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WIdmung

Für alle, die sich vom

Unbekannten verführen lassen wollen…

Kapitel 1 – Stich für Stich

Seine Hand streichelte über meine. Es war nur der Hauch einer Berührung, ein leichtes Kitzeln, das auf meiner Haut tanzte. Der Kontakt unserer Hände war kaum mehr als ein zarter Luftzug. War es vielleicht doch nur der Wind?

Verlegen blickte ich auf die Steinmauer, auf der wir beide saßen. Zwischen uns lag seine Hand auf meiner. Unweigerlich zuckten meine Finger, als ich daran dachte, was uns bevorstand. Ich war mir nicht sicher, ob ich das wirklich wollte. Wie von selbst zog sich meine Hand zurück, bis sie wieder neben der seinen lag, sie nicht mehr berührte.

Es war ein schönes Gefühl und doch war ich mir nicht sicher, ob ich bereit dafür war.

Langsam ließ ich meinen Blick von meiner Hand zu seiner wandern, über seinen Arm, der in einer engen aus Leder gefertigten Jacke steckte, hinauf bis zu seiner Schulter.

Unsicherheit machte sich in mir breit, ich blinzelte verlegen, als ich weiter hinaufsah und ihm dann direkt in die Augen schaute. Warmes Braun traf auf zartes Grün. Ich schluckte schwer.

Obwohl ich Arian schon seit meiner Kindheit kannte, war es ein ungewohntes und verwirrendes Gefühl, ihm so nahe zu sein. Ihn zu berühren, hier und jetzt, nicht im kindischen Kampf wie früher, als in unserer Fantasie jeder Stock ein glänzendes Schwert darstellte. Naiv hatten wir uns duelliert, wie wir es aus den Geschichten der Erwachsenen kannten. In gerechten Kämpfen bei denen es nur einen Sieger gab, keine Toten, keine Opfer. Ich lächelte bei diesem Gedanken. Arian war zwei Jahre älter als ich und zählte somit schon achtzehn Sommer. Er war der Sohn des Jägers unseres Dorfes. Ich kannte ihn schon mein ganzes Leben. Als Kinder hatten wir oft im Wald gespielt und uns gegenseitig aus dem Hinterhalt der dichten Büsche angegriffen. So still wie nur irgendwie möglich hatte ich ausgeharrt, nur um ihn zu überraschen und einen kleinen Vorteil zu erhaschen.

Meist hatte er gewonnen.

Doch manchmal war es auch mir gelungen, ihn zu besiegen. Auf dem Heimweg zog ich ihn dann damit auf, dass er gegen ein Mädchen verloren hatte.

Seine Rache folgte meist am nächsten Tag …

»Worüber schmunzelst du so?«

Er hatte mir meine Gedanken angesehen. Nun zierte ein hübsches Lächeln sein jungenhaftes Gesicht. Seine braunen Augen funkelten vor Neugier. Ich kannte diesen Ausdruck. Schon damals hatte er versucht, jedes Geheimnis aus mir herauszubekommen.

»Ich musste an früher denken«, gestand ich einfach und sah zum Waldrand.

Früher … Das war nun schon sieben Jahre her. Damals hatte sein Vater angefangen, ihn mit auf die Jagd zu nehmen und auch ich hatte meinem Vater und meiner älteren Schwester im Haushalt und bei der Arbeit helfen müssen. Wir besaßen eine kleine Schneiderei und darüber hinaus einen Webstuhl, mit dem wir selbst Stoffe herstellen konnten. Es war eine zeitintensive Arbeit, doch da die Bewohner des Dorfes besonders zur kälteren Jahreszeit warme Kleidung benötigten, war die Nachfrage hoch, und so konnten wir uns gut über Wasser halten.

Ich schwang mich von der Mauer, den Überresten einer Behausung aus Zeiten unserer Vorfahren, und landete auf dem feuchten Boden des Waldes, den ich kannte wie meine Westentasche. Er grenzte an eine der größeren Straßen, die in unser Dorf führten. Doch mein Ziel war der dichte Wald, welcher dunkel und geheimnis­voll vor mir lag. Meine Füße trugen mich hinter die erste Baumreihe. Schon war ich aus Arians Sichtfeld verschwunden. Das einzige, was mich noch verriet, war das leise Rascheln meines Kleides.

