Kapitel 1 – Das Vermächtnis meines Bruders

In Gedanken verloren rührte ich in meinem Kaffee herum. Ich war nervös und aufgeregt, doch das war doch verständlich, oder?

Meine Familie und ich saßen beim Frühstück zusammen. Mein Vater das Gesicht hinter der Tageszeitung verborgen, meine Mutter sehr konzentriert dabei, sich ein Toast mit kühlschrankkalter Butter zu beschmieren. Es war ruhig, so wie immer. Nur das Klirren des Bestecks und des Löffeln in meiner Tasse waren die einzigen Geräusche.

„Und du bist dir sicher, dass du das tun willst?“

Ich rollte mit den Augen.

„Ja, Mom. Ich will, dass man sich weiterhin an ihn erinnert.“

„Aber das tun wir doch. Dazu musst du nicht nach Orchard Park gehen.“

„Doch. Ich will es und Leon hätte das auch gewollt.“ Den Namen meines verstorbenen Bruders in den Mund zu nehmen, tat immer noch weh. Meine Mutter seufzte beim Klang seines Namens.

Es war erst einen Monat her, dass Leon gestorben war. Er hatte schon die vergangenen sechs Jahre in Orchard Park gelebt, einem Vorort von Buffalo. Dort hatte er eine Bar eröffnet, die seitdem leer stand. In seinem Testament, es hatte mich gewundert, dass er überhaupt eines hatte, hatte er die Bar, das Lion, mir vererbt und nicht meinen Eltern. Es war sein Vermächtnis und das Einzige, was ich von ihm hatte. So hatte ich kurz nach seiner Beerdigung beschlossen ebenfalls nach Orchard Park zu ziehen um mich um die Bar zu kümmern. Zwar war ich noch nie dort gewesen, doch das machte nichts. Ich vertraute meinem Bruder, selbst nach seinem Tod noch so wie zuvor. Er hatte mir nie etwas Böses gewollt.

Als er damals fortgegangen war, hatte mich das sehr getroffen. Ich brauchte meinen Bruder wie die Luft zum Atmen, das hatte ich zumindest gedacht. Es stellte sich heraus, dass  dem gar nicht so war. Ich vermisste ihn nur einfach so sehr.

Auch die kleine Zwei-Zimmer-Wohnung hatte er mir vererbt, sodass ich einfach nur meine Tasche packen und mir ein Ticket kaufen müsste.

Und genau das hatte ich bereits getan, denn mein Flug nach Buffalo ging bereits in zwei Tagen – zum Leidwesen meiner Eltern.

„Du bist dir also ganz sicher?“, hakte nun auch noch mein Vater nach und legte die Zeitung beiseite.

„Ja, Dad. Zum hundertsten Mal, ja.“

Auch er seufzte schwer. Der Verlust seines einzigen Sohnes hatte selbst meinen immer so kühl wirkenden und im Leben standfesten Vater getroffen. Das war auch das einzige Mal gewesen, dass ich ihn hatte weinen sehen. Es hatte mir einen Stich ins Herz versetzt.

„Es gefällt mir zwar nicht, dass du in die Stadt gehen willst, in der dein Bruder gestorben ist, aber du bist auch alt genug, um das selbst zu entscheiden.“

Ich nickte, denn das stimmte. Ich war 25, lebte noch immer in meinem Jugendzimmer im Haus meiner Eltern und hatte einen Job als Kellnerin in einem Bistro in der Stadt. Es war kein Leben, auf das ich im Moment stolz war, doch zu ändern war es bisher einfach nicht gewesen. Bis auf jetzt.

„Danke Dad. Ich weiß, was ich tue.“

„Er wäre stolz auf dich, Jo, das weißt du, oder?“

„Ich hoffe es“, sagte ich leise und blinzelte die Tränen weg, die sich immer wieder in meine Augen schlichen, wenn wir über Leon sprachen. Ich konnte einfach kaum glauben, dass ich ihn nie wiedersehen würde. Ihn nie wieder in den Arm nehmen oder ihn scherzhaft in die Seite kneifen konnte, so wie ich es schon früher getan hatte, als wir noch Kinder gewesen waren. Er fehlte mir einfach so sehr.

„Wann geht dein Flug?“

„Übermorgen. Um halb elf.“

„Wir bringen dich dann zum Flughafen.“

„Danke, aber ich könnte auch ein Taxi nehmen.“

„Das ist doch Quatsch“, sagte mein Vater. „Wir bringen dich.“

„Okay“, sagte ich und grinste ihn an. Wenn er sah, dass ich glücklich war, nach Orchard Park zu gehen, dann wurde es dadurch vielleicht auch leichter für ihn, mich gehen zu lassen. Aber ich wusste einfach genau, dass es das Richtige war. Ich würde Leons Bar wieder öffnen und sie in seinem Andenken zu etwas Großem machen. Und wer weiß, vielleicht würde es mir dort besser gehen als hier...

 

 

Zwei Tage später hatte ich meine Sachen gepackt und wuchtete die Koffer die Treppe hinunter. Wahrscheinlich hatte ich viel zu viel eingepackt und würde für das ganze Gepäck einige Gebühren nachzahlen müssen, doch das war mir recht. Ich hatte schon so viel zurückgelassen, was mir meine Eltern bei Gelegenheit - und vor allem nachdem ich die Wohnung von Leon begutachtet hatte - nachschicken wollten. Ich war schon sehr gespannt, wie er in Orchard Park gelebt hatte. Im Idealfall hatte die Erziehung unserer Mutter, die sehr viel Wert auf Reinlichkeit und Ordnung legte, bei ihm gekeimt und er hätte eine voll ausgestattete Wohnung. Da ich meinen Bruder allerdings kannte - oder gekannte hatte, wie mir schmerzlich wieder klar wurde - wusste ich, dass ich wohl so viel Glück nicht haben würde. Doch auch das machte nichts, denn schließlich konnte man materielle Dinge ganz einfach neu kaufen.

Ich war mittlerweile beim dritten Koffer, als sich mein Vater erbarmte und mir bei diesem letzten half. Mitsamt den drei Koffern hatte ich noch meine viel zu große Handtasche als Handgepäck dabei. Es war wohl besser, wenn ich nicht erwähnte, dass ein Koffer nur mit Schuhen gefüllt war. Was Klischees anging, so stimmte das mit den Schuhen bei mir. Ich liebte sie einfach. Jedes einzelne Paar. Ich wusste von jedem wo ich sie her hatte und wann ich sie das erste Mal getragen hatte. Es war verrückt, doch ich vergötterte Schuhe. Nicht selten war mein komplettes Gehalt für ein neues Paar drauf gegangen.

Das musste sich jetzt definitiv ändern, denn ich wusste ja noch gar nicht, ob die Bar wieder laufen würde.

Sie musste in der Zeit vor Leons Tod wirklich angesagt gewesen sein und ich hasste mich dafür, dass ich es nie geschafft hatte, ihn mal zu besuchen. Wir hatten uns zu Thanksgiving und Weihnachten gesehen. Ansonsten hatten wir hin und wieder telefoniert oder mal gechattet. So hatten wir uns zumindest nicht ganz aus den Augen verloren.

Eines stand auf jeden Fall für mich fest. Ich würde alles daran setzen, dass diese Bar wieder in ihrem alten – hoffentlich starkem – Glanz erstrahlte.

„Wenn dir noch etwas fehlt, dann schicken wir es dir nach, okay?“, sagte meine Mutter, die ebenfalls abreisefertig in der Tür zur Küche stand.

„Ja. Aber ich denke, damit komme ich erst einmal über die Runden.“ Neben einem Koffer voller Schuhe, hatte ich einen anderen mit Klamotten gefüllt und in den letzten alles andere hineingepackt, wie alle Bade-Utensilien, die ich hatte, meinen Laptop, einiges an Musik-CD's und auch zwei Bücher, obwohl ich bezweifelte, dass ich in der nächsten Zeit viel Zeit zum Lesen haben würde.

„Und wenn du Geld brauchst...“

„Mom!“, unterbrach ich sie in einem gespielt, ernsten Tonfall. Meine Mutter benahm sich so, wie bei einer Klassenfahrt, wo einen die Eltern noch zum Bus gebracht hatten und dann mit einem Taschentuch in der Hand winkten, weil man doch so lange drei Tage weg war. Ich an ihrer Stelle hätte das wahrscheinlich einfach genossen. Endlich mal kein Kind, welches ständig um einen herum rannte. Ich hatte einmal auf die zwei Kinder unserer Nachbarn aufgepasst. Einmal und nie wieder. Wie konnten zwei Kinder nur so anstrengend sein? Die waren gar nicht kaputt zu kriegen und als ich schon total fertig in der Ecke lag, wollten diese beiden immer noch Fangen spielen. War ich auch so, als ich in ihrem Alter gewesen war? Bestimmt nicht! Ich weigerte mich, mich mir so vorzustellen!

„Dann lasst uns mal los, sonst verpasst du noch deinen Flug“, sagte mein Vater und klang dabei etwas grummeliger als gewöhnlich.

 

 

So fuhren wir zum Kansas City International Airport. Die Parkplatzsuche war wie immer das Schlimmste, doch als wir endlich einen gefunden hatten, wurde auch Dads Laune wieder besser. Mit meinen Koffern bepackt gingen wir zum Terminal, damit ich meine Koffer abgeben konnte und wie befürchtet musste ich noch ordentlich drauf zahlen, was gütiger weise mein Vater übernahm, da ich so viel Bargeld gar nicht dabei hatte.

Dann setzten wir uns in den Wartebereich, da ich noch keine Lust hatte, in den Bereich für die Reisenden zu gehen, da meine Eltern dort nicht mit rein kommen konnten.

„Wenn irgendetwas ist, dann rufst du uns aber an, ja?“

„Mom. Es wird schon alles in Ordnung sein“, sagte ich lächelnd und nahm ihre Hand in meine. Ich hatte das Gefühl, dass sie mich jetzt, nach Leons Tod, gar nicht mehr loslassen wollte. Aber das musste sie, so schwer es ihr auch fiel. „Ich werde in den ersten Tagen wahrscheinlich eh nur die Wohnung in Schuss bringen und mir dann bei Gelegenheit die Bar ansehen. Es wird alles ganz harmlos sein“, versicherte ich ihr und lächelte sie an.

„Ach mein Mädchen“, sagte sie und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

„Und wenn alles läuft, kommt ihr mich besuchen, ja?“

„Natürlich. Darauf freue ich mich jetzt schon“, sagte sie lächelnd und umarmte mich.

Dann wurde es allerdings auch schon Zeit für mich um mich in den anderen Wartebereich zu begeben, da mein Flug bald ausgerufen werden würde.

Der Abschied war herzlich, meine Mutter drückte mich so fest sie konnte an sich, so als würde sie mich dadurch hier behalten können und mein Vater tat es ihr gleich, nur war seine Umarmung nicht so erdrückend. Ich küsste sie beide jeweils auf die Wange und nahm dann meine Handtasche.

Ich winkte ihnen noch zu, kurz bevor ich durch den Metalldetektor ging. Er piepte Gott sei Dank nicht und so konnte ich meine Tasche einfach wieder an mich nehmen, nachdem auch sie durchleuchtet wurde. Alles lief einwandfrei.

Ich setzte mich noch für einige Minuten, doch dann wurde mein Flug auch schon ausgerufen. Ich stellte mich also in die Schlange und wartete darauf, dass ich endlich ins Flugzeug steigen konnte.

Mein Sitzplatz lag am Fenster, was mir sehr gefiel und neben mir nahm etwas später eine weitere Frau Platz. Also kein dicker Kerl, der mich in die Enge zwängen würde... Nicht dass ich etwas gegen solche Leute hatte, doch in einem ohnehin schon so engen Flugzeug war ich froh über jeden freien Zentimeter.

Dann rollte das Flugzeug auf die Startbahn und schon startete mein Flug in ein hoffentlich spannenderes Leben, als ich es bisher führte.

 

Ich hatte nur noch keine Ahnung, wie Recht ich damit haben würde...

Kapitel 2 – Orchard Park

„Bitte bringen Sie ihre Sitze in eine aufrechte Position und legen Sie die Sicherheitsgurte wieder an. Wir werden in wenigen Minuten mit dem Landeanflug auf den Buffalo Niagara International Airport beginnen“, kam es durch die Sprechanlage.

Das ging verdammt schnell. Ich hatte das Gefühl, dass wir gerade erst in die Luft gestiegen waren und nun waren wir schon da?

Ein Blick auf die Uhr verriet mir allerdings auch, dass es ungefähr eine Stunde her war, dass wir Kansas City verlassen hatten. Wie eine Stunde war es mir nun wirklich nicht vorgekommen.

Die Landung war etwas an einem Flug, was ich nicht mochte. Das war so ein Moment, in dem ich mich immer vollkommen hilflos fühlte. Zwar waren es nur Sekunden, doch das änderte herzlich wenig daran. Mit einem Ruck setzte das Flugzeug auf dem Boden auf und erst da beruhigte sich mein Herzschlag wieder.

„Herzlich Willkommen in Buffalo. Wir danken Ihnen, dass Sie sich für die American Airline entschieden haben und wünschen Ihnen einen schönen Aufenthalt. Bitte bleiben Sie noch sitzen, bis das Flugzeug vollständig steht.“

Es dauerte noch bestimmt zwanzig Minuten bis ich den Terminal verlassen und zur Gepäckausgabe gehen konnte. Ich hoffte sehr, dass alles im richtigen Flugzeug gelandet war und ich alles mit in mein neues Zuhause nehmen konnte.

Leons alte Wohnung. Wie die wohl war?

Nun, ich würde es wohl bald erfahren.

Nachdem ich alle drei Koffer beisammen hatte, welche dank einem netten älteren Herren gar nicht so schwer waren, lud ich sie auf einen Wagen und ging zu einem der Toilettenräume.

Den Blick in den Spiegel hätte ich mir lieber sparen sollen.

Wieso sah man eigentlich immer so fertig aus nach einem Flug? Oder anders, wieso sah ich immer so fertig aus? Es war nur eine Stunde gewesen und unter meinen Augen hingen violette Schatten. Meine Haut wirkte besonders blass und mein hellbraunes Haar hing mir schlaff und strähnig ins Gesicht.

Kurzerhand band ich es mir zu einem langen Zopf zusammen, wusch mir anschließend das Gesicht und versuchte durch ein kurzes Kneifen in meine Wangen diesen eine leicht rote Färbung zu verpassen.

So sah ich doch schon viel fitter aus. Zufrieden lächelte ich mein Spiegelbild an und verließ dann den Flughafen.

Draußen warteten in einer langen Reihe die Taxis der verschiedenen Taxi-Gesellschaften in Buffalo und wie es sich gehörte, stellte ich mich mit meinem bepackten Wagen in die Reihe. Vor mir standen noch gut fünf Leute, doch das machte nichts.

Es war schließlich noch früh am Nachmittag und die Sonne kämpfte sich gerade durch die dicke Wolkendecke.

Gerade als ich endlich an der Reihe war und der nette Taxifahrer mir beim Einladen meiner Koffer half, brach die Sonne durch und tauchte die Straße in ein warmes Licht.

Ich konnte einfach nur lächeln und diesen schönen Anblick genießen.

„Wo darf‘s denn hingehe, junge Dame?“, fragte der Taxifahrer, ein Mann im mittleren Alter mit schon leicht grauen Haaren.

„Orchard Park, bitte. Die Adresse ist…“ Ich begann in meiner Tasche herumzukramen und suchte nach dem Zettel, auf dem ich Leons Adresse notiert hatte. „Ähm, einen Moment noch.“

„Wenn es recht ist, fahre ich schon mal los“, sagte er grinsend und warf mir einen Blick über den Rückspiegel zu, während er sich in den fließenden Verkehr einfädelte.

„Okay“, antwortete ich und grinste ihn ebenfalls an.

„Sie sind zum ersten Mal in Buffalo, habe ich recht?“

„Ja. Deshalb weiß ich die Adresse auch noch nicht.“ Mit dem Arm bis zur Schulter in meiner Tasche kramte ich nach dem besagten Zettel und erst als ich das verräterische Rascheln von einem Papiersack hörte fand ich ihn endlich. „Na endlich“, seufzte ich und nannte dem Taxifahrer die Adresse.

„Was führt Sie in so eine verschlafenen Vorstadt wie Orchard Park?“

„Mein Bruder“, sagte ich ohne weiter nachzudenken. Es schockierte mich im ersten Moment, dass ich so locker von ihm gesprochen hatte, doch dann riss ich mich wieder zusammen. „Ich will ihm mit seiner Bar helfen“, sagte ich dann. Wirklich gelogen war das ja nicht, aber ich musste nicht gleich jedem X-Beliebigen sagen, dass mein Bruder tot war.

„Das klingt nach einer Menge Arbeit“, sagte er und sah wieder in den Rückspiegel.

Ich nickte lächelnd und wollte gerade etwas entgegnen, als mein Handy klingelte.

Als ich sah, von wem der Anruf kam, konnte ich nur mit den Augen rollen.

„Meine Mutter“, seufzte ich, woraufhin der Taxifahrer kurz lachte.

„Mütter machen sich immer Sorgen. Gehen Sie ruhig ran.“

Ich nahm das Telefonat entgegen und sofort hörte ich die aufgebrachte Stimme meiner Mutter, die ohne Punkt und Komma zu reden schien.

„Joanna? Bist du gut angekommen? Hast du dein Gepäck gefunden? Bist denn schon in der Wohnung? Ist sonst alles gut gelaufen? Wie war der Flug? Ich warte schon die ganze Zeit auf deinen Anruf…“

„Mom“, unterbrach ich sie mit einem Lachen. „Es ist alles

okay. Mach dir keine Sorgen. Ich sitze gerade im Taxi und selbst der Fahrer lacht schon.“ Nun konnte auch ich das Lachen nicht mehr zurückhalten. Es erfreute mich sogar noch mehr, als ich das verzerrte Lachen meiner Mutter durch das Handy hörte. Immerhin konnte sie auch über sich selbst lachen. „Es ist alles in Ordnung. Ich melde mich, wenn ich richtig angekommen bin, so wie ich es eigentlich vorhatte. Hab dich lieb.“

„Ich dich auch, mein Schätzchen. Sei vorsichtig.“

„Natürlich, Mom.“ Damit legte ich auf und ließ das Handy wieder in die Untiefen meiner Tasche fallen.

Die restliche Fahrt verlief ganz ruhig und je weiter wir uns von Buffalo entfernten, desto näher kamen wir Orchard Park und damit meinem neuen Zuhause.

 

 

Orchard Park war wirklich ein verschlafenes kleines Städtchen. Es war mir auf Anhieb sympathisch.

Es war wirklich idyllisch und irgendwie war es genauso wie man sich eine Kleinstadt vorstellte. Schmale Straßen, kleine perfekt angelegte Vorgärten und große Bäume an den Straßenrändern.

„Welche Hausnummer war es, Miss?“

„273“, sagte ich, sah dabei aber weiterhin aus dem Fenster. Wir fuhren die Buffalo Road entlang, die einmal durch den ganzen Ort führte. Leon hatte immer davon erzählt, dass sich seine Bar an einer großen Straße befand und damit eine echt gute Lage vorweisen konnte. Wenn ich mir diese Gegend hier jetzt so ansah, könnte ich schwören, dass diese Bar auf dieser Hauptstraße sein musste. Auch diese Adresse hatte ich in meiner Tasche, doch gerade wollte ich nicht danach suchen. Dafür hatte ich noch genug Zeit, wenn ich erst einmal richtig angekommen war.

„Wir sind da“, sagte der Taxifahrer schließlich und hielt vor einem Mehrfamilienhaus. Ich blickte aus dem Fenster und sah mir das Haus an.

Es war in einem rötlichen Ton gehalten, die Eingangstür war weiß sowie die Fensterrahmen. Etwa sechs Stufen führten zur Tür hinauf.

Ich stieg aus dem Taxi und bezahlte die zwanzigminütige Fahrt. Der Fahrer war auch wieder so freundlich und half mir beim Ausladen meiner Koffer.

„Dann viel Erfolg mit der Bar, Miss“, sagte er und stieg wieder in sein Taxi.

Ich drehte mich wieder dem Haus zu, stieg die Stufen zur Tür hinauf und warf einen Blick auf die Klingel, da ich nicht genau wusste in welcher Etage Leons – beziehungsweise meine – Wohnung lag.

Harvelle, las ich auf dem obersten Schild und seufzte schwer, als ich auf meine Koffer blickte. Die sollte ich also bis in den dritten Stock tragen…

Aber eine andere Möglichkeit hatte ich ja nicht, als schaffte ich die Koffer erst einmal zur Tür und kramte dann nach dem Schlüssel, der meinen Eltern vor einem Monat zugeschickt wurde. Auch andere persönliche Dinge von Leon waren dabei gewesen, Dinge, die er am Körper getragen hatte.

Bei diesen Gedanken hielt ich in der Bewegung inne und berührte die goldene Kette an meinem Hals. Sie hatte einen kleinen Anhänger, der eine Löwin zeigte. Lächelnd erinnerte ich mich daran, wie Leon sie mir geschenkt hatte.

Er hatte es immer gehasst, dass ich ihn Leo genannt hatte, da er meinte, das wäre so ein typischer Name für einen Löwen. So wie Schäferhunde gerne Rex und Vögel Hansi genannt wurden. Er hatte sich immer darüber aufgeregt und als kleine Rache hatte er mir diese Kette geschenkt. Anfangs hatte ich sie gar nicht getragen, doch irgendwie hatte sie seit seinem Tod an Bedeutung gewonnen und ich hatte angefangen diese Kette zu lieben. Sie erinnerte mich immer an ihn und das war mir wichtig.

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“

Ich zuckte zusammen und drehte mich um, drückte mir vor Schreck die Hand auf die Brust, direkt über meinem Herzen.

Am Fuß der Treppe stand ein Mann in einem schwarzen Anzug. Er sah zu mir und sofort fielen mir seine grünen Augen auf, die mich ansahen. Ein Lächeln umspielte seine geschwungenen Lippen.

„Oh, ja. Ich suche nur meinen Schlüssel“, sagte ich und kramte weiter in meiner Tasche. Ich sollte sie wirklich mal ausmisten.

„Komm schon…“, nuschelte ich und tastete nach dem Schlüssel. Nach einer gefühlten Minute hatte ich ihn endlich gefunden. Grinsend zog ich ihn hervor.

Mein Blick huschte noch einmal kurz die Treppe hinunter und da sah ich, dass der Mann noch immer da stand.

„Gefunden“, sagte ich lächelnd und hielt den Schlüssel hoch.

„Brauchen Sie vielleicht Hilfe dabei?“, fragte er dann und deutete auf meine Koffer. Auch ich sah zu den unhandlichen Teilen und dachte dann an die vielen Stufen, die mich erwarteten.

Dann wandte ich mich wieder an ihn. Die Sonnenstrahlen tauchten sein blondes mittellanges Haar in einen goldigen Farbton und es begann in den verschiedensten Nuancen zu schimmern, als er mit der Hand hindurchfuhr.

Ich zögerte noch kurz, denn schließlich kannte ich diesen Mann ja gar nicht. Ich wischte den Gedanken allerdings schnell beiseite, denn er sah ja nicht wie ein Einbrecher aus in seinem Anzug und dann noch am helllichten Tag.

„Um ehrlich zu sein, ja“, sagte ich lächelnd und öffnete die Tür.

Der Blonde kam die Stufen zu mir hinauf und griff sich sofort zwei meiner Koffer. Ich nahm den anderen und ging voraus. Seine Schritte folgten mir durch den langen Gang von dem rechts und links die einzelnen Wohnungen abgingen.

„Waren Sie verreist?“

„Nein. Ich bin hierhergekommen…“, ich zögerte kurz. Er ist immer noch ein Fremder, rief mir mein Verstand ins Gedächtnis. „Um mich um die Wohnung eines Freundes zu kümmern.“

„Da wird er aber eine gute Freundin in Ihnen gefunden haben.“

Ich warf einen Blick über meine Schulter und sah, dass er mich genau beobachtete. Mir wurde plötzlich ganz heiß bei seinem Anblick. Er sah wirklich gut aus – für einen älteren Mann. Also älter als ich es war. Ich schätzte ihn so ungefähr auf Anfang dreißig, doch wirklich gut war ich im Schätzen nicht.

Schließlich hatten wir die dritte Etage erreicht. Zum Glück gab es hier nur eine Tür, was mir die Wahl ob rechts oder links abnahm.

„Vielen Dank fürs Hochtragen“, sagte ich lächelnd und sperrte die Tür, die sogar zwei Mal abgeschlossen war, auf.

„Es hat mich gefreut“, sagte er und reichte mir meine Koffer an. Ich brachte sie in die Wohnung, stellte sie erst mal auf dem kleinen Flur ab. Dann drehte ich mich wieder der Tür zu.

„Vielen Dank nochmal. Ich bin Joanna Harv…“ Als ich ins Treppenhaus zurückkam, war er jedoch verschwunden. „velle“, beendete ich der Vollständigkeit halber meinen Nachnamen.

Dann hörte ich die Haustür von unten zuknallen.

Ein komischer Kerl, dachte ich mir und ging kopfschüttelnd in Leons Wohnung zurück.

Als ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, hatte ich diesen Typen schon wieder vergessen, denn es war das erste Mal, dass ich in dieser Wohnung war.

Und alles war noch so, wie Leon es gehabt hatte.

Kapitel 3 – Leons Reich

Mein Herz schlug schnell, als ich das Licht im Flur anschaltete und mich umsah. Es war nur ein kurzer Gang, doch mehr brauchte man als Flur ja auch nicht.

Was mir sofort auffiel waren die Dachschrägen, an die ich mich wohl erst noch gewöhnen musste.

Ich schob meine Koffer beiseite und betrat den Raum links von mir. Es war die Küche, ein ebenfalls kleiner Raum. Im ersten Moment packte mich der Horror, dass es wirklich alles noch so sein könnte, wie an dem Tag, als Leon gestorben war, was so viel zu bedeuten hatte, wie dass es in der Küche streng riechen und alles verdorben sein würde.

Doch dem war nicht so.

Es war vielleicht nicht ganz sauber, aber es war ordentlich. Keine Essensreste lagen vergammelt herum, was mich wirklich beruhigte.

Die Frage, die mir in den Kopf kam, war nur: Wer hatte das getan?

Hatte Leon vielleicht jemandem einen Zweitschlüssel gegeben?

Verwirrt schüttelte ich den Kopf und verließ die Küche wieder. Direkt daneben befand sich das Badezimmer. Es hatte sogar eine Badewanne, welche ich mit einem freudigen Lächeln ansah. Es gab doch nichts über ein heißes Bad am Abend…

Der wiederum daneben war das Wohnzimmer, der größte Raum der Wohnung. An der Seite ohne Dachschräge stand eine moderne Schrankwand in der auch der Fernseher Platz gefunden hatte. Das Sofa stand auf der gegenüberliegenden Seite unter der Schräge. Daran würde ich mich wohl noch gewöhnen müssen und ich befürchtete, dass ich mir anfänglich wohl nicht selten den Kopf stoßen würde.

Der letzte Raum war das Schlafzimmer. Mehr als ein Doppelbett und ein Schrank passten hier gar nicht hinein, doch mehr brauchte man ja auch eigentlich nicht, wenn man zusätzlich noch ein Wohnzimmer hatte.

Seufzend nahm ich auf dem Bett Platz.

Es war so unwirklich, dass ich tatsächlich hier war. In Leons Wohnung. Zum ersten Mal. Ganz ohne Leon.

Ich versuchte die Tränen wegzublinzeln, doch diesmal waren sie zu stark und rollten über meine Wangen. Ich wischte sie weg, doch die Trauer die ich in den letzten Wochen so bekämpft hatte, streckte nun wieder ihre Finger nach mir aus.

Ich verließ das Schlafzimmer und setzte mich stattdessen ins Wohnzimmer.

Leon hatte es sich wirklich schön hier gemacht. Es war gemütlich, nicht zu groß, aber perfekt für eine Person.

Da fiel mir etwas auf. Es war ein Bild, was in einem Fach in der Schrankwand stand. Ich stand auf und nahm es um es mir richtig ansehen zu können. Die Staubschicht wischte ich weg und sofort musste ich lächeln.

