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Wahre Liebe

Es war ein sonniger, aber immer noch kühler Aprilnachmittag, als ich mir vornahm, den Dachboden im Haus meines Vaters aufzuräumen. Das war meine Art des Frühjahrsputzes, da dieser Bereich für meinen Vater mittlerweile unzugänglich geworden war und ich war froh, ihm helfen zu können. Das Alter forderte so langsam seinen Tribut und so war es zur Gewohnheit geworden, dass ich ihn mehr und mehr unterstützte. Ich tat es gerne, denn das gehörte sich doch schließlich für eine Tochter so. Man half seinen Eltern, wo man konnte. Zumindest sah ich das so.

Ich wollte mir erst nur einen Überblick von dem Chaos da oben machen und stieg in aller Ruhe die steile Treppe nach oben. Eine kleine Glühlampe, die an der Decke nur an einem Kabel hing, spendete ein bisschen Licht, doch da die Sonne hell schien, kam auch genug durch die Dachluken. Ich staunte aber nicht schlecht, was sich hier alles über die Jahre angesammelt hatte. Kartons stapelten sich an einer Seite des Raumes, während ein paar kleinere Möbel auf der anderen standen. Und natürlich befand sich dazwischen eine Menge Krimskrams, den ich wohl oder übel auseinander sortieren musste. Ich atmete einmal durch, der muffige Geruch kratzte leicht in der Lunge. Das würde wohl doch länger dauern, als ich gedacht hatte, doch da ich es mir vorgenommen hatte und mich insgeheim auch ein wenig freute, eine sinnvolle Beschäftigung zu haben, machte ich mich gleich ans Werk.

Neugierig ging ich zu den Möbeln, es waren hauptsächlich kleine Schränke, und begann in die Schubladen zu sehen und die Türen zu öffnen. Nicht selten konnte man bei solchen Aufräumaktionen echte Schätze finden. Doch neben einigen Wollmäusen und anderem Krempel, den man wirklich nicht mehr gebrauchen konnte, gab es nichts. Das enttäuschte mich ein wenig, doch um Kostbarkeiten zu finden war ich ohnehin nicht hier, auch wenn es ein netter Nebeneffekt wäre. Ich begann mir etwas mehr Platz zu machen und rückte die Schränke etwas aus dem Weg, als mir eine kleine hölzerne Truhe auffiel. Neugierig, wie ich war, setzte ich mich auf den staubigen Boden und zog die Truhe an mich heran. Ich drückte die Daumen, dass sie nicht verschlossen war und tatsächlich bekam ich sie ohne Probleme auf. Doch hatte ich nicht mit dem gerechnet, was ich in der Truhe vorfand. Ein Haufen Papierkram drängte sich mir entgegen, kaum dass ich den Deckel geöffnet hatte. Etwas irritiert, was das für Papiere waren, nahm ich mir einen davon und las den Umschlag. Es irritierte mich, als ich den Namen meiner Mutter las. Ohne weiter darüber nachzudenken, öffnete ich den Umschlag, dessen Lasche nur eingeschlagen war und begann zu lesen.

 

 

Für Elise, meine Liebste, 

 

Es ist April und ein weiteres Jahr ist vergangen. Wie sehr wünschte ich, zwischen uns läge nicht diese unendliche Weite. Eine Distanz, die ich nur zu gern für dich überwinden würde, könnte ich doch nur unsere Tochter allein lassen. Doch das kann ich nicht und ich weiß, dass du das nicht wollen würdest. Deine Worte hallen in meinen Ohren nach, die sagen, dass sie mich braucht. Für sie ertrage ich diesen Schmerz von dir getrennt zu sein, doch jedes Mal, wenn ich in ihre azurblauen Augen sehe, sehe ich die deinen wieder. Sie sieht dir so ähnlich, wie ein Abbild einer kindlichen Version von dir. In ihrem Lachen sehe ich deines und in dem Strahlen ihrer Augen leuchtet alles, was ich an dir liebe. 

