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Widmung

 Dieses Buch widme ich meinen Lesern und Leserinnen.
Ohne euch würde es dieses Buch gar nicht geben.

Kapitel 1 – Nicht das Ende

Zwei Monde waren seit meiner Hochzeit mit Arian vergangen. Nur zwei. Dabei fühlte es sich so an, als wäre es nie anders gewesen. Mit ihm unter einem Dach zu leben und die Rolle seines Weibs einzunehmen, machte mich glücklich und war vielleicht gerade deshalb gar nicht so schwer. Die vielen Sorgen, welche ich mir noch im Herbst gemacht hatte, stellten sich als unbegründet heraus. Mein altes Leben hinter mir zu lassen und ein neues mit Arian zu beginnen, war leicht. Ich hatte keine Angst mehr davor, sondern schaute voller Freude und Hoffnung in die Zukunft.

Nach der Hochzeit war ich bei Sibille und Kjell ausgezogen, hatte meine Sachen zusammengepackt und sie mit der Hilfe meines Mannes in mein neues Heim gebracht. Die ersten Tage waren ungewohnt, so vieles war neu. Jahrelang hatten Arian und sein Vater allein in dem Haus gelebt und obwohl die beiden gut für sich sorgen konnten, fehlte ganz offensichtlich eine Frau, die den Haushalt führte. Nachdem die Aufgaben und Pflichten neu verteilt waren, stellte sich bald eine angenehme Routine ein. Jeder wusste, was er wann zu tun hatte, und es funktionierte wunderbar. Jeder konnte sich ohne Probleme auf den anderen verlassen. Selbst Vilhelm, Arians Vater, gewöhnte sich schnell an unser Zusammenleben. Die Umstände ließen es zu, dass ich viel Freiraum beim Erledigen der Hausarbeit hatte, denn Vilhelm und Arian waren regelmäßig auf der Jagd. Manchmal blieben sie sogar einige Tage draußen im Wald. Sie legten weite Strecken zurück und es war kalt, weshalb beide dankbar waren, wenn bei ihrer Rückkehr ein warmer Eintopf auf sie wartete. Natürlich machte ich mir Sorgen, wenn sie so lange fort waren. Doch ich hielt mich an dem Gedanken fest, dass sie aufeinander aufpassten und ihnen deshalb nichts geschehen würde. Allerdings konnte man nie sicher sein. Der Winter streckte seine eisigen Klauen aus und Wild war immer schwerer zu finden, weshalb die beiden Männer oft tagelang in den Wäldern blieben. Das Dorf brauchte Nahrung. Zu jener Zeit war ich viel allein, doch meine Aufgaben beschäftigten mich gut. Mit viel Hingabe kümmerte ich mich um das Haus und den kleinen Garten, den ich bereits für den Winter vorbereitet hatte und nun plante, was ich im Frühling anpflanzen wollte. Etwas bange war mir schon, wenn ich an die Vorräte dachte, die wir eingelagert hatten. Würden sie über die kalte Jahreszeit reichen? Noch nie zuvor hatte ich mich ganz allein um den Haushalt kümmern müssen. Es lag an mir, den Überblick zu behalten und nur das Nötigste zu verarbeiten, damit wir keinen Hunger leiden mussten, bis die Natur uns wieder reichlich beschenkte. Bisher hatte sich Sibille darum gekümmert und ich war ihr lediglich zur Hand gegangen. Ich wusste, wie man kocht und Lebensmittel haltbar macht, aber es gehörte mehr dazu, drei Menschen durch den Winter zu bringen. Unser Leben hing von meinen Entscheidungen ab, diese Verantwortung wog schwer auf meinen Schultern.

Es war wie ein Sprung ins kalte Wasser. Ob man schwimmen konnte, wusste man erst, wenn man es tat. Die Angst, etwas falsch zu machen und dabei Arian oder Vilhelm Leid zuzufügen, versetzte mir immer wieder Stiche ins Herz. Selbstverständlich würde uns die Gemeinschaft des Dorfes nicht hungern lassen, erst recht nicht, da Vilhelm und Arian unsere Jäger waren. Die erlegte Beute wurde unter den Bewohnern geteilt. Es war ein Tauschgeschäft, von dem wir gut leben konnten. Ich musste also ein wahrhaft dummes Weib sein, wenn ich es nicht schaffte, drei Personen über den Winter zu bringen, wo doch andere Familien weit mehr Mäuler zu stopfen hatten. Außerdem war da immer noch Sibille, meine geliebte Schwester, die mir mit Rat und Tat zur Seite stand.

Und so war ich auch an diesem kalten Wintermorgen allein zu Haus, genoss den letzten Moment unter den warmen Fellen und ging in Gedanken meine Aufgaben für den Tag durch. Als es Zeit war aufzustehen, schwang ich voller Tatendrang die Beine aus dem Bett, zog mich an und ging in den Wohnraum. Es war noch dunkel draußen und bitterkalt, weshalb ich eilig ein Feuer im Kamin entfachte.

Während ich vor die Tür trat, um ein paar Holzscheite zu holen, erinnerte ich mich an jene schicksalhafte Nacht, als sich ein Fremder Zutritt zu unserem Haus verschaffte. Noch immer dachte ich an ihn, dessen Namen ich nicht kannte. Doch der Mann war fort und er würde niemals zurückkehren.

Als ich wieder ins Haus kam und mich vor den Kamin beugte, wanderten meine Gedanken ganz von selbst in die Vergangenheit. Ich dachte an seinen Dolch, den er mir nach unserer gemeinsamen Nacht überlassen hatte, bevor er für immer aus meinem Leben verschwand. Die kunstvoll verzierte Waffe lag in ihrem Versteck. Niemand durfte davon erfahren. Für einen Augenblick war ich versucht, den Dolch hervorzuholen und wie so oft zu betrachten, doch ich verdrängte den Gedanken schnell wieder, setzte einen Kessel mit Wasser auf das Feuer im Kamin und …

Plötzlich wurde mir schwarz vor Augen und ein starkes Schwindelgefühl zwang mich auf die Knie. Ich atmete tief und gleichmäßig, während ein dünner Schweißfilm auf meine Haut trat. Es dauerte einen Moment, bis sich mein Sichtfeld klärte und mein Sehvermögen wiederkam. Seit den letzten Wochen litt ich öfter unter diesen Anfällen. Sie gehörten schon zu meinem Alltag, genauso wie die morgendliche Übelkeit. Ich war nicht krank, das wusste ich. Trotzdem machte mir mein Befinden Angst, bestätigte es doch, was ich längst befürchtet hatte. Ich wusste nicht, wie ich mit dieser Situation umgehen sollte, da ich mir doch geschworen hatte, diese Nacht zu vergessen. Vielleicht machte ich mir auch ohne Grund Sorgen.