Es war ein Bild von Leon und mir. Es wurde vor einigen Jahren aufgenommen, ich glaubte an Thanksgiving, so schick wie wir angezogen waren.

Leon hatte auf dem Foto einen Arm um meine Schultern gelegt, wodurch ich irgendwie viel zierlicher wirkte, als ich eigentlich war, was aber mehr an Leons Erscheinung lag. Er hatte einen breiten, kräftigen Oberkörper. Er war einfach immer der Typ von großem Bruder gewesen, der dir in jeder Lage helfen konnte und vor dem andere schon so etwas wie Angst hatten.

Unser Haar glich sich komplett und auch unsere Augen waren genauso braun wie die des anderen. Früher hatte es uns gar nicht interessiert, ob wir wirklich wie Geschwister aussahen, doch heute … jetzt … da empfand ich es als unglaublich schön. Ich hatte das Gefühl, dass so noch ein Teil von ihm irgendwie in mir weiterlebte.

„Ich weiß, dass dir diese Bar viel bedeutet hat“, sagte ich leise an Leons Abbildung auf dem Foto gerichtet. „Ich werde versuchen, sie wieder zu dem zu machen, wie du es geschafft hattest.“ Dann küsste ich das Bild und stellte es zurück an seinen Platz.

Ich hatte eine Menge zu tun.

Nachdem ich meine Koffer in das Schlafzimmer geschoben hatte, wodurch es jetzt nur noch einen schmalen Gang von der Tür bis zum Bett gab, durchforstete ich die Schränke um zu sehen, wie gut diese Wohnung ausgestattet war. Und was sollte ich sagen? Die Erziehung unserer Mutter hatte bei ihm wohl tatsächlich Wurzeln geschlagen.

Ich kannte Singlewohnungen von Bekannten und alles was sie besaßen waren ein Toaster, ein Topf und manchmal auch eine Pfanne. Dazu eine Tasse, einen Teller und einmal Besteck. Mehr bräuchten sie angeblich nicht.

Gut, dass Leon da anders gewesen war.

In der Küche fand ich dann auch noch an der Wand hängend einen großen Plan. Er war aus Folie, sodass man mit den richtigen Stiften mehrmals darauf herumschreiben konnte.

Ich las die Namen Leon, Rick, Holly und Kevin.

Wenn ich mich richtig erinnerte, hatte er Rick einmal in einem Telefonat erwähnt. Waren das seine Angestellten? Oder Freunde? Vielleicht ja auch beides.

Dieser Plan musste so etwas wie ein Schichtplan sein, denn die Namen waren immer wieder gleichmäßig verteilt aufgeschrieben worden.

Jetzt hatte ich zumindest schon mal einige Namen, das würde mir sicherlich helfen, diese Personen zu finden.

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war bereits halb vier am Nachmittag. Und wie ich wusste, musste ich, bevor ich mich wirklich um die Bar kümmern konnte, die Eigentumsdokumente hier vor Ort auch noch unterschreiben.

Ich hatte am nächsten Tag einen Termin bei der entsprechenden Behörde. Ich hoffte, dass das nicht allzu lange dauern würde.

Den restlichen Nachmittag verbrachte ich damit, die Küche und das Bad zu putzen, etwas Platz für meine Sachen zu schaffen und dann, als es mir wieder einfiel, meine Eltern anzurufen.

Meine Mutter war natürlich sehr aufgebracht darüber gewesen, dass ich mich erst so spät gemeldet hatte, doch dann konnte ich sie sehr schnell wieder beruhigen, als ich ihr erzählte, wie schön doch Leons Wohnung war.

 

 

Ich musste wirklich zugeben, dass diese Hausarbeit sehr anstrengend war. Mein Rücken war steif und meine Füße waren erschöpft, trotzdem musste ich noch einmal raus, da ich noch nichts zu essen oder zu trinken da hatte.

Bei der Fahrt im Taxi hatte ich etwas die Straße runter einen Imbiss gesehen zu dem ich gehen würde um zumindest für den heutigen Abend etwas zu essen zu haben.

Ich nahm mir fest vor, dass ich morgen, wenn ich die Dokumente und den Papierkram erledigt hatte, einkaufen gehen würde.

So schlüpfte ich in meine Schuhe, zog mir meine Jacke über und schnappte mir meine Tasche. Ich ging die Treppe hinunter und verließ das Haus. Nachbarn sah ich keine, doch das würde mit der Zeit sicherlich noch kommen.

Es war mittlerweile schon dunkel und kühl geworden, sodass ich die Jacke enger um mich zog und etwas schneller ging. Die Straßen waren durch die Laternen hell beleuchtet. Vielen Menschen waren nicht unterwegs, nur hin und wieder sah ich kleine Grüppchen oder einzelne Personen. Verständlich, denn hätte ich alles nötige daheim gehabt, wäre ich auch nicht mehr raus gegangen.

Es war ein Fußweg von ungefähr fünfzehn Minuten. Zwar hatte ich zwischenzeitlich geglaubt, ich wäre in die falsche Richtung gegangen, da ich gedacht hatte, der Imbiss wäre näher, doch dann fand ich das Gebäude endlich.

Ich holte mir ein Sandwich, einen dieser fertigen Fruchtsalate für den nächsten Morgen und zwei Flaschen Wasser. Mit meinem kleinen Einkauf machte ich mich dann wieder auf den Heimweg.

Ich war schon völlig durchgefroren als ich an der Wohnung ankam. Zwar war es noch gar nicht so kalt, aber trotzdem fuhr mir diese Kälte bis in die Knochen. Ich bevorzugte warmes Wetter und ich hasste den Winter. Die Kälte und die Nässe, das war einfach nicht meins.

Umso schöner war es, als ich endlich die unzähligen Stufen erklommen hatte und wieder in meiner Wohnung war.

Das klang immer noch komisch in meinen Ohren, wenn ich diese Wohnung als mein bezeichnete. Und doch war sie genau das.

Das Erbe meines Bruders.

Ich hatte während meiner kleinen Aufräumaktion am Nachmittag ein Adressbuch gefunden, welches ich mir nun nahm und es, während ich aß, durchsah.

Ich blätterte durch die Seiten als mir ein Name auffiel, den ich schon einmal gelesen hatte.

Rick Collister.

Mein Blick wanderte zu dem großen Plan an der Wand, wo ich den Namen schon gelesen hatte.

Ich suchte in dem Adressbuch, wo praktischerweise auch die Telefonnummern mit drin standen, nach den anderen beiden Namen. Holly und Kevin.

Kevin Johnson war sein voller Name, und Holly Wilson.

Alle drei standen also in dem Adressbuch und ich hatte die Nummern von ihnen.

Ich zog kurzerhand mein Handy aus der Tasche und wählte die erste Nummer. Ich entschied mich bewusst für die einzige Frau auf dem Plan von Leon.

Nach dem dritten Freizeichen wurde abgenommen.

„Hallo?“

„Hi, hier ist Joanna Harvelle. Ich bin Leons Schwester und ich…“

„Leons Schwester?“, fragte sie noch und unterbrach mich mitten im Satz.

„Ja. Ich bin in Orchard Park.“

„Es tut mir wirklich leid, was mit Leon passiert ist“, hörte ich sie sagen.

„Ja mir auch.“

Wir schwiegen für einen Moment.

„Was kann ich für dich tun, Joanna? Leon hat immer gerne von dir gesprochen.“

Ich hatte das Gefühl, als könnte ich ihr Lächeln vor meinem inneren Aug sehen.

„Ich habe vor, Leons Bar wieder auf zu machen.“

„Wirklich?“

„Du hast doch in der Bar gearbeitet, oder?“, fragte ich biss mir auf die Zunge, da das ja nur meine Vermutung war.

„Allerdings.“

„Nun, hättest du Lust mir bei der Bar…“

„Ist das ein Jobangebot?“, unterbrach sie mich schon wieder, nahm mir aber damit meine Frage ab.

„Wenn du Interesse hast, natürlich nur.“

„Auf jeden Fall. Mein jetziger Job ist zum Kotzen, um ehrlich zu sein.“

„Das ist klasse, Holly. Vielen Dank.“

„Die Bar liegt mir genauso am Herzen, wie dir. Leon war ein guter Freund.“

„Das bedeutet mir viel. Danke.“

„Wenn du willst, kann ich dir morgen die Bar und alles Weitere zeigen“, bot sie an.

„Klar, gerne. Ich melde mich bei dir, wenn das okay ist.“

„Ja, ist gut. Dann bis morgen.“

„Bis morgen. Und danke nochmal.“

Das lief ja schon mal ganz gut. Erleichtert legte ich das Handy weg und nahm einen weiteren Bissen meines Sandwiches. Während ich kaute, wählte ich die nächste Nummer.

„Johnson“, meldete sich Kevin an der anderen Leitung.

Wieder stellte ich mich vor und erklärte ihm die Sachlage mit der Bar. Leider kam von ihm nicht meine gewünschte Antwort.

„Es freut mich echt zu hören, dass du dich um Leons Bar kümmern willst. Aber ich habe bereits wieder einen neuen Job, Sorry“, erklärte er.

„Oh, das ist schade“, sagte ich und hoffte, dass ich die leichte Enttäuschung in meiner Stimme verbergen konnte. Es war doch eigentlich ganz natürlich, dass sich Leons Angestellte nach neuen Jobs umsahen? Sie konnten ja nicht wissen, dass ich hier einen Monat später auftauchen und die Bar wieder aufmachen würde. Ich hoffte mal, dass das alles glatt ging.

„Ja, tut mir leid.“

„Ist schon okay.“

„Gut, dann viel Erfolg mit dem Lion. Vielleicht sieht man sich da ja mal.“

Kevin klang auf jeden Fall nach einem netten Kerl. Zumindest hatte ich Holly wohl schon wieder im Boot, was ein erleichtertes Gefühl in mir hervorrief.

Nun fehlte nur noch Rick.

Auch von ihm wählte ich die Nummer, zuckte aber sofort zusammen, als eine wirklich grimmige Stimme abnahm.

„Ja?“, kam es von ihm und ich war wirklich versucht, einfach wieder aufzulegen.

„Hi, spreche ich mit Rick Collister?“, fragte ich vorsichtig nochmal nach.

„Ja. Wer ist da?“

„Joanna Harvelle. Ich bin Leons Schwester.“

Mit einem Mal lachte er laut ins Telefon, sodass ich mein Handy etwas von meinem Ohr weghalten musste.

„Was kann ich für dich tun?“, fragte er und klang mit einem Mal viel freundlicher. Was war das nur für ein Typ?

„Ich habe gerade schon mit Holly telefoniert und wollte nun auch dich fragen ob du Interesse daran hättest, wieder in Leons Bar zu arbeiten? Er hat sie mir vererbt und ich bin jetzt hier und möchte sie bald wieder auf machen. Vielleicht auch nur vorübergehend, bis der Laden wieder läuft.“

Wieder lachte er laut, trotzdem brachte mich das irgendwie zum Lächeln.

„Leon hat viel für mich getan. Es würde mich freuen, wenn ich meinen alten Job zurückhaben kann.“

„Und mich erst.“

„Die kleine Schwester Jo will also die Bar wieder aufmachen“, sagte er lachend. „Leon hat immer viel von dir erzählt.“

„Das höre ich nicht zum ersten Mal“, sagte ich grinsend.

„Also ich bin dabei den Schuppen wieder aufzumachen.“

„Das ist toll, danke. Ähm... ich wollte mich dort morgen mit Holly treffen, sie hat angeboten, mir alles zu zeigen. Wenn du auch dazu stoßen möchtest...“

„Klar. Meld‘ dich einfach, dann bin ich da.“

„Das mache ich. Dann bis morgen, Rick.

Ich legte auf und lehnte mich etwas zurück. Das war ja gar nicht mal so schwer. Zwei von drei, das ist doch eine gute Quote, oder? Mit den beiden, die den Laden und die Abläufe schon kannten, würde es bestimmt viel einfacher sein, das Lion wieder zu öffnen. Ich war so sehr gespannt auf den nächsten Tag, wenn ich die beiden kennenlernen würde. Ich freute mich schon.

Kapitel 4 – Das Lion

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war ich echt nervös. Ich hatte erstaunlich gut in Leons Bett geschlafen und fühlte mich trotz der ganzen Arbeit am Vortag frisch und ausgeruht. Nur diese Nervosität war noch da, denn ich war gespannt, wie das Lion aussah, ob mit den Unterschriften alles glatt ging und wie Holly und Rick wohl so waren.

Ich zog mich an, entschied mich bewusst für eine schlichte schwarze Jeans und ein dunkelblaues Shirt. Darüber zog ich eine weiße Strickjacke und schlüpfte in meine schwarzen Stiefel, die ich, im Gegensatz zu so vielen anderen, meist unter meiner Hose trug. Ich mochte diese Stiefel mit dem kleinen Absatz. Sie waren bequem und schick, was wollte Frau mehr?

Im Kühlschrank wartete der Fruchtsalat auf mich, den ich in aller Ruhe aß. Unterwegs würde ich mir noch einen Kaffee holen. Ich recherchierte noch kurz über mein Handy, wo ich genau hin musste, um die Dokumente zu unterschreiben und stiefelte dann auch schon los. Ein kleiner Coffee-Shop war gleich um die Ecke, wie ich erleichtert feststellte, wo ich mir einen schwarzen Kaffee-2-go mit Zucker gönnte.

Da ich noch genug Zeit hatte, ging ich langsam und sah mich um. Die Straßen hier waren wirklich schmaler als in Buffalo oder Kansas City, doch waren sie weitaus hübscher mit den Bäumen, Büschen und angelegten Blumenbeeten an den Straßenrändern. Ganz idyllisch. Ich ging Richtung Stadtzentrum und je näher ich ihm kam, desto mehr Menschen sah ich. Laut dem Internet war das Gebäude, welches ich aufsuchen musste, in der Innenstadt. Es war ein großes, aus roten Backsteinen gebautes Haus, doch leider gab es sehr viele davon hier im Zentrum. Also suchte ich die Straße und dann die Hausnummer und schließlich fand ich das richtige Haus.

An der Information fragte ich nach, wo genau und in welches Büro ich gehen musste. Dort angekommen klopfte ich vorsichtig an die Tür, da mir die Sekretärin versichert hatte, dass zurzeit niemand dort war.

„Herein“, kam es von der anderen Seite der Tür.

Ich öffnete sie und trat in das kleine Büro ein. Hinter dem Schreibtisch saß eine ältere Frau mit schon leicht grauen Haaren. Ihr Erscheinungsbild wirkte grantig und verbittert, doch als sie mich anlächelte lag nur Freundlichkeit in ihren Gesichtszügen.

„Guten Tag, Sie müssen Ms. Harvelle sein.“

„Die bin ich“, sagte ich und schüttelte ihre Hand.

„Ich bin Maria Jacobs. Mein herzliches Beileid zu ihrem Verlust.“

„Danke.“

„Nun, Sie möchten heute die Eigentumsurkunde der Bar ihres Bruders unterschreiben, nicht wahr?“

„Das hatte ich vor.“

„Sind Sie sich im Klaren darüber, dass jegliche Mieten, Kredite und andere potentielle Schulden damit auf Sie übertragen werden?“

„Ja. Ich habe gut darüber nachgedacht“, versicherte ich ihr. Für Leons Wohnung hatte ich bereits von Kansas City aus unterschrieben, denn diese Wohnung gehörte ihm schon seit Jahren. Sie war nun mein Eigentum, für das ich nur noch die laufenden Kosten bezahlen musste. Was die Bar anging, so wusste ich von einem Kredit bei der Bank, die monatlich zu zahlen war. Dazu kamen ebenfalls die laufenden Kosten sowie die Bezahlungen für Holly und Rick. Andere Schulden hatte Leon nicht, denn, obwohl der Notar, der uns das Erbe erläutert hatte, dies nicht tun durfte, hatte er durchblicken lassen, dass es keine weiteren Schulden gab.

„In Ordnung“, sagte Mrs. Jacobs und zog einen Zettel aus einem großen Stapel hervor, den sie mir reichte. „Sie müssten hier“, sie deutete auf eine freie Zeile, „hier, hier und hier unterschreiben.“

Irgendwie war das so was von aufregend. Meine Hände fühlten sich schwitzig an, als ich einen Stift von ihr entgegennahm und meine Unterschriften auf das Papier setzte.

„Das war‘s schon“, sagte sie und lächelte mich an. „Herzlichen Glückwunsch. Sie sind nun die rechtmäßige Inhaberin des Lion.“ Damit gab sie mir eine Durchschrift der Unterlagen und meinte noch, ich sollte sie gut verwahren.

Ich erhob mich und reichte ihr zum Abschied noch einmal die Hand.

„Vielen Dank, dass das noch so kurzfristig geklappt hat.“

Ich hatte erst vor eineinhalb Wochen nach diesem Termin gefragt und normalerweise wartete man bei so etwas noch viel länger. Das Schicksal schien mir wohlgesonnen.

„Gerne doch. Viel Erfolg, Ms. Harvelle.“

„Danke.“

Mit den Unterlagen in meiner Tasche ging ich wieder nach draußen. Das ging erstaunlich schnell und einfach, dachte ich mir und überlegte kurz, was ich den ganzen Tag machen könnte, bis ich mich am Nachmittag mit Holly und vielleicht auch Rick treffen würde.

Ich entschloss mich, noch ein bisschen durch die Stadt zu laufen, mir alles anzusehen und hier und da mal in eines der Geschäfte hineinzugehen. Ich fand sogar ein sehr schick aussehendes Schuhgeschäft, welches ich aber an diesem Tag nicht betrat. Das würde sicherlich noch früher oder später kommen. Wahrscheinlich eher früher, so wie ich mich kannte.

Ich befand mich schon auf dem Weg nach Hause, als ich an einem kleinen Lebensmittelladen vorbeikam. Diesen nutzte ich gleich aus um mir das Nötigste an Essen zu kaufen. Etwa eine halbe Stunde später, ich hatte mir wirklich Zeit gelassen, war ich fertig mit dem Einkauf und schleppte mich und die Tüten nach Hause.

Die Stufen waren ein echtes Fitnesstraining, wenn man sie mehrmals am Tag und dann auch noch mit der Last eines Einkaufs, hinaufsteigen musste. Oben angekommen prustete ich und schnappte nach Luft. Nachdem ich den Einkauf ausgeräumt und für alles einen Platz gefunden hatte, setzte ich mich ein bisschen ins Wohnzimmer, klappte meinen Laptop auf und checkte meine Mails. Eine davon war von einer guten Freundin aus Kansas City.

 

Hey Jo,

Ich habe von deinen Eltern bereits erfahren, dass du gut angekommen bist.

Wie ist es in Orchard Park? Ist es genauso ländlich, wie es klingt?

Wie ist die Bar? Und die Wohnung?

Du musst mich unbedingt mal einladen dich zu besuchen ;)  

Hier hat mich der alte Trott fest im Griff. Aber irgendwie fehlst du hier. Die Stimmung ist nicht mehr dieselbe seit du weg bist :(

Hab dich lieb, C

 

Ich musste bei den geschriebenen Zeilen wirklich lächeln. Claire war eine Freundin aus Kindertagen. In den ersten paar Tagen nach Leons Tod, war sie die ganze Zeit nicht von meiner Seite gewichen. Sie hatte bei uns übernachtet und mich immer wieder in ihre Arme geschlossen, wenn ich von der Trauer heimgesucht wurde. Ich wollte gar nicht mehr daran denken, wie viele meiner Tränen von ihren Shirts aufgesaugt wurden. Auch sie hatte Leon gekannt und sein Tod war für sie ebenfalls schmerzlich. Wenn wir mal unterwegs waren, dann hatte er auf sie genauso viel Acht gegeben, wie auf mich.

Noch immer grinsend klickte ich auf 'Antworten'.

 

Wie schön, dass du mir schreibst.

Gestern war es so anstrengend, der Flug, die Fahrt hierher...

Aber ich kann dich beruhigen, hier ist es wirklich schön.

Vielleicht etwas zu verschlafen, doch das werde ich noch ändern ;-P

Leons Wohnung ist wirklich schön. Ideal für eine Person und ich fühle mich hier schon sehr heimisch.

Die Bar werde ich mir heute Nachmittag ansehen, ich bin schon total gespannt. Ich konnte sogar schon zwei der drei Angestellten wieder ins Boot holen, ist das nicht toll?

Ich vermisse dich auch schon :( Du musst mich wirklich unbedingt besuchen, aber erst, wenn die Bar läuft und ich mich dabei nicht blamiere *g*

xoxo

 

Ich schickte die Mail ab und arbeitete mich dann weiter durch den Rest meiner Mails. Es war auch noch eine von meinen Eltern dabei, der Rest wanderte gleich in den Cyber-Müll.

Anschließend machte ich mir noch eine Kleinigkeit zu essen. Wie ich die restlichen Stunden rum brachte, wusste ich gar nicht so genau, doch an jeder kleinen Ecke in der Wohnung, konnte ich noch etwas machen. So verging die Zeit echt schnell.

Gegen drei Uhr rief ich dann Holly und Rick an und verabredete mich mit ihnen in einer Stunde vor dem Lion.

 

 

Gefühlt wurde es von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde immer kälter. Zwar war es noch hell, doch die Sonne hatte sich schon fast vollständig verabschiedet. Meine etwas zu dünne Jacke konnte mich nicht wirklich vor der Kälte bewahren, die sich von unten meine Beine hinauf schlängelte.

Ich war erleichtert, als ich endlich am Lion ankam. Vor der Tür stand schon eine Person. Von der Größe her musste es wohl Holly sein. Als ich auf sie zukam, lächelte sie fröhlich.

„Joanna?“, fragte sie mich.

„Ja. Freut mich dich kennenzulernen, also richtig“, sagte ich und hielt ihr meine Hand entgegen.

„Gott, du siehst ihm ja voll ähnlich“, sagte sie und sah an mir hinunter.

„Ach ja?“

„Total. Als ich dich gesehen habe, war mir gleich klar, dass das nur Leons Schwester sein konnte.“ Sie zwinkerte mir zu und fuhr sich dann mit der Hand durch das kurze blonde Haar. Sie hatte graue Augen und was einem sofort auffiel waren die Piercings in ihrem Gesicht. Sie hatte einen Ring an der Nase und an der Augenbraue. Ein weiteres seitlich an der Unterlippe und auch ihr Ohren waren nicht verschont geblieben. Ich hatte mich nie für Metall im Gesicht oder am Körper interessiert, doch ich musste zugeben, dass es ihr stand.

„Wollen wir schon mal reingehen?“, schlug sie vor und rieb sich die Hände. „Rick ist bestimmt auch gleich da.“

„Klar“, sagte ich und öffnete mit meinem Schlüssel die Tür. Der Schlüssel war einer der Gegenstände gewesen, der meinen Eltern zugeschickt worden war.

Als wir drinnen waren und die Tür hinter uns geschlossen hatten, schaltete Holly das Licht an.

Es war das erste Mal, dass ich in dieser Bar war und nun gehörte sie mir auch noch.

„Wow“, kam es über meine Lippen. Diese Bar sah toll aus. Wirklich.

Rechts neben der Tür standen Kleiderständer für die Jacken. Ein Stück dahinter zog sich dann der Bartresen über bestimmt sieben Meter entlang, machte dann einen geschwungenen Knick und ging bis zur Wand weiter. Hinter dem Tresen standen, bzw. lagen die Spirituosen, teils sofort griffbereit, teils dekorativ. Die Wand dahinter war verspiegelt. Der Tresen selbst war aus dunklem Holz, dem man schon ansah, dass er einige Jahre seinen Job als Tresen hatte. Kerben, Brandlöcher, alles war dabei. Doch genau das machte es irgendwie sympathisch. Diese neuen modernen und steril wirkenden Bars konnte ich nicht ausstehen. Da gefiel mir dieses alte und vielleicht auch etwas düstere Ambiente besser.

Links von der Tür gab es einige Tische mit Sitzbänken, die meist Rücken an Rücken standen. Es war so typisch, denn genau so stellte ich mir eine Bar vor. Die Mitte des Raumes war etwas freier, man hatte mehr Platz und ich war mir sicher, dass man, wenn der Laden voll war, auch dort kaum mehr durch kam.

Gerade war ich einfach nur stolz auf meinen Bruder, dass er etwas so tolles geschaffen hatte.

Als ich geradeaus blickte, sah ich das große Bild, welches an der Wand hing. Passend zum Namen der Bar zeigte es einen großen majestätischen Löwen in der Savanne. Er stand dort anmutig auf einem Felsen und sah einfach nur schön aus.

Unweigerlich berührte ich den Anhänger meiner Kette, konnte den Blick von diesem Bild aber nicht losreißen.

„Schön, oder?“

„Ja“, sagte ich, ohne Holly dabei anzusehen.

„Leon hat Berge in Bewegung gesetzt um an dieses Bild zu kommen“, sagte sie und sah ebenfalls zu dem Löwen.

„Es passt perfekt.“

„Oh, da fällt mir etwas ein“, sagte Holly plötzlich und diesmal sah ich sie an. Sie kramte in ihrer Tasche – was mir so bekannt vorkam – und holte einen Schlüssel hervor. „Nicht dass du dich wunderst, aber Leon hatte mir mal einen Zweitschlüssel zu seiner Wohnung gegeben. Nur für den Fall der Fälle.“

Als uns beiden klar wurde, wie Recht sie damit hatte, wurden wir still. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und versuchte zu lächeln.

„Ihr wart wirklich gute Freunde, oder?“, fragte ich sie leise.

Dann nickte sie und zwinkerte die Tränen weg. „Manchmal auch mehr als das“, sagte sie im Flüsterton und wurde sofort knallrot im Gesicht. „So meinte ich das nicht, Joanna.“

„Jo reicht völlig“, warf ich ein, doch sie redete einfach weiter.

„Ich meine nur… Leon war mir auch wichtig.“

Ich war zwar etwas überrascht, dass Leon wohl was mit Holly hatte, da sie eigentlich gar nicht in sein Beuteschema passte und zudem auch viel zu jung für ihn war, doch da ich sie schon jetzt wirklich nett fand, störte es mich kein bisschen, dass er mir nie von ihr erzählt hatte.

Ich nahm ihre Hand in meine und drückte sie leicht.

Da ging die Tür auf und ein wirklich großer Kerl mit rabenschwarzen Haaren kam herein.

„Da seid ihr ja“, sagte er und fuhr sich mit beiden Händen über den Kopf um das Wasser des Regens von sich zu wischen. Dabei zog er einen langen Zopf hervor, den er unter seiner Jacke geschützt hatte.

Wow. Rick hatte längere Haare als ich und meine gingen mir schon bis etwas unterhalb der Schulterblätter.

„Grüß dich“, sagte Holly, als sie Rick freundschaftlich umarmte.

„Na dann bis du wohl Joanna.“

„Jo. Aber ja, die bin ich“, sagte ich grinsend, konnte aber irgendwie nur auf diese langen Haare gucken.

„An die Matte gewöhnst du dich noch“, sagte Holly leise zu mir.

„Das hab ich gehört, Kleine“, sagte Rick grinsend und stieß Holly einen Arm in die Seite.

Rick war wirklich groß und breit noch dazu. Er hatte blaue Augen, die mich fast anleuchteten, so hell waren sie. Einen solchen Mann würde man wohl nie wirklich vergessen können, oder?

„Wollt ihr was trinken?“, fragte er und ging hinter den Tresen. Ich sah sofort, dass das sein Reich war und er sich dort genau auskannte.

Holly und ich sahen uns kurz an, bevor wir beide einig nickten.

„Mach uns was leckeres“, sagte Holly und setzte sich auf einen der Barhocker.

Ich setzte mich zu ihr und beobachtete fasziniert, wie Rick uns beiden was zusammenmixte. 

Kapitel 5 – Löwenkinder

Rick war beim Mixen unserer Drinks voll in seinem Element. Gekonnt gab er per Augenmaß, wie mir schien, immer die richtige Menge in den Shaker und schüttelte diesen dann lässig.

„Bitte sehr, die Damen“, sagte er und füllte die Gläser. „Leider haben wir gerade kein Eis, aber stellt es euch eisgekühlt vor.“ Er zwinkerte und öffnete sich selbst eine Flasche Bier.