»Liv, warte doch«, rief er mir nach, doch ich blieb nicht stehen. Arian würde wissen, wohin ich wollte, trafen wir uns doch sonst jeden Morgen an diesem Ort.

Nach wenigen Metern erreichte ich mein Ziel. Ein schmaler Bachlauf mit kristallklarem Wasser schlängelte sich zwischen den Bäumen entlang. Es war noch still so früh am Morgen, keine lärmenden Geräusche der Holzfäller, die einen Baum nach dem anderen niederrissen. Nur die Tierwelt war bereits erwacht. Die Vögel zwitscherten aufgeregt und hier und da sah man die ersten Wildtiere auf der Suche nach Futter.

Ich inhalierte die kalte Luft und zog fröstelnd mein Gewand enger um meine Schultern. Der Winter würde bald kommen. Morketid – die Zeit der Dunkelheit. Nur ein noch zwei Mondzyklen und Ullr würde mit Skadi alles in ein weißes Meer aus Schnee und Eis tauchen. Auch wenn unser Dorf im Süden lag und die frostige Dunkelheit uns nicht ganz verschlingen würde, wären die kommenden Tage viel zu kurz und die Nächte endlos lang und bitterkalt. Der Bach würde fast vollständig zufrieren und so manche Tiere ihren Winterschlaf antreten. Für uns war der Winter die härteste Jahreszeit, denn es wuchs und gedieh nichts in unseren Gärten. Im Herbst, der jetzt noch vorherrschte kam die Zeit der großen Ernten auf den Feldern. Alle Dorfbewohner packten mit an, um das Getreide in die Lager zu bringen und es vor Nässe zu schützen. So konnten wir als Gemeinschaft selbst den kältesten Winter überstehen. Neben den allgemeinen Vorkehrungen legten wir uns privat noch etwas zurück, um auf schlechte Zeiten vorbereitet zu sein. Bisher hatte uns diese Vorgehensweise immer gut durch den dunklen Winter gebracht. Und noch hatten wir Zeit, ausreichend Vorräte einzulagern.

»Liv«, seufzte Arian, als er mich endlich fand.

Ich warf einen Blick über meine Schulter und schenkte ihm ein Lächeln, dann ging ich in die Hocke und tauchte meine Hände in das klare Wasser, schöpfte mir etwas davon in mein Gesicht und hielt den Atem an, als die flüssige Kälte meine Haut benetzte. Es war eisig, doch auch herrlich erfrischend. Als ich mich wieder erhob, stand Arian mit vor der Brust verschränkten Armen vor mir. Er grinste und legte den Kopf schief. Das braune Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Es war wunderschön.

»Du wirst mir immer davonlaufen, oder?«

Ich kicherte leise, wollte meine Verlegenheit überspielen, denn ich wusste genau, wovon er sprach.

Nach meines Vaters Tod hatten meine Schwester Sibille und ihr Mann Kjell die Verantwortung für das Familiengeschäft übernommen. Nun lag es in Kjells Hand, gut für uns zu sorgen – und dazu gehörte auch, mich irgendwann zu verheiraten.

Er hatte von meiner Freundschaft zu Arian erfahren – eigentlich wusste es jeder im Dorf – und es für eine gute Idee befunden, dem Jäger Vilhelm, Arians Vater, diesen Vorschlag für eine Heirat zu unterbreiten. Noch hatte sich dieser nicht geäußert, doch was sprach schon dagegen? Es wäre eine vorteilhafte Verbindung, denn mit einem Jäger als Ehemann würde man wohl kaum einen Hungertod sterben.

Doch wollte ich das? Ich war mir nicht sicher, ob ich mich als Arians Frau sah. Ich mochte ihn. Sehr sogar! Doch wollte ich seine Frau werden? Seine richtige Frau? War ich schon bereit, das Bett mit ihm teilen? Ihm Kinder zu gebären …

»Liv.«

»Ja?«, antwortete ich hastig, denn ich hatte ihm gar nicht mehr zugehört.