Wie würde Arian reagieren? Ich musste es ihm sagen. Bald! Das war ich ihm einfach schuldig. Als seine Frau konnte ich ein solches Geheimnis nicht vor ihm hüten. Aber ich hatte Angst. Was, wenn das Kind, welches unter meinem Herzen wuchs, nicht von Arian war? Auch wenn ich mich dieser Hoffnung hingab, fürchtete ich doch, dass die Frucht in meinem Leib das Ergebnis jener leidenschaftlichen Nacht mit diesem Fremden war. Würde Arian mich immer noch lieben? Die Gefahr war viel zu groß, dass er seine Meinung über mich und unsere Verbindung ändern könnte. Es war mir nicht möglich, die Zeit zurückzudrehen, meine Taten ungeschehen zu machen, aber ich konnte meinen lieben Ehemann auch nicht enttäuschen. Andererseits waren die Erfahrungen, welche ich mit dem Fremden machte, viel zu süß, um sie jemals vergessen zu wollen. Also betete ich täglich zur Göttin Frigg, sie möge mir die Kraft geben, den richtigen Weg zu erkennen.

Der Schwindel war vorüber. Mühsam erhob ich mich von den Knien und zog mein Wolltuch fester um die Schultern. Nicht zum ersten Mal stellte ich fest, dass meine Brüste unter dem Mieder spannten. Sie waren um einiges gewachsen. Lange konnte ich meine Schwangerschaft nicht mehr verheimlichen. Ich stand auf und biss die Zähne zusammen, unterdrückte die aufkommenden Tränen. Ich wollte nicht weinen, denn das half mir nicht weiter. Mit zitternden Händen straffte ich meinen Körper und zog gleichzeitig den Bauch ein. Ich war noch nicht bereit. Weder wollte ich es laut aussprechen, noch daran glauben, dass da tatsächlich Leben in mir heranwuchs. Doch hatte ich eine andere Wahl? Arian war zu gut zu mir, als dass ich ihm die Wahrheit noch länger vorenthalten konnte.

Doch was war die Wahrheit? Stundenlang drehten sich meine Gedanken im Kreis. Mal fasste ich den festen Entschluss, Arian bei der nächsten Möglichkeit alles zu erzählen. Mal quälten mich Zweifel und die Angst, er könnte mich von sich stoßen. Es brachte alles nichts. Bald würde man es ohnehin sehen können und ein Teil meines Geheimnisses lüftete sich dann von selbst. Mein Verstand sagte mir, ich solle den Fremden endlich vergessen, seinen Dolch irgendwo im Wald vergraben oder in den Fluss werfen und Arian als einzigen Vater meines Kindes akzeptieren. Doch dann müsste ich Arian anlügen und diese Lüge würde riesig sein. Könnte ich damit leben?

Ich beschäftigte mich mit der Hausarbeit, ging am Nachmittag in den Garten und fegte das letzte Laub zusammen. Die Luft war eiskalt, es roch nach Schnee, bald würde alles mit einer dicken weißen Schicht überzogen sein. Der frische Wind und die eintönige Arbeit brachten mir wenigstens für eine kurze Dauer die nötige Ablenkung. Dieses intensive Nachdenken machte mich furchtbar müde. Der Tag zog dahin und ich war vollkommen erschöpft, als die Sonne hinter den kahlen Baumwipfeln des nahegelegenen Waldes verschwand.

Kraftlos klopfte ich mir den Schmutz von der Schürze und hängte sie im Schuppen an einen Haken, als ich ein Klopfen hörte. Da der Garten hinter dem Haus lag, konnte man mich zwar nicht sehen, aber ich hörte, wenn jemand zu Besuch kam und wie jetzt an der Haustür klopfte.

»Ich bin im Garten«, rief ich und strich meine Sachen glatt. Nur kurze Zeit später kam meine Schwester um die Ecke. Sie lächelte breit und klemmte sich eine Haarsträhne hinters Ohr, welche der Wind aus ihrem geflochtenen Zopf gepustet hatte.

»Hier steckst du«, sagte sie und schaute sich im Garten um.

»Ich habe genug zu tun, wenn die Männer aus dem Haus sind«, entgegnete ich und rieb mir den schmerzenden Rücken.

»Ja, das macht sich nicht von allein. Ich weiß, wie anstrengend es ist, einen eigenen Haushalt zu führen. Mach Schluss für heute, du siehst müde aus.«

Ob Sibille etwas ahnte? Warum musterte sie mich so intensiv?

»Gehen wir ins Haus«, schlug ich vor, senkte den Blick und wollte gerade an ihr vorbeigehen, als sie mich plötzlich am Arm festhielt.

»Liv, was ist los?«

Sofort war die Angst zurück. »Nichts, ich …« Was sollte ich ihr sagen? Hatte ich mich schon irgendwie verraten? Sibille war meine Schwester und kannte mich viel zu gut. Hatte ich wirklich geglaubt, ihr etwas vormachen zu können?

»Sag es mir, Schwester. Irgendetwas stimmt doch nicht mit dir?«

Meine Beine wurden weich und ich spürte, wie mir die Röte in die Wangen schoss. Konnte ich ihr hier und jetzt einfach die Wahrheit erzählen? Dass ich mich diesem Fremden hingegeben hatte und nun nicht sagen konnte, ob er oder Arian Vater dieses Kindes war …

Dieses Kind wird ohnehin nur einen Vater haben, dachte ich und wandte mich von ihr ab. Es ist besser, wenn niemand die Wahrheit kennt und alle glauben, dass Arian der leibliche Vater ist.