Der Drink war wirklich herrlich fruchtig. Ich hatte kein Problem damit, dass Rick sich hier schon wie zuhause fühlte und einfach etwas aus den Regalen genommen hatte. Vielmehr fand ich, dass das ein guter Start war und ich die beiden so besser kennenlernen konnte.

„Du hast mich mit dem Anruf gestern total überrascht“, sagte Rick und nahm einen Schluck von seinem Bier. „Ich hatte echt nicht damit gerechnet, dass Leons kleine Schwester hier mit einem Mal auf der Matte steht.“ Er lächelte.

Ich nahm mir fest vor, etwas dagegen zu tun, dass mich hier alle nur als Leons kleine Schwester sahen...

„Er hat mir die Bar vererbt“, sagte ich und rührte in dem Cocktailglas herum. „Es ist sein Vermächtnis und irgendwie das einzig Sinnvolle, was mir von ihm geblieben ist. Ich habe das Gefühl, dass ich ihm das schuldig bin.“

„Schuldig würde ich es nicht nennen, Jo“, warf Holly ein, „aber ich finde es wirklich schön, dass du dich um die Bar kümmern willst. Das würde ihm gefallen.“

„Mit Sicherheit würde es das“, lachte Rick. „Er war ein echt guter Freund, musst du wissen. Sagen wir mal, er hat mir geholfen, mir eine Chance gegeben, als niemand mir einen Job geben wollte. Anfangs war es ein Risiko für ihn gewesen, doch ich hatte nicht vor gehabt, sein Vertrauen zu missbrauchen.“

Neugierig sah ich ihn an, wartete darauf, dass er weiter erzählte.

„Einen ehemaligen Spielsüchtigen, der alles verzockt hat, hinter die Bar zu stellen, wo er Geld kassieren und sich nicht selbst in die Tasche stecken soll, ist vielleicht nicht die beste Idee. Trotzdem hat er mir vertraut, hat mir genau eine Chance gegeben, die ich ergriffen habe.“

Ich musste lächeln. Mein Bruder, der immer an das Gute glaubte und daran, dass sich Menschen ändern konnten, wenn man ihnen die Chance dazu gab. Rick hier schien mir das beste Beispiel dafür zu sein.

„Also“, sagte ich und stützte mich mit den Ellenbogen auf der Bar ab. „Wie schnell könnte man den Laden hier wieder eröffnen?“

„Wir sollten mit einer Inventur anfangen. Leon hatte das auch immer vor gehabt, aber wir kamen nie dazu. Das würde sich doch passen.“

„Okay. Hatte er hier ein Büro oder etwas Ähnliches?“

„Ja“, sagte Holly. „Ich zeige es dir nachher.“

„Gut. Dann...“ Ich überlegte was sonst noch wichtig war. „Wie lange brauchen wir für die Inventur?“

„Da sollte ein Tag ausreichen. Einen weiteren um die fehlenden Dinge zu besorgen und einen um hier wieder alles auf Vordermann zu bringen.“

Ich nickte und überlegte wann es am besten wäre, die Bar wieder aufzumachen.

„Montags haben wir Ruhetag“, sagte Holly. „Also zumindest war das immer so.“

„So was hatte ich mir auch schon gedacht“, sagte ich. „Wir sollten die Neueröffnung auf jeden Fall bekannt machen.“

„Mein Cousin arbeitet in einem Copyshop, der kann uns billiger Flyer drucken als sonst wo.“

„Das ist ein guter Plan“, meinte Rick. „Viele haben sich schon beschwert, dass das Lion zu gemacht hat. Hier kamen gerne alle Altersklassen her. Die jungen Leute weil die Getränke hier nicht so teuer waren, wie in den Diskotheken und die älteren, weil sie diese Art von Bar noch von früher kennen.“

„Wie lief denn so ein Abend hier meistens ab?“ Ich war neugierig, denn eigentlich kannte ich mich im Betreiben einer Bar gar nicht aus. Ich hatte zwar vieles gelesen und recherchiert, doch so richtig Erfahrung konnte man dadurch nicht sammeln. Umso mehr freute ich mich, dass ich Rick und Holly auf meiner Seite hatte, die den Laden hier schon kannten.

„Die Bar hat für gewöhnlich um acht Uhr abends aufgemacht. Wir sind dann meist schon gegen  sechs hier.“

„Die Bar war immer Ricks Part, während ich mich um die Tische und den Rest gekümmert habe“, warf Holly ein.

„Und Leon kam so zwischen sechs und acht Uhr. Meist verschwand er dann in seinem Büro und kam dann zu den Kernzeiten meist runter.“

„Okay. Also seid ihr der Meinung, dass wir das auch zu dritt packen? Ich hatte mit Kevin gesprochen, doch er hat schon einen anderen Job.“

„Ich denke schon. Wenn du ordentlich mit anpackst“, sagte Rick grinsend zu mir.

„Sei mal froh, dass ich damit schon Erfahrung habe“, gab ich grinsend zurück. Dann erzählte ich ihnen, dass ich in Kansas City auch schon als Kellnerin gearbeitet hatte. So ein großer Unterschied würde das schon nicht sein.

„Schaffen wir das alles bis Samstag?“, fragte ich und trank den Cocktail aus. Er war wirklich lecker.

„Ich denke schon“, sagte Holly. „Das gibt uns auch noch genug Zeit um die Flyer zu verteilen.“

„Könntest du das mit deinem Cousin klären?“

„Klar. Betrachte es als erledigt.“

„Dann würde ich sagen, treffen wir uns morgen früh um acht Uhr hier. Zeigst du mir noch kurz das Büro?“, fragte ich an Holly gewandt.

„Ja.“ Damit sprang sie von ihrem Barhocker und ging zu einer schmalen Tür gleich neben der verspiegelten Regalkonstruktion hinter der Bar. Diese Tür war mir noch gar nicht aufgefallen. Sie war kaum zu sehen weil sie so schmal war und auch dieselbe Farbe wie die Wand hatte. Dahinter lag eine ebenso schmale Treppe auf der wirklich nur eine Person Platz hatte. Holly ging vor und ich folgte ihr die Stufen hinauf. Oben angekommen befand ich mich in dem besagten Büro. Es war kein riesiger Raum, aber es reichte doch um Aktenschränke und einen Schreibtisch mit Computer unterzubringen.

„Das Passwort ist 280487.“

Ich lachte und schüttelte den Kopf. „Das ist mein Geburtstag“, sagte ich grinsend. Leon war, was seine Passwörter anging, wohl nicht so kreativ.

Auch Holly grinste sich dabei ins Fäustchen. „Das wusste ich gar nicht. Ich dachte immer, es seien nur Zahlen.“

„Sind es ja auch nur.“ Ich zuckte mit den Schultern und setzte mich an den Schreibtisch um den Computer hochzufahren. Ich tippte mein Geburtsdatum ein und schon sah ich den Desktop.

„Also Leon hatte eigentlich alles in Excel. Ausgaben, Einnahmen und alles andere. Die ganzen Belege hat er immer abgeheftet, die müssten in den Schränken hier sein.“

„Okay. Dafür werde ich bestimmt etwas länger als vier Tage brauchen.“

„Da kommst du schon rein“, sagte sie.

„Ich hoffe es. Dann sehen wir uns morgen, okay?“

„Ja. Acht Uhr. Bis dann.“ Damit ging sie die Treppe wieder hinunter.

„Bis morgen!“, rief mir Rick noch zu. Dann hörte ich noch einen Moment ihre Stimmen und dann das Zufallen der Tür.

Gut. Das war es also. Das Lion.

„Ich hoffe wirklich, dass ich dich nicht enttäusche, Leon“, sagte ich leise und berührte den Anhänger meiner Kette. In Gedanken verloren starrte ich auf den Bildschirm, während ich weiter den Anhänger in der Hand hielt. Es war eine Menge Arbeit, die auf mich zukommen würde, das war sicher. Ich konnte einfach nur hoffen, dass alles gut ging. Ich trug nun die gesamte Verantwortung über diese Bar und alles, was mit ihr zu tun hatte. Im Stillen bat ich ihn, mir dabei zu helfen, mir Kraft zu geben, dass ich es schaffte seine Bar wieder zu dem zu machen, was es vor seinem Tod gewesen war. Erfolgreich, beliebt, ein Treffpunkt für Jung und Alt.

Ich schüttelte diese Gedanken von mir um mich jetzt auf das Wesentliche zu konzentrieren. Ich rollte den Stuhl zurück und öffnete den Schrank hinter dem Schreibtisch. Ich musste wirklich schwer schlucken, als ich die vielen Ordner sah, die dort drin standen. Ich stand auf, sah sie mir genauer an und schon verflog die aufkommende Panik.

Alles war feinsäuberlich beschriftet. Nicht alle Bezeichnungen sagten mir etwas, doch da würde ich mich schon reinlesen können. Ich nahm mir einen Ordner und schlug ihn auf. Schon nach ein paar Seiten wurde mir klar, dass es sich hierbei um einen Vertrag mit einem Spirituosenladen handelte. Ich würde Rick fragen, ob das noch aktuell war und wo dieser Laden war. Es gab beträchtliche Rabatte, dafür versicherte Leon, beziehungsweise ich, dass die aufgelisteten Getränke nur dort gekauft wurden.

Für jeden dieser Anbieter hatte Leon einen eigenen Ordner angelegt, sodass es mir nun doch ziemlich leicht fiel, alles zuzuordnen.

Bisher lief es doch wirklich super, doch vielleicht sollte ich das nicht zu oft denken, nicht dass es doch noch Probleme gab. Ich wollte schließlich nichts beschwören.

Auf dem Rechner fand ich gleich auf dem Desktop eine Datei die  Bilanzen hieß. Ich öffnete sie und versuchte aus dem riesigen Tabellenblatt schlau zu werden. Da aber alles nur in Schwarz gehalten wurde, fiel es mir schwer die Einnahmen und Ausgaben auf den ersten Blick zu unterscheiden.

Da ich den Abend sowieso noch nichts vorhatte, scrollte ich zum Anfang des Blattes und begann die einzelnen Zellen zu formatieren. Einnahmen blieben schwarz, Ausgaben wurden rot. Ganz einfach. Ich fragte mich, wieso Leon so etwas nicht schon mal gemacht hatte? Vielleicht hatte er keine Lust sich durch diese riesige Datenmenge zu arbeiten. Es dauerte ziemlich lange, bis ich endlich alles so hatte, dass ich verstand, was was bedeutete. Das war schließlich wichtig. Hier und da fügte ich einige Formeln und Verknüpfungen ein umso gleich auf den ersten Blick sehen zu können, wie unsere Bilanz war. Ich stockte und starrte auf eine Zelle, in der ein Datum stand.

Es war Leons Todestag. Der 15.10.2012. Er hatte dieses Dokument also noch am Tag seines Todes bearbeitet.

Ein beschissener Autounfall. An dem er selbst nicht mal schuld gewesen war. Man hatte uns gesagt, sein Gesicht wäre so entstellt gewesen, dass wir den Sarg bei seiner Beerdigung zu lassen mussten. Sie hatten gesagt, es war kein schöner Anblick gewesen. Der Dreckskerl, der ihn überfahren hatte, hatte dann Fahrerflucht begangen. Niemand hatte etwas gesehen und so war dieser Schweinehund auch noch davon gekommen.

Es war mitten in der Nacht gewesen. Leon war der letzte, der noch in der Bar gearbeitet hatte, wahrscheinlich hatte er auch hier an diesem Schreibtisch gesessen und den Papierkram erledigt. Auf dem Weg nach Hause war es dann passiert.

Man hatte uns gesagt, dass Leon nach an der Unfallstelle verstorben war. Passanten hatten ihn zu spät entdeckt, sodass die Sanitäter nur noch den Tod feststellen konnten.

Zwar gab es eine Fahndung, doch es gab keinerlei Beschreibungen von dem Fahrzeug oder dem Fahrer, also wurde sie dann einfach nur ad acta gelegt.

Die Beerdigung war furchtbar gewesen.

Menschen, die behaupteten, Beerdigungen seien schön, waren wohl noch nie auf einer, bei der ein geliebter Mensch begraben wurde.

“Oh, die Zeremonie war so schön.“

„Und die Blumen.“

„Die Rede war so rührend.“

Bullshit!

Stumme Tränen hatte ich geweint, während ich die Hand meiner Mutter gedrückt hatte um ihr Trost zu spenden.

Und es wurde auch nicht besser, als alle Anwesenden zu uns ins Haus kamen und dort das selbst mitgebrachte Essen verputzten.

Als hätte man nach so einem Tag überhaupt Hunger...

Ich hatte mich in den Garten gesetzt. Es war zwar kühl gewesen, doch das war mir egal. Aus dem Barfach meiner Eltern hatte ich eine Flasche Scotch mit nach draußen genommen, dabei mochte ich den gar nicht. Leon hatte ihn gerne getrunken, wenn er hier war, zusammen mit unserem Vater. Ich hatte einfach nur dagesessen und getrunken und ich war froh, dass mich die meisten Leute einfach in Ruhe gelassen hatten.

Am Schlimmsten waren die Kinder der Nachbarn, die in ihren kleinen schwarzen Anzügen und Kleidchen zwar ganz niedlich aussahen, jedoch kein Benehmen hatten. Juchzend und lachend hatte  sie in unserem Garten Fangen gespielt. Eine ganze Zeit hatte ich sie mit zornigem Blick beobachtet, bis mir der Kragen platzte und ich sie anschrie.

„Habt ihr gar kein Benehmen?“, hatte ich gebrüllt. „Das hier ist jetzt nicht der richtige Ort  um Spaß zu haben.“ Meine Stimme war zu einem Zittern geworden und auch die Tränen waren wiedergekommen. Schwach war ich in den Gartenstuhl zurückgesackt und hatte aus tränenverschleierten Augen zufrieden beobachtet, wie die Blagen wieder ins Haus zu ihren Eltern rannten. Geschah ihnen ganz recht, hatte ich mir gedacht. Obwohl ja eigentlich die Eltern die Schuld trugen. Entweder sie ließen ihre Kinder bei so einem Ereignis zuhause oder sie brachten ihnen anständiges Benehmen bei.

Ich hatte mein Glas noch einmal füllen wollen, als mir eine Hand die Flasche aus der Hand nahm.

„Meinst du nicht, dass es reicht?“

Ich hatte nicht aufsehen müssen um zu wissen, dass es mein Ex-Freund war. Matthew und ich waren ungefähr seit vier Monaten getrennt, davor waren wir in etwa ein Jahr ein Paar gewesen. Auch er hatte Leon gekannt, doch eigentlich, so hatte er gesagt, war er wegen mir bei der Beerdigung.

„Gib sie her“, hatte ich gemault und versucht ihm die Flasche wieder abzunehmen.

„Komm, lass und spazieren gehen.“ Das war Claire gewesen. Sie hatte meine Hand genommen und mich mit sich gezogen.

Zu dritt waren wir schweigend durch die Nachbarschaft gegangen. Matt hielt meine eine, Claire meine andere Hand und ich hatte feststellen müssen, dass mir das richtig gut getan hatte.

„Danke“, hatte ich schließlich gesagt und die beide angesehen.

„Wir sind immer für dich da, das weißt du, ja?“, hatte Matt gesagt. Zwar waren wir kein Paar mehr gewesen, doch Freunde waren wir noch immer. Nicht jede Beziehung ging mit Todeswünschen und Hass auseinander. Wir hatten uns einfach ausgesprochen und es beide für besser befunden, es zu beenden... auch wenn mir unsere nächtlichen Aktivitäten schon etwas fehlten.

Wie hypnotisiert starrte ich auf den blinkenden Mauszeiger, blinzelte dann jedoch stark, als mir wieder bewusst wurde, wo ich war.

 

 

Erst gegen neun Uhr machte ich mich auf den Weg zu meiner Wohnung. Ich hatte völlig die Zeit vergessen, als ich mich um die Bilanzen gekümmert und in Erinnerungen geschwelgt hatte. Es war bereits dunkel und noch um einiges kälter geworden, aber zumindest regnete es nicht mehr. Die Erinnerungen an die Beerdigung waren noch so greifbar nah und ließen mich einfach nicht los.

Als ich den Weg so entlangging, fiel mir auf, dass ich gar nicht wusste, wo dieser Unfall passiert war. Vielleicht genau an dieser Ecke, an der ich gerade stand und darauf wartete, dass die Ampel grün wurde. Vielleicht aber auch schon weiter hinter mir oder doch erst in der Nähe der Wohnung? Ich würde das noch in Erfahrung bringen, denn auch wenn ich nichts mehr daran ändern konnte, so interessierte es mich. Doch zu allererst musste die Bar wieder eröffnen. Darauf freute ich mich schon sehr und wenn es tatsächlich schon am Samstag soweit war, war das noch besser. Nur noch vier Tage und den Samstagvormittag, dann musste alles perfekt sein. Es würde viel Arbeit und Schweiß auf uns zukommen, doch zusammen schafften wir das bestimmt.

Zuhause angekommen entschied ich mich, mir noch schnell eine Kleinigkeit zu kochen. Da ich mir einige Fertigsuppen gekauft hatte, entschied ich mich für eine von ihnen, die ich ins Wasser rührte und aufkochte. Etwas Toast dazu und fertig war mein Abendessen.

Schon beim Essen überkam mich die Müdigkeit und ich ging ins Bett.

Als ich mich in die Kissen kuschelte und tief durchatmete stellte ich mir vor, dass Leons Geruch noch in der Bettwäsche und den Laken hängen würde und ignorierte mein Wissen, dass ich die ja gestern erst neu bezogen hatte. Ich stellte es mir einfach vor und es half mir, sehr schnell einzuschlafen.

Kapitel 6 – Scotch, Bourbon oder Tennessee?

Obwohl ich so schnell eingeschlafen war, fühlte ich mich am nächsten Morgen wie gerädert. Ich kam nur sehr schwer aus dem Bett, zwang mich dann aber trotzdem aufzustehen und unter die Dusche zu springen. Das kleine Bad füllte sich sehr schnell mit Wasserdampf sodass der Spiegel und das Fensterglas beschlugen. Als ich fertig war, fühlte ich mich schon etwas besser. Als ich dann jedoch in den Spiegel sah, war ich verwundert, dass er ganz blieb. Ich hatte schlimme Augenringe, fast so schlimm wie nach meinem dem Flug hierher. Da würde wohl nur noch ein wenig Make-up helfen um die Schatten zu verstecken.

Schnell frühstückte ich eine Kleinigkeit und machte mich dann, etwas wärmer verpackt als gestern, auf den Weg zur Bar. Die frische aber kalte Luft tat gut und vertrieb endgültig die Müdigkeit.

Ich war die erste, die bei der Bar ankam, schloss die Tür auf und flüchtete ins windgeschützte Innere. Meine Jacke hängte ich wieder auf und rieb mir dann die kalten Hände.

Ich war noch keinen Schritt weiter gekommen, als die Tür auf ging und Rick hineinkam.

„Was für ein Wetter“, murmelte er und zog sich ebenfalls die schützende Jacke aus. Rick ging gezielt hinter die Theke und sah dann zu mir. „Kaffee?“, fragte er und ich nickte.

Dieses Wort klang wie Musik in meinen Ohren.

„Ja, gerne.“

Aus irgendeinem Schrank unter der Theke zauberte Rick eine Padmaschine hervor, die er mit Wasser füllte und uns dann nacheinander einen Kaffee zubereitete.

„Danke“, sagte ich und nahm das warme Getränk entgegen.

„Zucker, Milch?“

„Zucker, bitte“, sagte ich und grinste breiter, als Rick verständnislos den Kopf schüttelte.

„Frauen und ihr Zucker im Kaffee“, sagte er und machte gleich noch einen Kaffee fertig, in den er ebenfalls Zucker hineingab. Also war Holly, was das anging, auch eine von der süßen Sorte.

Rick trank seinen schwarz, was anderes hätte auch nicht zu ihm gepasst.

Etwas verspätet kam dann auch Holly, die sich mit einem Seufzer auf einen Barhocker setzte und noch im Stillen ihren Kaffee trank.

Als unser Koffeinhaushalt wieder stimmte und Rick die Tassen abräumte, stand ich auf.

„Also, ich würde sagen, dass Holly die Sache mit den Flyern klärt, während wir schon mal mit der Inventur anfangen.“

„Na gut“, murrte sie noch immer etwas verschlafen und zog sich wieder ihre Jacke über. „Irgendwelche Vorschläge?“

„Du machst das schon“, sagte ich grinsend.

„Okay.“ Dann ging Holly wieder nach draußen und ich wandte mich an Rick.

„Es gibt eine List mit allen Spirituosen und alkoholfreien Getränken, Säften und was man sonst noch so braucht. Die müsste im Büro liegen.“

„Ich sehe mal nach“, meinte ich und ging nach oben. Ausgedruckte Zettel gab es kaum welche, also hatte ich diese schnell durchgesehen. Dann sah ich auf der Festplatte des Computers nach. Dort fand ich zuerst eine Getränkekarte mit allem, was im Lion angeboten wurde. Es war eine große Auswahl bestehend aus Longdrinks, verschiedenen Biersorten, Cocktails und edlem Hochprozentigem. Im gleichen  Ordner fand ich auch die Liste, von der Rick gesprochen hatte. Ich druckte sie aus und ging mit ihr wieder nach unten.

„Ich hoffe, die ist noch aktuell.“

„Das werden wir gleich sehen“, sagte er und schob mir einen Kugelschreiber zu. „Schreib auf.“ Dann kniete er sich hinter die Bar und begann den ersten Schrank auszuräumen. Das was ich sah war ein heilloses Durcheinander. Der Tequila stand neben dem Whiskey, der wiederum neben dem Rum stand. Dann noch von allen verschiedene Sorten, dass man ja fast blind wurde.

„Je zwei Flachen J.D. Black Label, Gentleman Jack und Green Label.“

Etwas irritiert starrte ich Rick an, der mich genauso ausdruckslos ansah. Dann grinste er und deutete auf den Zettel in meiner Hand.

„Wir reden gerade von Whiskey, okay?“

„Das war mir klar“, sagte ich gespielt schmollend. „Ich suche nur noch die Namen auf der Liste.“

„Kennst du dich mit dem Zeug hier aus?“

„Also ich kann Rum, Whiskey und Tequila auseinanderhalten“, sagte ich grinsend. „Nein, schon gut. Das geht. Zu den Whiskey-Sorten kannst du mir bestimmt was erzählen, oder?“

„Na klar. Also. Wie haben hier drei verschiedene. Bourbon, Tennessee-Whiskey und Scotch, als schottischen Whiskey. Den trinken aber im Allgemeinen nur die Genießer. Die jungen Leute trinken mehr J.D..“

Während Rick mir das erklärte machte ich die Striche auf dem Zettel. Wir hatten wohl sechs verschiedene Whiskey-Sorten da. Die drei, die Rick gerade genannt hatte, gehörten zu der Tennessee-Sorte. Dann folgten noch zwei verschiedene Bourbon- und eine Scotch-Sorte. Die Unterschiede sollte ich mir schnellstmöglich einprägen, wenn ich mich nicht blamieren wollte.

So arbeiteten wir uns langsam durch die Schränke. In der hintersten Ecke fand Rick sogar einen ziemlich edlen Tropfen, auf dem sich eine dicke Staubschicht befand, obwohl die Flasche im Schrank gestanden hatte.

„Der kommt definitiv nicht auf die Karte“, sagte er grinsend und stellte ihn auf den Tresen. „Das ist ein 21 Jahre alter Scotch. Ich wusste gar nicht, dass Leon so was da hat.“

„Er wahrscheinlich auch nicht“, sagte ich und wischte das Etikett frei.

Nach den Schränken kam das große gläserne Regal mit der Spiegelfläche. Dort standen weitere Flaschen sowie Gläser. Alles in allem sah es schick aus, wie manches stand und manches lag. Das konnte ruhig so bleiben. Gegen Mittag waren wir mit dem Barbereich fertig. Passend dazu kam Holly mit einer ganzen Tüte Flyer und einer Papiertüte mit chinesischen Essen zurück.

„Ich dachte mir, dass etwas zu Essen gut tun würde“, sagte sie und stellte die Boxen mit dem Essen auf den Tresen. Es waren gebratene Nudeln mit Sojasauce, welche ich wirklich gerne aß.

„Sieh ma waf wir gepfunden ham“, sagte Rick noch mit vollem Mund und schob Holly die Flasche Scotch zu.

„Wow, nicht schlecht“, sagte sie und beäugte das Etikett. „Die Flasche allein dürfte über $100 kosten.“

Als wir fertig gegessen hatten blieben, kam die Trägheit, doch wir hatten noch so viel zu tun, dass uns keine Zeit blieb um uns auszuruhen. Ich wollte hier nicht zu sehr den Boss raushängen lassen, denn ich war den beiden dankbar, dass sie mir überhaupt halfen, aber trotzdem mussten wir noch einige schaffen, wenn wir am Samstag die Neueröffnung feiern wollten.

„Ich verteile die Flyer, okay? Ich habe da schon einige Ideen“, sagte Holly und schlüpfte schon wieder in ihre Jacke. Sie musste mit sehr viel Herzblut dabei sein, das spürte ich und das rechnete ich ihr auch hoch an.

„Viel Spaß“, sagte Rick grinsend mit einem Blick nach draußen. Es sah wirklich ungemütlich aus, schon beim Anblick wurde einem ganz kalt.

Als Holly gegangen war, machten auch Rick und ich uns wieder an die Arbeit.

„Jetzt kann ich dir gleich das Lager zeigen“, sagte er und ich folgte ihm. Ein Gang führte zu den Toiletten, in die ich einen Blick hinein warf. Sie waren nichts Besonderes, sahen aber gepflegt und sauber aus. Wir gingen den Gang noch ein Stückchen weiter bis zu einer Tür an der staff only stand. Dahinter lag das besagte Lager. Als Rick das schwache Licht einschaltete konnte ich meinen Augen kaum trauen. Der ganze Raum war gefüllt mit Kisten und Kartons. Und so, wie die ersten aussahen, waren in allen davon weitere Flaschen verstaut.

Das würde noch ein langer Tag werden.

 

 

Rick räumte die Kisten von einer Ecke in die andere, sortierte sie dabei gleich nach den jeweiligen Spirituosen und sagte mir, wie viel wir noch von was hatten. Das notierte ich weiterhin auf meinem Zettel. Ob das jetzt viel oder wenig war, konnte ich noch nicht sagen, denn da fehlte mir die Erfahrung, die Rick und Leon hatten. Ich hatte noch gar keine Vorstellung davon, wie viel an einem gutbesuchten Abend wegging.

Das Sortieren verbrauchte ganz schön viel Zeit, doch dafür war es am Ende alles ordentlich, sodass auch so jemand wie ich mich zu Recht fand.

Holly war auch irgendwann zurückgekommen und hatte eine eigene kleine Inventarliste mit Gläsern und allem anderen Zubehör, wie  begonnen. Wir wurden ungefähr zeitgleich fertig.

So als wäre es schon ganz typisch für uns, saßen wir wieder an der Bar und Rick stand dahinter.

„Wollen wir den da mal kosten?“, fragte ich Rick und deutete auf die Flasche.

„Einfach so?“, hakte er nach.

„Wieso nicht? Der erste Tag ist geschafft. Und ich freue mich wirklich wahnsinnig, dass ihr mir hierbei helft.“

„Diese Bar gehörte irgendwie uns allen, natürlich nur inoffiziell. Ich persönlich fühle mich immer noch verantwortlich“, sagte er und holte drei Whiskeygläser aus dem Schrank.

„Das gilt auch für mich.“

Das rührte mich so sehr, dass ich mich wirklich zusammenreißen musste, damit ich hier nicht losheulte vor Freude.

„Danke“, sagte ich leise.

Rick drückte uns jedem ein Glas in die Hand und hob seines hoch.

„Ich trinke auf Jo“, sagte er grinsend. „Denn ohne dich wäre die Bar wahrscheinlich noch immer geschlossen.“

„Ich trinke auf Leon“, sagte ich, „und hoffe, dass ich ihn nicht enttäusche.“

Holly lachte, bevor sie sprach. „Und ich trinke auf die Harvelle Geschwister, wegen der Gründe, die ihr beide gerade schon genannt habt.“

Wir stießen an und nahmen jeder einen Schluck der braunen Flüssigkeit.