Ich vermisse dich so sehr, dass mein Herz, nur beim Gedanken an dich, in tausend Splitter zerspringt, immer und immer wieder. Wie sehr ich dich ersehne lässt sich kaum in Worte fassen, doch anders werde ich den Druck, der auf meiner Brust lastet, nicht los. Es ist ein Versuch mir all meine Sehnsucht von der Seele zu schreiben, auch wenn ich nicht glaube, dass dies hier jemals reichen wird. Aber ich werde nicht aufhören zu schreiben, bis ich wieder bei dir bin und wenn Charlotte, unser kleiner Engel, diese Briefe irgendwann finden sollte, so wird sie erkennen, wie sehr ich dich geliebt habe und dass ich immer alles getan habe, um dein Andenken in Ehren zu halten. 

Charlotte wird sich an dich erinnern, so wie ich mich an dich erinnere. Sie wird alles von dir erfahren, so als wärst du noch immer bei uns. Nie werden wir dich vergessen. Nie. 

 

In Liebe, dein Ehemann

 

 

Das stammte aus der Feder meines Vaters? Seit wann schrieb er und wann hatte er diesen Brief verfasst? Diese Seite, diese liebevolle, ja aufopferungsvolle Seite kannte ich an ihm gar nicht. Und doch spürte ich eines sofort die Liebe, die er für meine Mutter empfand, denn sie sprudelte förmlich aus diesen geschriebenen Worten heraus.

Mein Herz schlug wie wild, so als würde ich etwas Verbotenes tun. Hektisch warf ich einen Blick über meine Schulter, ehe ich einen weiteren Brief hervorzog.

 

 

Für Elise, mein Herz.

 

Nun sind es schon drei Jahre, die wir ohne dich sind, doch es wird von keinem Tag auf den nächsten leichter. Du bist mein erster Gedanke, wenn ich morgens im Bett aufwache und mein letzter, wenn ich am Abend meine Augen schließe. Jedes Mal wünsche ich mir, dass du neben mir lägest, vielleicht mit einem Buch in der Hand, weil du noch nicht schlafen kannst, oder aber auf der Seite liegend zu mir schauend. Gott, wie sehr ich dich vermisse. Mir fehlt dein Lachen, das Gefühl deiner Haut, deiner Lippen, wenn wir uns einen keuschen Kuss zur Nacht teilen. Ich weiß, dass ich diesen Kuss nie wieder spüren werde, doch ich träume davon. Ich träume von dir, Nacht für Nacht, manchmal sogar am Tag. Ich ertappe mich dabei, wie ich still aus dem Fenster sehe, hinaus zu der großen Linde, die neben unserem Haus steht. Du mochtest diesen Baum immer, hast alles dafür getan, mich davon abzubringen, ihn zu fällen. Er wirft noch heute einen großen Schatten auf das Haus, doch niemals in meinem Leben würde ich diesem Baum auch nur einen Ast abtrennen. Er gehörte zu dir, zu uns und wird es immer bleiben. Manchmal, vor allem im Frühling, sehe ich Charlotte unter dem Baum sitzen, dann erinnert sie mich mehr denn je an dich. Ich muss dir für dieses Geschenk, das du uns beiden gemacht und welches du nur so kurz erleben durftest, danken. Sie ist mein Anker, der mich aufrecht erhält, sie ist alles, was ich noch habe. Für sie werde ich immer stark sein.

Aber obwohl ich für sie da sein muss, wünsche ich mir nicht selten, dass ich es gewesen wäre und nicht du, meine Liebe. Dass dieses Auto mich erfasst hätte und du noch hier bei unserer Tochter wärst. Wenn ich es könnte, würde ich es ändern, doch das Leben spielt nicht nach meinen Regeln, das habe ich begriffen, auch wenn ich es manchmal zum Teufel jagen wollte. 

Doch ich schweife ab, mein Herz. Denn eigentlich gibt es für mich nur eines, was ich dir sagen will. 

Ich liebe dich.

 

 

Mir blieb der Atem weg. Ich sank zurück, lehnte mich mit dem Rücken gegen den erstbesten Gegenstand und seufzte leise. Diese Zeilen berührten mich so sehr, dass ich, obwohl sie mich nicht direkt traurig machten, das Brennen von Tränen in meinen Augen spürte. 