»Was ist mit dir?«, fragte er sanft.

Er kannte mich einfach so gut, dass ihm die Veränderung in meiner Stimmung sofort aufgefallen war.

»Was soll mit mir sein?« Ich presste die Lippen fest zusammen, wollte es mir nicht anmerken lassen, und klemmte mir eine widerspenstige Strähne meines blonden Haares hinters Ohr, welches sich aus dem geflochtenen Zopf gelöst hatte.

»Immer wenn ich dieses Thema anspreche, wirst du so still.«

Ich senkte den Blick, erwiderte aber nichts. Ich fühlte mich noch nicht bereit dafür, seine Frau zu werden, doch Kjell und auch Sibille bestanden darauf. Sie meinten, ein Mann wie Arian würde nicht ewig auf mich warten.

Würde er warten? Ein bisschen zumindest?

»Rede mit mir«, flüsterte er so leise, dass das Rauschen des Bachs seine Stimme verschluckte.

»Es ist alles in Ordnung«, log ich, denn ich wollte nicht mit ihm darüber reden. Nicht jetzt. »Ich muss zurück.«

Entschlossen raffte ich mein Kleid und wollte gerade an ihm vorbeigehen, als er mich zurückhielt und sanft in seine Arme zog. Mein Körper drückte sich fest an den seinen. Mir stockte der Atem. Ich rührte mich kein Stück, denn auch wenn er immer mal wieder meine Hand oder meinen Arm berührte, so hatte er das hier noch nie getan.

»Du kannst mit mir reden, Kleine, flüsterte er in mein Haar.

Wie von selbst, ohne darüber nachzudenken, nickte ich und schmiegte meine Wange an das Leder seiner Jacke. Mein Gesicht befand sich genau über der Stelle seines Herzens. Ich spürte seine große warme Hand an meinem Hinterkopf, wo sie zärtlich über mein Haar streichelte. Es fühlte sich schön an, doch es war zu viel. Zu früh! Später vielleicht. Irgendwann würde es genau das sein, wonach ich mich sehnte, doch dieser Zeitpunkt lag noch fern.

Ich war noch nicht bereit für eine Ehe. Jeder erwartete es von mir. Erwartete, dass ich Arian heiratete und sein Weib würde. Für andere Mädchen war das ganz normal. So manche von ihnen war sogar noch jünger als ich und bereits an einen Mann gebunden. Aber ich …

Als wir uns schließlich voneinander lösten, wirkte sein Gesicht nicht mehr so fröhlich wie zuvor und das tat mir leid, war ich doch schuld daran. Ich wollte ihn nicht verletzten, das wollte ich nie, und er sollte auch nicht meinetwegen trüb gestimmt sein.

»Ich muss jetzt …«, stotterte ich heiser und rieb mir über die Arme.

»Ja, geh nur«, sagte Arian leise und wandte sich von mir ab. Er ging den Weg zurück, den wir gekommen waren, und drehte sich nicht noch einmal zu mir um. Es war derselbe Pfad, den auch ich nehmen musste, um zurück ins Dorf zu kommen. Doch ich wartete noch einen Moment, wollte ihm den Abstand geben, der uns beiden hoffentlich guttat.

Ich stand da wie versteinert. Mit einem schlechten Gewissen starrte ich einfach in die Richtung, in die Arian gerade verschwunden war. Das Rascheln der Bäume, wenn der Wind durch sie hindurchfegte, drang an meine Ohren und beruhigte mich.

So stellte ich mir das Meer vor, welches ich nur aus Erzählungen kannte. Irgendwann einmal würde ich es sehen. Die endlosen blauen Weiten und das Rauschen der Wellen, welches mich immer an diesen Wald im Herbst erinnern würde. Wenn der Wind die Baumkronen zum Tanzen brachte und mich frösteln ließ, während er sich unter mein Kleid verirrte und meine Beine kühl umschmeichelte.

Ein Knacken durchbrach die Illusion des Meeres. Erschrocken zuckte ich zusammen. Sofort waren alle Muskeln in meinem Körper angespannt und ich war hellwach. Mit weit aufgerissenen Augen sah ich mich hektisch um, doch es war niemand zu sehen.