»Liv?«

»Ich …« Ich musste endlich etwas sagen. »Ich denke, ich habe einfach Angst vor dem Winter, dass ich den Überblick verliere und die Vorräte nicht reichen.«

»Ganz ruhig«, sagte sie und lächelte mich an. »Ich bin mir sicher, dass du alles ganz hervorragend geplant hast. Nach Mutters Tod musste ich auch lernen, diese Verantwortung zu tragen. Also schaffst du das auch.«

»Aber …«

»Du bist doch nicht dumm«, stellte sie grinsend fest und hakte sich bei mir ein. »Da musst du dir wirklich keine Sorgen machen. Wir Frauen haben das doch im Blut. Und außerdem haben Arian und Vilhelm schon mehrere Winter allein überstanden. Auch ohne die Hilfe einer Frau.«

Ich seufzte leise. Einerseits war ich froh, dass sie mein Geheimnis doch nicht herausgefunden hatte, andererseits war die Last meiner Verantwortung noch immer mein ständiger Begleiter.

Wir gingen zum Haus. Sibille drückte ihre Wange an meine, gab mir einen Kuss und öffnete die Tür. Ich folgte ihr hinein und ließ mich auf einen der Stühle fallen.

Schon wieder musterte sie mich. Ihre aufmunternden Worte hatten mir gutgetan, aber mich längst nicht überzeugt.

»Würde es dich beruhigen, wenn ich einen Blick in eure Vorratskammer werfe? Wir müssen es den Männern auch nicht erzählen.«

Ich nickte erleichtert, rührte mich aber nicht. »Das wäre nett. Ich bleibe solange hier sitzen. Mir geht es nicht so gut, vielleicht werde ich krank.« Ich hielt es für das Beste, wenn ich meine Schwester in dem Glauben ließ, dass es wirklich nur an der neuen Verantwortung und einem vorübergehenden Unwohlsein lag. Ich war noch nicht bereit, mein Geheimnis preiszugeben. Nicht, ohne selbst im Klaren darüber zu sein, was ich Arian erzählen würde. Wie begann man überhaupt ein solches Gespräch?

Ohne es wirklich zu bemerken, schob ich eine Hand über meinen Bauch. Das Gefühl und das Wissen über dieses neue Leben in mir waren so neu, dass ich es kaum in Worte fassen konnte. Ich war schon wieder so tief in diesen Gedanken versunken, dass ich gar nicht darauf reagierte, als Sibille zurückkam. Ich zuckte erschrocken zusammen, als sie mich ansprach: »Es sieht alles gut aus, mach dir also keine Sorgen.«

Mein Herz klopfte so stark, dass ich das Pulsieren an meinem Hals spüren konnte. Doch ich versuchte, mich so unauffällig wie möglich zu verhalten und zog meine Hand von meinem Bauch. Ich sah meine Schwester an und lächelte, auch wenn es mir schwerfiel.

Sibille setzte sich zu mir an den Tisch und musterte mich argwöhnisch. »Hm«, meinte sie und trommelte mit ihren Fingern auf dem Holztisch. Konnte sie nicht einfach gehen? »Du wirkst irgendwie anders, Liv.«

»Hm?«, erwiderte ich, als wüsste ich nicht, was sie meinte. Das Seufzen, welches mir auf den Lippen lag, unterdrückte ich nur schwer.

»Du bist doch glücklich, oder? Arian ist ein guter Mann oder täusche ich mich? Warum machst du dir also Sorgen?«

Ich nickte viel zu schnell, fand aber nicht die passende Antwort. »Sie sind schon seit Tagen fort«, schob ich meine Sorge auf die Jagd.

»Ihnen geht es sicherlich gut.«

Wieder nickte ich. Immer noch sah mich Sibille prüfend an, dann legte sie mir eine Hand auf die Stirn. »Warum solltest du krank werden? Seit wann fühlst du dich denn unwohl?«

Am liebsten hätte ich sie angeschrien. Warum konnte sie mich nicht einfach in Ruhe lassen? Doch ich kämpfte gegen den Drang an und nahm ihre Hand in die meine.

»Es ist alles gut. Wahrscheinlich habe ich nur etwas Falsches gegessen oder mich bei der Gartenarbeit verkühlt. Du musst dir wegen mir wirklich keine Sorgen machen, Schwesterherz.«

»Also gut.« Sibille erhob sich und strich ihr Kleid glatt. »Brauchst du etwas vom Markt?« Ihr Tonfall hatte sich um einiges abgekühlt. Sie war nicht zufrieden mit meiner Antwort, wusste aber, dass es keinen Sinn hatte, weiter nachzuhaken. Sie war schon an der Tür, als ich mich zu einem weiteren Lächeln zwang.

»Nein, ich habe alles. Danke.«

»Dann sehen wir uns morgen? Komm zum Essen zu uns.«

»Das mache ich.« Nun war es Sibille, die nickte und mich endlich wieder mit meinen Zweifeln allein ließ. Sie war einfach zu gut zu mir. Schuldgefühle machten sich in mir breit, weil ich ihr nie die ganze Wahrheit erzählt hatte …

Weder ihr noch meinem Mann …

Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, atmete ich erleichtert auf. Wenn sie etwas wusste, dann hatte sie es sich zumindest nicht anmerken lassen. Trotzdem musste ich eine Entscheidung treffen und es meiner Familie erzählen. Aber zu meinen Bedingungen und wann ich es für richtig hielt. Leider verging die Zeit viel zu schnell. Warum fiel es mir so verflucht schwer? Es war zum verrückt werden!

Um den Kopf freizubekommen, machte ich mich schließlich wieder an die Arbeit. Ich war müde, aber das zählte nicht. In der Hütte gab es immer etwas zu tun. Der Fußboden musste dringend geschrubbt werden. Über die Jahre hatte das Holz tiefe Rillen bekommen, weshalb es bis zum Abend dauerte, den Boden wenigstens im Wohnbereich zu säubern. Mein Rücken schmerzte, als ich mich erhob und das schmutzige Wasser vor dem Haus ausgoss. Doch das würde schnell vergehen, wenn ich noch ein bisschen in Bewegung blieb. Also beschloss ich, frisches Wasser zu holen, um am nächsten Tag den Rest des Hauses zu putzen. Der Brunnen befand sich im Dorf, aber ich zog es vor, in den Wald zu gehen und dort Wasser aus dem Bach zu schöpfen. Es war klar und eiskalt, viel besser als das aus dem Brunnen. Unser Haus befand sich direkt am Waldrand, weshalb ich nicht mehr so weit bis zu meiner Lieblingsstelle am Bach laufen musste. Es gab Gründe dafür, warum unsere Jäger in der Nähe des Waldes und abseits des Dorfes lebten. Schließlich nahmen sie direkt hinter dem Haus das Wild aus. Wenn also größere Tiere vom Duft des Fleisches oder Bluts angelockt wurden, liefen sie nicht durchs Dorf und die Jäger wussten genau, was dann zu tun war. Ich genoss diese Abgeschiedenheit, auch wenn es manchmal selbst für mich einsam war.