„Papa“, flüsterte ich und schloss die Augen. Ich brauchte einige Minuten, bis ich mich wieder beruhigt hatte, dann stand ich auf und ging gedankenverloren zu einem der Dachfenster. Ich öffnete es und steckte den Kopf nach draußen. Der Wind wehte stark und verwuschelte mein Haar, doch das machte mir nichts, denn mein Blick wanderte sofort zu der großen Linde. Auch ich liebte es, mich im Sommer in ihrem Schatten zu entspannen und nun, wo ich wusste, dass meine Mutter es auch immer so gepflegt hatte, wurde dieser Baum in meinen Augen noch schöner und gewann noch mehr an Bedeutung. Es war unglaublich, dass mein Vater diese Briefe geschrieben hatte und wenn ich mir den Inhalt der Truhe so ansah, kamen da noch viele mehr. 

Ich war mir nicht sicher, ob es mir zustand, diese Briefe einfach so zu lesen, doch ich konnte nicht anders. Es war so, als würde ich eine ganz andere Seite meines Vaters kennenlernen. 

Ich ging zurück zu der Truhe, setzte mich wieder und nahm mir einen weiteren Brief. 

Für Elise, 

 

Noch ein Jahr ist dahin gezogen und jedes Mal, wenn der April näher kommt, kommt die Trauer stärker denn je zurück. Sie erfasst mich wie ein Sturm, dem ich nicht entkommen kann. Heute stand ich an deinem Grab. Die weißen Lilien, die du immer am liebsten hattest, bedecken einen Teil davon. Ich gebe zu, dass es das erste Jahr war, an dem ich nicht an deinem Grab geweint habe. Ich fühle den Schmerz in mir, doch er war nicht bis an die Oberfläche gekommen. Wir beide, Charlotte und ich, sind stark geblieben. Eine ganze Zeit haben wir auf dem Friedhof auf einer Bank ganz in deiner Nähe gesessen und von dir gesprochen. So manche Geschichte, die ich ihr von dir erzählt habe, hört sie immer noch so gerne, dass ich sie ihr regelmäßig erzähle. Sie hat deine Neugier, löchert mich mit Fragen, auch wenn ich auf manche davon nicht mal eine Antwort habe und doch gebe ich mein Bestes, um ihr diese Fragen zu beantworten. Viele davon handeln von dir, manche auch von dem Unfall. Mittlerweile ist sie alt genug, um es zu verstehen, selbst um meinen Schmerz zu verstehen, dabei sollte ich mich um sie kümmern und nicht anders herum. Sie ist so herzensgut, meine Liebe, denn, obwohl du nur so wenig Zeit mit ihr hattest, hast du ihr so viel Gutes mitgegeben. Es trifft mich jedes Mal aufs Neue und macht mich fast zum glücklichsten Mann auf Erden, wenn ich unsere Tochter ansehe. Fast, denn wahrlich glücklich wäre ich nur mit dir an meiner Seite. Ich würde deine Hand in meiner Halten, würde dich nie wieder loslassen und dich auf ewig an meiner Seite halten. Wenn ich doch nur könnte...

 

In ewiger Liebe, dein Jacob

 

 

Es war so unsagbar traurig. Auch ich erinnerte mich an diesen Tag auf dem Friedhof. Er hatte mir, als wir auf dieser Bank gesessen hatten, alles erzählt. Er hatte jede Frage, die mich zu diesem Unfall und dem Tod meiner Mutter beschäftigt hatte, beantwortet. Es war der erste Tag in meinem Leben gewesen, an dem ich wirklich verstanden hatte, was mit meiner Mutter passiert war. Er hatte mir immer versichert, dass sie mich abgöttisch geliebt hatte und dass er das auch jetzt tat, doch darauf hatte ich kaum hören können. Zu verstehen, dass sie durch einen Autounfall, an dem sie nicht einmal selbst die Schuld getragen hatte, einfach so aus unser beider Leben gerissen wurde, hatte mich schwer getroffen. Es war schwer für uns beide gewesen.

Ohne noch länger über den Unfall und den Todestag meiner Mutter, der auch bald schon wieder da sein würde, nachzudenken, begann ich den nächsten Brief zu lesen. 