Zu einer solch frühen Stunde verirrte sich von den Dorfbewohnern niemand in den Wald. So wie wir nutzten auch unsere Nachbarn das Wasser aus dem Bach zum Waschen ihrer Wäsche, doch das holten die Frauen erst später.

Was oder wer hatte also dieses Knacken verursacht? Ich fühlte mich beobachtet. Der Wald bot viele Verstecke, nicht wenige davon hatte ich früher selbst genutzt, um meine hinterhältigen Angriffe gegen Arian zu starten. Mein Blick wanderte über die Büsche und an den nahestehenden Bäumen vorbei bis in den Wald hinein. Ich war mir sicher, dass da etwas oder jemand lauerte. Nachdem kein weiteres Geräusch zu hören war, fand ich meinen Frieden in dem Gedanken, dass es wahrscheinlich nur ein Tier gewesen war, welches schon längst wieder im Unterholz nach etwas Essbarem suchte. Oder hatte ich es mir tatsächlich nur eingebildet?

So oder so, ich musste zurück, wenn ich nicht wieder Ärger mit Kjell bekommen wollte, denn auch ich hatte meine Pflichten, die ich erledigen musste. Wir alle mussten unseren Beitrag leisten, sonst würden wir die anfallenden Aufträge nicht schaffen.

So machte ich mich auf den Weg zurück. Unsere kleine aber gut in Stand gehaltene Hütte lag am Rand des Dorfes und bot genug Platz für uns drei. Auf dem Grundstück befand sich zudem eine kleine Scheune, in der unser Maultier untergebracht war, sowie ein fruchtbarer Garten, den Sibille und ich bewirtschafteten. Bereits vom Wald konnte man die üppigen Obstbäume und Gemüsebeete sehen, die zu einem Großteil jedoch schon abgeerntet waren. Als ich näherkam, sah ich eine Frau dort knien, die ich sofort als meine Schwester erkannte. Ihr blondes Haar, meinem so gleich, leuchtete mir im strahlenden Gold der Morgensonne entgegen.

»Ist Kjell schon aufgebrochen?«, fragte ich sie, als ich die Einfriedung erreicht hatte.

»Nein. Er packt gerade die letzten Sachen zusammen«, sagte sie traurig und rupfte einige der letzten Möhren aus dem Boden. Bald würden wir den Luxus von frischem Gemüse verlieren, doch das kannten wir. Jedes Jahr im Herbst vermisste ich bereits die knackige Kost des Feldes und freute ich mich auf den folgenden Sommer und die nächste Ernte. Natürlich waren auch die erlegten Tiere von Arian und seinem Vater, gerade im Winter, wichtig für unser Überleben, doch für mich gab es nichts Besseres, als das Gemüse aus unserem Garten.

»Das sind fast die letzten«, seufzte Sibille und wickelte die fünf Möhren in ihre Schürze ein, die sie über ihrem Kleid trug. Meine Augen folgten gierig den orangefarbenen Rüben, wie sie im Stoff der Schürze verschwanden. Sibille erkannte wohl die Sehnsucht in meinem Blick, denn sie lachte und reichte mir die kleinste der Möhren.

»Danke«, strahlte ich und biss herzhaft hinein.

Die restlichen würde Kjell mit auf seine Reise nehmen. Es war wieder an der Zeit, dass er in die nächstgrößere Stadt zog und dort einige Besorgungen machte. Er würde für uns Nadeln und auch Garn besorgen sowie einige unserer Kleidungen verkaufen. Ich würde ihn gerne einmal in die Stadt begleiten, doch dann wäre Sibille ganz allein und das wäre nicht richtig. Außerdem war es ein Zwei-Tagesmarsch, der viel Kraft kostete, denn nicht selten verkantete sich der klapprige Wagen auf der holprigen Straße, der von unserem Maultier gezogen wurde. Das berichtete Kjell zumindest immer wieder.