Überraschenderweise musste ich gar nicht husten, so wie sonst bei Schnaps. Aber das hier war ja auch etwas anderes, etwas Besseres. Er schmeckte irgendwie würzig, roch dabei aber auch nach Meer. Nach dem Schlucken kam eine waldige eher torfige Note, die ziemlich lecker war. Diese Begriffe hatte ich früher von Leon und unserem Vater aufgeschnappt. Jetzt verstand ich erst, wieso die beiden immer gerne so einen Whiskey getrunken hatten. Bei der Beerdigung musste ich wohl eine billige Flasche erwischt haben, denn das war ein Unterschied wie Tag und Nacht.

„Das ist ja richtig lecker“, sagte ich und trank den Rest aus meinem Glas.  

„Ist nicht zu vergleichen mit billigem Fusel, oder?“

„Überhaupt nicht.“

Unfassbar, dass etwas so altes so lecker sein konnte. Doch was gut wirklich werden sollte, brauchte wohl seine Zeit. So einfach war das.

Wir tranken danach noch jeder einen Scotch, bevor wir die Flasche wieder wegpackten. Da wir alle ziemlich kaputt waren, beschlossen wir, es für diesen Tag gut sein zu lassen und nach Hause zu gehen.

Morgen würden wir weitermachen, allerdings wollten wir uns da erst gegen zehn Uhr treffen. So konnte jeder noch etwas erledigen oder einfach nur ausschlafen. Denn genau das war es, was ich tun würde. Ausschlafen.

Wir räumten noch kurz die Gläser weg, löschten überall das Licht und verließen dann die Bar.

Holly und Rick mussten in eine andere Richtung als ich und so verabschiedeten wir uns noch vor der Bar.

Als ich mich auf den Weg machte, zog ich die Jacke um mich enger, denn noch immer war die Kälte einfach nicht meins.

Ich sehnte mich nach der schützenden Wärme in meiner Wohnung, nach meinem weichen Bett und der kuscheligen Decke. Dank des Scotchs, war ich nicht mal mehr hungrig. Das chinesische Essen hatte wirklich gut satt gehalten.

Trotzdem nahm ich meinen Laptop noch mit ins Schlafzimmer um meine Mails zu checken, schließlich hatte ich Claire versichert, dass ich mich melden würde.

 

Hey Claire,

Ich bin zwar todmüde, aber dir wollte ich trotzdem noch kurz schreiben.

Heute war ich das erste Mal in der Bar… in meiner Bar. Okay daran muss ich mich definitiv noch gewöhnen ;-)

Sie ist wirklich toll. Genauso, wie ich sie mir vorgestellt habe und noch besser. Ich habe auch zwei der drei Angestellten getroffen und zusammen sind wir dabei alles wieder auf Vordermann zu bringen.

Ich kann es kaum erwarten, wenn du mich besuchen kommst.

 

Dann stellte ich den Laptop beiseite und ging ins Bad. Vielleicht war sie ja noch wach und vielleicht auch noch am PC. Claire hatte schon immer komische Schlafgewohnheiten gehabt und man hatte immer auf Gut-Glück anrufen müssen um sie zu erreichen.

Mit der Zahnbürste im Mund ging ich zurück und warf einen Blick auf den blinkenden Bildschirm.

 

Da ist sie ja :)

Das klingt wirklich toll. Ich freue mich jetzt schon darauf dieses verschlafene Städtchen zu sehen.

OMG, ich bin so gespannt. Eine eigene Bar. Wir haben so viel darüber geredet, dass es mir ganz komisch vorkommt, dass es jetzt Realität ist.

Viel Glück morgen. Halt mich auf dem Laufenden.

 

Eine kurze Zeile schrieb ich dann doch noch zurück, bevor ich mich hinlegen wollte.

 

Das werde ich. Gute Nacht.

 

Kapitel 7 – Letzte Handkniffe

Die nächsten Tage vergingen wirklich wie im Flug.

Zuerst trafen wir uns, wie den vergangenen Morgen auf, in der Bar. Wir besprachen kurz, was an diesem Tag zu tun war und machten uns dann jeder an seine Arbeit. Ich verbrachte den Vormittag mit Rick in diversen kleinen und großen Läden. teils waren es Fachgeschäfte für Spirituosen teils waren es ganz normale Supermärkte. Rick hatte unseren Bestand mit dem, was wir benötigten, abgeglichen und eine Einkaufsliste erstellt, die wir nun abarbeiteten. Zum Glück konnten wir dafür Ricks Pick-Up benutzen, denn der hatte eine genug große Ladefläche. Das Geld fürs Benzin würde er natürlich von mir zurückbekommen. Wahrscheinlich erst zum nächsten Monat, aber ich hoffte, dass ihm das nichts ausmachte. Er machte zumindest nicht den Anschein, als würde es ihn stören.

Es war gut, dass Rick genau wusste, was er wo kaufen musste. Ich wäre wahrscheinlich hilflos verloren gewesen und alles hätte dreimal so lange gedauert, weil ich mich erst durchfragen müsste. Nein, so war es viel angenehmer.

Ich versuchte mir derweilen alles so gut es eben ging zu merken. In dem einen Laden kauften wir die guten Alkoholsorten, jene, die man nicht in einen Cocktail packte um ihn zu panschen. Wie ich festgestellt hatte waren solche Flaschen viel zu gut um sie in Saft oder Cola zu ertränken. Dafür gab es den etwas billigeren.

„Kauf aber nicht den billigsten Fusel. Das schmeckt man wirklich“, erklärte mir Rick seine Methode und packte unseren Wagen voll mit Flaschen.

In den kleinen Läden, hatte man für uns sogar schon alles zusammengepackt, sodass wir es nur noch einladen und bezahlen mussten. Gerade bei diesen Leuten stellte ich mich vor und erklärte, dass ich die Zusammenarbeit, die mein Bruder ins Leben gerufen hatte, gerne fortführen wollte. Natürlich hatten sie da nichts gegen. Wieso auch? Ein fester Vertrag zwischen mir und dem Besitzer war doch für beide Seiten von Vorteil. Ich sparte durch die ausgehandelten Prozente und er wusste, dass ich wiederkam. So einfach war das.

Wir brauchten aber trotzdem ziemlich lange bis wir alles auf Ricks Liste abgearbeitet hatten.

Als wir wieder an der Bar angekommen waren, stellte Rick seinen Wagen direkt vor der Tür ab, sodass wir die ganzen Kisten nicht allzu weit schleppen mussten. Holly half uns dabei, als sie mit hochgekrempelten Ärmeln aus den Toiletten kam.

Erst da fielen mir die ganzen Tattoos auf, die sich über ihre Arme erstreckten. Verwundert starrte ich auf die bunten Motive und musste unweigerlich lächeln. Wieso überraschte mich das eigentlich? Sie war genau der Typ für so etwas und es passte einfach. Ich hatte mich das nie getraut.

„Da seid ihr ja endlich“, sagte sie und nahm von Rick, der an der Ladefläche stand eine Kiste entgegen. „Ich bin schon am Putzen.“

„Mist, dann bin ich ja doch noch zu früh hier“, jammerte Rick gespielt und erntete dafür einen bösen Blick von Holly.

Ich grinste einfach nur, denn es war schön, diese Vertrautheit zwischen den beiden zu beobachten und ich stellte mir vor, dass es wohl mit Leon auch so gewesen war. Er war genau der Typ gewesen, der in diese Truppe gepasst hatte.

Wir verstauten schließlich alles im Lagerraum, sodass Rick seinen Wagen wegfahren konnte. Er hatte ja noch so halb auf der Straße gestanden.

Ich stand mit Holly an der Bar und wir warteten darauf, dass Rick wiederkam.

„Die sehen toll aus“, sagte ich und deutete auf Holly Arme.

„Ach die“, sagte sie lachend und winkte ab. „Die sind schon alt. Gerade arbeite ich an meinem Rücken.“ Sie zwinkerte mir zu.

„Das tat doch bestimmt weh, oder?“ Ich rieb mir die Arme. Allein bei der Vorstellung von den vielen kleinen Einstichen…

Für mich wäre das bestimmt nichts.

„Das erste tat etwas weh, aber wenn man einmal Blut geleckt hat.“ Sie lachte. „So schlimm ist das gar nicht. Ich kann dir die Nummer meines Tätowierers geben.“

„Oh nein, ich denke, da passe ich“, sagte ich sofort und vielleicht etwas zu hastig, hielt dabei noch die Hände nach oben, so als würde das etwas helfen.

„Er ist wirklich gut.“

„Jaja, das glaube ich dir ja, aber für mich ist das nichts.“

„Das weißt du erst wenn du es versucht hast“, scherzte sie und lehnte sich lässig gegen den Tresen.

„Bestimmt nicht.“

„So Mädels, was liegt jetzt an?“, rief Rick, als er wieder in die Bar kam. Die Parkplatzsuche war wohl nicht so schlimm gewesen.

„Ach ich überrede Jo gerade sich tätowieren zu lassen“, sagte Holly grinsend.

„Das tut sie nicht“, ging ich dazwischen, bevor diese beiden noch auf dumme Gedanken kamen.

Rick lachte und fuhr sich mit der Hand durch sein Haar.

„Das hat sie bei Leon auch des Öfteren versucht.“

„Soll mich das jetzt beruhigen?“

„Ich weiß es nicht“, meinte er und zuckte unschuldig mit den Schultern.

„Leon hat dem auch nie nachgegeben“, schmollte Holly, woraufhin ich einfach nur mit dem Kopf schütteln konnte.

„Aber ich hatte ihn fast so weit.“

Das glaubte ich ihr nun nicht, doch das machte nichts. Ich hatte das Gefühl, dass ich bereits in Leons Fußstapfen getreten war, was Neckereien untereinander anging. Diese beiden hatten mich schon jetzt so toll aufgenommen, dass mich diese Tatsache allein schon sehr glücklich machte. Wenn dann noch die Bar lief, wenn wir sie am Samstag eröffneten, dann war alles perfekt.

Schon jetzt kribbelten in mir die Anspannung und die Vorfreude zugleich. Es musste einfach alles klappen. Das war das einzige, was ich mir wünschte, dass diese Bar wieder zu dem wurde, was sie vor einigen Monaten war.

 

 

Wir machten uns dann an die Putzarbeiten, die Holly schon begonnen hatte. Ausgerüstet mit Wischmopp, Wassereimer und Reinigern machten wir uns dran, alles wieder in seinem alten, leicht verruchten, Glanz erstrahlen zu lassen. Rick schaltete dazu die Anlage an und drehte die Musik auf. Es wurde ziemlich laut und ich war mir sicher, dass man die Musik auch draußen hören konnte. Es liefen alte Rockklassiker, von denen ich wusste, dass Leon sie geliebt hatte. Es war also kein Wunder, dass er so manche Musik von sich mit in die Bar gebracht hatte. Es passte einfach und ergänzte das ganze Ambiente noch besser.

Rick kümmerte sich, wie ich schon vermutet hatte, um die Bar, wischte sie ab und wusch auch alle Gläser noch einmal. Man konnte ganz genau merken, wie sehr ihm dieser Job Spaß machte. Und wenn das so war, dann musste alles picobello sein.

Holly verschwand unterdessen wieder in den Toiletten, während ich mich daran machte, die ganzen Oberflächen abzuwischen.

Nach einem Monat – oder vielleicht sogar länger – wurde das alles nicht mehr abgewischt, sodass sich eine dicke Staubschicht gebildet hatte. Staub war so etwas, das brauchte wirklich kein Mensch und doch war er immer und überall.

Das einzig Gute an dieser Situation war die Musik, denn sie lenkte von der eintönigen Arbeit ab und hellte die Stimmung auf. Bei manchen Liedern hörte ich, dass er mitsang, was mich wirklich zum Lachen brachte, da seine Töne mehr als schief waren. So wirklich schien er das aber gar nicht mitzubekommen.

Draußen wurde es so langsam dunkel, als wir auch endlich mit dem Wischen des Bodens fertig waren. Alles strahlte nun wieder und war seit langem so, wie es sein sollte.

Wir hatten gerade die Eimer und die anderen Utensilien zurück ins Lager gebracht, als ich die Tür vom Eingang zufallen hörte.

Als Holly und ich dann den Gang entlangkamen und wir die Bar wieder sehen konnten, standen dort zwar junge Männer.

„Hey Mann, was geht?“, sagte er eine von ihnen und hielt Rick seine Hand entgegen. Dieser schlug ein und tat es auch bei dem anderen der beiden.

„Wir haben das Licht gesehen. Haste den Laden jetzt übernommen, oder was?“, fragte er andere.

Rick lachte und stützte sich mit den Händen an der Bar ab.

„Nein. Aber das Schicksal meinte es gut.“ Da bemerkt Rick uns und kam hinter der Bar hervor. „Wenn man vom Teufel spricht“, sagte er lachend. „Das hier ist Joanna Harvelle. Sie hat die Bar übernommen.“  

„Hi“, sagte ich, weil ich irgendwie keine Ahnung hatte, was ich sagen sollte. „Ja, ich hab die Bar von meinem Bruder übernommen.“

„Cool“, sagte der größere der beiden und nickte. Er hatte kurzgeschorene dunkle Haare. Der andere, der kleinere, trug ein Baseballcap, doch auch er hatte kurzes Haar, welches an den Seiten des Caps zu sehen war und rötlich schimmerte.

„Am Samstag ist Neueröffnung“, sagte Holly und drückte beiden gleich noch einen Flyer in der Hand. Keine Ahnung, wo sie die so schnell hergezaubert hatte...

„Da kommen wir auf jeden Fall“, sagte der Kleinere und steckte den Flyer in seine Hosentasche.

„Cool, bringt ruhig noch ein paar Leute mit. Je mehr desto besser.“

„Na klar“, sagte der Größere, klopfte seinem Kumpel dabei auf die Schulter um ihn zum Gehen aufzufordern.

„Macht‘s gut, Jungs“, rief Holly den beiden nach. Sie kannte die beiden wohl schon etwas besser.

„Die sind öfters hier, also wunder dich nicht“, sagte Rick und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. „Jetzt könnt ich ne Dusche vertragen.“

„Da haste Recht“, neckte Holly ihn daraufhin und schnupperte auffällig in seine Richtung in der Luft herum.

Ich verkniff mir nur schwer ein Lachen und flüchtete mich die Treppe hoch in mein Büro. Dort setzte ich mich seufzend auf den Schreibtischstuhl, während ich von unten aus der Bar noch lautes Gelache hörte.

Hatte ich auch wirklich an alles gedacht? In Gedanken ging ich alles noch einmal durch. Ich hatte offiziell für die Bar unterschrieben. Ich hatte die Mitarbeiter wieder ins Boot geholt und mit ihnen zusammen die Bar wieder auf Vordermann gebracht. Wir hatten alles Nötige eingekauft und sauber gemacht. Da fiel mir ein, dass ich mich noch bei der Bank melden musste. Leons Konto wurde aufgelöst, deshalb brauchte die Bank noch meine Daten. Das sollte ich gleich morgen erledigen. Auf Papierkram und digitale Tabellen hatte ich keine Lust mehr, also ging ich wieder runter zu den anderen beiden. Diese fünf Minuten Ruhe hatte ich gebraucht, denn nur so hatte ich mich konzentrieren können.

„Ah, da bist du ja. Wir haben uns gerade was Tolles überlegt“, sagte Holly und hüpfte aufgeregt auf der Stelle. Neugierig zog ich die rechte Augenbraue hoch und wartete auf das besagte Tolle.

„Wir sind ja so ziemlich durch mit allem, oder?“

„Ja, ich muss nur morgen nochmal zur Bank, aber das dauert hoffentlich nicht so lange.“

„Sehr schön. Wir haben uns nämlich überlegt, dass wir mit dir einen Crash-Kurs im, sagen wir mal, Hinter-der-Bar-stehen machen.“

„Wenn der Laden am Samstag – hoffentlich – sehr voll wird, dann brauche ich Verstärkung hier hinter“, sagte Rick.

„Und da ich es schon vor langer Zeit aufgegeben habe, Holly das beizubringen, musst du wohl ran.“

„Hey!“, kam es empört von Holly. „Ich serviere hervorragend Bier.“

„Flaschenbier“, fügte Rick grinsend hinzu.

„Na und?“

„Als ich finde das ist eine gute Idee“, ging ich dann doch dazwischen. So lustig und neckisch diese beiden miteinander umgingen, wenn jeder auf seiner Meinung beharrte, dann konnte so was Stress geben. „Und ich bin lernfähig. Da sollten wir es doch schaffen, mir morgen ein paar Cocktails beizubringen, oder?“

„Wenn du dich besser anstellst als ich, kriegst du das hin“, sagte Holly und klopfte mir auf die Schulter.

 

 

Nach einem recht ruhigen Abend und einer, in tiefem Schlaf verbrachten, Nacht, machte ich mich am nächsten Morgen zur Bank auf. Ich wollte das alles so schnell wie möglich geklärt haben. Der Bank sollte es dabei doch eigentlich egal sein, von wem sie das Geld bekam, oder? Die Bank selbst lag ganz in der Nähe des Verwaltungsgebäudes, in dem ich die Besitzurkunde für die Bar unterschrieben hatte. Da ich allerdings keinen festen Termin hatte, musste ich warten. Über eine Stunde saß ich im Wartebereich und konnte nichts anderes machen, als zu warten.

Dann endlich kam einer der Mitarbeiter zu mir und ich folgte ihm in sein Büro. Die Sache selbst war schnell geregelt. Da ich das Erbe meines Bruders bereits angetreten hatte, mussten sie lediglich die Vertragsdaten ändern. Zwei Unterschriften später war ich schon wieder draußen. So etwas nervte mich immer besonders. Ewige Warterei um dann alles in gefühlten zwei Minuten abgearbeitet zu haben. Schrecklich.

Dieses leicht wütende Gefühl verschwand allerdings wieder, als ich am Nachmittag in die Bar kam. Rick war bereits da und hatte die Bar schon für meinen Crash-Kurs vorbereitet. Alles was man brauchte hatte er schon griffbereit hingestellt.

Ich zog meine Jacke aus und legte sie zusammen mit meiner Tasche zu Seite. Dann krempelte ich mir die Ärmel hoch und versuchte mir alles zu merken.

Rick kannte sich wirklich aus, das wurde mir sehr schnell wieder bewusst. Er hantierte mit den Flaschen, konnte per Augenmaß sagen, ob es genug Alkohol und Saft war oder ob noch etwas fehlte. Er kannte alle Rezepte der Cocktails, die auf der Karte des Lion standen, auswendig. Er beruhigte mich aber gleich wieder, dass wir die Rezepte liegen lassen konnten, damit ich nicht ganz unterging. Sie waren laminiert und passten genau unter die Kante des Tresens. So sahen die Gäste die Liste nicht, aber ich schon. Sehr praktisch. Wir mixten alles einmal durch. Vom Tequila Sunrise über den Cuba Libre, den Long Island Ice Tea, den wohlbekannten Sex on the Beach, den Mai Tai, den Zombie und nicht zu vergessen den Caipirinha. Dazu kamen noch zwei alkoholfreie Varianten, der Yellow Runner und der Pussy Foot.

Es war eine Menge Input, doch das war okay. Die meisten dieser Cocktails hatte man ja schon mal getrunken und wusste auch grob, was wo drin war. Nur die Mengenverhältnisse musste ich lernen, doch das würde mit der Zeit bestimmt von alleine kommen. Erst mal wollte ich abwarten, wie viele Cocktails an einem Abend überhaupt bestellt wurden, oder ob es einfach bei dem Üblichen, wie Bier und Longdrinks, blieb.

Ich konnte es kaum mehr erwarten. Jedes Mal, wenn ich daran dachte, wie diese Bar ihren Anfang genommen hatte, wünschte ich mir, dass Leon diese Neueröffnung mitansehen könnte…

Kapitel 8 – Bring mich runter!

Am Samstagmorgen war ich total nervös. Wieso war ich so aufgeregt? Die Einwohner von Orchard Park kannten das Lion schon länger und würden doch nichts Besonderes erwarten, außer eben eine Neueröffnung mit ein paar Freigetränken. Der Name war geblieben und es sah auch noch immer genauso aus wie vorher.

Also wieso machte ich mir Sorgen?

Weil es deine erste Bareröffnung ist, sagte mir mein Verstand.

Aber ich hatte doch an alles gedacht, oder?

Und selbst wenn ich etwas vergessen hatte, dann war es doch jetzt eh zu spät dafür.

Nein, es würde alles gut laufen. Wir hatten schon an alles gedacht. Ich vertraute da auf Ricks und Holly Erfahrung. Mir würde jetzt auch nichts einfallen, was ich vergessen haben könnte.

Trotzdem ertappte ich mich immer wieder dabei, wie in nervös von einem Fuß auf den anderen sprang oder einfach nur mein Gewicht verlagerte, mir die Hände aneinander rieb oder sogar an den Fingernägeln knabberte und das fand ich eigentlich total ekelig.

Endlich klingelte mein Handy, welches ich sofort schnappte und den Anruf entgegennahm.

„Gut, dass du anrufst. Ich werde hier noch wahnsinnig“, sagte ich schnell und aufgebracht.

„Bleib mal ruhig“, hörte ich Claire am anderen Ende der Leitung sagen. Sie kicherte und ich verdrehte nur die Augen.

„Atme mal tief durch.“

Ich tat was sie sagte, doch so wirklich wollte sich mein Herzschlag nicht verlangsamen.

„Besser?“

„Ja“, log ich, versuchte dabei meine Stimme so normal wie möglich klingen zu lassen.

„Gut, also langsam.“

„Heute Abend macht die Bar auf und ich habe total Schiss, dass etwas schief geht.“

„Das wird schon nicht passieren, Jo. Mach dir nicht immer so große Sorgen. Du hast doch erzählt, dass die anderen beiden schon länger in der Bar arbeiten, dann wissen sie doch, was zu tun ist.“

„Ja schon, aber...“

„Kein ‚aber‘. Das wird alles glatt gehen, glaub mir.“

Wie gerne hätte ich Claire jetzt einfach in den Arm genommen. Sie war schon seit über zehn Jahren meine beste Freundin und es war wirklich schwer, so weit von ihr weg zu leben.

Sie schnaufte laut und seufzte. „Ich wäre so gerne dabei“, sagte sie und die Traurigkeit in ihrer Stimme ließ mich frösteln.

„Der Flug dauert nur eine Stunde“, sagte ich, meinte es aber als Scherz. Das war viel zu kurzfristig und außerdem musste auch sie arbeiten.

„Das hole ich nach, versprochen.“

„Ist vielleicht besser so. Dann blamiere ich mich nicht gleich vor dir.“

„Als ob du das könntest“, lachte sie. „Ich kenne dich einfach schon zu lange, als dass du mich mit einer  kleinen Blamage abschrecken könntest.“

Darüber musste ich lachen. Was wir nicht schon alles durchgestanden hatten. Das durfte man eigentlich gar keinem erzählen. Als wir uns nun etwas anschwiegen, kam die Nervosität zurück und ich begann in der Wohnung auf und ab zu gehen.

„Ich bin einfach so aufgeregt.“

„Das ist auch gut so“, lachte sie, „denn sonst würde etwas mit dir nicht stimmen. Es ist doch toll, was du da tust. Leon wäre stolz auf dich.“

„Ich hoffe es.“

„Glaub mir. Er wäre da meiner Meinung.“

„Hmm.“

„Sag mal, Jo. Hast du noch Kontakt zu Matt?“

Bei diesen Worten wurde ich hellhörig. Claires Stimme hatte sich verändert, denn so sprach sie normalerweise nicht mit mir. Sie hatte die Worte vorsichtig ausgesprochen, sodass mir schnell klar wurde, dass da irgendwas im Busch war.

„Wieso fragst du?“

„Och nur so“, trällerte sie übertrieben. „Ist ja auch egal.“

„Claire.“

Ich hörte sie seufzen. „Es ist nur... Ach das ist doch bescheuert.“

„Sag schon.“

„Er hat mich gefragt, ob wir mal zusammen ausgehen wollen.“

Da war die Katze aus dem Sack. Seit wann stand Matt auf Claire? Das überraschte mich nun doch sehr.

„Und was hast du gesagt?“, fragte ich. Zu meiner Verwunderung war da nichts in mir, keine Wut oder Eifersucht. Nichts.

„Ich habe mich noch nicht entschieden, weil ich vorher mit dir darüber reden wollte.“

„Also von mir aus, triff dich mit ihm, wenn du das willst.“

„Bist du sicher? Ich fühle mich jetzt schon schlecht, nur weil er mich gefragt hat.“

„Claire. Das mit Matt und mir ist schon ewig her und da wird auch nie wieder was sein.“

Sie seufzte erneut. „Ich fühle mich trotzdem wie diese Frau, die ihrer besten Freundin den Freund – oder Ex-Freund – wegnimmt.“

„Das musst du nicht. Hier gibt's nichts wegzunehmen. Matt ist ein freier Mann und er kann sich mit anderen Frauen treffen, wann und wie er will.“

„Also ist das okay für dich? Weil ich eigentlich gerne...“

„Mach ruhig. Ich freue mich für dich“, sagte ich und überraschenderweise meinte ich das wirklich so. Matt war ein guter Freund, nicht mehr und nicht weniger. Und Claire war meine beste Freundin, also wieso sollten sie sich nicht auch besser kennenlernen. Es hieß ja nicht gleich, dass die beiden zusammenkommen würden, wenn sie mal zusammen ausgingen. Und selbst wenn es so kommen sollte, dann störte es mich nicht. Wir waren alle freie Menschen und konnten machen, was wir wollten.

„Danke, Jo“, murmelte sie leise.

„Ich danke dir“, entgegnete ich ihr lachend. „Du hast mich gerade wunderbar auf andere Gedanken gebracht.“

„Job erfüllt, was?“ Es war mir, als könnte ich das Grinsen in ihrer Stimme hören.

„Mit Sternchen.“ Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war schon nach zwei Uhr am Nachmittag und ich war weder geduscht noch hatte ich was gegessen, dabei wollte ich gegen fünf Uhr in der Bar sein. An sich waren das noch fast drei Stunden, doch ich kannte mich und meine lange Tortur  im Badezimmer. „Oh verdammt“, sagte ich.

„Du bist spät dran?“, riet sie genau richtig.

„Ja, etwas.“

„Okay, dann mach dich fertig, du willst doch hammermäßig aussehen, oder?“  

„Ich wüsste nicht, warum, aber passend sollte es schon sein. Schließlich betreibe ich eine Bar.“ Den letzten Satz gab ich fast nur noch quietschend von mir.

„Du musst mir morgen alles erzählen.“

„Das mache ich. Wir hören uns.“ Ich gab ein Kussgeräusch von mir und Claire tat es mir gleich. So beendeten wir eigentlich immer unsere Telefonate.

„Viel Spaß, Süße.“

Damit beendete wir unser Gespräch. Ich legte das Handy beiseite, beschloss dann aber, es aufzuladen.

Als erstes ging ich in die Küche und machte mir etwas zu essen. Es würde eine lange Nacht werden und so kochte ich mir ein paar Nudeln. Ich mochte sehr gerne italienisches Essen und deshalb befanden sich immer ein paar Gläser mit italienischen Saucen in meinen Schränken. Es ging schnell, war lecker und hielt satt. Was wollte ich mehr?

Musik lief über Leons Anlage. Da alle Türen in der Wohnung offen standen, konnte ich die Musik in jedem Raum hören. Es waren noch CD's von Leon und da sie mich immer wieder an ihn erinnerten, liefen sie nur noch. Und je öfter ich die Musik hörte, desto besser wurde sie. Außerdem würde so etwas auch im Lion laufen, also sollte ich mich schon mal daran gewöhnen.

Während die Nudeln im Wasser garten, schlüpfte ich ins Schlafzimmer, in welchem immer noch nicht genug Platz war. ich kramte in meinen Koffern herum, auf der Suche nach etwas passenden zum Anziehen. Ich entschied mich für eine schlichte blaue Jeans, ein schwarzes Top und meine Stiefel. Für den Fall, dass es anfangs noch recht kalt war, würde ich mir einfach einen Pulli mitnehmen.

Als mein Essen dann schließlich fertig war und ich genug für den ganzen Abend gegessen hatte, stieg ich unter die Dusche.