 

 

Meine Liebste,

 

Es ist erst zwei Wochen her, seit ich an deinem Grab gestanden habe, doch die Sehnsucht nach dir, lässt mich einfach nicht los. So sitze ich hier, kann nicht schlafen, da sich meine Gedanken nur um dich drehen und denke zurück an unsere gemeinsame Zeit. Schon als wir uns das erste Mal gesehen hatten, warst du für mich die schönste Frau der Welt gewesen. Mit deinen langen, braunen Haaren und diesen leuchtend blauen Augen hatte ich mich einfach auf den ersten Blick in dich   verlieben müssen. Wirklich tief wurde dieses Gefühl aber erst, als ich dich wirklich kennengelernt hatte.

Elise, wir gerne würde ich dich jetzt in meine Arme schließen, dich fest an mich drücken, bis du mich leise darum bitten würdest, dich nicht zu fest zu drücken. Lächelnd würdest du mir in die Augen sehen und deine Hand durch mein Haar gleiten lassen, nur um mich doch daran zu hindern, dich loszulassen, denn wirklich weg von mir wolltest du nicht. Ich würde dich küssen, weil ich nur so meine wirklich wahre Liebe zu dir äußern kann und ich weiß, dass du es genießen würdest und erst wenn wir beide außer Atem wären, würde ich aufhören. Doch nur kurz, da mich deine Küsse schon immer um den Verstand gebracht haben und ich nie genug von ihnen bekam.

Doch ich schweife ab, mein Schatz. Ich sollte so etwas nicht aufschreiben, waren es doch die innigsten und privatesten Momente zwischen uns. An deine Lippen denke ich jedoch jeden Tag. Dieses weiche, zarte Gefühl, wenn ich mit einem Finger über diese strich. Kannst du dir vorstellen wie es mich quält?

Viele sagen, dass ich darüber hinwegkommen werde, irgendwann, und mich dann anderweitig umsehen könnte, doch das will ich gar nicht. Wieso verstehen sie nicht, dass ich nie wieder jemanden so lieben kann, wie dich? Ich will niemand anderes, weil diese Person unmöglich so sein kann wie du. Niemand kann dich mir je ersetzen, oder das Gefühl, wenn wir beieinandergelegen haben. So manche Nacht hatten wir wach verbracht und doch war keiner je weiter als ein paar Zentimeter vom anderen weg gekommen, zu feurig war eine dieser Nächte, die sich mir besonders scharf ins Gedächtnis gebrannt hat.

Du wirst wissen, welche ich meine.

Es war jene Nacht, als ich dir den Antrag gemacht hatte. Das Glück und auch das Verlangen nacheinander waren einfach zu stark gewesen, dass wir selbst das Ende der Theatervorstellung verpasst hatten. Bis heute weiß ich nicht, wie das Stück ausgeht. In deiner kleinen Wohnung habe ich wohl die schönste Nacht mit dir verbracht, die ich mir jemals vorstellen konnte. Von dort kam auch die Erinnerung an diesen intensiven Kuss. Ein Feuer war zwischen uns aufgelodert, hatte uns mit Haut und Haar verschlungen. Ich hatte dir gesagt, wie schön du warst und dass ich dich von ganzem Herzen liebte. Noch heute erinnere ich mich gerne daran, wie dir die Röte ins Gesicht geschossen war und du fast ein bisschen beschämt zu Boden gesehen hattest. Du konntest nie gut mit Komplimenten umgehen. Ich hatte dein Kinn angehoben um dich zu deinem Glück zu zwingen. Deine Anspannung hatte ich gespürt, doch als ich dich dann einfach noch einmal geküsst hatte, hattest du dich wieder entspannt. Ein leises ‚Ich liebe dich‘ hatte auch deine Lippen verlassen und in diesem Moment war mir wirklich erst bewusst geworden, dass wir für immer zusammen sein würden. Ich war der glücklichste Mann auf dieser weiten Welt.