Am Bach angekommen, schöpfte ich sauberes Wasser in den Eimer und nutzte die Möglichkeit, etwas zu trinken. Bei der Arbeit vergaß ich manchmal, wie durstig ich doch war. Das Wasser plätscherte an mir vorbei, während ein starker Windzug durch die kahlen Baumwipfel wehte und so den Fall der letzten Blätter forderte. Die Böe kitzelte meine Haut und ließ mich frösteln. Lange würde es nicht mehr dauern, bis der erste Schnee fiel …

Ein Knacken ließ mich plötzlich zusammenzucken. Ich drehte rasch den Kopf zu der Stelle, von wo aus das Geräusch an mein Ohr gedrungen war und seufzte erleichtert auf, als ich sah, wer es verursacht hatte.

»Du hast mich erschreckt«, sagte ich, stand auf und stellte den Eimer beiseite. Bevor ich auf ihn zugehen konnte, war Arian schon bei mir, legte seine Arme um mich und küsste warm meine Lippen. Er war wieder da. Gesund und kräftig. Dankbar schloss ich die Augen und gab mich seinem Kuss hin.

»Schön, dass du wieder da bist, mein Liebster.«

Arian seufzte zwischen unseren Küssen, die immer fordernder wurden. Dann sah er mich an und lächelte. Es war nicht das breite, sonnige Lächeln, das er sonst an den Tag legte, sondern jenes, welches er aufsetzte, wenn wir des nachts das Bett teilten und er sich zwischen meine Beine schob. Mein Körper reagierte auf seine Küsse und diesen Blick, sehnte sich nach Arians Berührungen. Seine Augen funkelten mich an, als er meine Hände nahm und mich mit sich zog. Ich folgte ihm mit einem Lächeln, würde ihm überallhin folgen, doch so weit gingen wir gar nicht. Nur ein Stück den Bachlauf entlang. Hier hatten wir schon als Kinder gespielt. Jetzt waren wir erwachsen, Mann und Frau. Er führte uns zwischen großen Bäumen hindurch, bis sich vor uns eine Lichtung auftat. Auch sie kannte ich schon mein ganzes Leben, jeden Grashalm und jede Blume, die hier im Sommer wuchs. So manchen Nachmittag hatte ich mit Arian auf dieser Lichtung verbracht, die Wärme der Sonne genossen oder mit ihm gerauft, bis unsere Kleider die Farbe des Grases angenommen hatten. Jetzt hielt mich Arian in seinen starken Armen und schob mich an einen Baum. Seine Augen glühten erregt, ich öffnete den Mund und forderte ihn auf, mich wieder zu küssen.

»Ich habe dich auch vermisst«, flüsterte er. Seine Lippen erreichten meine und wanderten dann weiter zu meinem Hals. Meine Haut ersehnte seine Berührungen so wie seine die meinen. Mein Puls raste, als ich ihm ins Haar griff und seinen Mund auf den Ausschnitt meines Kleides zog. Er wusste, wie ich auf ihn reagierte, und grub sein Gesicht zwischen meine Brüste. Gierig wanderte seine Hand unter mein Kleid. Ich stöhnte, als die Lust durch meinen Unterleib strömte. Meine Mitte war längst feucht. Ich liebte diesen Mann. Alle hatten es immer gesagt, dass ich ihn einmal lieben würde, und in einer gewissen Weise hatte ich das mein Leben lang schon getan. Doch nun war ich in der Lage, es auszusprechen, es zu zeigen. Ihm zu zeigen. Fordernd schob ich meine Hände unter seine Jacke, nestelte am Bund seiner Hose, um das helle Hemd daraus zu lösen und seine Haut endlich unter meinen Fingern spüren zu können. Er strahlte eine Hitze aus, die mich den kühlen Wind und all meine Sorgen vollkommen vergessen ließ. Als Arian in die Knie ging und seine Hand meine Scham berührte, japste ich nach Luft, spürte das aufregende Zittern meiner Beine. Ich genoss das Gefühl, schloss die Augen und legte den Kopf zurück. Immer tiefer drangen seine Finger in meine Feuchtigkeit, massierten die empfindlichste aller Stellen. Ich hielt mir eine Hand vor den Mund, als seine Zunge die Finger ersetzte.

»Arian«, keuchte ich leise seinen Namen. Ein Schauer nach dem anderen erfasste mich, ließ meinen Körper beben. Ich spürte seine Zunge, dann wieder seine Fingerkuppen, seinen Daumen, der kreisend den kleinen Knoten der Lust massierte. Plötzlich verschwanden seine Hände, die gleich darauf meine Hüfte umfassten und mich auf seinen erregten Schoß zogen. Er war längst bereit und stieß heftig in mich. Blitze durchzuckten mich und ich konnte ein lautes Stöhnen nicht mehr unterdrücken. Meine Hände suchten Halt in seinem Nacken, während er sich in mir bewegte. Die Rinde des Baumes drückte sich bei jedem Stoß in meinen Rücken, doch das war mir egal. Arians Bewegungen wurden schneller, sein lustvolles Stöhnen drang an mein Ohr. Es gab kein schöneres Geräusch, ich war die glücklichste Frau der Welt. Ich spürte nur noch ihn und mich, unsere Vereinigung, unsere Liebe. Die Welt um uns verschwamm und mit ihr all meine Ängste und Zweifel. In diesem wunderbaren Augenblick gab es nur noch Arian und Liv.

Die Liebe in der Natur war so viel freier als in unserer Hütte. Hier konnte ich Stöhnen und sogar seinen Namen schreien, musste mich nicht zurückhalten, weil Vilhelm im Zimmer nebenan schlief. Hin und wieder nutzten wir die Abgeschiedenheit dieser Lichtung und die Zeit zu zweit außer Hörweite des Dorfes.

Arian kam keuchend in mir. Ich spürte die Wärme seines Samens. Behutsam stellte er mich zurück auf die Füße, ich war froh, dass ich den fest verwurzelten Baum hinter mir hatte, an den ich mich zufrieden lehnen konnte. Zärtlich strich ich Arian eine feuchte Strähne aus dem verschwitzten Gesicht. Er war so wunderschön.

