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Prolog

Kälte kroch an ihren Beinen hinauf, lähmte ihre Füße, die, nackt wie sie waren, an der Eisschicht fest zu frieren drohten. Hektisch sah sie sich um, setzte einige Schritte nach vorne, nur um sie von dem kalten Eis zu lösen. Ihr Atem gefror in der Luft vor ihr und sie begann zu zittern. 

Sie war allein, stand mitten in einer riesigen Eiswüste, deren Ende sie nicht erblicken konnte. Klares Eis glänzte auf jeder Fläche. Jeder Baum und jeder Stein waren mit einer dicken Eisschicht überzogen, welche die feinsten Lichtstrahlen unzählige Male reflektierte. Sie blinzelte stark und hob den Blick gen Himmel. Dieser wirkte aufgrund des ganzen Eises dunkler als alles andere, dabei war es Tag. Ihre Sinne mussten sie täuschen, doch der Himmel sah aus, als würde ein gewaltiges Unwetter bevorstehen. Das Zittern ihres Körpers wurde immer stärke und als sie an sich herabblickte, sah sie nur ihre normalen Kleider, keinen warmen Mantel oder gar warme Schuhe. Sie stand nur mit dieser dünnen Schicht Stoff in dieser eisigen Kälte. Fest schlang sie die Arme um sich und überlegte, was sie tun sollte. Wie war sie überhaupt an diesen Ort gekommen? Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen solche Eiswüste gesehen zu haben, denn mit dem normalen Winter ließ sich dieser Ort nicht vergleichen. 

„Was soll ich nur hier?“, fragte sie sich, doch gerade als sie sich umdrehen wollte, hörte sie ein Schreien. Es war nicht panisch, sondern ein ängstliches Schreien und es klang nach einem Kind. Kurz schien es, als würde dieses Weinen ihr Herz erwärmen und vielleicht lag es nur daran, dass sie eine Frau war und es ihr in den Genen lag, aber instinktiv drehte sie sich um und suchte die Umgebung nach dem Kind ab. Was sie aber sah, als sie sich umgedreht hatte, konnte sie im ersten Moment gar nicht glauben. Eine hüfthohe Säule stand da, mitten im Nirgendwo und darauf lag ein Kleinkind. Es war fast nackt, hatte nur einen Fetzen Stoff, welches vor der kalten Säule schützte und es schrie. Der Kopf des Kindes war rot und war die einzige, wirkliche Farbe, die sie sehen konnte, alles andere um sie herum war farblos oder glänzte leicht bläulich. Sofort ging sie die kurze Distanz zu dem Kind und nahm es in ihre Arme. Sie wog es sachte, drückte es an sich und versuchte, das kleine Geschöpf so gut es ging vor der Kälte zu schützen. 

„Sch, ist ja gut“, beruhigte sie das Kind und wog es weiter hin und her, so lange, bis es tatsächlich aufhörte zu weinen. Es schmiegte sich an sie und entspannte sich fühlbar in ihren Armen. 

Unsicher sah sie sich um. Wohin sollten sie gehen? Und wie sollte sie dieses Kind vor der Kälte schützen, wenn sie selbst doch kurz davor war, an dem Boden fest zu frieren? Vorsicht trat sie von einem Fuß auf den anderen schmiegte sich selbst noch näher an das Kind in der Hoffnung, sie würden sich gegenseitig etwas Wärme schenken. 

Doch als sie das tat, spürte sie keine Wärme. Es war das Gegenteil, denn eine eisige Kälte berührte sie genau dort, wo sich das Kind an ihre Kleider drückte. Sie keuchte nach Luft, die in ihren Lungen brannte und wollte das Kind etwas von sich trennen. Sie wollte es ansehen, sichergehen, dass es ihm gut ging, doch sie konnte es nicht von sich trennen. Als wäre es festgefroren klebte es an ihr und rührte sich nicht. 

„Was soll das“, flüsterte sie und versuchte es noch einmal, doch ihre Arme lagen um das Kind und konnten sich nicht von dessen Haut trennen. Die Kälte, die sie spürte, wurde immer schlimmer. Sie breitete sich aus, strahlte von ihrem Bauch und ihrer Brust, an die sich das Kind geschmiegt hatte, aus bis in Arme und Beine. Es tat weh, ließ ihre Muskeln verkrampfen und erfrieren. Vor Schmerzen stöhnte sie auf, blickte auf dieses mysteriöse Kind, als dieses plötzlich eine Hand hob und sie auf ihre Brust legte, direkt über ihrem Herzen. Dort war die Kälte nicht mehr zu ertragen. Diese kleine Hand brannte sich förmlich in ihre Haut und versagte ihr den Atem. Erschrocken von diesem Kind, welches die Ursache für das alles sein musste, starrte sie es an. 

„Lass mich los“, keuchte sie und konnte das alles einfach nicht verstehen. Da hob es den Kopf und sah ihr direkt in die Augen. Die Augen des Kindes waren strahlend blau, sie glaubte, dass diese Augen von selbst leuchten mussten, als dieses Kind sie so ansah. Dann formte sich der Hauch eines Lächelns auf dem Gesicht des Kindes, doch es war kein freundliches. Dunkel, geheimnisvoll und böse lachte dieses eigentlich so unschuldige Geschöpf sie an, dann öffnete es die Lippen und sprach zu ihr. Die Stimme, die aus dem Mund des Kindes kam war nicht die eines Kindes. Grollend und tief erschütterte sie sie in Mark und Bein.

„Mein wird sein die Rache. Und dein Herz so kalt, wie meins.“

 

Sie schreckte hoch, stieß eine spitzen Schrei aus und krampfte sich in ihrem Bett zusammen. Einige Sekunden vergingen, bis sie verstand, wo sie war, dass sie in ihrem Bett lag und die Felle über ihrem Körper sie in eine angenehme Wärme hüllten. Langsam entspannte sie sich und verstand, dass es sich nur um einen Traum gehandelt hatte. 

„Nur ein Traum“, seufzte sie und rieb sich die Augen. Als sie jedoch die Arme hob, schmerzte es tief in ihrer Brust. Den Schmerz kurz ignorierend entzündete sie rasch eine Kerze und blickte dann an sich hinab auf ihre Hände. Kurz hatte sie Angst, sie würde in diese hellblauen Augen des Kindes blicken, doch sie war allein. Ein kaltes Stechen in ihrer Brust erinnerte sie aber unsanft an den Grund, wieso sie die Kerze entzündet hatte. Vorsichtig tastete sie sich von ihrem Hals abwärts zu der schmerzenden Stelle. Sie lag direkt über ihrem Herzen. Eine empfindliche Stelle, nicht größer als die Hand eines Kindes, zeichnete sich dunkelblau auf ihrer Haut ab. Vorsichtig berührte sie Stelle, sog aber scharf die Luft ein, als ein tiefer Schmerz sie durchzuckte. Die bläuliche Haut fühlte sich eiskalt an tat bei jeder Bewegung weh. 

Sie schluckte schwer und setzte sich auf die Bettkante. Sie musste verrückt sein...

Wie konnte ein Traum ihr so etwas antun?