Langsam, nach und nach, hatten wir unsere Sachen abgelegt, jeden Zentimeter deiner Haut hatte ich mit Küssen bedeckt. Mir scheint, als kann ich das leise Seufzen, welches von dir kam, auch jetzt noch hören. Meine Hände hatten dich gestreichelt, dich verwöhnt und an manchen Stellen, jene, von denen nur ich wissen konnte, gereizt. Ich hatte dich genau beobachtet, mein Herz, hatte mit lustvollen Augen das Spiel deiner Bewegungen genossen. Wie du jeden Atemzug tief eingesogen hattest, sich dein Brustkorb dabei gehoben und wieder gesenkt hatte und du mir deine kleinen Brüste regelrecht entgegengestreckt hattest. Sie hatten so perfekt in meine Hände gepasst, die kleinen Knospen genau in meiner Handfläche, wo sie, wenn sie hart und aufgerichtet waren, sogar leicht gekitzelt hatten. Gerne erinnere ich mich an das Gefühl, welches sie in mir ausgelöst hatten, wenn ich sie leicht in meinen Mund gesogen hatte. Dein Stöhnen in diesem Moment, so lusterfüllt und heiser, manchmal lauter und manchmal leiser, aber vor allem ehrlich, war mehr, als Worte jemals hätten ausdrücken können. Deine Augen waren glasig, dein Mund geöffnet und trocken vor Aufregung. Du warst immer aufgeregt, wenn wir so zusammen waren. Als würdest du nur eines wollen, hatte dein Blick an meinen Lippen geklebt und als ich mich über dich gebeugt hatte, waren unsere Lippen sofort wieder miteinander verschmolzen. Unsere Vereinigung ließ nicht lange auf sich warten, war zärtlich und liebevoll, gab uns beiden das, was wir so sehr wollten, unsere Nähe, so nah wie sich Mann und Frau nur stehen konnten. Die immer stärker werdende Erregung, die ich selbst hatte spüren können, hatte ich auch in deinen Augen gesehen. Vor Lust hattest du sie geschlossen, sie wieder aufgerissen, wenn ich eine empfindliche Stelle in dir getroffen hatte. Die Kontraktionen deiner Muskeln hatten mich schier um den Verstand gebracht. Schwach und ausgelaugt hatte ich meine Stirn gegen deine sinken lassen, mich nur noch auf diesen himmlischen Akt konzentriert. Dein Beben unter mir und der Versuch, dich stöhnend aufzurichten hatten mich wissen lassen, dass du gekommen warst und dein lautes Aufstöhnen hatte auch mich kurz darauf dazu gebracht, endlich loszulassen.

Lange hatten wir so beieinander gelegen, uns gegenseitig in den Armen gehalten und uns in die Augen gesehen, bis das Beben und Zittern deines Körpers langsam gewichen waren.

Diese Erinnerungen tun weh und doch will ich keine davon jemals vergessen. Sie sind ein Teil von mir und dir, von uns und somit auch von unserer Tochter. Ich hoffe, dass sie das hier nie lesen wird, aber ich muss zugeben, dass es mir gut tut, mich so an dich zu erinnern, denn es sind nur Erinnerungen, die mir von dir geblieben sind. Erinnerungen und Charlotte.

 

Für immer dein. Jacob

 

 

Mein Herz schlug so unglaublich schnell. Mit zitternden Händen legte ich die Blätter beiseite und atmete tief durch. Diese Seite kannte ich überhaupt nicht von meinem Vater. Es ging mir nicht darum, was er da beschrieben hatte, nämlich den Abend nach ihrer Verlobung, denn eigentlich wollte man als Kind der eigenen Eltern doch niemals so etwas über sie lesen und doch berührte es mich, denn das alles geschah vor meiner Zeit.

Viel tiefer traf es mich, dass er sie so abgöttisch liebte und ihm der Verlust meiner Mutter so unendlich schwer fiel. Ich hatte ihn immer unterstützt und getan, was ich konnte und doch war mir entgangen, dass es für ihn nicht, wie alle sagten, von Jahr zu Jahr besser wurde. Ich hatte geglaubt, dass er darüber hinweg gekommen war.

Eine Träne rollte meine Wange hinunter und tropfte auf meinen Handrücken. Ich blinzelte stark und wischte mir das Gesicht ab. Mein Herz tat weh. Wieso hatte er mir nie davon erzählt, dass es für ihn ohne seine Frau kaum einen Grund zu leben gab? Und noch schlimmer war für mich, dass er nun schon einige Jahre allein in diesem Haus lebte. Ein Haus, welches ihn doch nur weiter an sie erinnern würde.