»Lass uns heimgehen«, sagte Arian schließlich. Seine Küsse waren jetzt wieder sanft, unsere Körper entspannten sich. Ich richtete meine Kleider und achtete darauf, dass alles richtig saß und nicht zu sehr am Bauch spannte. Da war sie wieder, die Realität. Noch sollte er es nicht bemerken. Ich nahm mir fest vor, es ihm noch an diesem Abend zu sagen.

»Wo ist dein Vater?«

»Im Wald. Er bringt morgen die Beute mit dem Karren zu uns.«

»Und warum bist du nicht bei ihm geblieben?«

»Habe ich dir das nicht gerade gezeigt?«, neckte er mich grinsend. »Ich dachte, ein wenig Zeit zu zweit würde uns guttun.«

»Das tut sie«, erwiderte ich leise und kuschelte mich an seine Seite.

Wir gingen das kurze Stück zum Bach zurück, wo der Eimer noch immer stand. Arian nahm mich an die Hand und wir gingen gemeinsam nach Hause. Ich hoffte auf einen gemütlichen Abend, wollte meinem Mann etwas Leckeres zu Essen kochen und … kam so auch dem Gespräch näher, vor dem ich mich so fürchtete.

Nach dem Essen waren wir in unsere Kammer gegangen, wollten wiederholen, was im Wald geschehen war und wie gern hätte ich mich einfach darauf eingelassen, doch ich konnte nicht länger warten. Langsam beendete ich den Kuss, den wir gerade teilten und sah ihn an. Nur zwei Kerzen erhellten den kleinen Raum und tauchten alles in ein sanftes Licht. Es ließ ihn so viel jünger aussehen, unschuldiger.

»Arian …«, begann ich und holte tief Luft.

»Was ist?« Zärtlich streichelte er meine Wange und sah mir neugierig in die Augen.

»Es … ich sollte dir …« Ich stoppte mitten im Satz.

Arian schreckte hoch und horchte in die Nacht. Ein einziger Trommelschlag.

»Hast du das gehört?«, fragte ich und war wie versteinert, zu sehr erinnerte mich dieser Klang an den Tag seiner Hinrichtung.

»Sch!«, gab Arian von sich und ging leisen Schrittes in den Wohnraum. Vorsichtig näherte er sich dem Fenster und schaute hinaus. Dann sprang er zurück, riss den Kopf herum und sah mich mit großen Augen an: »Liv, lauf weg!«

Kapitel 2 – Der Name

»Liv, lauf weg!«

Seine Worte hallten in meinem Kopf nach. Unfähig, mich zu bewegen, starrte ich ihn einfach nur an, sah in seine braunen Augen, die mich zwar liebevoll ansahen, aber dennoch von einer Panik sprachen, die ich nicht begriff. Arian trat vom Fenster zurück, wandte sich aber nicht mir zu. Er griff nach dem Besen, der neben der Tür stand, und nahm eine Körperhaltung ein, die nichts Gutes verhieß. Er wappnete sich, machte sich bereit für einen Kampf. Irgendetwas geschah da draußen. Die Trommel! Ich spürte, wie nackte Angst in mir aufkeimte, denn so hatte ich Arian noch nie zuvor gesehen.

»Liv!«, rief Arian erneut nach mir und warf einen hektischen Blick über seine Schulter.

Genau in diesem Moment flog die Tür zu unserer Hütte auf. Drei Männer stürmten herein. Sie sahen wild aus, hatten zerzaustes Haar und einen sehr entschlossenen Gesichtsausdruck. Und sie waren bewaffnet, trugen lange Schwerter und Äxte in den Händen, die sie drohend hoben.

»Was wollt ihr?«, fragte Arian mit fester Stimme. Er hatte nur diesen Besen und keine Chance, während die Männer ihre Waffen auf ihn richteten und feindselig grinsten.

»Mitkommen!«, knurrte einer von ihnen.

Ich musste etwas tun, auch wenn Arian wollte, dass ich weglief. Aber ich würde ihn nicht einfach zurücklassen. Lautlos sprang ich von unserem Bett und versteckte mich hinter der halboffenen Tür. Dort stand die kleine Holztruhe, in der ich meine Sachen aufbewahrte. Ohne weiter darüber nachzudenken, zog ich sie beiseite, ignorierte dabei das Knarren des Holzes, als die Truhe über den Boden rutschte. Kampfgeräusche aus dem Hauptraum wurden laut. Ich wollte mir nicht vorstellen, dass Arian gerade mit diesen Männern kämpfte. Nein, ich musste mich darauf konzentrieren, die einzige Waffe hervorzuholen, die in greifbarer Nähe war. Hinter der Truhe lag mein kleines Versteck mit dem Dolch. Seinem Dolch …

Ich griff in die schmale Öffnung und zog ihn heraus, spürte sein Gewicht und umfasste entschlossen den Griff. Ich wollte gerade aufstehen, als mich eine Hand an der Schulter packte und mich auf die Beine zog. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass es nicht Arian war. Ich fuhr herum, wollte den Angreifer von mir stoßen, mich befreien, als der Dolch durch seine Haut schnitt. Der Mann brüllte, lockerte den Griff an meiner Schulter und wankte einen Schritt zurück. Ich nutzte diesen Moment und rammte meinen Ellenbogen in seinen Brustkorb. Er verlor den Halt und fiel vor mir auf den Boden. Wie von Sinnen, den Dolch in der Hand, an dessen Klinge frisches Blut klebte, sprang ich über ihn hinweg und wollte zu Arian, doch ich kam nicht weit. Als ich durch die Tür huschen wollte, stellte sich mir ein zweiter Mann in den Weg. Was war mit Arian? Lebte er noch? Panisch richtete ich den Dolch auf den Riesen vor mir. Drohte ihm ohne Worte. Ich würde die Waffe benutzen, war fest entschlossen, mich und das Kind in meinem Leib zu beschützen.

»Eine kleine Furie«, lachte der Kerl, dann wurde seine Miene ernst. Er zeigte auf den Dolch. »Fallen lass…« Er stockte mitten im Satz. Seine Augen klebten förmlich an dem Dolch in meiner Hand, dann wurden sie größer, neugieriger und schließlich, als er mir in die Augen sah, zornig und doch … Vertraut?! Er funkelte mich mit diesen grauen Augen böse an und trat einen Schritt auf mich zu, streckte blitzschnell die Hand aus und griff direkt in die Klinge des Dolches. Noch mehr Blut benetzte die Schneide und tropfte zu Boden. Ich wollte zurückweichen, doch der Mann in der Schlafkammer hatte sich hinter mir wieder aufgerappelt. Seine Arme schlossen sich mit einem Mal wie ein Käfig um mich.