Wie auf Stichwort kam mein Schwager aus der Hütte und suchte die Umarmung seiner Frau. Ich war froh, dass Sibille ihn gefunden hatte und auch, dass sie sich wirklich liebten. Ohne einen Mann hatten es zwei Frauen sehr schwer. Wir Dorfbewohner kannten uns zwar alle untereinander, doch ich glaubte nicht, dass sich auch nur einer selbst in Gefahr bringen würde, um eine von uns zu retten. Nicht wenn er keine Aussicht auf einen anständigen Dank durch ein männliches Familienoberhaupt hatte.

Außer Arian vielleicht.

Ich schob die Gedanken an Arian beiseite und biss stattdessen in die Möhre. Sie schmeckte wunderbar süß und roch nach Natur und Freiheit.

»Ich bin in einer Woche zurück«, sagte Kjell und küsste Sibille leidenschaftlich. Abschiede fielen den beiden immer schwer. Ich fühlte mich fehl am Platz, senkte den Blick und wartete, bis sie fertig waren.

»Pass auf dich auf, ja? Und komm in einem Stück zu mir zurück, mein Liebster.«

Die Straßen waren gefährlich, nicht selten überfielen Räuber die zahlreichen Händler und Reisenden. Unseren Vater hatten sie auch einmal erwischt und ihm alles an Geld und Kleidern gestohlen. Sein Leben hatten sie ihm, den Göttern sei Dank, gelassen, dafür mit Waffen und gefährlichen Drohungen vom Weg abgebracht und ihn gezwungen alles abzugeben. Er war zwei Tage später als wir ihn erwartet hatten an unserem Dorf angekommen. Thor hatte doch ein Auge auf ihn gehabt, ausgehungert und in keinem guten Zustand. Doch zum Glück hatte er sich schnell wieder von diesem Überfall erholt.

Und dann war er vor knapp einem Jahr an einer schlimmen Krankheit gestorben. Es ging schnell und keiner der Dorfbewohner konnte sich erklären, was ihn in nur wenigen Tagen dahingerafft hatte. Selbst der Heiler war nicht in der Lage gewesen, unseren Vater und noch drei weitere Bewohner unseres Dorfes zu retten. Ein größerer Ausbruch war uns allerdings erspart geblieben. Den Göttern sei Dank!

»Passt aufeinander auf«, sagte Kjell und legte nun auch mir einen Arm um die Schultern. Er war ein guter Mann, wenn auch streng, was uns öfter aneinandergeraten ließ und mich nervte, doch im Großen und Ganzen war er liebenswert und wir konnten uns auf ihn verlassen.

»Das werden wir«, sagte ich und lächelte.

»Wenn ich wieder da bin werde ich mit Vilhelm sprechen. Er kann sich nicht ewig Zeit nehmen.«

Ich schluckte schwer. Musste das wirklich so schnell gehen? Kjell hatte scheinbar keine Geduld, dabei ging es doch um Arian und mich und nicht um dessen Vater und Kjell. Sie meinten es nur gut, das war mir bewusst, doch hatten sie uns jemals nach unserer Meinung gefragt? Nun, vielleicht hatte Arians Vater das getan, doch ich wurde nicht gefragt. Innerlich schüttelte ich den Kopf, ließ mir nach außen hin aber nichts anmerken. Ein Mitspracherecht stand mir nicht zu und das wusste ich, auch wenn ich mir oft wünschte, ich hätte es. Kjell ging einfach davon aus, dass Arian ein guter Mann für mich sein würde, da wir uns schon so lange kannten, doch machte es das nicht eigentlich schlimmer? Komplizierter?

Bisher hatte ich noch nicht den Mut gefunden, darüber zu reden. Mit Kjell oder irgendjemand sonst.

Heute Abend würde ich mich meiner Schwester anvertrauen. Mit ihr war ein solches Gespräch viel einfacher und ich hoffte sehr, dass sie mich verstand.