Kapitel 1 – Verdrängt

In dieser Nacht machte Nora kein Auge mehr zu. Das eisige Brennen ihrer Haut direkt über ihrem Herzen tat so weh, dass sie sich nur noch in ihrem Bett zusammenrollte und auf den Morgen warten konnte. Sie wagte nicht, jemanden zu wecken, da sie es selbst nicht verstand und vielleicht hatte sie sich auch nur alles eingebildet? Vielleicht schlief sie auch einfach noch und wenn sie am Morgen aufwachte, war alles wieder in Ordnung. Diese Hoffnung war das einzige, an das sie in diesem Moment festhalten konnte. 

Immer höher zog sie die Felle, bis über beide Ohren, doch innerlich fror sie weiter. 

„Es war nur ein Traum“, flüsterte sie und presste die Lider zusammen. Sie wollte einfach wieder einschlafen und alles vergessen. Seit Jahren hatte sie keine Albträume mehr gehabt, also wieso in dieser? Es war auch nichts Schlimmes passiert, was sie hätte beeinflussen können. Sie konnte es sich einfach nicht erklären. 

So zog die Nacht dahin, bis sie am Morgen vom Krähen des Hahns geweckt wurde. Nun drangen auch schon ein paar Sonnenstrahlen durch die Fenster und erhellten den kleinen Raum, den sich Nora mit ihrer Freundin Ivina teilte. Da sie diese aber nicht in dem anderen Bett sah, wagte Nora einen weiteren Versuch um sich die Stelle auf ihrer Brust anzusehen. Die Schmerzen waren nicht mehr stark, doch ein leichtes, kaltes Ziehen war noch immer zu spüren. Ebenso wie ein spannendes Gefühl, wenn sie die Haut um diese dunkle Stelle berührte. Sie seufzte leise. Was war nur mit ihr passiert? Solche eine Wirkung konnte doch unmöglich von diesem Traum gekommen sein, war er auch noch so angsteinflößend. Nora rieb sich zitternd die kalten Hände und machte sich dann daran, sich anständig anzukleiden. Sie wusch sich mit Wasser und zog sich dann an. Gerade noch so gelang es ihr, die vorderen Knöpfe bis zum Hals zu schließen, als die Tür ohne ein Klopfen aufschwang und Ivina hinein huschte. Nora sah es sofort an ihren geröteten Wangen, dass sie sich wieder mit Darion im Stall getroffen hatte. Außerdem klebte auch noch etwas Stroh an ihrem langen Nachthemd. Es war nur allzu offensichtlich, was die beiden im Stroh getrieben hatten. 

Nora biss die Zähne zusammen, versuchte den Neid, der immer in ihr aufkam, wenn sie sich vorstellte was Ivina und Darion zusammen taten. Sie sehnte sich auch nach so einem Erlebnis, ja sogar mit demselben Mann. Schon lange schwärmte sie für den großen Braunhaarigen, doch sie hatte sich nie getraut, es anzusprechen. Und dann hatte er seine Intentionen mit Ivina geteilt. seitdem waren die beiden ein Paar, die sich in der Öffentlichkeit noch recht keusch verhielten, so trafen sie sich aber des nachts immer heimlich im Stall. 

„Alles in Ordnung?“, fragte die Blonde und sah Nora neugierig an. Diese blinzelte nur verwirrt, erwiderte aber nichts, da sie sofort an diesen Traum zurückdenken musste. 

„Du verrätst mich doch nicht, oder?“, hakte Ivina nach, ohne wirklich zu wissen, worüber Nora nachdachte. Sie sah kurz auf, dann befeuchtete sie das Tuch neu und wusch sich ungeniert zwischen den Beinen. 

„Was? Nein, schon gut.“ Nora wandte sich ab und schlüpfte in ihre Schuhe. Da sie bereits fertig war, wollte sie nach unten in die Bauernstube gehen und Ivina die Zeit lassen, sich anzuziehen. 

„Ich gehe schon mal runter“, sagte sie und verließ das kleine Zimmer. Auf dem schmalen Flur, der zu all den anderen kleinen Kammern führte, stolperte sie unaufmerksam in jemanden hinein. Sie spürte den Druck eines Arms an ihrem Rücken und als sie aufsah, erkannte sie Darion. Für gewöhnlich schoss ihr sofort die Röte ins Gesicht, vor allem in einer Situation wie dieser, doch Nora räusperte sich nur und trat einen Schritt zurück.

„Nicht so hastig“, scherzte er und ließ sie dann vorgehen. 

„Du bist aber schnell fertig“, sagte sie und warf ihm einen Blick über ihre Schulter zu, doch Darion zuckte nur grinsend mit den Achseln. Ivina war immerhin noch dabei, sich zu waschen.

Gemeinsam gingen sie in die Bauernstube, wo auch schon ein paar andere Arbeiter warteten. Auf einem Plan an der Wand konnte jeder ablesen, was er an diesem Tag zu tun hatte. Meist blieb es eine oder mehrere Wochen gleich, doch manchmal tauschten die Arbeiter auch untereinander. Da Nora aber bereits wusste, was sie zu tun hatte, blieb sie in der Nähe der Tür stehen und wartete. Nach kurzer Zeit kam Darion zu ihr zurück. Er hatte einen Blick auf den Plan geworfen, zuckte aber dann gleichgültig mit den Achseln, eine Eigenart von ihm, die er ständig tat. 

„Ich fahre nach dem Frühstück wieder mit raus aufs Feld“, sagte er. „Heute kommen neue Arbeiter, die soll ich anlernen.“ Er rollte mit den Augen. 

„Es ist gut, wenn Jast viel von dir hält. Es sichert dir diese Arbeit hier.“

„Das schon aber...“, er zögerte, sprach dann etwas ruhiger weiter. „Willst du nicht auch etwas mehr? Raus aus diesem Dorf, weg von diesem Hof und etwas Neues erleben?“ 

Nora dachte darüber nach. War das eine gute Idee? Einfach alles hinter sich zu lassen und fortzugehen? Nun, hier war niemand, der ihnen nachtrauern konnte. Noras Eltern waren früh verstorben und Darion war seither ein Waisenjunge. Er war es gewesen, der sie damals wieder aufgebaut hatte und seitdem waren sie Freunde. Sie war sich nicht sicher, doch eines konnte sie mit Bestimmtheit sagen: Wenn sie bereit war, mit jemandem fort zu gehen, dann mit Darion. Sie wollte ihm gerade antworten, als Ivina auf sie zugelaufen kam. Sie strahlte über das ganze, hübsche Gesicht und lachte, ihr blondes Haar wippte bei jedem Schritt.

„Guten Morgen“, trällerte sie und stellte sich zu ihnen. Liebevoll schlängelten sich ihre schmalen Finger in Darions Hand, der sie warm anlächelte. 

Nora versetzte es einen Stich. Sie wollte an Ivinas Stelle sein und seine Hand halten. Sie wünschte es sich schon so lange. Im Stillen schimpfte sie sich selbst eine Egoistin, da sie, wie es aussah, nur an sich selbst dachte. Sie sollte sich eigentlich für ihre beiden engsten Freunde freuen, dass sie einander gefunden hatten. Sie sollte ihnen alles Glück der Welt wünschen und sich nicht vorstellen wie es wäre, Darion zu küssen. Sie hatte einfach Angst, allein zu bleiben und irgendwann allein zu sterben. Gab es etwas Schlimmeres? Sie redete sich immer wieder ein, sich einfach für die beiden zu freuen, doch wenn sie es so offensichtlich vor Augen hatte, tat es einfach nur weh. 