Damit begann die übliche Tortur. Haare wachen und an anderen Körperstellen entfernen, Duschgel, Haarkur und Peeling. Und das war nur das Zeug, was ich unter der Dusche nahm. Als ich mich abgetrocknet hatte war es auch schon halb vier. Ich cremte mich ein, knetete etwas Schaumfestiger in mein Haar und brachte es anschließend in Form. Durch die heiße Fönwärme gewann es an Volumen und ich war überraschend schnell mit dem Ergebnis zufrieden. Dann folgte ein wenig Mascara und Eyeliner, sowie etwas Make-Up. Nicht zu viel, denn es sollte immer noch natürlich aussehen.

Kurze Zeit später stand ich dann fertig angezogen und gestylt im Flur, griff mir meine Tasche und meine Jacke und machte mich auf den Weg zur Bar, noch bevor die Nervosität wiederkommen konnte.

Den Weg zu Fuß zurückzulegen war wirklich entspannend. Ich fühlte mich wirklich ausgeglichen, als ich am Lion ankam. Von Rick und Holly war nichts zu sehen, doch das war ja auch so geplant gewesen. Ich hatte sie erst für sechs Uhr her bestellt, sodass ich jetzt noch eine Stunde für mich hatte. Da die Tage immer kürzer und dafür die Nächte immer länger wurden, schaltete ich das Licht an, verriegelte aber hinter mir wieder die Tür. Es sollte ja niemand denken, dass die Bar schon geöffnet hatte, wenn ich ganz allein hier war. Durch das Licht würden aber Rick und Holly sehen können, dass ich da war.

Ich stand mitten im Raum und sah mich um, ließ meinen Blick über jede Sitzreihe und jeden Tisch wandern. Dann atmete ich tief durch und genoss einen Moment die Stille. Es war die Ruhe vor dem erhofften, großen Sturm.

Du bist hier, oder Leon?, fragte ich in Gedanken. Wenn er irgendwo war, dann hier in seiner Bar. Ich werde dich nicht enttäuschen...

 

 

Ich hatte die restliche Zeit im Büro verbracht, hatte Tabellen durchgesehen und angefangen mich durch die Ordner und Leons Ablagesystem zu arbeiten. Es war nie ganz einfach, wenn man sich erst so in die Arbeitsweise seines Vorgängers hineinarbeiten musste, doch es war notwendig und da ich nicht wusste, ob ich zwischendurch noch Zeit dafür hätte, erledigte ich einen Teil davon jetzt schon. Dabei verging die Zeit wie im Flug und schließlich hörte ich ein Klopfen an der Tür. Als ich nach unten ging um die Tür zu öffnen, sah ich schon von weitem das leuchtende orangefarbene Shirt von Holly. Ich hatte das Gefühl als müsste ich stark blinzeln, so wie man es tat, wenn man in die Sonne sah.

„Hallo“, sagte sie, wie immer putzmunter. Holly strahlte wirklich von einem Ohr zum anderen und das war irgendwie ansteckend. Ich konnte nicht anders als sie ebenfalls anzulächeln.

„Aufgeregt?“

Wie konnte sie das denn so schnell wissen? War ich wirklich so leicht zu durchschauen oder trug ich einfach meine Stimmung als Bild auf meiner Stirn herum?

„Ein bisschen“, gestand ich.

„Das ist normal. War ich bei meinem ersten Tag hier.“ Sie hüpfte an mir vorbei und stieg die schmale Treppe zu meinem Büro hinauf. Kurze Zeit später kam sie ohne Jacke und Tasche wieder.

An dieses orangefarbene Shirt, zu dem sie einen schwarzen Lederrock trug, musste ich mich wirklich noch gewöhnen. Es passte, wie der Rest ihrer Kleider, die ich bisher an ihr gesehen hatte, perfekt zu ihrem Style, betonte ihre grauen Augen und zeigte ihre Tattoos, auf die sie sichtlich stolz war.

Wenn man sie schon hat, dann soll man sie auch zeigen, hatte sie mal zu mir gesagt, als sie mich ein weiteres Mal dazu überreden wollte, ihrem Tätowierer einen Besuch abzustatten, doch auch davor konnte ich mich wieder drücken.

„Willst du mich blenden?“, rief Rick, als er gerade die Tür geöffnet hatte. Er hielt sich eine Hand vor die Augen um dem Strahlen von Hollys Shirt zu entkommen.

„Stell dich nicht so an, Opa“, giftete sie ihn an, lachte kurz darauf aber.

„Opa“, murmelte Rick und schüttelte leicht grinsend den Kopf. Ich wusste von unseren ersten Gesprächen, dass Rick 35 war. Das merkte man ihm aber nicht wirklich an. Er sah gut aus, auch wenn sein langes Haar nicht mein Fall war, war charmant und lustig.

„Dann mach dich an die Arbeit, du Küken“, sagte er zu ihr und begann aus einem Schrank an der Bar Aschenbecher hervorzuholen. Holly war sogar noch jünger als ich, sie war 23 und hatte doch mehr Erfahrung im Betreiben einer Bar als ich. Doch so gerne sich die beiden auch dumme Sprüche an die Köpfe warfen, so arbeiteten sie wie das beste Team der Welt zusammen, wenn es um die Bar ging.  

Da sich die beiden um den großen Raum kümmerten und alles so vorbereiteten, dass die ersten Gäste ruhig bald schon kommen konnten, kontrollierte ich die Toiletten. Das war gerne etwas, was man schnell vergessen konnte, denn es war auch immer genau das, was mir auffiel, wenn ich mit Claire unterwegs gewesen war.

Doch dort war alles okay. Also ging ich zurück zur Bar und nahm mir ein Glas Wasser. Wahrscheinlich würde ich da nicht so oft zu kommen, wenn es wirklich so voll werden würde, wie Rick es prophezeite. Das wäre natürlich toll, auch wenn ich noch immer ein leicht mulmiges Gefühl hatte.

Wir hatten noch etwa eine halbe Stunde, doch schon da sah ich, wie ein paar Leute vor der noch geschlossenen Tür stehen blieben und hineinsahen. Warteten die tatsächlich schon darauf, dass wir öffneten?

„Kommt mal her“, sagte Rick und holte aus dem Schrank den richtig guten Scotch hervor. Wollte er tatsächlich noch vor der Arbeit mit uns Trinken? Ich grinste ihn nur an, als er die drei Gläser mit je einem kleinen Schluck füllte.

„Auf einen guten und hoffentlich schweißtreibenden Abend“, sagte er und hob sein Glas. Holly und ich taten es ihm gleich und wir stießen die Gläser leicht zusammen.

Ich trank den Scotch in einem Zug aus, es war ja auch nur ein kleiner Schluck gewesen. Wieder entfaltete sich der fantastische Geschmack nach und nach und beruhigte zudem meine Nerven.

„Wir schaffen das“, sagte ich.

Um Punkt acht Uhr schloss ich dann die Tür auf und begrüßte unsere ersten Gäste.

Die ersten Gäste im neuen Lion, meiner Bar. 

Kapitel 9 – Die Neueröffnung

Mein Innerstes kribbelte bei jeder Person mehr, die die Bar betrat.

Holly war sofort in ihrem Element und begrüßte die Gäste überaus freundlich. Diese legten ihre Jacken ab und suchten sich dann einen freien Tisch.

Dann kamen auch schon die ersten zur Bar und die Arbeit begann.

Rick begrüßte zwei der Gäste mit Handschlag und nickte mir dann zu. Ich verstand was er mir damit sagen wollte und so wandte ich mich sofort an die anderen.

„Was darf‘s denn sein?“, fragte ich. Es fühlte sich noch  sehr ungewohnt an, doch das würde sich mit der Zeit normalisieren.

„Drei Bier.“

Da wir nur Flaschenbier verkauften und keine weitere Geschmacksrichtung genannt wurde, holte ich aus dem Kühlschrank die bestellten drei Flaschen und kassierte dann das Geld.

Das lief ja schon ganz anständig, doch was konnte man bei Bier schon großartig falsch machen? Höchstens beim Wechselgeld konnte man sich da verzählen.

Und doch musste alles sehr zügig vonstattengehen, denn ständig erschienen weitere durstige Menschen an der Bar. Lange blieb es auch nicht mehr nur bei Bier. Viele bestellten Longdrinks, doch da sie bei denen immer sagen mussten, was sie wollten, war es einfach, die verschiedenen Alkoholsorten mit dem Alkoholfreien zu mischen.

Zum Glück landeten die ersten Cocktailbestellungen bei Rick, der diese gekonnt mixte, und nicht bei mir. Grinsend beobachtete ich ihn dabei, wie er den Shaker in die Luft warf und ihn mit einem kecken Grinsen wieder auffing. Er flirtete nur mit diesem Blick mit den zwei Frauen, für die die Drinks waren und die ihn förmlich anhimmelten.

Lächelnd schüttelte ich den Kopf und nahm eine weitere Bestellung entgegen. Das war wohl der typische Charme eines Barkeepers.

Holly flitzte unterdessen von Tisch zu Tisch, erkundigte sich nach dem Wohlbefinden unserer Gäste und fragte, ob sie noch was zu trinken wollten. Das musste sie zwar nicht machen, weil die meisten eh zur Bar kamen, doch sie bestand darauf.

Es wurde ziemlich laut, was in erster Linie nicht von der Musik kam. Die Menschen sprachen alle durcheinander, jeder war mit seinen Freunden beschäftigt und genoss sichtlich die Stimmung. Es war ein wirklich tolles Bild und ich fühlte mich sofort heimisch.

Hinter der Bar war man einfach die ganze Zeit beschäftigt. Dabei war es nicht stressig und einfach nur ein angenehmes Arbeiten. Rick musste mich trotzdem immer mal wieder daran erinnern, dass auch ich was trinken musste. Die Getränke für uns standen am Rand, denn es war wichtig, dass auch wir genug tranken, so warm wie es während der Arbeit wurde.

Nach und nach konnte man bei unseren Gästen bemerken, dass der Alkoholpegel stieg. Es wurde immer schwerer sie zu verstehen, doch wurden sie zeitgleich auch um einiges lustiger. Die Stimmung wuchs weiter, manche Tische sangen laut die alten Lieder mit und zogen damit weitere Grüppchen in den Strudel ihrer guten Laune.

Als dann jedoch ein paar ziemlich finster aussehende Typen in Lederklamotten und -stiefeln in die Bar kamen, wurde mir ein bisschen mulmig. Ich hatte nichts gegen solche Leute, aber den Ruf, den sie nun mal hatten, war kein rosiger. Diese Bikergangs waren bekannt dafür, dass sie randalierten, wenn ihnen etwas nicht gefiel.

Doch halt. Das war in Kansas City so gewesen. Das musste hier doch nicht zwangsläufig auch so sein, oder?

Als ich mich gerade in den Tiefen dieser Gedanken befand, huschte Holly an mir vorbei und ging direkt zu den Bikern.

„Holly, mein Mädchen“, begrüßte einer von ihnen sie.

„Ich wusste, dass ihr kommt.“

„Das lassen wir uns doch nicht entgehen, Püppi“, sagte ein anderer.

Dann drehte Holly sich weg und grinste mich an. Sie zwinkerte mir zu und deutete dann den fünf großen Kerlen an, ihr zu folgen. Sie führte sie zu einem freien Tisch und kam dann zurück zur Bar.

„Bei denen musst du dir wirklich keine Gedanken machen.“

„Wie kommst du denn darauf, dass ich mir Gedanken mache.“

„Das hab ich dir angesehen. Keine Sorge. Die sind cool.“

„Wenn du das sagst.“

„Die kommen schon seit Jahren hierher. Komm, schnapp dir zwei Bier und bring sie mit an den Tisch. Ich stell dich ihnen vor.“

Da mir wohl keine andere Wahl blieb, als solche Stammgäste zu begrüßen und Holly darauf bestand, nahm ich die Biere und folgte Holly an den Tisch.

„Ahh“, grölte einer mit einem langen weißen Bart. „Holly weiß was wir wollen.“ Er rieb sich grinsend die Hände und nahm sein Bier dankend entgegen.

„Den Tequila bringe ich gleich“, sagte sie zwinkernd und legte dann grinsend einen Arm um meine Schultern. „Und jetzt seid höflich. Denn nur dank Jo hier ist diese Bar wieder offen.“

Die ganze Truppe aus fünf Männern grölte laut und lachte. Es war eigenartig, aber gleichzeitig auch irgendwie ehrlich.

„Kanntest also Leon, was?“, fragte der Weißhaarige, von dem ich vermutete, dass er so etwas wie der Anführer dieser Truppe war. Auf dem Rücken von einem sah ich ein großes Patch einer hiesigen Motorradgang. zwar sagte mir der Name nichts, doch diese Patches auf den Lederwesten waren eindeutig.

„Sie ist seine Schwester“, erklärte Holly.

Mit einem Mal stand der Typ, auf dessen Rücken ich das Patch begutachtete hatte, auf und sah mich an. Er überragte mich ein gutes Stück, hatte schwarzes Haar und hellgraue Augen, fast solche wie Holly, aus denen heraus er mich musterte.  

„Ich hatte ja keine Ahnung, dass Leon eine so heiße Schwester hat“, sagte er leise zu mir und hob während er das sagte eine Hand an meine Wange. Ich wollte sie gerade von mir trennen, auch wenn ich seine Art nicht wirklich aufdringlich fand, als er von einem weiteren ihrer Truppe zurück auf seinen Stuhl gezogen wurde.

„Bleib mal cool, Johnny“, sagte Holly tadelnd und grinste ihn frech an.

Johnny lachte daraufhin und sah mich nochmal an. „Nichts für ungut“, sagte er. „Aber das Kompliment meinte ich so.“

„Danke“ sagte ich etwas unsicher.

„Nichts für ungut, aber der Junge hier hat kein Benehmen“, sagte derjenige, der ihn zurück auf den Stuhl gezogen hatte.

„Das ist Black-Eye“, sagte Holly und nickte zu dem Mann, der gerade gesprochen hatte. „Und das sind Slash, Mike und Trigger.“ Sie nickte der Reihe nach den Männern zu. Ich versuchte mir die Namen, beziehungsweise Spitznamen, zu merken, doch außer Johnny, der mich ja so charmant darauf hingewiesen hatte, dass ich ja so heiß war – Achtung, Ironie – und Trigger, der ältere mit dem weißen Bart, waren die Namen schnell wieder vergessen.

Holly kam wie es aussah sehr gut mit den fünf klar, sodass ich ihr nun eine Hand auf die Schulter legte und in die Runde sagte: „Falls ihr was braucht, wendet euch an Holly.“

Damit verließ ich den Tisch wieder und nahm mir auf dem Weg zur Bar gleich einige leere Gläser von den Tischen mit. Holly folgte mir kurze Zeit später und holte aus dem Schrank unter der Bar eine volle Flasche Tequila.

„Die sind echt okay. Und sie geben gutes Trinkgeld“, lachte sie und schnappte sich zu der Flasche einige Schnapsgläser. Damit marschierte sie zurück zu den Rockern, die sie wieder jubelnd empfingen.

Grinsend schüttelte ich den Kopf – schon wieder – und begann, einige der Gläser abzuwaschen.

„Lass sie nur machen“, meinte Rick. „Sie kennt diese Typen schon ewig. Das sind alles Freunde ihres Vaters.“

„Also gehört der wohl auch in diese Szene?“

„Mehr oder weniger, ja. Sprich sie aber nicht darauf an. Zwischen den beiden ist Funkstille. Ich persönlich glaube ja, dass ihr alter Herr seine Jungs gerne mal hierher schickt, damit diese nach dem Rechten schauen und ein Auge auf Holly haben können.“

„Ein Vater macht sich doch immer Sorgen um seine Tochter.“

Wenn das wirklich so war, dann war Holly tatsächlich mitten in dieser Bikerszene aufgewachsen. Ich hatte sofort das Gefühl sie nun, mit diesem Wissen, noch besser zu verstehen. Ich verdrängte die Gedanken dann aber schnell wieder, denn schließlich ging mich das nichts an. Trotzdem war ich neugierig...

Ich widmete mich wieder den dreckigen Gläsern und spülte sie weiter. Währenddessen ging der ganze Trubel um uns weiter. Holly war am hin und her rennen, verlor dabei aber kein bisschen ihrer Eleganz, wie sie sich durch die Grüppchen von Leuten schlängelte und das auch noch mit gefüllten Gläsern auf einem Tablett. In dieser Sache war sie eindeutig flinker als ich. Rick bediente weiterhin die durstigen Gäste und jedes Mal, wenn ich den Blick durch das Lion schweifen ließ, kam es mir vor, als wäre es noch voller geworden.

Ich konnte es gar nicht glauben, dass dieser Abend bisher so einwandfrei lief. Es war fantastisch. Ich wünschte, Leon könnte das sehen.

„Könnte ich einen Whiskey bekommen?“, rief eine Stimme ganz in meiner Nähe. Kurz sah ich mich nach Rick um, da er ja der Experte für die verschiedenen Sorten war, doch er war beschäftigt und fleißig am Cocktails mixen für eine Gruppe junger Frauen, die ihre Augen allesamt auf seine Muskeln gerichtet hatten.

Dann musste ich wohl ran.

Ich stellte das letzte gewaschene Glas beiseite und wischte mir die nassen Hände ab. Dann sah ich zu der Person, die nach einem Whiskey gefragt hatte und erstarrte überrascht in der Bewegung, als mich das charmante Lächeln und den dazugehörigen Mann erkannte.

„Oh“, entfloh es meiner Kehle, was mir sofort peinlich war. Er war der Mann, der mir die Koffer zur Wohnung hochgetragen hatte – und dann auf mysteriöse Weise sofort wieder verschwunden war. Ich erkannte ihn sofort. Die grünen Augen und das blonde Haar. Er trug nun keinen Anzug mehr, sondern einen weißen Pullover, der ihm wirklich gut stand und edel aussah.

„So trifft man sich wieder“, sagte er grinsend und nickte mir freundlich zu.

„Sieht so aus. Was darf es für Sie sein?“

„Bourbon, bitte. Pur, ohne Eis.“

„Einen speziellen Wunsch?“, fragte ich und kramte in meinem Gedächtnis nach den Bourbon-Sorten, die wir hatten.

„Den Guten“, sagte er und zwinkerte.

Ich drehte mich zu dem großen verspiegelten Regal und sah mir die beiden Flaschen kurz an. Da fiel es mir auch wieder ein, dass Rick den Woodford Reserve besonders gelobt hatte.

Ich nahm die Flasche und füllte ein Whiskeyglas mit dem bernsteinfarbenen Getränk.

„Bitte sehr.“

„Haben Sie sich denn schon eingelebt?“, fragte er und nahm einen Schluck. Sein blondes Haar fiel ihm lässig in die Stirn. „Hmm.“ Genüsslich schloss er die Augen und schluckte den Bourbon hinunter, der ihm sichtlich schmeckte.

„Nachdem Sie einfach so verschwunden sind? Ja, habe ich.“ Ich schmunzelte, als sich ein Lächeln auf seinem Gesicht abzeichnete.

„Ich hatte noch etwas zu erledigen.“

„Sie wissen genau, dass das eine blöde Ausrede ist, oder?“

Er lachte und hob das Glas wieder an die Lippen.

Er hatte schöne Lippen…

„Nun, vielleicht wollen wir noch einmal von vorne beginnen?“

Seine grünen Augen musterten mich, als ich mir extra ein wenig mehr Zeit ließ um zu antworten.

„Joanna Harvelle“, stellte ich mich ihm noch einmal vor. „Beim letzten Mal sind Sie ja davon gerannt.“ Es gefiel mir erstaunlich gut, diesen mir eigentlich unbekannten Mann mit dieser Aktion aufzuziehen. Und ihm schien das ebenfalls zu gefallen, schließlich unternahm er nichts dagegen. Er lächelte weiter freundlich.

„Gerannt würde ich es jetzt nicht nennen“, spielte er mein Spiel mit.

„Sie waren aber verdammt schnell die drei Etagen nach unten gekommen.“

Er zuckte fast schon unschuldig mit den Schultern. „Ich bin eben gut in Form.“

Ein kribbeliges Ziehen durchfuhr meinen Körper und sammelte sich in meiner Mitte.

„Miss Harvelle, darf ich mich Ihnen vorstellen? Mason Starck.“

„Nun, Mr. Starck, was halten Sie davon mich als Entschädigung auf einen Drink einzuladen?“

„In Ihrer eigenen Bar?“ Neckisch hob er eine Augenbraue.

„Das ist reine Nebensache“, winkte ich ab.

„Also schön. Dann schenken Sie uns nach.“

Noch während er das sagte, griff ich mir ein zweites Glas und füllte beide mit dem teuren Whiskey.

„Und während wir anstoßen, möchte ich Sie zu einem kleinen Fest einladen.“

„Was für ein Fest?“, fragte ich, bevor unsere Gläser zusammenstoßen konnten.

„Nur ein kleines, welches ich morgen Abend ausrichte. Sie kommen doch bestimmt gerne, oder?“ Wieder taktierten mich diese grünen Augen, sodass mir fast schon heiß wurde.

Was machte ich da eigentlich? Ich flirtete hier ganz ungeniert, während ich doch eigentlich arbeiten musste. Für so etwas hatte ich doch gar keine Zeit.

„Vielen Dank für den Whiskey“, sage ich und kippte den Schluck des Hochprozentigen schnell hinunter. Das war zwar reine Verschwendung, des guten Bourbons und wenn Rick das gesehen hätte, hätte er mir wahrscheinlich die Hölle heiß gemacht, aber so konnte ich mich wenigstens auch meinen anderen durstigen Gästen widmen. 

Kapitel 10 – Was für ein Abend

Ich stellte mein Glas zu den benutzten und wandte mich dann an ein junges Pärchen, von denen ich mir erst mal die Ausweise zeigen ließ. Da sie beide 21 waren, fragte ich, was sie wollten.

Ich war gerade dabei, neues Eis aus dem Gefrierfach des Kühlschranks zu holen, als Holly neben mir auftauchte.

„Hast du eine Ahnung, wer hier ist?“, fragte sie mich aufgeregt.

Fragend sah ich sie an, woraufhin sie grinsend auf seine Person an der Bar deutete.

„Das ist Mason Starck“, flüsterte sie.

„Ich weiß.“

„Woher?“, kam es überrascht von ihr.

„Flüchtig. Ist egal. Was ist so toll an ihm?“

Außer dass er wirklich toll aussah, Eleganz und Schärfe vereinte und diese unglaublich grünen Augen hatte?

„Der Typ ist reich, Jo. Richtig reich.“

„Ja und?“ Ich versuchte gleichgültig zu klingen, doch ertappte ich mich auch dabei, als ich einen Blick über Hollys Schulter zu Starck warf. Ein Millionär oder sogar Milliardär saß hier in meiner Bar, einfach so und bestellte sich einen Bourbon? Er konnte sich eine ganze Flasche kaufen und würde das Geld wahrscheinlich gar nicht vermissen.

„Das ist doch total cool, dass er hier ist.“ Sie war total begeistert davon, dass Starck an der Bar saß.

Mit einem leeren Glas, wie mir gerade auffiel.

Das hatte auch Holly gesehen, denn sie stand schon vor ihm und fragte, was er haben wollte.

„Ich habe schon bestellt, danke“, sagte er und sah dann direkt zu mir.

Was war mit diesem Mann nur los?

Und was war mit mir los, dass mich schon wieder ein solch angenehmer Schauer überkam?

„Jo?“, sagte sie und ich ging zu ihr.

„Nochmal nachschenken?“, fragte ich Starck, der mir sein Glas entgegenschob, sodass ich es auffüllen konnte.

„Wie heißen Sie?“, fragte er Holly, welche ihm lächelnd ihren Namen sagte.

„Holly“, wiederholte er ihren Namen. „Sie sind doch bestimmt eine kluge Frau und können Miss Harvelle hier dazu überreden, meine Einladung anzunehmen.“

„Einladung?“

„Ich glaube nicht…“, wollte ich dazwischen gehen, doch sie schienen mich gar nicht zu beachten.

„Eine Einladung zu einem kleinen Fest morgen Abend.“

Holly grinste mich daraufhin breit an und ich rollte mit den Augen.

War das sein ernst? Er konnte doch nicht einfach Holly in die ganze Sache mit rein ziehen. Und sie spielte auch noch mit.

„Holly sieh mal, Trigger scheint durstig zu sein“, sagte ich hastig und schob sie etwas zur Seite. Zwar war ich mir sicher, dass Holly diesen Plan durchschaute, trotzdem ging sie grinsend in Richtung der Biker.

Ich atmete tief durch und sah dann wieder zu Starck. Ich wollte ihm meine Meinung sagen, dass er so etwas unmöglich tun konnte, doch als ich ihn ansah, verschwanden all die Worte, die ich ihm sagen wollte.

„Also kommen Sie?“

„Ich… Ich kann nicht, tut mir leid.“

„Warum?“

„Ich muss morgen arbeiten.“

„Dann kommen sie vor der Arbeit. Es geht den ganzen Tag.“

„Das ist… wirklich nett, Mr. Starck. Aber…“ ich überlegte kurz, „ich bin, wie sie mitbekommen haben, erst vor ein paar Tagen hierher gezogen und habe nur das Notdürftigste mit.“ Ich kam mir so albern vor. Musste ich mir wirklich eine so bescheuerte Ausrede einfallen lassen?

„Das ist kein sonderlich guter Grund für eine Absage, finden Sie nicht auch?“

„Ich weiß wirklich nicht, was Sie von mir wollen“, gab ich ehrlich zu, wirkte dabei aber gar nicht so aufgebracht, wie ich mich fühlte.

„Ich möchte Sie nur in dieser hinreißenden Stadt willkommen heißen. Mehr nicht.“

Ich nickte leicht irritiert, denn so ganz kaufte ich ihm das nicht ab.

Auch während ich zwei weitere Biere verkaufte, blieben diese Gedanken in meinem Kopf. Als er meinen Blick, der ganz von allein zu ihm zurückgewandert war, festhielt, lächelte er.

„Wie schön, dass wir das geklärt haben, Miss Harvelle.“

„Was?“

„Dann sehe ich Sie  morgen. Ich freue mich darauf.“ Damit legte er $100 als Schein auf den Tresen und drehte sich ohne ein weiteres Wort zum Gehen um.

Was war denn hier gerade los? Irritiert starrte ich ihm hinterher.

„Nettes Trinkgeld“, merkte Rick an, der Starck ebenfalls nachsah.

Hastig nahm ich das Geld vom Tresen und packte es zu dem Rest in die Kasse.

Ich war verwirrt, sehr sogar.

Hatte er mir überhaupt eine Möglichkeit gegeben, diese Einladung abzulehnen? Nein. Und so etwas war doch wohl mehr als unverschämt.

„Haste ihn jetzt vergrault?“, fragte Holly, als auch sie wieder an der Bar ankam.

„Frag mich mal was Leichteres.“

„Also gehst du hin?“

„Was?“ Ich sah sie entrüstet an. „Nein!“

„Wieso nicht?“

„Holly“, ermahnte ich sie beim Namen und hoffte, sie würde es damit gut sein lassen. Leider hatte ich nicht so viel Glück, denn Rick war ebenfalls ein neugieriger Zeitgenosse.

„Hast ‘n Date, was?“

„So in der Art. Mason Starck war hier und hat sie eingeladen“, sprach Holly an meiner Stelle.

„Der Mason Starck?“

„Genau der.“

„Können wir das jetzt sein lassen?“, fragte ich sie beide und verschränkte die Arme vor der Brust. Irgendwann musste auch mal gut sein. “Wieso macht ihr da so eine große Sache raus? Ich hab eh kein Interesse.“

„Wie kannst du das sagen?“, sagte Holly empört.

„Der hat ein Auge auf dich geworfen, so, wie er dich angesehen hat“, merkte Rick an und unterstützte Holly dadurch nur noch weiter.

„Das kann er gerne behalten“, sagte ich schon etwas grummelig. Ich hätte ihm nachgehen und das klären sollen. Doch dafür war es jetzt schon zu spät. ich drehte mich einfach von den beiden weg und kümmerte mich weiter um die Bar. Ich wollte mich mit Arbeit ablenken, doch so einfach, wie ich es mir gedacht hatte, funktionierte es nicht. Dieser Mason Starck spukte in meinen Gedanken herum. Was dachte er sich nur dabei? Die Einladung an sich war ja eine nette Geste gewesen, doch ein Nein, hatte er nicht akzeptieren wollen. Was war nur mit diesem Mann?

