flüsterte er, hauchte seiner Frau noch einen Kuss auf die Wange und schlief dann zufrieden mit den Händen auf ihrem runden Bauch ein.
Texte: Jana S. Morgan
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Cover: Jana S. Morgan
Tag der Veröffentlichung: 09.10.2015
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