„Ich gehe dann mal raus in den Stall“, sagte Nora und verließ die Bauernstube. Draußen fegte ein kalter Wind um die Häuserecken, sodass Nora instinktiv ihren Mantel enger um sich zog. Doch wider Erwarten war der Wind gar nicht so kalt. Ihr war innerlich kalt, doch der Wind wirkte auf sie eher wie eine fast schon angenehme Brise. Sie lockerte die Arme wieder etwas und ging dann in schnellen Schritten über den Hof zum Kuhstall. Hier wartete ihre Arbeit auf sie, denn schon seit mehr als zwei Wochen war sie für einen Großteil der Kühe verantwortlich. Und sie mochte es, mit den Tieren zu arbeiten. Alles war für sie besser, als die Feldarbeit, die sie zu Beginn hatte verrichten müssen. Doch der Bauer Jast und seine Frau Rovena hatten schnell eingesehen, dass Nora die Arbeit im Stall besser lag. Nora hatte anfangs noch große Angst gehabt, das Bauernpaar würde sie fortschicken, da sie auf dem Feld nicht so gut war, wie andere. Doch sie hatte noch einmal Glück gehabt. 

Als sie den Stall erreichte und hineinging, hörte sie schon das vertraute, aufgeregte Schnauben der Kühe. Mit dunklen, aber intensiv und freundlichen Augen sahen sie zu ihr und schabten mit den Hufen. 

„Ich weiß, dass ihr hungrig seid“, sagte sie und holte die Schubkarre, die gleich neben dem Eingang stand. Mit einer großen Heugabel füllte sie die Karre und schob sie dann zu den ersten hungrigen Tieren. Diese reckten sich dem Stroh entgegen, drückten ihre großen Köpfe durch Lücken des hölzernen Zauns. Nora lächelte und begann, das Stroh so zu verteilen, dass am Ende alle etwas abbekamen. Nach und nach kamen auch die anderen Arbeiter, die für den Stall eingeteilt waren und halfen mit. Da es viele Tiere waren, hätte Nora für alle viel zu lange gebraucht. Das Füttern am Morgen dauerte meist bis zum Frühstück, zu welchem alle wieder zurück in die Bauernstube gingen. Dort hatte Rovana in der Zwischenzeit ein Frühstück für alle vorbereitet. Soe wie jeden Morgen machte sich die hungrige Meute wie ein Schwarm Heuschrecken über alles her. Die Stimmung gut, alle redeten laut durcheinander und stärkten sich für die Arbeit.

Auch Nora saß an einem kleineren Tisch zusammen mit Ivina und Darion, auch wenn sie schwieg, während Ivina wieder von Gott und der Welt redete. Doch Nora hörte kaum zu. Wie gebannt starrte sie auf die Dampfschwaden, die auf der Oberfläche ihres Tees tanzten und klammerte sich an die warme Tasse. Ihre Hände waren kühl und wollten einfach nicht warm werden, egal wie sehr sie sie bewegte oder aneinander rieb, sie blieben kühl. Sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, doch gegen das drängende Gefühl, sich einfach zurück zu ziehen, konnte sie nichts tun. 

„Nora? Alles in Ordnung?“

„Hm?“, überrascht blickte sie auf und sah in die ernsten Gesichter ihrer Freunde. 

„Geht es dir gut?“, wiederholte Ivina ihre Frage. 

„Oh, ja, ich... ähm... habe nur etwas schlecht geschlafen.“

Ivina lachte, dann lehnte sie sich vor und zwinkerte. „Habe ich auch nicht.“ 

Darion, der jedes Wort davon gehört hatte, stieß seiner Freundin einen Ellbogen spielerisch in die Seite. Ihm war es sichtlich unangenehm, wenn Ivina so von ihrer letzten gemeinsamen Nacht sprach. „Ivina“, zischte er und ein leichter Rotton erschien auf seinen Wangen. Nora lächelte ihn schwach an, dann senkte sie wieder den Blick. So neigte sich das Frühstück dem Ende zu und alle machten sich wieder an die Arbeit. 

 

 

Nora verbrachte den ganzen Tag im Stall und genoss die Beschäftigung. Auf einem Schemel sitzend molk sie eine Kuh nach der anderen, während andere Arbeiter entweder dasselbe taten oder die Ställe ausmisteten. Sie ging immer sehr sorgsam mit den Tieren um, denn sie wussten, wenn sie es nicht tat, würde es den Tieren irgendwann wehtun und das wollte sie nicht. Für den Stall und das Melken brauchten sie bis zum Nachmittag, doch damit war die Arbeit noch nicht vorbei. Die vielen Kannen Milch, die sie als Ertrag des Tages verbuchen konnten, wollten noch ausgeliefert werden. Dafür beluden sie den Karren, der von einem Maultier gezogen wurde mit den Kannen und machten sich anschließend auf den Weg in die Stadt. Das war für Nora sogar noch der entspannte Teil des Tages, denn sie führte das Maultier und wartete am Wagen, während die anderen die Kannen austauschten. In einem solch kleinen Dorf war es ein Geben und Nehmen, Geld spielte dabei kaum eine Rolle. Man tauschte vielmehr untereinander. Der Jägersmann brachte Fleisch, der Müller Mehl für Brot und im Austausch bekamen sie Milch. Auch das Getreide, welches sie von den Feldern einholten bekam der Müller. Sie alle, das ganze Dorf, war eine eingespielte Gemeinschaft, die auch in schlechten Zeiten zusammenhielt. Nora war froh darüber, dass sie sich zu den Bewohnern dazu zählen konnte. Früher waren Ivina, Darion und sie von einem Dorf zum nächsten gewandert, immer der Arbeit hinterher, hatten kaum genug zu essen gehabt um zu überleben, bis sie schließlich hier gelandet waren. Von da an war alles besser geworden. 

Nach getaner Arbeit kamen sie alle zurück in die Bauernstube, frierend und hungrig machten sie sich auch über das zweite Essen an diesem Tag her. Zu einem deftigen Eintopf, den Rovana gekocht hatte, gab es frisches Brot und ein wenig Wurst. Viel zu hastig aßen sie den Eintopf, da er ihre nahezu leeren Mägen gut füllte. 

„Wie machen sich die Neuen?“, fragte Nora Darion schließlich nach, als ihre Teller bereits leer waren, nur um ein Gespräch anzufangen. Die Stille, die bei ihnen zuvor am Tisch geherrscht hatte, hatte sie erdrückt und nur wieder an diesen Traum denken lassen und das machte ihr Angst, auch wenn sie sich einredete, dass es eben nur ein Traum gewesen war. 

„Ganz gut eigentlich. Es sind ein paar Kräftige dabei, die sind nützlich.“

„Na dann pass auf, dass sie dich nicht ersetzen“, grinste Ivina schelmisch und küsste ihn flüchtig auf die Wange. Auch Nora musste schmunzeln, denn Ivina hatte Recht, Darion war nicht sonderlich breit gebaut, doch stark war er dennoch, man sah es ihm nur nicht an. 

„Werden sie schon nicht“, sagte er und lächelte. 