Kjell brach schließlich auf, und obwohl meine arme Schwester sichtlich bedrückt war, ihren Mann fortgehen zu sehen, machten wir uns an die Arbeit. Sibille setzte sich an den Webstuhl und fertigte einen groben Stoff, den wir später weiterverarbeiten würden. Die Wolle dafür hatten wir vor ein paar Tagen von einem der Hirten bekommen. Er wollte daraus einen neuen Mantel gefertigt haben. Die überschüssige Wolle durften wir für uns behalten. Sie würde ausreichen, um daraus noch andere Kleidungsstücke oder Decken herzustellen, für die wir dann Essen oder Werkzeuge erhielten. Hier wurden die meisten Dinge getauscht, man musste nur aufpasste, dass der Handel gerecht war. Sibille war wirklich geschickt darin. Sie ließ sich nicht so einfach übers Ohr hauen.

So plätscherte der Tag dahin, während Sibille webte und ich an einer Jacke aus Leder arbeitete. In Gedanken versunken haderte ich mit mir, wie ich Sibille meine Bedenken mitteilen sollte. Würde sie mich verstehen? Warum fiel es mir nur so schwer, mich mit Arian verheiraten zu lassen? Ich seufzte leise.

Meine Finger waren schon wund von der Anstrengung, die dünnen Nadeln durch das dicke Leder zu schieben. Immer wieder brachen sie ab oder verbogen sich. Ich hatte zwar Sibilles Fingerhut, doch selbst mit dem rutschte ich immer wieder ab. Es verging kein Tag, an dem ich mir nicht die Finger blutig stach. Ich fluchte dann laut über meine eigene Unfähigkeit machte mich danach aber gleich wieder an die Arbeit. Sibille ging es nicht anders, weshalb wir am Abend über unsere zerstochenen Finger lachten.

»Die hast du gut hinbekommen«, sagte Sibille, als sie mir über die Schulter sah. »Damit wird er sehr zufrieden sein.«

»Ich mache sie heute noch fertig«, sagte ich und stand auf, um mir neuen Faden und Bänder zu holen, die auf einem kleinen Tisch in verschiedenen Körben bereitlagen.

»Dann kannst du sie auch gleich morgen wegbringen.«

»Ich?«, fragte ich überrascht. Normalerweise übernahmen immer Sibille oder Kjell das Ausliefern, da sie sich besser mit den Preisen auskannten und mehr Erfahrung im Verhandeln hatten.

»Wieso nicht? Die vereinbarte Bezahlung haben wir bereits. Gunar wird sich freuen, dass es so schnell ging.«

Ich nickte und spürte, wie sich ein Lächeln auf meine Lippen schlich. Meine fertige Arbeit einem hoffentlich zufriedenen Kunden zu bringen, war ein ganz besonderes Gefühl. Es war aufregend, denn ich würde sein Lob, seine Gleichgültigkeit oder aber seinen Ärger direkt empfangen. Natürlich hoffte ich, dass er zufrieden war.

Ich arbeitete noch lange an der Jacke, denn gerade die Feinheiten waren es, die viel Zeit in Anspruch nahmen. Schließlich wollte ich, dass dieses Stück perfekt sein würde.

Stunden vergingen und irgendwann kam Sibille mit einer Kerze zu mir. Sie stellte sie auf dem Tisch ab, an dem ich arbeitete, und schenkte mir ein liebevolles Lächeln.

»Du siehst ja gar nichts mehr«, sagte sie und setzte sich neben mich.

»Danke.«

»Brauchst du noch lange?«

»Nein«, ich zog das Wort in die Länge, denn genau in diesem Moment setzte ich die letzten Stiche. Stolz auf meine Arbeit breitete ich mein Werk auf dem Tisch aus. Sibille warf noch einen letzten prüfenden Blick darauf und nickte dann sichtlich zufrieden.

»Dann hole ich jetzt etwas Fleisch und dann essen wir endlich zu Abend.«

»Das klingt gut«, erwiderte ich erschöpft und rieb mir den knurrenden Magen. Ich war so in Gedanken und meine Arbeit vertieft gewesen, dass ich nicht einmal ans Essen gedacht hatte. Bis jetzt.

Meine Schwester verschwand im hinteren Teil unserer Hütte, wo sich eine kleine Kammer befand, in der wir unsere Nahrungsmittel aufbewahrten.