Der Rest des Abends oder eher der Nacht verging nur schleppend. Meine Stimmung war dank dieses Mannes dahin, dabei hatte er mir am Anfang durch sehr gut gefallen. Seine Selbstverständliche Art, die Dinge so zu drehen, dass sie ihm in den Kragen passten, nervte mich allerdings. Ich begann sogar daran zu zweifeln, ob es wirklich nur Zufall gewesen war, dass er ausgerechnet heute hier in meine Bar gekommen war.

Was wenn nicht?

 

 

Nachdem schließlich auch die letzten gut angetrunkenen Gäste gegangen waren, war es fünf Uhr in der Früh. Ich fühlte mich extrem ausgelaugt und eigentlich wollte ich nur noch ins Bett. Trotzdem wartete vorher noch etwas Aufräumarbeit auf uns, denn die Bar sah aus wie ein Schlachtfeld. Es blieb natürlich nicht aus, dass Getränke verschüttet wurden und Gläser kaputt gingen. Doch nun klebte der Boden - und die Tische - und verlangten danach, dass man sie säuberte. Jeder, der mal eine Feier in den eigenen vier Wänden gegeben hat, dürfte wissen, dass es am nächsten Tag noch ekeliger wurde. Dann klebte es erst alles richtig und wenn man dann auf Socken durch den Raum gehen will, zieht der Boden sie einem einfach aus. Bei dem Gedanken schüttelte es mich. Nein, besser wir erledigten das jetzt noch schnell, dann war morgen alles wieder in Ordnung und wir konnten ruhig nach Hause gehen.

Wir hatten die Musik ausgestellt und hatten gerade Besen und Wischmopp aus dem Lager geholt.

„Der Abend war ein Erfolg“, sagte Rick und warf dabei einen Blick in die Kasse.

„Ja?“

Er nickte. „Sieht ganz so aus. Es ist gut was weggegangen.“

„Das ist wie Musik in meinen Ohren“, sagte Holly und schnappte sich den Besen. Während sie die ganzen Scherben auffegte, ging ich mit dem Mopp hinterher. Rick räumte unterdessen den Tresen auf und verstaute alles wieder an seinen rechtmäßigen Platz. Es dauerte seine Zeit und wirklich fitter wurde ich dadurch auch nicht, doch schließlich hatten wir alles geschafft. Holly wirkte noch so frisch und munter wie zu Beginn und Rick sah, bis auf die müden Augen, auch noch gut aus. Ich hatte das Gefühl, dass ich die einzige war, die sich so fühlte, als würde sie gleich umfallen. An diesen Job musste ich mich definitiv noch gewöhnen.

„Bis später“, sagte Rick und ich verkniff mir das „bis morgen“ da es ja bereits morgen war.

„Du solltest wirklich zu diesem Fest gehen“, sagte Holly, woraufhin ich nur genervt seufzte.

„Gute Nacht, Holly“, sagte ich und ignorierte das, was sie gerade gesagt hatte.

Wieso meinten alle, dass ich unbedingt zu diesem Fest gehen sollte? Ich kannte dort schließlich niemanden.

Vielleicht gerade deswegen?

Ach Quatsch. Kein Mann lud eine ihm unbekannte Frau einfach so zu einem Fest mit Gästeliste ein Zumindest nicht ohne Hintergedanken.  Irgendetwas stimmte da einfach nicht. Es sollte mir egal sein, doch das war es nicht. Es interessierte mich, wieso Starck gerade mich eingeladen hatte und nicht irgendeine andere.

Den ganzen Heimweg dachte ich darüber nach. So kam mir der Weg gar nicht so lang vor.

Endlich in meiner Wohnung angekommen begann ich noch im Flur meine Sachen auszuziehen. Achtlos ließ ich sie auf den Boden fallen, während ich mir einen Weg ins Bad bahnte und unter die Dusche stieg. Mein Haar roch nach Zigarettenrauch und der Rest nach Alkohol. Mit geschlossenen Augen stand ich unter dem warmen Wasser und spürte sofort, wie sich meine Glieder entspannten.

Ich verteilte etwas Duschgel auf meiner Haut und massierte das gut riechende Gel sanft ein. Als ich mit meinen Händen über meine Brüste strich, damit auch diese etwas von dem Gel abbekamen, stellten sich meine Brustwarzen sofort auf. Dass da manchmal eine so leichte Berührung ausreichte... Ich wiederholte sie und seufzte leise, weil es sich gut anfühlte. Leicht biss ich mir auf die Unterlippe und ließ meine Hände tiefer wandern.

Was war nur los mit mir?, fragte ich mich kurz, doch dann war es mir auch schon wieder egal. Ich wollte Entspannung und die konnte ich mir verschaffen.

Meine Hand schob sich zwischen meine Beine, die ich leicht spreizte. Durch das Gel fühlte es sich gleich noch intensiver an, als ich mich sanft selbst berührte.

Hmm, das tat so gut. Immer weiter bewegte ich meine Hand und nach und nach spülte das Wasser all den Schaum und meine eigene Feuchtigkeit weg.

Ich freue mich auf Sie, hallte Masons Starcks Stimme plötzlich durch meinen Kopf wieder.

Hastig schlug ich die Augen auf. Es hatte sich so real angehört, dass ich mich kurz selbst davon überzeugen musste, dass ich allein war. Ich zog den Duschvorhang zur Seite und starrte in das bis auf mich leere Badezimmer. Natürlich war ich allein und diese Worte nur ein Erzeugnis meines Kopfes gewesen.

Reiß dich zusammen, ermahnte ich mich selbst, so hat er das außerdem gar nicht gesagt.

Ich nahm mir mein Handtuch und wickelte es um mich. Schnell föhnte ich mir die nassen Haare und schlüpfte dann in einen Slip und ein viel zu großes T-Shirt.

Als ich im Bett lag und mir die Decke bis zu Ohren gezogen hatte, konnte ich kaum glauben, dass ich gerade unterbewusst an diesen reichen Schnösel gedacht hatte während ich mich selbst berührt hatte.

Das Kribbeln zwischen meinen Beinen war noch immer deutlich zu spüren, doch vom Kopf her war diese leichte Erregung nun verschwunden.

Na vielen Dank Mr. Starck.

Kapitel 11 – Klein und schwarz

Ich schlief erstaunlich gut bis zum Mittag. Zwar waren das nur etwa sechs Stunden gewesen, doch das machte nichts.  Ich hatte mich eigentlich immer als Frühaufsteher bezeichnet, auch wenn ich es liebte, ewig lange im warmen, flauschigen Bett zu liegen auch ohne zu schlafen. Meist versank ich dann in Gedanken und bemerkte gar nicht, wie die Zeit dahinflog.

Nachdem ich mich dann aber doch aus dem Bett geschält hatte, setzte ich mir zu allererst einen Kaffee auf. Der Motor musste schließlich erst mal in Gang kommen. Während ich darauf wartete, dass der Kaffee durchlief, Leon hatte da leider nur eine herkömmliche Kaffeemaschine, schaltete ich meinen Laptop an und checkte meine Mails. Sie waren so ziemlich der einzige Kontakt, abgesehen von dem kurzen Gespräch mit Claire gestern, den ich noch zu meinen Freunden – und wie ich gerade feststellte auch zu meiner Familie – hatte.

Ich hatte doch tatsächlich eine Mail von meinem technikfeindlichen Vater bekommen, die er heute Morgen abgeschickt hatte.

 

Hallo mein Schatz,

ich hoffe es geht dir gut und du hast dich gut eingelebt. Da du dich bisher noch nicht wieder gemeldet hast, gehe ich davon aus, dass du einiges zu tun hast. Ich wollte nur mal nach dem Rechten fragen und ob du etwas brauchst. Es wäre schön, wenn du dich bei Gelegenheit melden könntest. Wir vermissen dich, Joanna.

 

Ich seufzte bei den letzten Worten. Auch ich vermisste sie. Sehr sogar, wie mir gerade auffiel. Ich war in den letzten Tagen einfach so beschäftigt gewesen, dass ich gar nicht dazu gekommen war, mir groß Gedanken um meine Eltern zu machen. Das schockierte mich selbst und ehe ich mich versah, hatte ich mein Handy in der Hand und die Nummer meiner Eltern gewählt.

„Harvelle, Hallo?“  Es war die Stimme meines Vaters und er klang so grummelig wie immer, wenn er ans Telefon gehen musste.

„Dad, im ernst, wie lange hast du für diese Mail gebraucht?“, fragte ich ihn grinsend

„Jo“, erkannte er mich und die Überraschung klang in seiner Stimme mit. „Wie schön, dass du dich meldest.“

„Ja, ich hatte viel um die Ohren. Die Bar und das alles.“

„Ist sie denn schon offen?“

„Ja, seit gestern. Ich hatte großartige Hilfe von den ehemaligen und nun wieder neu eingestellten Mitarbeitern. Rick und Holly sind wirklich toll.“

„Dann bin ich ja beruhigt. Jemanden zur Hand zu haben, der sich mit der ganzen Sache auskennt, ist immer gut.“

„Wie geht es euch?“

„Ach uns geht es gut. Nur du fehlst uns hier ein bisschen.“

„Ihr fehlt mir auch. Bald kommt ihr mich besuchen, ja?“

„Das werden wir, versprochen.“

„Gut. Da freue ich mich drauf.“ In meinem Hinterkopf hallten diese Worte wieder, nur war es eine andere Stimme die sie sprach.

„Deine Mom möchte dich sicherlich auch noch kurz sprechen.“

„Dann gib sie mir. Ach Dad?“

„Ja?“

„Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.“ Ich hörte ihn rumgrummeln und glaubte, etwas wie '20 Minuten' herausgehört zu haben.

„20 Minuten für die paar Worte?“, fragte ich nach und lachte. „Das üben wir aber nochmal, Dad.“

„Jaja, du weißt doch, dass ich mit so was nicht gut umgehen kann. Es hat etwas gedauert, bis ich die richtigen Buttons gefunden habe.“

„Ich zeige es dir beim nächsten Mal.“

„Jaja. So ich gebe dich jetzt an deine Mutter weiter. Sie tippelt schon ungeduldig mit dem Fuß.“

„Oh das ist kein gutes Zeichen. Ich hab dich lieb.“

„Ich dich auch, mein Schatz.“

Dann wurde es still und ich hörte das Knistern und Krascheln, wenn man um die Sprechmuschel fasste.

„Joanna, Liebes. geht es dir gut?“, fragte mich die hohe Stimme meiner Mutter.

„Ja, Mom, mir geht es gut.“

„Du hast Leons Bar schon wieder aufgemacht?“

„Ja“, sagte ich und erzählte ihr nochmal dasselbe wie zuvor meinem Vater, damit sich auch keiner der beiden vernachlässigt fühlen konnte.

„Da bin ich ja beruhigt“, seufzte sie, als ich schließlich geendet hatte. „Ich habe in den letzten Nächten kaum geschlafen, weil ich nicht wusste, wie es dir geht.“

„Du hättest doch anrufen können.“

„Ich wollte nicht wie eine alte Glucke rüberkommen.“

„Ach Mom“, lachte ich. Ihr verlegenes Lächeln konnte ich vor meinem inneren Auge sehen. So verhielt sie sich immer in solchen Situationen. Ich kannte sie einfach.

„Nein, ist schon gut. Ich vertraue dir, Joanna. Du wirst das alles schon richtig machen. Und wenn nicht, dann kannst du jederzeit zurückkommen.“

„Ich hoffe wirklich, dass das nicht nötig ist, aber danke.“ War das die besagte Glucke, die da zum Vorschein kam?

„Na gut, damit muss ich wohl leben.“

„Musst du, ja“, sagte ich kichernd. Ich wusste genau, dass meine Mutter das gar nicht so witzig fand, doch für mich war das total komisch. Sie war nie diese Art von Person gewesen, die sich zu große Sorgen gemacht hatte, das hatte sich erst nach Leons Tod geändert. Erst da war diese Glucke zum Vorschein gekommen.

Ich hätte meine Eltern wirklich gerne in meiner Nähe, doch sie hatten ihr Leben, ihre Jobs und ihre Freunde in Kansas City und das war gut so. Ich wusste, dass sie sich dort wohl fühlten und würde sie niemals bitten, meinetwegen ihr Zuhause zu verlassen, auch wenn ich mir sicher war, dass sie es tun würden.

„Es ist wirklich schön hier“, versuchte ich sie etwas zu beruhigen. Ich hatte zwar noch nicht so viel von Orchard Park gesehen, doch das was ich gesehen hatte, reichte mir für diese Aussage. „Ihr werdet es ja bald sehen.“

„Dann warte ich ab jetzt auf deine Einladung“, lachte sie heiter.

Einladung...

Mist. Schon wieder musste ich an diesen Kerl denken. Wieso erinnerte mich ständig etwas an diesen eingebildeten Millionär? Ich wünschte mir wirklich ich hätte meine Koffer allein hier hoch gewuchtet und ihn so niemals kennengelernt.

„Joanna?“

„Oh, ja. Die bekommt ihr bald“ versicherte ich ihr, war aber noch völlig durcheinander. „Ich muss jetzt gleich los. Wenn etwas ist, meldet euch ruhig, ja?“

„Machen wir. Sei vorsichtig.“

Ich rollte mit den Augen, grinste aber. „Ja, Mom. Ich hab euch lieb.“

„Wir dich auch, Schätzchen.“

Damit beendete ich das Telefonat und legte mein Handy wieder weg. Ein Blick auf meinen Laptop und mir fiel auf, dass ich die Mail von Claire noch gar nicht gelesen hatte, da mich die von meinem Vater ein bisschen aus der Bahn geworfen hatte. Wäre nicht das erste Mal, dass ich in den vergangenen Tagen aus der Bahn geworfen wurde...

 

Wie war's? Wie war's? Wie war's???

Oh du musst mir einfach alles erzählen. Ich bin so gespannt und hasse es übrigens immer noch, dass ich nicht dabei war *schmoll*

Ich brenne schon darauf, alles zu erfahren.

Meld dich :-*

 

Da ich noch etwas Zeit hatte und das, was ich zu meiner Mutter gesagt hatte, nur eine Kleinigkeit gewesen war, um das Herumgedrugse am Telefon zu beenden, nahm ich mein Handy wieder und suchte Claires Nummer aus dem Telefonspeicher. Er klingelte nur drei Mal, da wurde auch schon abgenommen.

„Wieso meldest du dich jetzt erst?“, giftete sie mich gleich an, lachte dann aber sofort und nahm ihren Worten die Schärfe.

„Weil ich gerade erst aufgestanden bin?“

„Langschläfer“, maulte sie.

„Hey! Ich hab ne lange Nacht hinter mir.“

„Und jemanden kennengelernt? Eine Frau hinter der Bar wird doch bestimmt oft angequatscht.“

Ich seufzte schwer.

„Aha. Also ist da einer, ja?“

Manchmal hasste ich es wirklich, dass sie mich so gut kannte.

„Nein nicht wirklich. Es ist nur...“

„Sag schon.“

„Ach da war so ein Typ“, begann ich, da ich vor Claire sowieso nichts lange geheim halten konnte. „der hat mir, als ich angekommen bin, bei meinem Koffern geholfen. Aber noch bevor ich seinen Namen erfahren konnte, war er auch schon wieder weg. Ich hab mir da nichts bei gedacht, bis genau der Typ gestern in der Bar aufgetaucht ist.“

„Und? Könnte Zufall gewesen sein.“

„Das habe ich auch gedacht, aber jetzt besteht er darauf, dass ich heute Abend zu so einer Schickimicki-Party gehen soll, die er gibt. Ich meine, das ist doch total bescheuert, schließlich kenne ich ihn ja gar nicht.“

„Sieht er denn gut aus?“

„Was? Ähm, ja schon, aber das spielt doch gar keine Rolle. Der Punkt ist, dass dieser Typ es einfach als selbstverständlich betrachtet.“

„Wie heißt er denn?“

„Mason Starck“, sagte ich widerwillig.

Einen Moment blieb es ruhig, dann hörte ich sie schnurren, fast schon wie eine Katze.

„Der ist ja wirklich süß“, sagte sie. „Mason Starck, geboren am 21.05.1981, ist ein erfolgreicher...“

„Liest du das gerade irgendwo ab?“, fragte ich dazwischen.

„... Unternehmer. Er stammt aus dem Ort Orchard Park, in der Nähe von Buffalo, wo er...“

„Hast du ihn gerade gegooglet?“ Sie beachtete mich gar nicht, sondern las weiter.

„...ein millionenschweres Unternehmen auf die Beine gestellt hat. Wow. Und dieser Typ hat dich eingeladen?“

„Ich muss mich gerade wirklich zusammenreißen, um nicht aufzulegen, Claire“, sagte ich grimmig.

„Das ist doch voll cool. Ich meine, hallo? Der ist n Millionär.“

Ich seufzte schwer. Ja. Er war reich, sah gut aus, nur war das, was er mir bereits von seinem Charakter gezeigt hatte, unverschämt, egoistisch und zu sehr von sich selbst eingenommen!

„Ist jetzt auch egal. Ich gehe da nämlich nicht hin.“

„Wieso nicht?“, jammerte sie. „Ich würde sofort mit dir tauschen.“

„Das würde Matt aber bestimmt nicht gefallen.“

„Ach. Der würde das verstehen“, sagte sie lachend. „Wie war denn die Eröffnung sonst so?“

Gott sei Dank ließ sie es dabei beruhen und wechselte das Thema.

„Die war wirklich gut. Es war verdammt anstrengend, hat aber auch richtig Spaß gemacht.“

„Und kam gut Kohle in die Kasse?“

„Ja. Aber ich denke mal, dass die nächsten Tage etwas ruhiger werden.“ Dann erzählte ich ihr noch von dem anfangs unheimlichen Auftritt der Biker, die sich dann aber als harmlose Gäste herausstellten.

„Dann hast du ja auch wieder mehr Zeit mir zu schreiben.“ Ich hörte sie lachen.

„Apropos, musst du nicht arbeiten?“

„Eigentlich schon, aber ich mache gerade eine etwas in die Länge gezogene Mittagspause.“

„Du hättest doch was sagen können. Ich will dich auch nicht von der Arbeit abhalten.“

„Ach mach dir nichts draus.“

„Doch, Claire. Und jetzt zurück an die Arbeit.“

„Du bist n Sklaventreiber, weißt du das? Wie halten deine zwei Mitarbeiter das eigentlich aus?“

„Die sind ganz von allein motiviert.“

„Vielleicht sollte ich sie mal warnen.“

„Los, zurück an die Arbeit. Nicht dass du meinetwegen noch rausfliegst.“

„Dann ziehe ich eben auch nach Orchard Park und werde Barkeeperin.“

Ich musste lachen. Was für eine Vorstellung. Claire war zwar meine beste Freundin, doch ich würde sie wohl nie in meiner Bar arbeiten lassen, eben weil ich sie so gut kannte.

„Wohl eher nicht“, sagte ich, als ich mich wieder beruhigt hatte.

„Ach komm, wenn es wirklich so kommen würde, würdest du mich nicht auf der Straße stehen lassen.“

„Das nicht, aber ich würde dich wahrscheinlich nicht hinter die Bar lassen.“

„Naja, da würde sich wohl auch noch was anderes finden.“

„So jetzt ist genug. Du musst arbeiten und ich muss mich auch fertig machen. Auf mich wartete nämlich noch eine Menge Papierkram.“

„Das klingt ja spannend“, sagte sie sarkastisch und seufzte.

„Na gut, dann schreib mir, wie das Fest bei Mr. Starck so war.“

„Ich gehe da nicht hin.“

„Solltest du aber. Hab dich lieb, Süße.“

„Ich dich auch.... manchmal.“

Sie lachte noch kurz, dann brach die Leitung ab. Es war doch zum Ausrasten. Wieso fanden das alle - alle außer mir! - so toll, dass Starck mich eingeladen hatte?

 

 

Ich schaffte es trotz der verwirrenden Gedanken an Claire, meine Eltern und auch Starck, in einer Stunde wieder in der Bar zu sein. So lag ich noch immer ungefähr in meinem Zeitplan und konnte mich in aller Ruhe um die weiteren Unterlagen kümmern.

Leider blieb es eine eintönige Arbeit, die schnell müde machte. Ich musste mir zwischendurch einen Kaffee holen, damit meine Augen auch ja auf blieben.

Systematisch arbeitete ich mich so durch die Ordner und versuchte Leons Methode, wie und wann er was gekauft hatte, nachzuvollziehen und zu verstehen. Ich glich die letzten Belege mit seinen Tabellen auf dem Computer ab und ergänzte sie durch die von vor einigen Tagen.

Ich vergaß völlig die Zeit, hatte keine Ahnung wie viel Zeit tatsächlich vergangen war, als ich schließlich die Tür zur Bar hörte.

„Jo?“

„Im Büro“, rief ich, da ich gerade nicht den Überblick über das Chaos auf meinem Tisch verlieren wollte.

Es war Holly, die die Stufen nach oben kam.

„Was machst du denn schon hier?“, fragte ich sie überrascht.

„Ähm. Es ist halb sechs.“

„Tatsächlich?“, fragte ich überrascht und starrte auf die Uhr unten rechts auf dem Bildschirm. Als ich mich dann zurücklehnte, spürte ich, wie erschöpft ich doch schon von dem ganzen Papierkram war.  Ich atmete tief durch und stand mit schlaffen Beinen auf. Ein Glück, dass sie nicht eingeschlafen waren.

„Wie lange bist du denn schon hier?“

„Ich glaube seit halb drei?“ Ich war mir nicht sicher, hatte die Uhr einfach nicht beachtet.

„Wollen wir erst mal ‘nen Kaffee trinken?“, schlug sie vor und das klang wie Musik in meinen Ohren.

„Gute Idee.“

Wir waren gerade auf der schmalen Treppe, als ich die Tür zur Bar ein weiteres Mal hörte. Ich vermutete, dass das wohl Rick war, doch als ich in die eigentliche Bar kam, stand dort nur ein Kurier.

„Ich habe hier eine Sendung für Joanna Harvelle“, sagte der junge Mann und las dabei meinen Namen von dem Päckchen ab.

„Das bin ich“, sagte ich und ging zu ihm.

„Bitte unterzeichnen Sie hier“, sagte er und hielt mir eines dieser elektronischen Geräte hin, in dessen Feld man seine Unterschrift setzte.

„Viel Spaß damit“, sagte er und drehte sich schon wieder zum Gehen um.

„Danke“, rief ich ihm noch nach, doch da war er auch schon wieder draußen.

Was war das für ein Päckchen. Es war so groß wie ein Schuhkarton für lange Stiefel, also musste ich es schon mit zwei Händen halten.

„Was kann das sein?“, fragte ich mehr mich als Holly. Diese war natürlich sofort bei mir und blickte neugierig auf das Päckchen.

Vorsichtig begann ich es auszupacken und als ich den Deckel abnahm sah ich erst mal nur dünnes Papier, in das etwas eingeschlagen war. Auf dem Papier lag auch eine Karte, die ich nahm und las.

 

Miss Harvelle,

Ich kann Ihre Absage auf meine Einladung hin leider nicht akzeptieren. Ich bitte Sie hiermit inständig, dass sie mich mit ihrer Anwesenheit beehren.

Falls Sie abgeholt werden müssen, dann melden Sie sich bei mir und ich werde etwas arrangieren.

M. Starck

 

Unter diesen Zeilen, die per Hand geschrieben wurden, stand noch eine Nummer.

„Oh mein Gott!“

Ich legte die Karte beiseite und sah zu Holly. Sie hatte das Papier zur Seite geschoben und das, was darunter lag, freigelegt. Feiner schwarzer Stoff lugte unter dem Papier hervor. Neugierig, da mich die Entrüstung und die leichte Wut über Starck noch nicht ganz erreicht hatte, nahm ich das Kleidungsstück aus dem Päckchen.

Es war ein schwarzes Cocktailkleid und sah einfach nur umwerfend aus. Es war schlicht, doch war der Schnitt einfach wundervoll gearbeitet worden. Es gefiel mir wirklich, das musste ich zugeben.

„Was steht denn auf der Karte?“

Vom dem Kleid noch völlig abgelenkt reichte ich ihr die Karte.

„Jetzt musst du da definitiv hin.“

Das riss mich in die Realität zurück.

„Bestimmt nicht. Ich lasse mich doch nicht mit diesem Kleid kaufen.“

„Es ist aber ein wirklich schönes Kleid“, sagte sie und nahm mir das Kleid aus der Hand um es mir anzuhalten.

„Holly!“

„Bist du denn gar nicht neugierig, wie ein Mann wie er so lebt? Und wieso er sich so ins Zeug legt, damit du dort auftauchst? Also bei mir hat das noch kein Kerl gemacht.“

Ich öffnete den Mund um etwas zu sagen, doch es kam nichts.

„Und eigentlich war er doch ganz nett“, säuselte sie.

Nett war er gewesen, als er mir mit meinen Koffern geholfen hatte. Aber…

Ja was ‚aber‘?

Mit einem Mal fiel mir nichts mehr ein, was ich darauf erwidern konnte.

Holly hatte Recht. Dieser Kerl schickte mir ein Kleid, damit ich seiner Einladung folgte, als musste er irgendein Interesse an mir haben, was ich noch nicht durchschaut hatte.

Doch was war es?

Kapitel 12 – Das traditionelle Fest des Mason Starck

Das war doch verrückt. Ich konnte unmöglich zu dieser Party gehen. Und erst recht nicht in diesem Kleid. Ein Kleid, das mir vom Gastgeber persönlich geschickt worden war.

Ich würde mir komplett bescheuert vorkommen, dort in diesem Kleid aufzutauchen und ihm damit nur in die Karten zu spielen. Genau das erwartete er doch.

Gleichzeitig hatten mich aber Hollys Worte zum Nachdenken angeregt.

Was wollte dieser Mann von mir, dass er mich nicht einfach in Ruhe ließ? Es musste da einen Grund geben, den ich unbedingt erfahren wollte. So schwer es mir fiel, das gerade zuzugeben, doch ich wollte es wissen.

Hollys Neugierde, wie so ein Millionär wohl lebte, war für mich nur zweitrangig. Vielmehr interessierte mich sein Interesse an mir.

Da ging die Tür ein drittes Mal auf und Rick kam freudig vor sich hin pfeifend in die Bar. Schnell nahm ich das Kleid und legte es zurück in das Päckchen.

„Hey Rick“, begrüßte Holly ihren Kollegen und fiel dann gleich mit der Tür ins Haus. „Meinst du wir schaffen die Bar heute auch zu zweit?“

„Wieso das denn?“

„Jo hat eine Verabredung“, sagte sie grinsend.

„Ha, also gehst du doch hin, ja?“

„Ja“, antwortete Holly an meiner Stelle.  

Ich konnte sie nur verdattert ansehen, woraufhin sie lachte.

„Komm schon. Man sieht dir an, dass du dahin willst.“

„Ich… Nein, eigentlich…“

„Also wir schaffen die Bar auch ohne dich“, sagte Rick ebenfalls grinsend.

Arrgh! Das war doch zum Mäuse melken. Jetzt benahm sich Rick auch schon so wie Holly.

„Geh nach Hause und mach dich hübsch“, sagte er und zwinkerte unmissverständlich.

„Und zieh den heißen Fummel hier an“, fügte Holly hinzu.

Schön, dass die beiden einer Meinung waren und ich ihnen einfach nichts entgegenzusetzen hatte.

Ich seufzte schwer und nahm das Päckchen, setzte den Deckel wieder drauf und schlüpfte dann ohne ein Wort in meine Jacke.

Verdammt, sie hatten mich tatsächlich dazu gebracht.

„Du erzählst uns dann, wie es war, ja?“, rief mir Holly hinterher und lachte.

Ich drehte mich in der Tür noch einmal um und sah sie ziemlich finster an. Dieses junge Küken musste mal einer in seine Schranken weisen.

Als ich die Bar dann jedoch verlassen hatte, und Holly und Rick mich nicht mehr sehen konnten, erhellte sich meine Miene.