Wenig später gingen die drei zur Scheune, in dem auch einige Arbeiter in der oberen Etage untergebracht waren. Schon von draußen hörten sie Musik, eine Laute und eine Flöte, während jemand auf etwas hölzernem herum trommelte. Lächelnd sah Ivina zu ihren beiden Freunden und hüpfte dann voraus. Darion war ihr direkt auf den Fersen, während Nora gemütlich hinterher ging. Diese Abende in der Scheune waren alles an Unterhaltung, was sie hatten. Zwar könnten sie auch ins Dorf gehen, doch da sie kein richtiges Wirtshaus besaßen und auch kaum Reisende durch das Dorf kamen, war dort nie fiel los. So kamen am Abend nach getaner Arbeit immer alle zusammen, musizierten, tanzten oder redeten einfach miteinander. Alles in allem war es eine heitere Runde. 

Nora bahnte sich einen Weg durch eine tanzende Gruppe, die eng an eng zusammenstand und sich zur Musik bewegte. Viel Platz hatten sie nicht, doch gerade das verlieh diesen Abende etwas gemütliches und familiäres. An einer Wand stand eine Reihe an Stühlen, wo Nora sich auf einem niederließ. Sie beobachtete die freudige Stimmung und spürte, wie ein wenig davon auf sie überging. Sie lächelte mehr als sonst den ganzen Tag über und bewegte im Sitzen ihre Füße mit zur Musik. Ivina und Darion tanzten bereits mit den anderen in ausgelassener Stimmung. Sie hüpften, sich an den Händen haltend durch die Reihen oder im Kreis und lachte dabei lautstark. Viele der Arbeiter sangen zu den bekannten Melodien mit, sodass es ziemlich laut wurde. Eine ganze Zeit saß sie so da, bis plötzlich jemand im Vorbeigehen Noras Hand umfasste, sie auf die Beine zog und festhielt. Noch immer lächelnd blickte sie zu der Person auf, die sie um gut einen Kopf überragte. 

„Raul.“ Überrascht nannte sie ihn beim Namen, als sie ihn erkannte. 

„Komm, tanz‘ mit mir“, sagte er laut, sodass sie ihn verstehen konnte, dann umfasste er beide Hände mit seinen und begann sich in die kreisenden Bewegungen mit einzugliedern. Eine wirklich Wahl hatte Nora nicht mehr gehabt, doch sie musste feststellen, dass gerade Rauls fröhliche und offene Art, sie geradezu anspornten. Mit ihm zusammen hüpfte sie strahlend mit den anderen umher und amüsierte sich seit langem mal wieder richtig. 

Irgendwann, sie hatten schon mehrere Lieder durchweg getanzt, schnappte Nora nach Luft. 

„Ich brauche eine Pause“, ließ sie Raul wissen, der ihr lächelnd zunickte und einfach alleine weiter tanzte. Dann suchte sie sich einen noch gefüllten Krug und goss sich etwas Wasser in einen Becher. Sie trank es in einem Zug aus, dann stellte sie den Becher beiseite. Mit einem Mal waren da wieder Hände an ihrem Arm, doch diese erkannte sie sofort, waren sie doch gefolgt von der hohen Stimme ihrer Freundin. 

„Gehen wir schlafen? Ich bin müde“, jammerte Ivina und zerrte spielerisch an Noras Arm. Man sah es der blonden Frau an, dass sie, seit sie die Scheune betreten hatten, ohne Unterbrechung getanzt hatte. 

„Ich auch“, sagte Nora und löste Ivinas Hand von ihrem Arm. 

„Hm“, meinte diese und sah ihr in die Augen, „sieht man dir gar nicht an.“ Ivina streckte die Hand aus und ehe Nora sich versehen konnte, lag die Hand auf ihrer Stirn. „Du bist ja nicht mal warm. Sieh mich an“, jammerte sie weiter, „ich schwitze.“ 

Nora zuckte nur mit den Achseln, dann nahm sie ihre Freundin bei der Hand und sie verließen die Scheune. 

„Du willst als heute Nacht wirklich mal in deinem eigenen Bett schlafen?“, hakte Nora nach, da sie erwartet hatte, Ivina würde sich wieder mit Darion vergnügen. 

„Ach, er braucht auch mal eine Pause von mir.“ Ivina lächelte breit, dann gähnte sie herzhaft. 

In ihrem Zimmer angekommen ließ sich die Blonde seufzend auf ihrem Bett nieder. Am liebsten hätte sie sich, so wie sie war, einfach hingelegt und geschlafen, was man ihr auch ansah. Nora hingegen schlüpfte aus ihren Schuhen und machte sich daran, die Bänder ihres Kleides aufzuschnüren. Ohne daran zu denken, zog sie es aus und stand nur noch in einem dünnen, knielangen Unterhemd im Zimmer. Gerade beugte sie sich nach vorne, um die Strümpfe, die ihre Beine im Winter vor der Kälte schützen sollten, auszuziehen, als sie Ivinas Füße vor sich sah.

„Was hast du da?“, fragte diese und bewegte Nora dazu, sich aufzurichten.

Nora, die überhaupt nicht mehr an diese Stelle auf ihrer Brust nachgedacht hatte, stand urplötzlich die Panik ins Gesicht geschrieben. Sie hatte die Stelle nicht weiter bedeckt, da sie sie schlichtweg vergessen hatte. Ivina, die wie gebannt auf die dunkel, bläuliche Stelle sah, streckte die Hand aus und berührte Noras Haut mit zwei Fingern. Diese wollte ihre Freundin noch davon abhalten, doch es war zu spät.

„Aua!“, schrie Ivina auf und zog hastig ihre Hand zurück. Erschrocken sah sie erst ihre Finger an, dann Nora. „Was ist das?“ Ivinas Stimme war höher als sonst. 

„Gar nichts“, sagte Nora und zog sich rasch ihr Nachthemd über den Kopf und schloss es bis hinauf zum Hals. „Da habe ich mich gestoßen“, log sie, da es gewisse Ähnlichkeiten zu einem blauen Fleck gab. 

„Aber deine Haut ist so eiskalt, dass es weh tut!“

„Unsinn. Das hast du dir eingebildet. So etwas würde ich doch merken“, meinte Nora und zog sich nun endlich die Strümpfe aus. Dann setzte sie sich auf die Bettkante und sah ihre Freundin streng an. 

„Ich weiß doch, was ich gespürt habe!“, beharrte Ivina und verschränkte die Arme vor der Brust. 

„Ivina, so etwas geht doch gar nicht.“ Nora wusste nicht, wo sie diese Begründung her hatte, doch es funktionierte. Ivinas Gesichtszüge wurden wieder milder, auch wenn ihr Blick immer wieder zwischen Noras braunen Augen und ihrer Brust hin und her wanderte. „Jetzt lass uns schlafen, ja?“

Ivina nickte, dann zog auch sie sich um und legte sich zu Bett. 

Kapitel 2 – Alarmiert

Sie stand mitten im Nirgendwo, konnte rein gar nichts um sich herum erkennen, außer einem starken Schneesturm, der um sie herum fegte. Er wehte kalt durch ihr Haar, versperrte ihr so die Sicht und ließ sie frieren. Mit den Händen versuchte sie ihr schwarzes Haar zu bändigen, dann sah sie sich ängstlich um. Wo war sie?