Ich sah mich um. Der rumplige Dachboden war groß, wenn auch nicht komplett ausgebaut und verstaubt, doch man könnte wohl ein schönes Zimmer daraus machen. Meine Gedanken drehten sich von ganz alleine weiter und ich sah mich selbst wieder in diesem Haus wohnen.

Ich konnte meinen Vater einfach nicht länger alleine lassen, nicht, nachdem ich das hier von ihm wusste.

Mit leicht schmerzendem Herzen nahm ich mir weitere Briefe, alle an meine Mutter adressiert, und las auch sie. Sie alle erzählten nur eine Geschichte, die von meinen Eltern und ihrer wirklich tiefen Liebe. Jedes Jahr hatte mein Vater einen Brief verfasst, immer im April. Mal war es der Tag ihres Kennenlernens, mal der ihres Todes, denn beide fielen in diesen Monat.

Als ich den letzten Brief nahm, fiel mir auf, dass dieser vor drei Jahren geschrieben worden war. Da mussten welche fehlen, doch vielleicht bewahrte mein Vater diese auch woanders auf.

 

 

Für Elise, meine Liebste,

 

So viele Jahre sind vergangen und du fehlst mir noch immer an jedem Tag meines Lebens, doch in diesem Brief möchte ich dir sagen, dass es mir gut geht. Ein Lichtblick kam in mein Leben, der mich so überwältigt hat, dass ich es kaum in Worte fassen kann. Man sollte meinen, dass ich nach all den Briefen wortgewandter geworden wäre, doch dem ist nicht so.

Dies ist der letzte Brief an dich, meine liebe Elise, doch das soll nicht heißen, dass ich dich vergesse, oder dass Charlotte dich vergisst. Wir lieben dich beide, doch wir haben nun auch eine neue Aufgabe in unserem Leben. Ich weiß, dass du uns immer beobachtet hast und du wirst wissen, was ich meine. Glaub mir, dass ich seit all diesen Jahren endlich wieder etwas Glück verspürt habe und ich habe vor, es zu genießen. Das würdest du wollen und ich wünsche es dir auch von ganzem Herzen. Egal wo du bist, mein Herz ist immer bei dir. Auf ewig.

 

Mit all meiner Liebe, dein Jacob

 

 

Er hat aufgehört?

Ich brauchte eine ganze Zeit um den Brief überhaupt erst sinken zu lassen, so tief berührte mich alles, was mein Vater in diese Zeilen gesteckt hatte. Ich wünschte mir, er hätte mit mir geredet und mir alles gesagt. Wir hätten schon einen Weg gefunden.

Schniefend rieb ich mir die Augen, gerade noch rechtzeitig, als ich die Stimme meines Vaters hörte.

„Charlotte? Alles in Ordnung da oben? Es ist so still.“

Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und rief: „Ja, alles okay.“ Dann stand ich auf und ging zu der steilen Treppe, die mein Vater nicht mehr benutzen konnte. Ich ging hinunter, den letzten Brief noch immer in der Hand.

Als der Blick meines Vaters auf das Blatt Papier fiel, weiteten sich seine Augen, dann sah er zu Boden.

„Wann hast du aufgehört, ihr zu schreiben?“, fragte ich und spürte, wie die Tränen zurückkamen.

„Vor drei Jahren“, sagte er, seine Stimme brach am Ende.

Ich stutzte und schniefte leise.

„Vor drei Jahren, als du mich gefragt hast, ob ich etwas dagegen hätte, wenn du deine Tochter ebenfalls Elise nennen würdest, nach deiner Mutter. Ich sehe so vieles von ihr in euch beiden. Seit Jahren habe ich endlich das Gefühl, sie wäre wieder wirklich hier, hier bei uns.“

„Oh Papa“, weinte ich und sank in seine Arme. Mein Vater war schon immer der Fels in der Brandung unseres chaotischen Lebens gewesen. Ein Mann, auf den ich mich immer verlassen konnte und den ich über alles liebte. Ein Mann, der meine Mutter selbst nach all diesen Jahren noch genauso liebte, wie am ersten Tag.

Impressum

Texte: Jana S. Morgan
Bildmaterialien: https://pixabay.com/de/
Cover: Jana S. Morgan
Tag der Veröffentlichung: 20.03.2015

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