»Nein!«, schrie ich, trat gegen seine Schienbeine und versuchte, mich irgendwie aus seinem Griff zu befreien. Ein heftiger Schmerz durchzuckte mich, als der Mann vor mir mit der flachen Hand in mein Gesicht schlug. Ich stöhnte leise auf, ließ den Kopf hängen und unterdrückte so gut es ging meine Tränen. Ich würde nicht weinen, auch wenn der Schlag hart war und helle Pünktchen vor meinen Augen tanzten. Es gelang dem Mann, mir den Dolch zu entwenden, auch wenn er sich dabei nur noch tiefer ins eigene Fleisch schnitt. Er verzog keine Miene, schien den Schmerz überhaupt nicht zu spüren. Dann betrachtete er den Dolch genauer, musterte erst ihn, dann mich.

»Woher hast du diesen Dolch?«

Irritiert sah ich ihn an und fragte mich, warum er mir eine solche Frage stellte. Dann betrachtete ich sein Gesicht. Diese Augen! Mit einem Mal ergab das alles einen Sinn. Es war so, als würde ich ihn vor mir sehen. Ihn, den namenlosen Mann, dem ich meine Unschuld schenkte …

»Sprich!«

Ich zuckte zusammen, konnte nicht anders, als einfach nur in diese Augen starren. Dieses Grau! Als würde ich noch einmal in seine Augen blicken, auch wenn diese hier kälter waren, bedrohlicher, angsteinflößender. Bilder tauchten in meinen Gedanken auf, wie er zur Hinrichtung gezerrt wurde. Sein geschlagener, mit Blut benetzter Körper … Das Jubeln und Schreien der Dorfbewohner. Ich würde es nie vergessen. Genauso wenig wie diese eine Nacht, in der ich bei ihm gelegen hatte. Ich wollte weder an unsere Leidenschaft noch an seinen Tod denken, vor allem nicht jetzt. Doch hingen diese beiden Ereignisse unwiderruflich zusammen.

Der schwarzhaarige Riese vor mir knurrte ungeduldig und im ersten Moment rechnete ich mit einem weiteren Schlag. Er hob seine Hand an mein Gesicht, umfasste schließlich mein Kinn und musterte mich.

»Vielleicht reden eure Ältesten mit mir, wenn ich dir ein paar Finger abschneide.«

Entsetzt starrte ich ihn an. Kein Wort drang über meine Lippen, auch wenn er nun mein Kinn freigab. Was wollten diese Männer? Rache?

»Bring sie zu den anderen«, forderte er nun den Mann hinter mir auf, der mich augenblicklich vor sich herschob.

Endlich schaffte ich es, den Blick von diesem unheimlichen Riesen und seinen grauen Augen zu lösen. Im Wohnraum lag Arian leblos auf dem Boden.

»Nein!«, schrie ich und stürzte zu meinem Ehemann. Mein Körper bebte vor Wut, zitterte vor Angst und entfesselte Kräfte, die ich mir niemals zugetraut hätte. Entschlossen schlug ich nach den Händen, die mich packen wollten und beugte mich über Arian. War er tot? Schluchzend warf ich mich auf die Knie und legte meine Hand an seine Wange.

»Arian?«, flüsterte ich seinen Namen und streichelte behutsam über sein verschwitztes Haar. »Wach auf!« Tränen, die ich bisher tapfer zurückgehalten hatte, sammelten sich jetzt in meinen Augen und tropften auf sein Gesicht. Mit zitternden Händen tastete ich nach seinem Hals, hoffte, das Schlagen seines Herzens zu fühlen. »Arian!«, rief ich nun lauter, rüttelte an ihm in der verzweifelten Hoffnung, dass er nur ohnmächtig war.

Plötzlich japste er nach Luft und ganz kurz, nur für einen kleinen Moment, öffneten sich seine Augen. Ich seufzte erleichtert und ließ meine Stirn auf seine Brust sinken, die sich nun wieder deutlich hob und senkte.

»Ein Schlag auf den Kopf«, hörte ich einen der Männer sagen, doch ich beachtete sie gar nicht. Arian war am Leben, das war das einzige, was zählte.

»Bewegung!«, befahl die kalte Stimme des schwarzhaarigen Riesen.

Ich wehrte mich nicht, als er mich packte und zur Tür schleifte. Ängstlich warf ich einen Blick zurück zu Arian. Tränen nahmen mir die Sicht, doch ich erkannte, wie die beiden anderen Eindringlinge ihn auf die Beine zogen. Seine Augen hatten sich wieder geschlossen, wahrscheinlich war er ein weiteres Mal ohnmächtig geworden. Die Kerle warfen sich jeweils einen von Arians Armen über die Schulter und zerrten ihn mit sich.

Was passierte hier? Wo waren Sibille und Kjell? Ich hoffte so sehr, dass es ihnen gut ging.

Als mich der Mann aus unserer Hütte zog, schwand meine Hoffnung. Ich blieb wie angewurzelt stehen, denn der Anblick, der sich mir bot, war erschreckend.

Feuer!

Im Dunkel der Nacht glühten mehrere Häuser wie Fackeln. Das Feuer loderte so hell, dass man das gesamte Dorf sehen konnte. Ich hörte Schreie, Kampfgeräusche, das Weinen eines Kindes. Als er mich weiterzog, sah ich mich hastig um, versuchte Sibille oder Kjell zu finden. Doch ich entdeckte kein bekanntes Gesicht, nur jene fremden Angreifer, die herumbrüllten und ganz offensichtlich großen Spaß dabei hatten, die Türen der Häuser einzuschlagen, die noch nicht brannten. Frauen, Kinder … Sie trieben uns zusammen, brachten uns in das große Hauptgebäude, in dem üblicherweise die Dorfsitzungen abgehalten wurden. Der Dolch kam mir in den Sinn und diese grauen Augen. Ich glaubte nicht daran, dass diese Kerle uns nur ausplündern wollten, denn dafür brauchten sie uns nicht wie Vieh zusammenzutreiben.