Ich musste zugeben, dass ich mich auf dieses Fest freute.

Wieso?

Keine Ahnung, aber es war so. Ich freute mich, auszugehen und das mit dem guten Gewissen, dass sich die Bar in den besten Händen befand.

Ich ging nicht dorthin um Mason Starck zu treffen. Nein. Ich ging dorthin um neue Leute kennenzulernen, schließlich kannte ich noch nicht sonderlich viele Menschen in dieser Stadt und wo konnte man so etwas besser ändern, als auf einer Party. Dass ich dabei das Kleid, welcher mir Starck geschickt hatte, tragen musste, war eben nicht zu umgehen, wenn ich nicht in Jeans und T-Shirt dort erscheinen wollte. Darauf sollte er sich aber ja nichts einbilden.

 

 

Ich kam wenig später mitsamt Päckchen bei mir zuhause an. Dort schleppte ich mich die vielen Stufen bis in den dritten Stock nach oben und betrat die kleine, gemütliche Wohnung. Das Päckchen landete gleich auf dem Küchentisch und ich nahm das Kleid noch einmal heraus. Es war wirklich schön. Schlicht aber elegant, so wie ich es liebte. Es würde mir bestimmt gut stehen... Ach was, so ein Kleid würde jedem gut stehen.

Dann ging ich ins Bad, zog mir Jeans und Shirt aus und begann mir die Haare ein wenig zusammenzustecken. Sie fielen mir weiterhin lang über den Rücken, aber zumindest war mein Gesicht so frei und die Haare störten nicht. Dann schminkte ich mich schnell, passend zum Kleid mit schwarzem Lidstrich und Mascara. Viel mehr wollte ich eigentlich nicht machen, als ging ich ins Schlafzimmer und zog mich um. zum Glück hatte ich mein ganzes Schuharsenal dabei und brauchte gar nicht lange überlegen um zu entscheiden, dass ich meine schwarzen Lieblings-Pumps tragen würde. Da ja alles sehr dezent war, kramte ich aus einer meiner Koffer eine lange goldene Kette heraus, die sehr gut passte. Dafür musste meine kleine Löwin mal einen Tag Pause machen.

Als ich dann komplett fertig auf dem Flur meiner Wohnung stand, überlegt ich doch noch einmal, ob es wirklich sinnvoll war, zu diesem Fest zu gehen. Ich zweifelte, ja, denn ich war mir nur einfach nicht sicher, ob es klug war. Hatte ich mich jetzt ganz um sonst umgezogen und in Schale geworfen?

Nein, du bewegst deinen Arsch jetzt da raus, rufst dir ein Taxi und fährst zu dieser Party!

Ohne Widerworte hörte ich auf meinen Verstand und ignorierte das eigenartige Gefühl dass ich verspürte, wenn ich daran dachte, dass ich ja dieses Kleid trug, und stieg die Treppe nach unten. Ich hatte mir einen cremefarbenen Blazer über das schulterfreie Kleid angezogen und trug als wärmende Schicht meinen Wintermantel darüber.

An den Beinen wurde es ziemlich kalt, als ich nach draußen trat und mein Handy aus der Tasche holte und mir ein Taxi rief. Es dauerte zum Glück nicht lange, bis es anhielt und ich einsteigen konnte um mich vor dem kalten Wind in Sicherheit zu bringen.

„Wo darf‘s denn hingehen, Miss?“

Ich stockte.

Verdammt, ich hatte gar keine Adresse.

„Ähm. Wissen Sie zufällig auch so, wo Mr. Starck wohnt?“ Ich kam mir richtig armselig dabei vor, so nach meinem Zielort zu fragen.

„Ach möchten Sie auch zu der Party?“

„Ja“, sagte ich und es beruhigte mich, dass er anscheinend wusste, wohin ich wollte.

„Sie sind nicht der erste Gast, den ich heute schon zum Starck-Anwesen fahre“, sagte er fröhlich und fädelte sich in den Verkehr ein. „Sie waren wohl noch nicht dort, was?“

Wie er darauf nur kam?, dachte ich mir grinsend. Ein Blitzmerker.

„Nein.“ Ich beließ es bei dieser knappen Antwort. Taxifahrer redeten gerne selbst, zumindest die meisten, mit denen ich bisher gefahren war.

„Mr. Starck gibt dieses Fest jedes Jahr. Es ist schon zu so etwas wie einer Tradition geworden. Viele Einwohner kommen dieser Einladung nach, darunter auch der Bürgermeister und der Polizeichef. Wichtige Persönlichkeiten werden dort sein...“

Ich hörte ihm gar nicht mehr richtig zu, denn es ging mir gewaltig auf die Nerven, dass alle Welt so toll von Mason Starck redete. Die hatten wohl noch nie diese eine Seite von ihm erlebt, die ich gestern Abend kennenlernen durfte...

Etwa fünfzehn Minuten später fuhr das Taxi durch ein großes Tor, welches offen stand, und dann eine lange Einfahrt entlang. Ein wirklich großes weißes Haus, nein, eine Villa kam in Sicht. Diverse teure Autos standen schon dort und verhießen reiche Inhaber, die sich im Inneren der Villa aufhalten mussten. Die Hauswände wurden bestrahlt und leuchteten so im Vergleich zum noch frühen Abend noch heller. Auch aus den Fenstern drang helles, aber warmes Licht nach draußen.

„Viel Spaß, Miss“, sagte der Taxifahrer, als ich ihn bezahlt hatte. Ich stieg aus und musste wirklich aufpassen auf dem Kies nicht umzuknicken. Ein gebrochenes Bein konnte ich nun wirklich nicht gebrauchen.

Vorsichtig ging ich so über den Kiesweg zur breiten Treppe, die zur Eingangstür führte. Ich sah mich neugierig um, doch so sehr mich Starcks Art abschreckte, so hatte er doch einen ausgezeichneten Geschmack. Vor der Tür drehte ich mich noch einmal um, ließ meinen Blick über die breiten Rasenflächen rechts und links des Weges wandern. Es war wirklich schön, das musste ich zugeben.

Dann sah ich wieder zu der Tür, die ebenfalls in einem schlichten Weiß gehalten war. Sollte ich klopfen oder einfach reingehen? Von Innen hörte ich schon leise Musik und das Stimmengewirr von sich unterhaltenen Menschen. Es würde wahrscheinlich gar nicht auffallen, wenn ich einfach so hineinging, oder?

Ich wollte gerade den Türknauf drehen, als ich feststellte, dass er sich gar nicht drehen ließ. Enttäuscht, dass mein Plan nicht so funktioniert hatte, wie ich es mir gewünscht hatte, drückte ich auf die Klingel - und zuckte zusammen, als ich sie selbst hier draußen vor der Tür sehr laut hörte. Kurz lauschte ich, doch das Stimmengewirr blieb bei seiner Lautstärke. Das beruhigte mich dann doch wieder.

Ich wartete bis die Tür geöffnet wurde.

Wer sie öffnete, war ja wohl klar...

„Guten Abend, Miss Harvelle“, sagte er in einem sehr höflichen Tonfall und bat mich durch eine lange Armbewegung ins Innere.

„Guten Abend, Mr. Starck“, sagte ich und betrat das riesige Haus. Was sich mir auftat war ein riesiger Eingangsbereich, so wie man ihn sich in einem Schloss vorstellte. Zwei große geschwungene Treppen führten in den ersten Stock und in der Mitte hing ein großer Kronleuchter, der sanftes Licht verstrahlte. Mir wurde mein Mantel abgenommen, so wie es sich wohl in einer solchen Klasse gehörte.

Mit großen Augen sah ich mich um. Die Einrichtung war dezent, kleine Tische standen am Rand des Eingangsbereichs mit kleinen Pflanzen oder anderen schlichten Dekorationen.

„Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“, fragte mich Starck und hielt mir seinen Arm entgegen. Ich wollte das zwar eigentlich gar nicht, doch dank meiner Mutter wusste ich, was sich gehörte. Ich legte meinen Arm in seinen und ließ mich von ihm nach rechts dirigieren. Dort, einen Raum weiter, standen die ganzen Gäste, die ich schon von draußen gehört hatte. Die meisten beachteten mich gar nicht, was ich gut fand, und unterhielten sich einfach weiter. Starck, der, wie mir gerade auffiel, in einem schlichten schwarzen Anzug gekleidet war, führte mich so durch den Raum, durch einen großen Bogen, der mit feinem Stuck verziert war, bis zu einer Bar, hinter der ein Barkeeper stand.

„Sie sehen übrigens hinreißend in diesem Kleid aus.“

Unsicher biss ich mir auf die Unterlippe und nuschelte ein recht schüchternes „Danke.“ Was war nur los mit mir? So schüchtern kannte ich mich selbst ja gar nicht.

„Champagner?“

„Gerne.“ Gut, etwas um meine Nerven zu beruhigen, dachte ich mir und nahm das Glas mit der sprudelnden Flüssigkeit entgegen.

„Ich hatte schon gar nicht mehr mit Ihnen gerechnet, Miss Harvelle.“

Machte es ihm Spaß, mich ständig so anzusprechen?

„Ich wurde quasi dazu genötigt“, sagte ich und zuckte mit den Schultern.

„Na dann bin ich froh, dass, wer auch immer sie dazu gebracht hat, sie überreden konnte.“

„Eigentlich war ich nur scharf auf die Freigetränke“, scherzte ich und hob mein Glas ein Stück an. Starck stieß seins locker dagegen und wir tranken einen Schluck.

„Nun dann trinken sie so viel sie wollen“, sagte er fast schon flüsternd. Seine Stimme hatte etwas Verschwörerisches an sich, als er so sprach.

„Was ist der Anlass dieses Festes?“, fragte ich und nahm einen weiteren Schluck. Hatte ich schon jemals richtigen Champagner getrunken?

„Fragen sie das mal die Gäste hier“, sagte er grinsend und deutete auf den Raum, durch den wir auf dem Weg zu Bar gegangen waren. „Ich glaube nicht, dass auch nur einer von denen Ihnen diese Frage beantworten könnte.“

„Ich habe schon gehört, dass es eine Tradition ist, aber auch diese haben irgendwo mal einen Anfang gehabt.“

„Es war vor, lassen Sie mich überlegen, sechs oder sieben Jahren, da feierte meine Firma einen großen Erfolg. Für diese Kleinstadt hier war es ein sehr großes Ereignis und ich dachte mir, es wäre richtig es gebührend zu feiern.“

„Und wie wurde daraus eine Tradition?“

„Die Gäste, die ich damals eingeladen hatte, sprachen monatelang über nichts anderes und so wurde von mir erwartet, diese Festlichkeit zu wiederholen.“

„Und das haben Sie einfach aus Nächstenliebe gemacht?“, fragte ich mit hochgezogener Braue.

„Wieso fragen Sie das so skeptisch?“, konterte er und sah mich seinerseits interessiert an.

„Es war eine einfache Frage.“

„Meine auch.“

Ich sah ihm weiterhin in seine grünen Augen. Selbst bei elektrischem Licht waren sie wirklich hell. Wahrscheinlich würden solche Augen im Dunkeln leuchten, wenn das möglich wäre.

„Wenn es Sie nicht stört, sehe ich mich ein bisschen um.“

„Nur zu, Miss Harvelle“, sagte er leise.

Ich zwang mich, den Blick von diesen Augen zu lösen, stattdessen wanderten sie kurz über sein blondes Haar, welches perfekt gestylt war, aber dennoch leicht wuschelig aussah.

Wie es wohl war, mit den Händen hindurchzufahren…

Ich drehte mich schnell von ihm weg, bevor meine Gedanken noch in völlig falschen Bahnen liefen. So ging ich zurück in den großen Raum, er glich eher einem Saal, und sah mich etwas um. Von den ganzen Gästen kannte ich niemanden, denn wer sich sonst so in meiner Bar herumtrieb gehörte wohl nicht zu dieser Klientel hier.

Da sich hier schon viele kleine Grüppchen gebildet hatten, streifte ich etwas durch den Raum, grüßte hier und da ein unbekanntes Gesicht und sah mir dabei diese riesige Villa an.

Meine Füße trugen mich durch den ganzen Saal, ich sah mir die Leute an, ihre Kleidung, aber auch die Einrichtung der Villa und die wirklich schönen Bilder, die an den Wänden hingen. Der Saal wirkte nicht überladen, obwohl ich fünf wirklich beeindruckende Kunstwerke zählen konnten. Ich erkannte da zwar keinen Künstler hinter, da ich mich mit Kunst nicht wirklich auskannte, doch sie sahen sehr wertvoll aus.

Ich blieb vor einem wirklich schönen Bild stehen und betrachtete es. Es war ein Gemälde, welches einen idyllischen See bei Nacht zeigte. Der Mond spiegelte sich auf der Wasseroberfläche. Irgendwie wirkte es beruhigend auf mich.

„Ein schönes Stück, nicht wahr?“

Ich zuckte sofort zusammen, denn mit dieser Stimme hinter mir hatte ich nicht gerechnet.

„Müssen Sie mich so erschrecken?“, fragte ich noch bevor ich mich zu Starck umgedreht hatte.

„Entschuldigen Sie, das war keine Absicht. Ich habe mich nur gefragt, ob sie an einer kleinen Hausführung interessiert wären?“

„Warum nicht“, antwortet mein Mund schneller als mein Verstand. Ja, na klar war eine Rundführung durch so ein Haus interessant, doch nicht mit ihm. Und vor allem nicht allein. Nicht, wenn mein Kopf ständig komisch Dinge dachte.

„Na dann“, sagte er und bot mir wieder seinen Arm an. Dabei lächelte er mich charmant, sodass ich das Angebot annahm. Er führte mich zurück durch den Saal. Bei einer kleinen Gruppe von sich unterhaltenden Gästen blieben wir stehen.

„Meine Herren“, sprach er die Gruppe aus drei Männern an. Alle waren in edlen Anzügen gekleidet. „Darf ich Ihnen jemanden vorstellen?“

„Joanna Harvelle“, unterbrach ich ihn, noch bevor er mich vorstellen konnte, denn das konnte ich sehr gut allein. Freundlich streckte ich jedem der, wie ich glaubte, wichtigen Männern die Hand entgegen.

„Freut mich, Miss Harvelle“, sagte einer von ihnen, mit schon leicht grauem Haar. „Ich bin Frances Archer, der Bürgermeister.“

„Freut mich ebenfalls.“

„Und das sind der Polizeichef von Orchard Park, Sergeant Bishop und der Leiter des Krankenhauses, Dr. Nolan.“

„Einen guten Abend“, sagte der Doktor und auch der Sergeant begrüßte mich.

Die drei wichtigsten Männer dieser Stadt standen hier vor mir und keiner von ihnen wirkte überheblich oder eingebildet.

„Miss Harvelle ist erst vor kurzem in die Stadt gezogen“, sagte Starck zu den dreien und ich musste mich wirklich zusammenreißen, nicht mit den Augen zu rollen. Wollte er hier meine Lebensgeschichte erzählen?

„Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, meine Herren“, sagte ich höflich und wandte mich dann von ihnen ab. Starck folgte mir und lachte leise, als wir in sicherer Entfernung zu den Männern waren.

„Machen solch wichtige Persönlichkeiten Ihnen Angst?“

„Was wollen Sie eigentlich von mir, Mr. Starck? Wenn ich sie etwas frage, dann weichen Sie aus und wenn ich mich normal mit Ihnen unterhalten will, dann kommen sie mit Scherzen und Neckereien. Was denken Sie eigentlich…“

„Nennen Sie mich doch Mason“, sagte er dazwischen.

„Was?“, fragte ich perplex, da ich seine Worte noch gar nicht verstanden hatte.

„Und lassen Sie dieses Gesiezte weg. Wäre dir das recht?“ Er sah mir tief in die Augen und ich hatte das Gefühl, meine Beine würden weich werden.

Wieso musste dieser Kerl auch so unverschämt gut aussehen?

„Also gut.“

„Dann komm“, sagte er, verhakte unsere Arme wieder so wie zuvor und legte sanft seine warme Hand auf meine. Dort, wo sich unsere Haut berührte, begann es zu kribbeln.

Na klasse. Jetzt sah es auch noch danach aus, dass mein Körper auf Mason Starck stand.

Fantastisch.

Eine ganze Zeit führte er mich herum, erzählte mir etwas zu manchen Gemälden und auch von seinem Unternehmen. So erfuhr ich, dass er sein Unternehmen von Grund auf aufgebaut hatte. Als Selbstständiger hatte er mit diesem Unternehmen bereite Millionen verdient. Das Unternehmen selbst war so konzipiert, dass es anderen, kleineren Unternehmen wieder auf die Beine half und damit am Gewinn beteiligt wurde. So wirklich verstand ich das Verfahren dahinter nicht, doch es interessierte mich auch nicht genug, als dass ich noch weiter nachgefragt hätte.

„Und das hier ist mein Büro“, sagte er schließlich, als wir in einem Raum in der ersten Etage waren. Auch dieser Raum war größer als ein normales Büro, hatte einen großen Schreibtisch und an den Wänden lange Regale, die voll mit Büchern, Akten und Ordnern waren.

„Hier scheffelst du also deine Millionen?“

Zwischendurch hatten wir noch einen Halt an der Bar eingelegt um unsere Gläser aufzufüllen.

„Eigentlich habe ich Angestellte für so etwas“, sagte er grinsend. „Nur wenn es wirklich sein muss, mische ich mich da ein.“

„Das klingt einfach.“

„Das war es aber nicht immer.“

„Willst du dich jetzt beschweren?“ Der Champagner stieg mir wirklich zu Kopf.

„Würde mir nie einfallen“, sagte er und warf mir wieder diesen Blick zu, der meine Knie weich werden ließ.

Ich drehte mich von ihm weg, begutachtete einige der riesigen Regalkonstruktionen.

Ich hörte Schritte, wusste, dass er mir folgte. Dann spürte ich seinen Atem in meinem Nacken.

„An was denkst du?“, hauchte er die Frage nahe meinem Hals, sodass mir ein wohliger Schauer über den Rücken lief.

„An gar nichts“, entgegnete ich ihm ruhig und drehte mich um. Seine grünen Augen lagen hungrig auf mir. Ich musste zu ihm aufsehen, da er ein Stückchen größer war als ich.

„An gar nichts?“, fragte er nach und lehnte sich zu mir herunter.

Leicht schüttelte ich den Kopf, während mein Blick an seinen Lippen hing. Ich sah sie näherkommen, er senkte den Kopf weiter nach unten, näher an meinen heran und dann legten sich seine Lippen auf meine. 

Kapitel 13 - Der Traum

Masons Lippen schmiegten sich sanft an meine, bewegten sich langsam und massierten meine. Seine Hand fuhr in meinen Nacken, um mich dichter an ihn zu ziehen und noch folgte ich ihm. Der zarte Kuss, der meinen ganzen Körper zum Kribbeln brachte, wurde schnell forscher und fordernder. Was tat ich da eigentlich?

Ich schlug die Augen auf, sah, dass seine doch tatsächlich geschlossen waren und legte meine Hände auf seine Brust um ihn von mir zu schieben.

Ich hatte Recht behalten. Das war es, was er von mir wollte. Sex, nichts weiter, sonst hätte er das hier doch niemals getan.

Mein Körper spannte sich an und ich zwang meine Stimme, so neutral wie möglich zu klingen, wenn nicht sogar etwas kühler als sonst.

„Ganz ruhig, Casanova“, sagte ich, als ich ihn von mir gedrückt und dadurch der Kontakt unserer Lippen geendet hatte. Meine Atmung ging noch immer schnell, denn so ganz war dieser Kuss nicht an mir vorbeigegangen. Ich schluckte und sah ihm in die Augen. Dieser Blick ließ mich fast wieder dahinschmelzen, doch ich ermahnte mich, standhaft zu bleiben.

Ja, er war reich und sah dazu noch verdammt gut aus, doch das waren alles keine Gründe, wieso ich mit ihm, einen mir doch fast noch Unbekannten, ins Bett steigen sollte, denn das wäre daraus geworden, wenn ich es nicht unterbrochen hätte. Dieser Kuss hatte mich auf irritierende Art an meine Zeit mit Matt erinnert. Da war es ähnlich gewesen. Es fing an mit einem Kuss und es folgte unsere erste gemeinsame Nacht. Zwar hatte ich mich später dann in ihn verliebt, doch nach dieser Nacht hatte ich mir geschworen, mich nicht mehr so zu verhalten. Es hatte nichts mit einer schlechten Erfahrung zu tun, es war nur meine Entscheidung.

„Was ist?“, hauchte er und berührte meine Wange, streichelte sanft über meine Haut.

Ich atmete tief durch und nahm seine Hand von meiner Wange.

Das hier war einfach nicht gut. Ich war seit einer Woche hier und schon passierte so etwas. Eigentlich wollte ich doch nur erst mal Fuß fassen in dieser Stadt.

Ich straffte die Schultern und sah ihn an.

„Vielen Dank für die Einladung, Mr. Starck“, sagte ich und drehte mich von ihm weg um zur Tür zurück zu gehen. Ich öffnete sie und trat hinaus auf den Flur, ohne darauf zu achten, dass er meinen Namen rief. Ich wartete nicht auf eine Reaktion oder sein mögliches Folgen, stieg die Treppe hinunter und verließ gezielt das Haus.

Da mein Abgang etwas plötzlich kam, hatte ich noch keine Zeit gehabt, mir ein Taxi zu rufen und dabei wollte ich es unbedingt vermeiden, mich von Mason in ein Gespräch verwickeln zu lassen, wieso ich so plötzlich verschwinden wollte.

Ein kleines bisschen Glück hatte ich dann aber doch, denn gerade fuhr ein schicker Mercedes vor. Das Pärchen, welches einsteigen wollte, erkannte ich als den Bürgermeister und wahrscheinlich dessen Frau.

„Bürgermeister Archer?“, rief ich nach ihm und ging die drei Stufen herunter.

„Ah, Miss Harvelle“, sagte er, als er mich erkannte. „Darf ich Ihnen meine Frau vorstellen?“

„Freut mich, Mrs. Archer.“

„Was kann ich für Sie tun?“

„Fahren Sie zufällig in die Stadt?“, fragte ich mit einem zuckersüßen Lächeln. „Ich... habe gerade einen Anruf erhalten und müsste schnell nach Hause“, dachte ich mir eine kleine Notlüge aus.

„Möchten Sie mitfahren?“, fragte die Frau des Bürgermeisters, eine kleine, etwas rundliche Frau mit einem sehr netten Gesicht. Sie hatte braunes Haar, welches sie zu einer eleganten Hochsteckfrisur zusammengesteckt hatte. Zum Anlass des Abends trug sie ein Kostüm in Bordeaux.

„Sehr gerne. Vielen Dank.“

Während der Bürgermeister seiner Frau ganz gentlemanlike die Tür aufhielt, sodass sie besser einsteigen konnte, öffnete ich die Tür zur Rückbank. Bevor ich jedoch einstieg, warf ich einen Blick zurück und fand mich genau im Visier von zwei grünen Augen wieder. Meine Miene blieb ausdruckslos, dann wandte ich mich ab und stieg in den Mercedes. Durch die getönten Fenster konnte Mason mich nicht mehr sehen, ich ihn aber umso besser. Selbst jetzt, als er mich nicht mehr sehen konnte, starrte er weiter zu meinem Fenster. Er rührte sich nicht, als der Bürgermeister den Wagen startete und losfuhr.

Ich atmete tief durch. So hatte ich mir diesen Abend nicht vorgestellt. Ich hätte von Anfang an nicht hingehen sollen.

„Hat Ihnen denn der Abend gefallen?“, fragte mich die Frau des Bürgermeisters.

„Ja“, sagte ich und war mir nicht mal sicher, ob es die Wahrheit oder wieder eine Lüge war. „Es war das erste Mal, dass ich auf so einer Festlichkeit war.“

„Wenn Sie langfristig hier bleiben, wird es wohl nicht die letzte gewesen sein“, sagte sie lachend.

„Mal sehen“, drückte ich mich vage aus. Ich war mir nicht sicher, ob ich noch einmal etwas mit Mason Starck zu tun haben wollte. Er war definitiv nicht der Mann, für den ich ihn anfangs gehalten hatte, als er mir auf freundliche Art bei meinen Koffern geholfen hatte. Ich wünschte, mein erster Eindruck von ihm, hätte sich bestätigt...

„Mr. Starck gibt dieses Fest jedes Jahr, müssen Sie wissen“, fuhr sie fort.

„Tatsächlich?“, heuchelte ich mein Interesse an einem Gespräch mit ihr vor und während Mrs. Archer mir erzählte, wie dieses Fest seinen Anfang genommen hatte, was ich ja bereits wusste, schaute ich aus dem Fenster und beobachtete die hell erleuchtete Stadt, die ich nun mein Zuhause nannte.

 

 

Der Bürgermeister und seine Frau setzten mich sogar bei mir Zuhause ab, auch wenn ich versichert hatte, dass das nicht nötig gewesen wäre, da sie dadurch einen kleinen Umweg fahren mussten. Ich bedankte mich bei ihnen und wünschte ihnen noch einen schönen Abend, bevor der Mercedes weiterfuhr und nach oben in meine Wohnung ging.

Diesen Abend hätte ich mir wirklich sparen können. Nun, vielleicht nicht ganz, denn so hatte ich den Bürgermeister und sogar den Polizeichef kennenlernen dürfen.

Und doch war es Starck, der mir nicht aus dem Kopf ging.

Er hatte mich geküsst, verdammt nochmal. Und ich hatte es zugelassen und den Kuss erwidert, wenn auch nur kurz. Dieser Mann konnte mit seinem Aussehen und seinem ganzen Geld doch jede haben.

Wieso erinnerte mich das an die High School, wo die neuen Mädchen, die an die Schule gekommen waren, immer sehr begehrt bei den jungen Aufreißern waren. Oft hatten sie heimlich gewettet, wer es wohl schaffte, die Neue zuerst ins Bett zu bekommen. Es war ein gemeines Spiel, was sie da getrieben hatten. Nur waren Mädchen in diesem Alter ziemlich leicht zu beeindrucken. Man sagte ihnen wie hübsch sie waren und ob sie sich denn nicht mal mit einem treffen wollten. Wenn sie angebissen hatten, ging es meist sehr schnell. Es war immer einvernehmlich, darauf legten sie wert, doch wenn sie hatten, was sie wollten, ließen sie die Mädchen fallen, wie eine heiße Kartoffel.

Ob er auch so ein Aufreißer war?

Ich meinte, wenn seine Aktion nicht überstürzt war, dann wusste ich auch nicht weiter.

„Hör endlich auf über diesen Kerl nachzudenken“, ermahnte ich mich laut und schlüpfte endlich aus meinen Pumps. Ich zog das Kleid aus und ließ es achtlos auf einen Haufen mit Wäsche fallen. Im Bad machte ich mich kurz frisch, bevor ich mir ein paar bequeme Sachen anzog und mich ins Wohnzimmer setzte. Ich schaltete den Fernseher an und stellte den Ton leise. Nachdem ich einmal komplett durchgezappt hatte, blieb ich bei einem Footballspiel hängen. Es war wirklich das Sinnvollste was zurzeit lief.

Während ich dabei zusah, wie die Patriots aus New England gegen die Baltimore Ravens spielten, hingen  meine Augen an dem leuchtenden Bildschirm und ich wählte blind die neu eingespeicherte Nummer.

„Hey hier ist Holly aus dem Lion, was gibt's?“

„Hey, Holly, ich bin's“, sagte ich mit müder Stimme.

„Jo? Was ist los? Bist du schon zuhause?“

„Ja. Ich wollte eigentlich fragen, ob alles okay ist.“

„Es ist ziemlich ruhig, also keine Sorge. Die Bar steht noch und den Alkohol haben wir auch noch nicht leer.“ Sie lachte und klang dabei noch viel fitter als sonst.

„Okay, das klingt gut.“ Ich gähnte.

„Wie war‘s? Erzähl schon.“

„War okay. Können wir wann anders darüber reden, ich bin todmüde.“

„Klar. Aber dann in allen Ausführungen.“ Sie lachte erneut.

„Gut, dann leg ich mich jetzt hin. Ich sehe euch dann am Dienstag, ja?“

„In alter Frische“, sagte sie noch, bevor das Telefonat auch schon zu Ende war.