Gerade wollte sie sich bewegen, ein paar Schritte in irgendeine Richtung setzen, da musste sie feststellen, dass ihr das nicht gelang. Irritiert blickte sie an sich hinab und konnte ihren Augen nicht trauen. Ihre Füße, ja sogar ein Teil ihrer Unterschenkel, waren zu einer starren Eissäule gefroren. Ein verzweifelter Schrei drang über ihre Lippen, als sie versuchte ihre Füße von dem Eis zu trennen, doch es war vergeblich. Das Eis hatte sie an diese Stelle gefesselt und gab ihr keinen Millimeter Spielraum. Sie spürte nicht einmal mehr ihre Füße. Zitternd blickte sie auf, wollte um Hilfe schreien, doch sie war allein. Wer sollte sie also hören? Betrübt ließ sie den Kopf hängen, wusste nicht, was sie tun sollte um sich aus dieser Lage zu befreien. Sie bebte am ganzen Körper, hätte in diesem Moment nichts lieber getan, als sich zu bewegen um die Kälte zu vertreiben. Doch ihre Füße klebten am Boden und das Eis, welches ihr fast bis zu den Knien reichte, lähmte sie zusätzlich. Sie zitterte stärker, hob aber den Blick wieder etwas an, nur um direkt in den Schneesturm zu schauen. Es war nichts weiter zu sehen außer den wehenden Schneemassen, die mal weniger und mal stärker über die Eben tanzten.

Doch was war das? Sie starrte in die Ferne, nur um zu glauben, ihr Verstand würde ihr einen Streich spielen. In den Schneewehen konnte unmöglich ein Gesicht zu sehen sein. Und doch… sah sie genau das. Die Konturen eines menschlichen Gesichts mit leeren Augen und schmalen Lippen. Wie gebannt starrte sie diese Erscheinung an. Doch was war es, was sie dort, im Heulen des Windes versteckt, hörte? Sie lauschte den wortähnlichen Fetzen und versuchte sie zu verstehen.

„Kein Entkommen…“

Sie blinzelte verwirrt. Hatte sie das richtig verstanden? Kein Entkommen? Doch vor wem – oder was – konnte sie nicht entkommen? Verwirrt sah sie von dem Gesicht im Sturm weg, da schnappte sie weitere Worte auf.

„Mein Eis…“

Sie schrie auf. Gerade, als sie die Worte verstanden hatte, schmerzten ihre Beine so sehr, dass sie auf die Knie fallen wollte. Doch das ging nicht. Erschrocken blickte sie an sich herab, nur um laut aufzuwimmern. Das Eis, welches sie an diese Stelle fesselte, breitete sich aus. Es kroch ihre Beine hinauf und brannte eiskalt auf ihrer Haut. Sie weinte vor Schmerzen, wollte die Stellen, die sich noch über dem Eis befanden reiben, damit sie nicht auch einfroren, doch das Eis wuchs unentwegt weiter. Plötzlich klebte auch ihre Hand daran fest, sodass sie sie nicht mehr bewegen konnte.

„Bitte nicht“, wimmerte sie in gebeugter Haltung, als sie mit Angsttränen in den Augen zusehen musste, wie das Eis mehr und mehr ihres Körpers umhüllte. Instinktiv reckte sie ihren Hals in die Höhe, doch das Eis machte keinen Halt. Es kroch über ihren Oberkörper, ihren Hals bis hinauf zu ihrem Kopf. Gerade noch bevor, bevor es sie komplett einschloss, hörte sie diese Stimme deutlicher, lauter, so als würde sie nur in ihren Gedanken sprechen.

„Mein Eis wirst du sein…“

 

 

„Nora. Nora! Wach auf!“

Ihr Körper wurde heftig hin und her bewegt, als jemand versuchte, sie zu wecken. Nora schlug abrupt die Augen auf und sah in Ivinas besorgtes Gesicht. Ihr Körper war von einem dünnen, kalten Schweißfilm überzogen, die Beine hatte sie fast bis zur Brust gezogen und sie zitterte.

„Nora, alles in Ordnung?“ 

„Was ist…?“ Das Wort ‚passiert‘ verschluckte sie komplett.

„Du hast geschrien und gekrampft. Ich habe mir Sorgen gemacht.“

Nora atmete tief durch um ihr Herz zu beruhigen, welches drohte, ihr aus der Brust zu springen, so schnell und hart schlug es.

„Es war nur ein Traum“, sagte sie leise, mehr zu sich selbst, als zu ihrer Freundin.

„Ein heftiger, hm?“

Nora nickte, dann rollte sie sich auf den Rücken und entspannte ihre Arme und Beine, deren Muskeln von den Krämpfen wehtaten. Sie locker neben sich liegen zu lassen war eine enorme Erleichterung für sie. Als sie jedoch so dalag und das wohlige Kribbeln in ihren Gliedmaßen genoss, spürte sie einen luftigen Zug an ihrem Hals und ihrer Brust. Als sie dem Blick ihrer Freundin, der noch immer an ihr klebte, folgte, sah sie, was die Ursache dafür war. Das Nachthemd, welches sie am Abend noch bis zum Hals geschlossen hatte, war aufgerissen. Bis unterhalb ihrer Brüste reichte der Riss und legte so ihre helle Haut und das bläulich schimmernde Mal frei. Nora umfasste panisch den Stoff und schloss es über ihren Brüsten, doch sie beide hatten bereits gesehen, was Nora nun so unendlich große Angst machte. Das Mal, diese dunkle, kalte Stelle auf ihrer Haut, war größer geworden. Nur ein bisschen, was keiner von beiden eigentlich aufgefallen wäre, wären da nicht diese feinen bläulichen Adern, die von dem Mal wegführten. In alle Richtungen strömten sie ein paar Zentimeter, bis sie sich verloren und Noras Haut wieder normal aussah. 

„Das ist doch nicht normal“, sagte Ivina. Sie verzog das Gesicht, während man ihr die Sorge so leicht ablesen konnte. 

Nora wusste nichts darauf zu antworten. Auch ihr war bewusst, dass dieses Mal nicht einfach verschwinden würde, nicht nachdem es sich nun langsam auszubreiten begann. Sie hatte ebenso viel Angst wie Ivina, konnte es sich einfach nicht erklären. 

Plötzlich drehte sich die Blonde um und ging zur Tür, noch ehe Nora sich einen Reim darauf machen konnte, war sie aus dem Zimmer gegangen. Nora seufzte, als ihr klar wurde, was ihre Freundin vorhatte. Wahrscheinlich holte sie Darion oder Rovana, doch mit keinem von beiden wollte Nora in diesem Moment sprechen. Und erst recht nicht, wo sie ihr Nachthemd bis zu den Brüsten aufgerissen hatte. Hätte sie das nicht merken müssen? Man brauchte schon einiges an Kraft, um einfach so den Stoff zu zerreißen, doch Nora hatte tief und fest geschlafen.

Und von dieser eisigen Kälte geträumt, dachte sie und schlang die Arme um sich, nicht darauf achtend, dass sie die Enden des Stoffes losließ. Sie stand auf um sich ihr Kleid überzuziehen. Nora wollte einfach nicht, dass man sie so sah. Sie war gerade dabei, es vorne zu schließen, als sie Schritte vor der Tür vernahm. Sie seufzte erneut, da sie diesem Gespräch wohl nicht entgehen konnte. Kaum hatte sie diesen Gedanken beendet, öffnete sich die Tür und Ivina kam mit der Bäuerin Rovana in das kleine Zimmer. 