Als wir näherkamen, wurden die Schreie der Frauen lauter, das ängstliche Weinen der Kinder und die aufgebrachten Rufe der Männer. Sie kämpften tapfer, wollten uns verteidigen und die Angreifer zurückschlagen, doch sie hatten keine Chance. Der Angriff kam im Schutze der Nacht. Unsere Wachen hatten die Trommeln nicht rechtzeitig schlagen können, um uns zu warnen. Viele unserer Männer kämpften in ihrem Nachgewand, ungeschützt und verzweifelt.

»Farrngaarder!«, rief plötzlich der Mann, der mich hielt. Seine Stimme dröhnte laut über den Dorfplatz, wo die Kämpfe am schlimmsten waren. Er packte mich fester, seine Finger schlossen sich eisern um meinen Arm, dass die Haut darunter weiß wurde. Ich biss die Zähne zusammen, um nicht laut aufzustöhnen. Instinktiv zerrte ich an seiner Hand, grub meine Fingernägel in seine Haut, um seinen Griff irgendwie zu lockern. Vergebens.

»Lasst eure Waffen fallen!«

Die Kampfgeräusche hallten weiter über den Platz. Niemand von uns dachte daran, die Waffen niederzulegen. Wir würden kämpfen bis zum letzten Mann. Das hatte bisher unser Überleben gesichert.

»Waffen fallen lassen!«, wiederholte der Riese neben mir nun noch lauter. Er trat in die Mitte des Dorfplatzes, machtlos stolperte ich hinter ihm her. »Sonst brennen eure Frauen und Kinder!«

Das Klirren der Waffen wurde leiser und ein Murmeln ging durch unsere Reihen. Mir wurde eiskalt. Dann herrschte Stille. Eine erdrückende, unheimliche Stille. Was würden unsere Männer tun? Wie würden sich die Angreifer verhalten? Ich war mir sicher, dass der Mann, in dessen Griff ich mich befand, keine leere Drohung ausgesprochen hatte. Unsere Männer würden den Tod von so vielen Unschuldigen nicht riskieren, auch wenn sie nichts lieber täten, als diesen Fremden die Köpfe mit ihren Äxten zu spalten. Ich sah es in ihren Augen, den Zorn, aber auch den Schmerz.

Es war Thorolf, der erste Sohn unseres Ältesten Thorik, der seine Axt fallen ließ. Ich dachte, er würde die Schultern hängen lassen und sich ergeben, doch er kam mit erhobenem Haupt und aufrechtem Schritt zu dem schwarzhaarigen Riesen, ihrem Anführer.

»Was wollt Ihr?«, rief Thorolf und musterte den anderen, dabei huschte sein Blick fragend zu mir. »Und wer seid ihr?«

»Alles zu seiner Zeit«, erwiderte die kalte Stimme neben mir. »Sag deinen Leuten, sie sollen die Waffen fallen lassen.«

Thorolf, der diesen Befehl nur widerwillig entgegennahm, drehte sich zu den anderen um und nickte wortlos, woraufhin diese ihre Waffen wütend in den Boden rammten oder resigniert fallen ließen.

»Gut«, hörte ich wieder die kalte Stimme neben mir. Ich blickte auf und sah ein finsteres Lächeln, das seine schmalen Lippen umzog. »Und nun gehen alle ins Haupthaus.«

Thorolf rührte sich nicht von der Stelle. Stolz starrte er seinem Gegenüber in die Augen und zuckte nicht einmal mit der Wimper, als er sagte: »Ich will wissen, was Ihr hier wollt. Jetzt und hier!« Eine Gänsehaut lief über meinen Rücken. So hatte ich Thorolf noch nie zuvor gesehen, er machte mir beinahe Angst, so bedrohlich wirkte er. Der Schwarzhaarige schien davon jedoch unbeeindruckt und nickte nur stumm zum Haupthauses hinüber. Thorolf knurrte etwas Unverständliches, dann drehte er sich um und marschierte zur großen Tür, die von vier Angreifern mit langen Schwertern bewacht wurde. Auch ich wollte Thorolf folgen und zu den anderen gehen, doch …

»Du nicht«, meinte der Anführer und funkelte mich an. »An dich habe ich noch einige Fragen.«

Diese Augen! Meine Angst lähmte mich. Ich wusste genau, wie seine Frage lauten würde. Das Entsetzen musste in meinem Gesicht leicht zu erkennen sein, denn er lächelte breit, wandte sich dann aber seinen Leuten zu.

»Durchsucht noch einmal alle Häuser. Ich will nicht, dass uns einer von diesen Hunden entkommt.« Sofort setzten sich einige seiner Männer in Bewegung, andere blieben zurück und sammelten sich bei ihrem Anführer. Dieser ließ nun endlich meinen Arm los, deutete aber sofort mit der blutverschmierten Dolchspitze auf mich. »Nicht bewegen!«

Das brauchte er mir nicht zu befehlen. Ich stand da wie angewurzelt. Selbst wenn ich es gewollt hätte, wäre es mir in diesem Augenblick nicht möglich gewesen, vor ihnen davonzulaufen. Sie hätten mich ohnehin erwischt …

»Rikkon«, hörte ich schließlich eine Frauenstimme rufen. Die Menge teilte sich und machte einer brünetten Frau Platz. Ihr langes Haar war zu dicken filzigen Zöpfen geflochten, welche ihr schwer über die muskulösen Schultern fielen. Sie war groß und strotzte vor Kraft. Ihr Gesicht zierten dunkle Ornamente, in ihren Augen spiegelte sich das Feuer der brennenden Häuser. Wie die anderen ihrer Meute trug auch sie einfache Lederkleidung, welche sich eng an ihren kräftigen Körper schmiegte. Doch anders als bei ihren Kameraden schmückte das Fell eines Wolfes ihren Rücken. In ihrem Gürtel steckten gleich mehrere Waffen und an ihrem linken Arm hielt sie einen Schild. Eine Walküre! Ein Todesengel, wie ihn die alten Geschichten beschrieben.

»Worauf wartest du?«, fragte sie ihn schroff und trat näher. »Ich bin es leid zu warten, sollen diese …« Ihr Blick fiel auf mich. »Wer ist sie?«

Der Anführer, Rikkon, wie sie ihn genannt hatte, wandte sich zu mir, seine Augen bohrten sich für einen winzigen Moment in die meinen, dann sah er zurück zu der Frau, die mich aufmerksam musterte. »Eine Farrngaarderin.«

Die Walküre schnaufte abwertend.