Mein Magen gab weiter knurrende Geräusche von sich und ich freute mich auf unser gemeinsames Abendessen, das aus gegartem Fleisch vom Vortag und etwas Brot bestand. Ich legte die fertige Jacke zur Seite und räumte den Tisch ab, der uns sowohl als Arbeitsstätte als auch für die gemeinsamen Mahlzeiten diente. Ich sammelte die herumliegenden Utensilien ein und legte sie an ihren rechtmäßigen Platz zurück, als mich ein lautes Klopfen vor Schreck zusammenzucken ließ.

»Liv? Hat es geklopft?«, hörte ich Sibilles Stimme dumpf aus der Kammer klingen.

»Ja«, rief ich zurück und legte das Garn und die Nadeln aus der Hand.

Als ich die Tür öffnete, rang ich nach Luft.

Das einzige, was ich sehen und spüren konnte, war die kalte Klinge eines Dolches, die sich unheilvoll gegen die empfindliche Haut meines Halses drückte, und die unglaublichsten Augen, die ich jemals bei einem Menschen gesehen hatte. Graublau wie die des einsamen Wolfes, der mir im letzte Winter im Wald begegnet war.

Kapitel 2 – Des Dolches Schneide

Der kalte Stahl drückte sich unaufhaltsam gegen meine Kehle. Wimmernd wich ich zurück, doch der Unbekannte mit den graublauen Augen folgte meiner Bewegung und schob mich weiter in die Hütte hinein. Die Tür flog hinter ihm zu, er hatte sie mit einem kräftigen Tritt zugestoßen. Sein Blick lähmte mich, ich war nicht mehr Herr meiner Sinne und stand einfach nur stocksteif da. Ich wagte nicht einmal zu schlucken, da ich Angst hatte, die scharfe Klinge würde die Haut an meiner Kehle durchschneiden wie ein warmes Messer kühle Butter.

»Kein Wort«, flüsterte der Unbekannte. Ich spürte die Vibration seiner Stimme und seinen Blick, der immer noch auf meinen Augen haftete.

Ich wollte nicken und meine Zustimmung geben, schließlich war er derjenige mit dem Dolch in der Hand und ich nur die Person auf der anderen Seite der Klinge. Doch ich konnte mich nicht rühren.

Sein Atem streifte mein Gesicht. Er roch nach billigem Wein und altem Fleisch. Ein Geruch, bei dem mir übel wurde.

Doch ich hielt seinem Blick stand, während er mir seinen Dolch fester an die Kehle drückte und mir der anderen Hand in mein Haar griff.

Seine Augen … Ich konnte kaum woanders hinsehen, doch ich zwang mich, auch den Rest seines Gesichtes zu betrachten. Neben diesen faszinierenden graublauen Augen fiel mir eine lange Narbe an seiner linken Wange auf. Sie verlief von seiner Schläfe bis zu seinem Unter­kiefer. Dort war die Wulst der zusammengewachsenen Haut am dicksten. War an dieser Stelle die Klinge, oder was auch immer ihn verletzte hatte, eingedrungen? Die Wunde musste sehr schmerzhaft gewesen sein und sie war schlecht verheilt. Mein Blick wanderte hinauf zu seinem dunkelblonden Haar, das selbst im faden Licht der Kerze einen feinen rötlichen Schimmer hatte. Sein Gesicht war sehr kantig und wirkte hart. Seine Lippen waren zu einer schmalen Linie geworden, so als würde er die Zähne fest zusammenbeißen.

»Liv?«

Es war die Stimme meiner Schwester, die mich aus meiner Starre befreite. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich vergessen hatte zu atmen. Keuchend bewegte ich den Kopf, meine Augen wollten verzweifelt in die Richtung schauen, aus der Sibille kommen würde. Doch es gelang mir nicht, denn der Mann hielt mich unbeirrt fest, gewährte mir keinen einzigen Millimeter Freiraum.

»Liv, wer war …«, weiter kam Sibille nicht, denn sie hatte uns gesehen und ließ vor Schreck die Sachen fallen, die sie aus der Kammer geholt hatte. Mit einem dumpfen Knall schepperte der Teller auf Boden und verteilte das Fleisch in alle Richtungen und der kleine, runde Brotlaib rollte auf uns zu, dann herrschte Stille.