„Zeig her, Kind“, sagte die ältere Frau ohne Umschweife. Ivina musste ihr bereits alles erzählt haben. 

Nora wollte es nicht, doch sie blieb einfach stehen, ballte die Hände zu Fäusten und versuchte, nicht vor Angst in Tränen auszubrechen. Rovana, die durch ihren liebevollen Blick versuchte, Nora etwas aufzumuntern, trat näher und öffnete den oberen Teil des Kleides ein Stück, nur so viel, dass sie die Stelle sehen konnte. Rovana atmete hastig ein, dann sah sie Nora mit großen Augen an.

„Seit wann hast du das?“

„Seit gestern“, gestand sie. 

Als Rovana ihre Hand bewegte und das Mal berühren wollte, wich Nora zurück. „Fass es nicht an“, sagte sie hastig und drückte sich eine Hand auf die Stelle. Dabei stelle sie fest, dass es sich für sie selbst überhaupt nicht kalt anfühlte. 

„Es ist ganz kalt“, sagte Ivina und sah unsicher von Rovana zu Nora. 

„Nora, wie hast du es bekommen?“, fragte Rovana nach und trat wieder an Nora heran. Diese ließ die Arme sinken, gab die Sicht auf das Mal somit wieder frei. Doch sie antwortete nicht, denn sie wusste es schlichtweg nicht. 

„Ich weiß es nicht“, sagte sie leise und spürte, wie nun doch die Angst und die Tränen die Oberhand gewannen. „Es... war einfach da als ich aufgewacht bin.“ 

Rovana seufzte. „Irgendwo her muss es kommen“, sagte sie schließlich und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ihr solltet den Heiler aufsuchen. Er ist ein knauseriger, alter Mann, aber er weiß viel. Geht am besten gleich bei Sonnenaufgang los.“ Die Sorge stand der älteren Frau ins Gesicht geschrieben, denn auch sie wusste nicht, womit sie es zu tun hatten. 

„Und unsere Aufgaben?“

„Die werden andere erledigen. Ihr geht ins Dorf“, sagte sie zu den beiden Frauen, „und seht zu, dass ihr das da behandelt bekommt.“ 

Nora nickte schweigend und wischte sich die Tränen von den Wangen. Dann, nachdem Rovana das Zimmer wieder verlassen hatte, ließ sie sich auf ihrem Bett nieder. Ivina setzte sich zu ihr und griff schweigend ihre Hand. So saßen die beiden eine ganze Zeit einfach so da. 

„Ivina“, begann Nora zögernd, wusste aber nicht so recht, wie sie es in Worte fassen sollte. 

„Ja?“

„Ich habe... nun ich weiß eigentlich nicht, ob es mit diesem Ding zusammenhängt, aber ich hatte in den letzten Nächten eigenartige Träume“ 

„Was für Träume?“ Mit wachen, blauen Augen sah sie ihre Freundin an. 

„Gruselige. Sie haben mir große Angst gemacht.“ Dann erzählte sie Ivina alles.

Es fiel ihr nicht leicht, von ihren Träumen zu berichten, doch sie versuchte, alles so genau wie möglich wiederzugeben. Sie erzählte von dem Kind, welches sie in ihrem Traum hatte wärmen wollen, wie es sich an ihr fest gekrallt hatte und sie es nicht einmal mehr von sich hatte trennen können. Hin und wieder haderte sie mit sich, wusste nicht, wie sie es beschreiben sollte, ohne dabei verrückt zu klingen, doch schließlich hatte sie Ivina alles erzählt. Die Blonde hatte jedem Wort aufmerksam gelauscht, hatte Nora nicht einmal unterbrochen, auch wenn Fragen in ihr aufgekommen waren. Doch nun, wo Nora ihr alles erzählt hatte, wusste sie nicht, was sie sagen sollte. Ihr fehlten schlicht und einfach die Worte. Instinktiv ergriff sie die Hand ihrer Freundin und drückte sie, nur um ihr zu zeigen, dass sie für sie da war. 

„Wieso... hast du es mir nicht schon eher erzählt?“

Nora zuckte mit den Achseln. „Ich hatte doch selbst keine Ahnung, dass das etwas mit diesem...“, ihre freie Hand krallte sich in den Stoff ihres Kleides. „...Ding zu tun haben könnte.“ 

Ivina seufzte, denn auch sie war ratlos. Mit müdem Blick sah sie zum Fenster und bemerkte, dass die Sonne sich am Horizont langsam zeigte. Die ersten Lichtstrahlen fielen durch das Fenster und tauchten es in einen angenehmen warmen Schein. Wortlos standen sie auf, tauchten noch einen Blick aus und nickten sich dann zu. Sie beide wussten, was sie nun zu tun hatten und sie wollten keine Zeit verlieren. 

 

 

Der Weg in das Dorf dauerte eine ganze Zeit und mit jedem Schritt, den Nora näher kam, wurden ihre Beine schwerer. Sie spürte eine Last auf ihren Schultern, die sie nicht zuordnen konnte. 

Rovana hatte ihnen eine kleine Tasche mit Brot und Wasser mitgegeben und hatte Ivina auch versprochen, dass sie Darion darüber informieren würde, dass die beiden Frauen ins Dorf gegangen waren. Darion sollte sich schließlich nicht unnötig sorgen. 

Schweigend gingen sie den Weg entlang, der in das Dorf führte. Nora war nicht zum Reden zumute und Ivina wusste einfach nicht, was sie konnte, damit es ihrer Freundin half. So erreichten sie etwa zwei Stunden später das Dorf. Sie mussten es einmal durchqueren um zum Heilkundigen zu gelangen. Als sie den Marktplatz betraten, herrschte dort schon das übliche Treiben. Die Händler wollten ihre Ware an den Mann bringen, während diese versuchten, nicht zu viel für die Einkäufe auszugeben. Es wurde gehandelt und gefeilscht, und wenn man nicht aufpasste, konnte man ganz schön übers Ohr gehauen werden. Neugierig beobachtete Nora das Bild, welches sich ihr bot. Durch ihre Arbeit auf dem Hof war sie bisher nur einmal zu den Marktzeiten im Dorf gewesen, denn die Einkäufe machten meist andere. Wenn sie am Nachmittag mit der Ausliefern der frischen Milch begannen, waren viele Stände schon geschlossen, sodass sie nie die Möglichkeit gehabt hatte, herumzuschauen und eventuell etwas zu kaufen. Nahrungsmittel brauchten sie ohnehin nicht kaufen, da sich Rovana und Jast darum kümmerten. Sie konnten froh sein, an einen so guten Hof gekommen zu sein, denn es war nicht überall üblich, dass sich die Inhaber so um ihre Arbeiter kümmerten. Nur schweren Herzens, da sie beide wirklich neugierig waren, trennten sie sich von dem Anblick des vollen Marktes und gingen weiter. Am Rand des Dorfes lag die Hütte des Heilkundigen, den sie aufsuchen wollten. 

Nora hoffte, dass dieser auch Zeit für sie hatte, da sie sich nun doch zunehmend größere Sorgen machte. Sie war aber auch froh, dass Ivina bei ihr war, denn allein hätte sie nicht den Mut gehabt, schließlich wusste sie nicht, was der Heiler sagen würde. Sie konnte sonst etwas davongetragen haben, auch wenn sie nicht wusste, woher sie es hatte. Nora bezweifelte einfach stark, dass es sich um etwas Gutes handeln würde... 