»Sie trug das hier bei sich«, sagte Rikkon und hielt ihr den Dolch hin. Mit klopfendem Herzen schaute ich auf die rötlich glänzende Klinge, dann sah ich die Kriegerin an. Ihre Augen funkelten, ihre Kiefermuskeln spannten sich. Sie kannte diesen Dolch!

Wie eine Raubkatze machte sie blitzschnell einen Satz nach vorn. Ihr Gesicht war verzerrt und ein tiefer grollender Schrei schoss über ihre Lippen. Ihre Hand raste auf mich zu, ein Wimpernschlag später pressten sich ihre Finger um meinen Hals. Ich schloss die Augen und war mir sicher, dass ich den nächsten Herzschlag nicht erleben würde. Doch dann lockerte sich ihr Griff, während ich von ihr weggezogen wurde.

»Aufhören!«, hörte ich Rikkon, ihren Anführer, brüllen.

Doch daran schien die Walküre überhaupt nicht zu denken. Sie schlug nach ihm, doch Rikkon duckte sich geschickt, wich ihr aus und stieß sie mit einer Wucht zurück, die sie taumeln ließ. Den Dolch auf sie gerichtet, sagte er: »He, Swantje, beruhige dich.« In seiner Stimme klang Autorität, die keinen Widerspruch duldete.

»Du erkennst diesen Dolch doch genauso gut wie ich. Weshalb schützt du dieses Weib?« Obwohl ihre Stimme laut und entschlossen war, konnte ich noch etwas anderes darin hören. Schmerz. Feuchte Tränen glänzten in Swantjes Augen, als sie den Kopf zu mir drehte und mich zornig ansah.

»Ich schütze sie nicht! Ich will wissen, warum sie im Besitz dieses Dolches ist«, erklärte er und trat einen Schritt näher an die Walküre. »Und du wirst dich zurückhalten! Du bist nicht die einzige, die ihre Rache will.«

Rache!

Ich lag also richtig mit meiner Vermutung. Meine Gedanken überschlugen sich. Deshalb hatte uns die Meute mitten in der Nacht hinterrücks angegriffen und zusammengetrieben.

Es war seinetwegen!

Das folgende Gespräch nahm ich kaum mehr wahr. Das Blut rauschte mir zu stark in den Ohren, übertönte alles, was Rikkon und diese Frau zueinander sagten. Seinetwegen! Sie waren hier, weil unsere Ältesten und die aus Gladishall seinen Tod befohlen hatten. Das Gesetz der Rache. Ein dunkler Kreislauf, der in einem Sog aus Blut und Verderben mündete. Wir waren verloren!

»Beweg dich!«, befahl Rikkon und stieß mich Richtung Haupthaus und aus meinen Gedanken. Ich stolperte, konnte mich jedoch wieder fangen. Seine Hand lag fest auf meiner Schulter, während er mich vor sich herschob, die steinernen Stufen zur Tür des Haupthauses hinauf. Seine Wachen traten beiseite und ließen uns passieren. Rikkons Finger schlossen sich wieder um meinen Arm.

Der Anblick, der sich mir im Inneren des Haupthauses bot, verdrängte all den Schmerz, den sein Griff auslöste. Sie hatten sämtliche Dorfbewohner hierhergebracht. Viele von ihnen kauerten ängstlich auf dem Boden. Frauen drückten ihre Kinder fest an sich oder klammerten sich an ihre Männer, die wachsam und doch wehrlos auf den großen Unbekannten starrten, der mit mir die große Halle betrat. Zehn bewaffnete Männer sollten scheinbar für Ruhe sorgen, doch ihre lautstarken Befehle erreichten genau das Gegenteil. Kinder weinten, obwohl ihre Mütter sie schützend an sich pressten. Die Angst war allgegenwärtig. Mehr als ein Dutzend weitere Männer folgten Rikkon von draußen herein. Er löste seine Hand von mir, nickte einem seiner Männer zu, der nun seinen Platz einnahm und mich festhielt.

»Farrngaarder«, rief Rikkon wie schon zuvor auf dem Platz und brachte die Menschen jetzt zum Schweigen. Er trat vor und ließ seinen Blick über die Dorfbewohner streifen, während ich dasselbe auf der Suche nach meiner Familie tat.

»Wir sind hierhergekommen, um Rache an jenen zu nehmen, die am Tod eines Mannes aus meiner Sippe beteiligt waren. Und so wie ich eure Dörfer kenne, waren es eure Ältesten, die sein Urteil fällten.« Rikkon sprach laut und mit fester Stimme, doch seine Autorität ging in der Unruhe unter.

»Zurecht!«, hörte ich eine Frauenstimme rufen.

»Er war ein Mörder!«, rief ein Mann.

Das Stimmengewirr wurde lauter.

»Wer gab euch das Recht dazu?«, brüllte Rikkon so laut, dass plötzlich Stille herrschte. Aufgebracht marschierte er durch die Menge. »Er war von meiner Sippe, von meinem Blut.« Seine Hände ballten sich zu Fäusten. »Ein solches Urteil stand euch nicht zu. Bringt mir die Ältesten!«, knurrte er den Befehl an seine Männer gerichtet. Ich sah, wie sich drei von ihnen in Bewegung setzten und die Ältesten einen nach dem anderen vor ihm auf den Boden stießen.

»Ich will die Wahrheit wissen!«, herrschte er die drei alten Männer an, die stumm zu seinen Füßen knieten. »Warum habt ihr euch in eine Angelegenheit eingemischt, die Farrngaard nicht betrifft?«

»Wir haben ein Bündnis mit Gladishall, deshalb …«, erklärte Ulf, einer der drei Ältesten.

»Dennoch war es eine Angelegenheit zwischen Gladishall und uns. Ihr hattet kein Recht, dieses Urteil zu fällen.« Rikkons Stimme dröhnte durch die Halle. Wer war er? Etwa der Bruder des Mannes, den unser Dorf zum Tode verurteilt hatte?

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Jana S. Morgan
Bildmaterialien: Chris Gilcher, http://buchcoverdesign.de
Cover: Chris Gilcher, http://buchcoverdesign.de
Lektorat: Marion Mergen, DIE TEXTWERKSTATT www.korrekt-getippt.de
Tag der Veröffentlichung: 03.08.2015
ISBN: 978-3-7438-3496-5

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch widme ich meinen Lesern und Leserinnen. Ohne euch würde es dieses Buch gar nicht geben.

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