»Kein Wort, Weib!«, zischte der Fremde und zog mich näher an sich heran. Instinktiv drückte ich meine Hände gegen ihn. Ich spürte etwas Feuchtes an meiner Hand, die sich gegen seine Seite presste. Es hatte nicht geregnet, seine Jacke war auf den Schultern trocken und doch glitten meine Finger über nassen Stoff und krustige Stellen.

Als ich mich von ihm wegdrückte, japste er laut nach Luft und biss die Zähne zusammen. Seine Kiefermuskulatur spannte sich abrupt an und arbeitete rhythmisch. Was hatte das zu bedeuten? Hatte er Schmerzen? Mein Blick hing an ihm, als er den Atem ausstieß und ich seinen Atem erneut riechen konnte.

»Was wollt Ihr?«, fragte Sibille mit leiser Stimme.

»Wer ist noch hier?«

»Niemand«, antwortete sie ehrlich. »Hört, wenn es Geld ist, was Ihr wollt, dann …«

»Ich will dein Geld nicht«, knurrte er. Sein Blick huschte zu mir zurück, dann weiter zu dem Tisch hinter mir, auf dem unsere Arbeitsutensilien lagen. »Du bist Näherin, Frau?«, fragte er wieder an Sibille gerichtet.

Diese nickte unsicher und versuchte ein angsterfülltes Schluchzen zu unterdrücken.

Warum weinte ich nicht? Ich hatte Angst, ja, doch es war keine verzweifelte Angst, keine, die mir vor Panik Tränen in die Augen trieb. Was war los mit mir? Sollte ich nicht zitternd und wimmernd in diesem eisernen Griff des Fremden hängen und zu den Göttern beten, sie mögen mich retten? Oder mich selbst fragen, was ich verbrochen hatte, dass die Götter mich mit diesem Monster von Mann bestraften? Wieso war ich überhaupt noch bei Verstand, dass ich darüber nachdenken konnte?

»Dann hol Nadel und Faden«, befahl er meiner Schwester und zerrte mich aus meiner Gedankenwelt. Als sie nickte, lockerte er den Griff ein wenig, doch es war nicht genug für mich, um zu entkommen. Er zog mich mit sich, ging zu dem hölzernen Bett von Sibille und Kjell, welches in einer Ecke der Hütte gegenüber des Kamins stand.

Sein fester Griff drückte mich nieder, ich folgte ihm und ließ mich auf das Bett gleiten. Ich rechnete damit, dass er mich nun loslassen würde, doch das tat er nicht. Stattdessen setzte er sich ebenfalls auf das mit Fellen ausgelegte Lager meiner Schwester und ihres Mannes. Er war mir dabei so nah, dass ich seine Hitze spüren konnte. Ein Schauer lief mir eiskalt über den Rücken.

Was wird uns dieser Mann antun?, sprang es mir mit einem Mal durch den Kopf. Was konnten wir schon ausrichten?

»Rutsch hoch bis an die Wand«, befahl er mir und ließ endlich meinen Kopf los, auch wenn der Dolch an meinem Hals blieb. Ich bewegte mich ganz langsam, denn er sollte keinen Grund haben, mir die Kehle durchzuschneiden. Eine einfache Bewegung würde ausreichen. Während ich behutsam über das Bett kroch, hielt mich sein Blick gefangen. Diese faszinierend dunklen Augen ließen mich mein drohendes Schicksal fast vergessen. Der Dolch fühlte sich gar nicht mehr so kalt an, auch wenn mir die Schärfe der Klinge noch immer bewusst war. Mein Rücken berührte schließlich die hölzerne Wand und ich erlaubte mir einen tiefen Atemzug. Dabei drückte sich das Metall noch etwas

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Jana S. Morgan
Bildmaterialien: Chris Gilcher, http://buchcoverdesign.de
Lektorat: Marion Mergen, DIE TEXTWERKSTATT www.korrekt-getippt.de
Tag der Veröffentlichung: 19.11.2014
ISBN: 978-3-7438-1102-7

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