Als sie wenig später vor der Hütte des Heilers Glenson standen, wurde das ungute Gefühl in Noras Brust nur noch schlimmer. Wie versteinert stand sie da, konnte nicht einmal einen Arm heben, um zu klopfen. Sie hatte Angst vor dem, was sie dort drinnen erwarten würde. Sie stand einfach nur da und starrte auf das Holz der Tür. 

„Nora?“ 

Nora zuckte zusammen und wandte den Blick ihrer Freundin zu. Diese lächelte sie aufmunternd an und nickte dann in Richtung der Tür. Nora biss die Zähne zusammen und hob die Hand, um mit der Faust dreimal kurz gegen die Tür zu schlagen. Dann trat sie einen Schritt zurück und wartete. Im Inneren der Hütte hörten sie es rumpeln, etwas klirrte laut, so wie Glas zersprang, wenn es auf den Boden fiel, gefolgt von einem lauten Fluchen. Unsicher sahen sich die beiden Frauen an, doch ehe sie etwas sagen konnten, wurde die Tür geöffnet und ein grimmig guckender, alter Mann starrte sie an. Das schulterlange Haar war schon sehr grau und fiel ihm strähnig ins Gesicht. Er stand leicht gebeugt da und wirkte zerbrechlich, doch seine Augen, die hell und blau waren, machten nicht den Anschein, als wären seine Tage bereits gezählt. 

„Ja?“ 

„Guten Tag“, sagte Ivina freundlich, „wir brauchen Eure Hilfe und Eure fachkundige Meinung zu etwas.“

„Bei was? Ihr seht mir beide sehr gesund aus. Geht zu jemand anderem, wenn ihr eine Blase am Fuß habt.“ Er ließ seinen Blick kurz über beide Frauen wandern, dann drehte er sich weg.

„Bitte“, sagte Nora dann lauter und trat einen Schritt auf ihn zu. Sie versuchte nicht auf seine abweisende Art zu achten. „Rovana meinte, dass Ihr mir helfen könnt.“ 

Der alte Mann seufzte, denn deutete er ihnen an, ihm zu folgen. „Ich kenne Rovana schon sehr lange“, sagte er schließlich, als er sich an einen kleinen, hölzernen Tisch setzte, der über und über mir Glasphiolen und metallischen Schälchen bedeckt war. In jedem davon befand sich ein Feststoff oder eine Flüssigkeit, in manchen sogar beides. Die Hütte war klein und bot, neben dem Tisch und zwei Stühlen, nur noch Platz für eine Feuerstelle, ein schmales Bett und eine hölzerne Truhe, in der sich meist die Kleidung befand. In der Feuerstelle prasselte ein klein Feuer, welches auch die einzige Lichtquelle war. „Sie hätte euch nicht zu mir geschickt, wenn sie eine andere Wahl gehabt hätte.“ Dann sah er die beiden wieder an. „Also, was soll ich mir ansehen?“

Nora schluckte schwer, dann straffte sie die Schultern und trat vor. Sie öffnete den Mantel und reichte ihn Ivina zum Halten, dann zog sie die obersten Bänder ihres Kleides auf, jedoch nur so viel, dass sie ihm ihr Mal zeigen konnte, er aber nicht mehr von ihr sah. 

„Das hier“, sagte sie unsicher und zeigte ihm das dunkelblaue Mal, von welchem noch immer die feinen Äderchen wegführten. Die wachsamen, blauen Augen des Heilers wanderten über ihre Haut, dann wurden seine Augen etwas schmaler. 

„Wann hast du es bemerkt?“

„Gestern Morgen. Als ich aufgewacht bin, war es da.“

„Du musst doch etwas gemacht haben?“

Nora schüttelte den Kopf. „Nein.“ Ihre Stimme war nur ein Flüstern. Dann trat sie zurück und zog die Bänder wieder zu. Dieser Mann glaubte ihr nicht, also verschwendete sie hier nur ihre Zeit. 

„Für solche Späße bin ich nicht da“, sagte er griesgrämig. „Geht jetzt. Und wascht das ab.“ 

„Es ist nicht aufgemalt!“, sagte Ivina empört, als sie Nora den Mantel zurückgab. „Wenn Ihr nur halb so gut sein würdet, wie es viele von euch sagen, dann würdet Ihr richtig schauen!“

Nora, die Ivinas Ausbrüche dieser Art schon kannte, nahm ihre Freundin am Arm und zog sie leicht zur Tür, während Ivina dem Alten noch weitere Worte, die seine Fähigkeiten in Frage stellten, an den Kopf warf.

„Alter Scharlatan“, sagte sie schließlich, als sie durch die Tür nach draußen traten, laut genug, damit er es auch wirklich hören konnte. Ivina hatte durch diese Aufregung eine gesunde Gesichtsfarbe bekommen, denn ihre Wangen waren rot und sie prustete regelrecht. „Das kann doch nicht wahr sein! Ich dachte er würde uns helfen.“

„Reg' dich nicht auf“, versuchte Nora ihre Freundin zu beruhigen, die es augenscheinlich stärker aufregte, als sie selbst. Dabei war es doch Nora, die dieses mysteriöse Mal trug. Diese lächelte sanft und griff nach Ivinas Hand um sie mit sich zu ziehen. Während Ivina langsam wieder ruhiger wurde, dachte auch Nora nach. Wieso hatte Glenson ihr nicht geglaubt? Und wieso war er so abweisend gewesen, als sie ihm das Mal gezeigt und gesagt hatte, dass sie es einfach so bekommen hatte. Sie kannte den alten Heilkundigen nicht, doch so konnte er sich doch unmöglich verhalten, wenn doch immer alle mit ihren Problemen und Schmerzen zu ihm kamen. Lag es an Nora selbst? Hatte er etwas gegen sie persönlich und hatte sie deshalb einfach so wieder fortgeschickt? Das wollte sie nicht glauben, doch sicher sein konnte sie auch nicht. 

Nach einer ganzen Zeit, die sie um das Dorf herum gelaufen sind, befanden sie sich wieder am Markt. Auch ihnen knurrte so langsam der Magen und sie beschlossen, etwas von ihrem Proviant zu essen. Die meiste Zeit schwiegen sie dabei, denn das wenn auch nur kurze Gespräch ließ sie beide nicht los. 

Nachdem Nora das Brot aufgegessen hatte, stand sie auf und fasste einen Entschluss. „Ich gehe nochmal zurück“, sagte sie laut und sah auf ihre Freundin hinab. 

Ivina rappelte sich auf und griff sich die Tasche mit der restlichen Verpflegung. „Zurück? Dieser alte Kerl hat doch überhaupt keine Ahnung.“

„Ich glaube, er verbirgt etwas. So als würde er etwas wissen, es uns aber nicht sagen wollen.“

Ivina seufzte. „Ich denke, damit vergeuden wir nur unsere Zeit.“ Sie rollte mit den Augen.

„Ich muss einfach wissen, was das hier ist. Du kannst auch hier warten.“ Damit drehte sie sich um und ging in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren.

„Nora, warte“, rief Ivina ihr hinterher.

Nora sah sich um und lächelte sanft, als Ivina ihr dann doch folgte.

„Danke.“

„Ich bin mir noch nicht sicher, ob das wirklich etwas bringt.“

„Er weiß irgendwas“, meinte Nora, dann blickte sie zu Boden. „Er muss. Ich habe Angst, dass es schlimmer wird. Du hast mich letzte Nacht doch gesehen. Ich glaube, dass diese Träume und dieses Mal zusammenhängen. Anders kann ich es mir nicht erklären.“

„Vielleicht hast du Recht.“ Dann wurde Ivina still.

Als sie einige Zeit später die Hütte von Glenson zum zweiten Mal an diesem Tag erreichten, neigte sich der Nachmittag bereits dem Abend entgegen. Nora war fest entschlossen sich die Informationen, die der Heiler ihrer Meinung nach verschwieg, zu holen. Es ging hier schließlich um sie und ihr Leben, da durfte er ihr nichts vorenthalten. Sie marschierte auf die Tür zu und klopfte.

„Hallo?“, rief sie laut und hämmerte mit ihrer Faust gegen die Tür. Mehrmals rief sie nach dem Heilkundigen, doch die Tür wurde nicht geöffnet.

„Ist er überhaupt da?“, fragte Ivina, die hinter Nora stand. Diese zuckte mit den Schultern und wandte sich von der Tür ab, doch auch, als sie einen Blick durch das Fenster warf, konnte sie im Inneren nichts erkennen. Sie seufzte frustriert.

„Das darf doch nicht sein!“ Ihre Stimme zitterte. Sie legte den Kopf in den Nacken und schloss kurz die Augen, atmete hörbar laut und tief durch.

Ivina sah sie an, wusste nicht, was sie tun sollte um Nora Mut zu machen. Da kam ihr plötzlich eine Idee.

„Wir könnten die alte Ohaia fragen.“

„Was? Die ist doch verrückt.“ Nora machte große Augen. Was sollte das für ein Vorschlag sein? Die alte Ohaia lebte allein in einer Hütte außerhalb des Dorfes und wurde von allen gemieden. Nora wusste zwar nicht genau, wie ihre Geschichte wirklich gewesen war, doch wenn jemand den Namen Ohaia in den Mund nahm, dann war das Gelächter der Dorfbewohner nicht weit.

„Sie könnte etwas wissen“, meinte Ivina und zuckte nun ihrerseits mit den Schultern.

„Wieso sollte man ihr Glauben schenken? Das tut niemand.“

„Willst du jetzt wirklich über die voreiligen Schlüsse der Dorfbewohner diskutieren?“ Ivina stemmte die Hände in die Hüfte. „Ich habe mich mal mit der Näherin unterhalten. Sie hat mir erzählt, dass Ohaia früher wirre Geschichten von Magie und anderen unglaublichen Ereignissen erzählt hat. Natürlich hat ihr niemand geglaubt, aber meinst du nicht, dass sie diese Geschichten irgendwo her haben muss?“

Nora öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch dann schloss sie ihn wieder wortlos. Vielleicht hatte Ivina Recht und sie mussten mit diesem ungewöhnlichen Mal ebenso ungewöhnliche Mittel ergreifen, doch ganz wohl war Nora nicht bei dem Gedanken, die alte Ohaia aufzusuchen. Es dämmerte bereits und sie mussten noch zurück zum Hof gehen.

„Dann lass uns keine Zeit verschwenden.“

 

 

Noch im Dorf hatten sie eine Fackel entzündet, mit der sie nun den Weg zur Hütte der alten Ohaia suchten. Nora wusste überhaupt nicht, wo sie sich befinden sollte, doch Ivina war sich sicher, dass sie in die richtige Richtung gingen. Sie verließen das Dorf auf einem schmalen Trampelpfad und gingen am Waldrand entlang. Sie folgten dem Weg, der schließlich in den Wald abbog.

Wenige Zeit später erreichten sie tatsächlich eine kleine, schäbige Hütte mit halb eingefallenem Dach.

„Dort lebt sie?“, fragte Nora leise.

Ivina nickte und ging näher an die Hütte heran. Sie hob die Hand und klopfte.

„Kommt herein, Mädchen. Es ist kalt draußen“, rief eine schwach klingende weibliche Stimme ihnen zu. Irritiert sahen die beiden sich an, dann drückte Ivina die Tür auf und sie traten ein.

„Guten Abend“, begrüßten sie die alte Frau, deren weißes Haar jeden noch so kleinsten Lichtschein des Feuers reflektierte und so noch heller aussah. Mit hellen, blauen Augen, die Nora im ersten Moment an die von Glenson erinnerten, sah sie zu ihnen.

„Kommt nur. Setzt euch hin.“ Die alte Ohaia ging mit leicht gebeugtem Rücken auf sie zu und setzte sich auf einen einfachen Hocker. „Was treibt euch denn zu mir?“ Sie rieb sich über die dünnen Beine, die sich im Sitzen doch sehr durch ihre Kleidung abzeichneten.

„Ich… ähm…“, begann Nora, doch Ohaias Erscheinung hatte sie völlig durcheinander gebracht. Sie konnte nur an diese arme alte Frau denken, die hier im Wald, so weit weg vom Dorf, allein in dieser einsturzgefährdeten Hütte leben musste.

„Nora hier, hat etwas, was sie dir gerne zeigen würde“, übernahm Ivina das Reden für sie.

„Oh nur zu, Kind“, sagte Ohaia und versuchte sich etwas aufrechter hinzusetzen.

Nora zögerte kurz, doch dann zog sie die Bänder ihres Kleides auf und zeigte der alten Frau ihr Mal. Diese machte große Augen, dann hob sie die Hand und winkte Nora näher an sich heran. Der Mund stand Ohaia offen, als sie so nahe kam, dass ihre Nase fast Noras Haut berührt hätte, hätte Nora sich nur ein kleines Bisschen weiter in ihre Richtung bewegt. Kurz sah Ohaia in Noras Augen, dann legte sie vorsichtig ihre Hand auf das Mal. Sofort zuckte sie zusammen. Ihre Augen rollten nach hinten, sodass nur noch das Weiß des Augapfels zu sehen war. Ihre Glieder versteiften sich und sie drohte nach hinten umzukippen, ohne auch nur darauf zu reagieren oder die Möglichkeit zu haben, sich selbst abzufangen. Nora, die Ohaia mit großen Augen ansah, streckte schnell die Arme nach ihr aus und umfasste die dünnen und zerbrechlichen wirkenden Schultern der alten Frau. Auch Ivina war sofort aufgesprungen, lief hinter Ohaia und stützte sie zusätzlich am Rücken. Die Frau japste nach Luft und begann am ganzen Leib zu zittern. 

„Kälte“, flüsterte sie und ihre Glieder verkrampften sich noch mehr. Die Hände zu Fäusten geballt starrten ihre weißen Augen auf das Mal. „In den Norden...“

„In den Norden?“, fragte Nora, da sie nicht verstand, worauf Ohaia hinaus wollte. „Aber wir sind doch im Norden.“

„Nein“, hauchte die Alte und langsam drehten sich auch ihre Augen zurück, sodass man das Blau der Iris wieder sehen konnte. „Weiter, viel weiter... Ganz hoch oben in den Norden müsst ihr gehen.“

Impressum

Texte: Jana S. Morgan
Bildmaterialien: https://pixabay.com/de/
Cover: Jana S. Morgan
Tag der Veröffentlichung: 18.05.2015

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