Naja, immerhin hatten Holly und Rick wohl alles im Griff. Erst hatte ich noch kurz überlegt, zu ihnen zu gehen und noch ein bisschen mitzuhelfen, doch da es nach Hollys Aussage recht ruhig war, konnte ich mir das auch sparen. Ich vertraute den beiden schließlich.

Beruhigt, dass in der Bar alles lief, lehnte ich mich zurück und zog eine der dünnen Decken über mich, die auf keinem Sofa fehlen sollte. Ich sah mir weiter das Spiel an. Sie waren schon im letzten Quarter und die Ravens führten knapp. Leon war ein echter Fan von den Patriots gewesen. War es nicht irgendwie ein wenig ironisch, dass genau diese Mannschaft heute spielte?

Mit den Spielzügen selbst konnte ich nichts anfangen, doch was ich sah, war ein wirklich gutes Spiel. Der Quarterback warf den Football entweder einem Wide Receiver zu oder übergab ihn fast schon heimlich an seinen Running Back. Früher, als ich noch klein war, hatte ich mich immer gefragt, wieso eine Footballmannschaft so viele Spieler hatte, bis ich das System hinter Offense und Defense verstanden hatte. Damals war ich vielleicht fünf gewesen. Mein Vater hatte mir dann immer versucht, die Spielzüge zu erklären, doch ich hatte schon genug Schwierigkeiten gehabt, dem Ball überhaupt zu folgen. Manchmal verlor man ihn aus den Augen und dann tauchte er ganz wo anders wieder auf. So ging es mir auch jetzt und irgendwann schlief ich noch während der letzten Minuten des Spiels ein.

 

 

Ich befand mich in der Bar. Wie ich hierhergekommen war, wusste ich nicht mehr. Es war still, dunkel und verlassen. Keine Menschenseele war zu sehen oder zu hören.

Wo waren denn alle?

Mein Blick wanderte nach draußen, wo es dunkel war. Sollten denn nicht einige Gäste hier sein? Irgendjemand hatte doch immer Durst. Obwohl ich die Bar ja noch gar nicht so lange führte, war ich mir sicher, dass immer irgendjemand da sein müsste. Wenigstens doch Holly oder Rick. Eigentlich beide.

„Hallo?“, rief ich, doch es antwortete niemand. Komisch.

Ich sah mich weiter um. Draußen konnte ich nichts erkennen, es war stockfinster. Und hier drinnen war es mindestens genauso ruhig. Was ging hier nur vor?

Ich ging an dem Bartresen vorbei zu der schmalen Tür, die zu meinem Büro führte. Hatten sie sich versteckt und fanden das lustig? Mir war das Ganze eher unheimlich. Langsam stieg ich die knarrende Treppe nach oben, doch auch dort lag alles im Stillen und Dunkeln.

Genervt stieß ich den Atem aus und drehte mich um, um wieder nach unten zu gehen, da hörte ich ein lautes Klirren.

Was zum Teufel?

Ich eilte die Treppe hinunter, denn dieses Klirren hatte nicht nur nach einem Glas geklungen, sondern nach etwas großem. Sofort hatte ich an die großen Fenster gedacht, doch die waren alle heil.

Was mir allerdings noch mehr auffiel, war die Tatsache, dass ich mit einem Mal nur noch in Schwarz-Weiß sah. Alles war in grau gehalten, in den verschiedensten Nuancen. Irritiert rieb ich mir die Augen. Gerade war doch noch alles in Ordnung.

Doch dieses grau in grau blieb und ließ sich nicht einfach wegreiben, wie ein Fremdkörper im Auge.

Dann war da ein weiteres Klirren und als ich mich umdrehte, sah ich wie die gesamte verspiegelte Wand hinter der Bar wackelte. Mit großen Augen und wie zu Stein erstarrte, sah ich zu dem Regal und sah, wie nach und nach die Gläser und Flaschen auf den Boden krachten und dort zersprangen.

War das ein Erdbeben?

Es wackelte immer mehr und wie von selbst, ohne weiter darüber nachzudenken, ging ich einige Schritte zurück.

Das alles würde zusammenbrechen!

Wieso war hier niemand, der mir helfen konnte?

Panik erwachte in mir und ich wich weiter zurück. Was sollte ich tun?

Es war einfach nur unheimlich, denn außer diesem Regal, wackelte nichts. Meine Füße trugen mich weiter zurück, bis ich mit dem Rücken gegen eine Wand stieß. An meinem Hinterkopf spürte ich etwas und als ich mich umdrehte und den Blick nach oben richtete, blickte ich in die gelben Augen des Löwen auf dem großen Bild.

Ich wusste nicht wieso, doch der Anblick des Löwen beruhigte mich. Ich hörte das Klirren nicht mehr und auch meine Panik war verschwunden.

Ich sah einfach nur dieses Bild an. Es war wirklich schön.

„Gib Acht.“

Ich zuckte zusammen, als ich diese Stimme hörte, eine Stimme, die ich doch so genau kannte.

„Leon?“, fragte ich unsicher in den Raum. Er war nicht hier. Er konnte gar nicht hier sein  und doch war mir so, als hätte ich seine Stimme gehört.

„Gib Acht“, hörte ich diese Stimme, Leons Stimme, wieder sagen.

„Auf was soll ich Acht geben?“, fragte ich laut. Es war Leon, der hier mit mir sprach! Mein Bruder.

„Gib Acht, Joanna.“

„Ja, ja“, rief ich aufgebracht. Ich drehte mich um die eigene Achse, wollte wissen, von wo diese Stimme kam. „Wo bist du?“

„Pass auf.“

Ich drehte mich zurück zu dem Bild des Löwen. Kam diese Stimme von dort? Doch wie?

Ich ließ das Abbild nicht mehr aus den Augen, wartete darauf, dass diese Stimme noch etwas sagte. Doch es blieb still.

„Leon?“, rief ich noch einmal nach ihm, doch er antwortete nicht mehr.

Betrübt ließ ich den Kopf hängen. Ich musste mir wohl alles nur eingebildet haben. Leon war tot. Er konnte nicht mehr mit mir sprechen.

Ich warf einen letzten Blick auf das Bild, bewunderte im Stillen die Eleganz dieses Löwen und drehte mich dann wieder der Tür zu. Ich sollte wohl einfach nach Hause gehen.

„Pass auf, wem du vertraust.“

Ich hatte gerade meine Hand auf die Klinke gelegt, als ich diese Stimme wieder hörte, nur war sie dieses Mal viel leiser. Schnell fuhr ich herum und war mir sicher, dass es irgendwie von diesem Bild kommen musste. Von diesem Löwen. Von Leon.

Ein Lächeln zeigte sich auf meinem Gesicht.

Dann wurde mit einem Mal alles schwarz. Ich hatte das Gefühl zu fallen…

 

 

…und schreckte hastig hoch. Mein Herz schlug so stark, dass ich glaubte, es würde aus meiner Brust springen. Ich saß kerzengerade auf dem Sofa im Wohnzimmer. Der Fernseher lief noch und das flackernde Licht, blendete mich.

Ich schaltete den Bildschirm aus und atmete tief durch.

Es war nur ein Traum gewesen. Nur ein Traum.

Mein wild schlagendes Herz beruhigte sich nur sehr langsam, doch als es wieder in seinem normalen Rhythmus schlug, stand ich auf und ging ins Schlafzimmer. Dort legte ich mich ins Bett, ließ den Wecker einfach aus und schloss wieder die Augen.

Was war das nur für ein verrückter Traum gewesen?

Ich war mir immer noch sicher, dass es Leons Stimme gewesen war. Während meine Fingerspitzen meine Lippen berührten und ich versuchte nicht an den Kuss von vorhin zu denken, dachte ich darüber nach, was diese Stimme gesagt hatte.

Pass auf, wem du vertraust.

Kapitel 14 – Das Angebot

Ich schlief bis zum Mittag und doch fühlte ich mich erschöpfter als zuvor. Was es doch ausmachte, wenn man eigenartige Träume hatte.

Und eigenartig war er wirklich. Ich erinnerte mich noch an Leons Stimme und dass alles um mich herum zusammenbrechen wollte.

Und an die Worte ‚Pass auf, wem du vertraust‘. Wieso träumte ich so etwas Wirres?

Als ich dann aufstand, merkte ich auch noch, dass ich mich wohl verlegen hatte, denn mein Nacken tat ungewohnt weh.

„Fantastisch“, seufzte ich und schwang die Beine aus dem Bett.

Wieso nur hatte ich das Gefühl, dass alles mit meinem Besuch bei Starcks Party zu tun hatte. Seit ich dort gewesen war und vor allem seit er mich geküsst hatte, fühlte ich mich komisch, träumte eigenartige Dinge und schlief schlecht. Noch ein Zeichen von, weiß Gott wem, die Finger von diesem Mann zu lassen.

 

 

Da die Bar nun mein Eigentum war, war es für mich selbstverständlich, dass ich nach dem Rechten schauen musste. Vor allem, weil ich gestern nicht dort gewesen war.

Nachdem ich mich also mit einem gefühlten Liter Kaffee endlich wach bekommen hatte und mich geduscht hatte, machte ich mich auf den Weg zur Bar.

Die Tage und auch die Nächte wurden nun immer kälter und der Winter bahnte sich an. Ich hatte natürlich nicht daran gedacht, mir meinen Wintermantel anzuziehen, den ich gestern über dem Kleid getragen hatte. Da ich aber nicht noch einmal in die Wohnung zurücklaufen wollte, musste ich es so ertragen.

An der Bar angekommen, bekam ich das ungute Gefühl, dass dort alles in Scherben und Trümmern lag, so wie in meinem Traum, doch dem war Gott sei Dank nicht so. Alles war so, wie es sein sollte. Dennoch hing mein Blick sofort an dem großen Bild an der Wand. Der majestätische Löwe thronte weiterhin auf dem Felsen in der Savanne. Wieso war es mir in meinem Traum so vorgekommen, als hätte dieses Tier, beziehungsweise dieses Abbild eines Tieres, mit mir gesprochen? Und dann auch noch mit Leons Stimme? Träume konnten manchmal wirklich verrückt sein…

Ich ging die Treppe hoch, zu meinem Arbeitszimmer. Den Schreibtisch hatte ich schon so umgeräumt, dass ich genau wusste, wo alles war. Nun standen nur noch mehr Ordner vor mir, die ich durchsehen musste. Ich seufzte schwer, als ich die vielen Hefter sah. Das würde ich heute gar nicht alles schaffen.

Trotzdem machte ich mich an die Arbeit. Zum Glück war Leon so ordentlich und hatte mir hier kein undurchdringliches Durcheinander hinterlassen.

In aller Ruhe, da mich ja niemand hetzte, nahm ich mir einen Ordner nach dem anderen vor und arbeitete mich so systematisch voran. Hin und wieder warf ich einen Blick auf die Uhr. Die Zeit schien gegen mich zu arbeiten, denn sie lief nur so dahin. Ich hatte das Gefühl, kaum etwas geschafft zu haben, als es schließlich sechs Uhr am Abend war.

Ich rieb mir die Augen und versuchte die bereits wiederkommende Müdigkeit zu vertreiben. Vielleicht würde ja ein Kaffee helfen.

Gesagt getan. Ich marschierte nach unten und machte mich auf die Suche nach den versteckten Kaffeepads. Die Maschine stand ja einfach so da, dann musste es in der Nähe doch auch irgendwo diese blöden Pads geben. ich fand sie in einer Schublade und zwar ganz hinten, wo man wirklich nur noch nach tasten konnte. Mit meiner Beute zufrieden, schmiss ich die Maschine an und während sie brummend meinen Kaffee machte, klopfte es an der Tür. Ich hatte sie abgeschlossen, damit niemand einfach so hineinkam, doch als ich sah, wer dort stand, sträubten sich mir die Nackenhaare.

Es war ein mir unbekannter Mann in Uniform.

Meine Gedanken überschlugen sich. War etwas passiert? War jemand verletzt?

Ich schloss die Tür auf und sah den Polizist neugierig an.

„Miss Harvelle?“

„Ja?“

„Guten Abend. Ich bin Detective Boswell. Wäre es möglich, dass ich mich kurz mit Ihnen unterhalte?“

„Natürlich“, sagte ich und trat beiseite, sodass er eintreten konnte. Ich ging zur Bar wo mein Kaffee dampfend auf mich wartete. „Möchten Sie auch einen?“

„Nein danke“, sagte er und setzte sich auf einen der Barhocker. „Miss Harvelle. Sagen Sie, fühlen Sie sich hier sicher? Ich meine, so ganz allein?“

Was war das denn für eine Frage?

„Ähm, ja“ sagte ich, wusste aber, dass ich eher unsicher klang.

„Nun, weshalb ich hier bin“, fuhr er fort, „Meine Deputies und ich sind stets darauf bedacht, dass es hier in Orchard Park sicher bleibt. Dafür haben wir extra Routen eingeführt, die wir abfahren um immer ein Auge auf die Gegend hier zu haben.“

Ich hörte ihm aufmerksam zu, auch wenn ich nicht wusste, worauf er hinaus wollte.

„Vielleicht sind Ihnen ja schon die Aufkleber, in den Fenstern der anderen Läden in dieser Straße aufgefallen?“ Ich schüttelte den Kopf. Wer achtete denn schon auf so etwas?

„Nun, diese Läden unterstützen uns in dieser Aktion. Dadurch, dass wir präsent sind, schreckt das Räuber und Diebe oft ab.“

„Sie werden extra von diesen Leuten bezahlt?“

„Es ist eine Unterstützung, die wir brauchen, damit wir das tun können, wovon viele profitieren. Kein Geschäft wurde mehr überfallen, seit wir diese extra Routen haben.“

„Aber ist das nicht eigentlich ihr Job?“, fragte ich und hätte dabei die Worte vielleicht etwas besser wählen sollen, denn schließlich saß hier ein Detective vor mir.

„Wir sind zurzeit nicht sehr stark besetzt und werden ständig in die angrenzenden Gemeinden als Verstärkung angefordert. Wie Sie sicher verstehen können, können wir nicht an zwei Orten zur gleichen Zeit sein.“

„Ich verstehe nicht ganz, was Sie mir damit sagen wollen.“

„Ich möchte Ihnen nahelegen, sich dieser Aktion anzuschließen. Jene die sich anschließen stehen somit an oberster Stelle, sollte etwas passieren. Außerdem sind es lediglich $200 pro Woche. Für so ein Versprechen nicht viel.“

„$200 pro Woche?“ Mir fiel gefühlter maßen die Kinnlade runter. „Ich soll Schutzgeld an Sie bezahlen, damit sie hier ihre Runden drehen, was sie sowieso schon tun?“ Orchard Park war nun nicht so groß, als dass es die paar Streifenwagen nicht schaffen würden, alles regelmäßig abzufahren.

„Dann bräuchten Sie sich zumindest keine Sorgen mehr machen“, sagte er und lächelte.

Irgendwie traute ich dieser Sache nicht. Ich meinte, hier saß ein Polizist vor mir, der dafür, dass er seinen Job machte, von mir noch extra Geld haben wollte. Das war doch total absurd.

„Ich mache mir keine Sorgen, Detective Boswell. Und ich wüsste nicht, wieso ich das, was Sie mir hier anbieten, tun sollte“, sagte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Viele Läden in dieser Straße haben sich angeschlossen. Wenn Sie das hier ablehnen, kann ich nicht so für Ihre Sicherheit garantieren, wie für andere.“

Hörte dieser Mann sich da eigentlich mal selbst reden? Was für einen Schwachsinn erzählte er mir hier eigentlich?

„Hören Sie. Ich habe da wirklich kein Interesse dran.“

„Sie sollten darüber nachdenken, Miss Harvelle“, sagte er und legte eine kleine Karte auf den Tresen.

Schon leicht genervt, stieß ich den Atem hörbar laut aus.

„Ich empfehle es Ihnen und Ihren Mitarbeitern“, wiederholte er sich und stand auf.

Ich sagte einfach gar nichts mehr, beobachtete einfach nur, wie er höflich die Hand an seine Kappe tippte und dann die Bar verließ.

Ich stand noch eine ganze Zeit wie versteinert da. War das wirklich sein ernst gewesen? Ich verstand wirklich nicht, wieso ich die städtische Polizei extra und wahrscheinlich auch heimlich bezahlen sollte, damit sie ihren Job erledigten. Das war doch total überflüssig. Wahrscheinlich war es nicht mal legal, was er hier versucht hatte, mir aufzuschwatzen. Einige hatte so ein Auftreten bestimmt dazu gebracht, dieses Schutzgeld zu bezahlen. Als ob so ein dummer Aufkleber an meiner Tür, die Bar davor bewahren konnte, ausgeraubt zu werden.

So jemand würde sich bestimmt erst den Aufkleber an der Tür durchlesen und sich dann einen anderen Laden suchen. Na mit Sicherheit. Ich wollte fast schon lachen, so blöd kam mir diese Idee vor. Trotzdem trugen mich meine Beine zum Fenster und ich blickt auf die andere Straßenseite. Gleich gegenüber gab es ein kleines Café und dort entdeckte ich diesen besagten Aufkleber. Schneller als ich mir selbst folgen konnte, hatte ich die Bar verlassen und die Straße überquert. Dort stand ich nun und starrte diesen komischen Aufkleber an, auf dem doch tatsächlich folgendes stand:

 

Dieses Geschäft steht unter dem Schutz der Polizei von Orchard Park. Jede Form von Vandalismus, Einbruch oder Diebstahl wird schwer geahndet und die beteiligten Personen durch die Polizei gesucht und sofort zur Anzeige gebracht.

 

Ich las es noch einmal, mehrmals sogar. War denn das nicht immer so? Oder würden Einbrecher eine härtere Strafe bekommen nur weil ein komischer Sticker an der Tür des Geschäfts hing? Das würde einen richtigen Verbrecher doch nie im Leben abhalten. War dieser Detective wirklich der Meinung, dass ich ihm das glauben sollte?

Kopfschüttelnd nahm ich mir meinen bereits kühlen Kaffee und ging zurück ins Büro, doch wirklich auf die Arbeit konnte ich mich nicht mehr konzentrieren.

Es reichte eigentlich auch für einen Tag, meinen freien Tag um genau zu sein. Morgen Abend würde ich ja schon wieder hinter der Bar stehen.

 

 

Pünktlich um fünf Uhr war ich am nächsten Tag in der Bar. Ich wollte mir noch einmal die Rezepte für die Cocktails ansehen und auch den Rest der Räumlichkeiten inspizieren.

Es war alles so, wie es sein sollte. Aschenbecher waren verteilt, alles war sauber – auch wenn das nicht lange so bleiben würde – und auch, was man gerne mal vergaß, die Toiletten waren sauber.

Als dann auch Rick und Holly eintrudelten, konnte ich ihnen endlich von dem komischen Besuch des Detectives erzählen.

„Ja“, sagte Rick schließlich, als ich ihnen alles erzählt und meine Bedenken geäußert hatte. „Diese Aufkleber kursieren hier schon eine ganze Weile umher. Ich stimme dir da voll zu, dass das Schwachsinn ist.“

„Reine Abzocke“, pflichtete Holly ihm bei. „Also Leon hat da nie auch nur einen Penny bezahlt.“

„Das hatte ich jetzt auch nicht vor.“

„Und falls es hier mal Schwierigkeiten geben soll“, sagte Rick und ging hinter die Bar. Blind tastete er nach etwas unter die Tischplatte und holte ein Shotgun hervor.

„Okay, das erzählst du mir das nächste Mal bitte sofort, ja?“, sagte ich hastig, denn mit einer Waffe hatte ich wirklich nicht gerechnet.

„Nur für den Notfall, Jo.“

Ich nickte. „Okay. Aber trotzdem. Das will ich wissen.“

„Das ist die einzige hier.“

Etwas beunruhigend fand ich das ja schon, doch bei den heutigen Verhältnissen wusste man nie, wann man eine Waffe gebrauchen konnte. Ich bezweifelte zwar, dass ich etwas damit treffen würde, aber zur Abschreckung würde es reichen.

„Dürfen die das überhaupt?“, fragte Holly in die Runde. „Ich meine Geld nehmen für Schutz, das klingt mir fast so, als könne man die auch schmieren, wenn man was Schiefes geplant hat.“

„Sag das nicht zu laut“, meinte Rick, setzte dann aber einen grübelnden Gesichtsausdruck auf.

„Ich bin auch der Meinung, dass das ‘ne Art von Schutzgeld ist“, sagte ich. „Funktioniert das denn wirklich?“

„Ich weiß es nicht. Aber jetzt wo du es ansprichst… Es war schon ziemlich ruhig hier in der letzten Zeit.“

„Du weißt aber nicht, ob das wirklich mit diesem Schutzgeld zu tun hat“, sagte Holly. „Ich glaube das ist nur Zufall. Als ob sich jemand von einem Klebezettel aufhalten lassen würde.“

Genau das hatte ich mir ja auch schon gedacht. Grinsend stimmte ich ihr zu.

„Das hat hier bisher auch ohne diesen Schnickschnack geklappt. Also wenn‘s nach mir geht, dann würde ich das Geld lieber sparen.“

„Der Meinung bin ich auch.“

„Dann sind wir uns ja einig“, sagte ich lächelnd.

Dann machte sich Rick an die Arbeit, die Bar einer letzten kurzen Prüfung zu unterziehen, bevor wir die Bar für diesen Abend öffneten.

Der Betrieb hielt sich in Grenzen, doch etwas anderes hatte ich an einem Dienstagabend auch nicht erwartet.

Das Wochenende würde ganz anders werden und irgendwie freute ich mich schon darauf.

Kapitel 15 – Ein fataler Abend

Nach diesem eigenartigen Auftritt des Detectives, kehrte sehr schnell wieder die Normalität und Routine zurück. Sowohl der Dienstagabend als auch der am Mittwoch waren ziemlich ruhig, was ich ja erwartet hatte. So schaffte ich es auch noch, etwas weiter die Unterlagen durchzugehen. Rick und ich waren so verblieben, dass er mich rufen sollte, wenn er Hilfe benötigte oder meine Person einfach gefragt war.

Den Donnerstag wurde es dann schon wieder etwas voller. Leute, die vielleicht den Freitag frei hatten, konnten so abends doch noch etwas trinken gehen. Obwohl das manche auch nicht aufhielt, wenn sie am nächsten Tag arbeiten mussten. Gut, dass das jedem selbst überlassen war.

Ich freute mich auf jeden Fall über jeden Gast.

Schon nach diesen drei Tagen wurde es zur Gewohnheit, dass ich erst etwas Papierkram erledigte und wenn ich darauf keine Lust mehr hatte, meinen Platz hinter der Bar einnahm.

So auch an diesem Abend. Ich fing sogar an, freiwillig ein paar Cocktails zu mixen, warnte die Gäste aber meist scherzend vor, dass ich noch lernte. Beschwert hatte sich noch keiner. Und wenn doch, dann würde ich den Drink einfach auf meine Kappe nehmen und kein Geld dafür verlangen. Wie gut, dass ich das noch nicht hatte tun müssen.

Rick war schon richtig stolz, zumindest sah er mich immer so an, wenn ich einen fertigen Cocktail mit Schirmchen und Deko auf den Tresen stellte, dass er mich an meinen Vater erinnerte und seine rührenden Blicke, wenn ich eine gute Note nach Hause gebracht hatte.

„Na, was sagst du?“, fragte ich ihn und lehnte mich mit der Hüfte gegen die Arbeitsfläche.

„Behalte ich meinen Job, wenn ich dir die Wahrheit sage?“ Er zog grinsend eine Augenbraue nach oben und lachte kurz.

„Ist das ein Scherz? Ich glaube ein Großteil der Frauen kommt nur deinetwegen hierher“, schmierte ich ihm etwas Honig um den Mund und wartete dann auf sein Urteil.

„Du hast definitiv bestanden.“ Rick schlug mir kumpelhaft auf die Schulter und lachte.

Da kam auch Holly gerade wieder zur Bar zurück und musterte uns neugierig.

„Sie ist dir voraus, Kleine“, sagte Rick zu ihr und ärgerte sie wieder damit, dass Holly und Cocktails einfach nicht miteinander funktionierten.

„Das ist Quatsch“, versuchte ich da gleich zu schlichten, auch wenn ich wusste – oder besser, hoffte – dass das nur Spaß war. „Es ist alles gut so, wie es ist.“

„Weißt du, Jo? Ich höre dem alten Mann da schon gar nicht mehr zu“, lachte sie und warf Rick einen Luftkuss zu um ihren Worten die Schärfe zu nehmen. Sie kicherte, schnappte sich zwei Biere und brachte sie zu einem Tisch.

Grinsend sah ich zu Rick, weil ich es gut fand, wie Holly, die ja die jüngste von uns war, ihm immer wieder Kontra gab.

Alles in allem hatten wir einen wirklich angenehmen Abend. Wir hatten gut zu tun, doch war es nicht so viel, dass die Arbeit in Stress ausartete. Wenn das jeden Tag so war, könnte ich das ewig tun.

Es wurde spät und so langsam verließen uns unsere Gäste. Auch mir hing der Arbeitstag, beziehungsweise die Nacht, nach, doch war es nicht so schlimm wie bei der Neueröffnung. Was für mich eine innerliche Genugtuung war, war Hollys Anblick. Sie hing an diesem Abend völlig in den Seilen und schlief fast schon auf dem Barhocker neben unserem letzten Gast. Das nahm ihr keiner übel, denn die Stammgäste, zu denen auch dieser letzte hier gehörte, kannten Holly. Für mich war es einfach ein gutes Gefühl, sie so schlapp zu sehen, während ich zwar auch kaputt war, doch noch lange nicht so müde wie sie.

„Bist du mit dem Auto da, Paul?“, erkundigte sich Rick bei dem deutlich betrunkenen Mann an unserer Bar.

Dieser zog ohne weitere Worte seinen Autoschlüssel aus der Tasche und reichte ihn Rick.

„Ich rufe dir ein Taxi.“

Paul nickte nur und stützte dann den Kopf wieder auf seine Arme, weil er wohl viel zu schwer war.

Den Schlüssel zu Pauls Wagen legten wir in eine Schublade. Morgen, wenn er wieder einigermaßen nüchtern war, konnte er ihn sich wieder abholen.

Nachdem Paul von einem Taxi abgeholt wurde, machten Rick und ich uns dran, noch schnell alles aufzuräumen, was am Ende doch noch eine Dreiviertelstunde in Anspruch nahm. Holly hatte unterdessen schon die Augen geschlossen und war irgendwo weit weg, nur nicht hier in der Bar.

„Bringst du sie nach Hause?“, fragte ich Rick, der Holly mit einem Schmunzeln betrachtete. Ich wollte, dass sie sicher nach Hause kam.

„Ja. Soll ich dich auch mitnehmen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, das ist nicht nötig. Ich will oben noch ganz kurz was fertig machen.“

„Du brauchst auch deinen Schlaf, Jo. Morgen wird's wieder richtig voll hier.“

„Ja, ja, wird ja auch nicht lange dauern“, sagte ich und machte mich dran, das Kassenfach auszubauen. Es gehört über Nacht in den Tresor nach oben und nicht hierher.

„Kommt gut nach Hause“, rief ich den beiden nach, als Rick und Holly zur Tür gingen.

„Mach nicht mehr zu lange“, rief Rick noch. Dann waren sie auch schon verschwunden.

Ich hielt das Kassenfach in beiden Händen, denn es war ganz schön schwer. Ich wuchtete mich zusammen mit dieser Last die Treppe nach oben und verstaute das Geld, welches ich morgen zählen würde. Heute war ich mir sicher, dass ich mich verzählen würde und dann müsste ich es, sofern es mir auffiel, morgen eh noch einmal machen.

Dann schloss ich den Tresor und nahm meine Tasche um einen Blick auf mein Handy zu werfen. Ich hatte eine SMS von Claire, in der stand, dass sie mich vermisste und drei verpasste Anrufe. Alle waren von derselben Nummer, doch kannte ich die Nummer nicht. Ich würde morgen nochmal genauer nachsehen, ob ich sie nicht doch kannte. Mit meiner Tasche beladen, wollte ich gerade das Büro verlassen, als ich die Tür der Bar hörte.

Hatte Rick etwas vergessen?

Ich schaltete oben das Licht aus und ging im Halbdunkeln die Treppe nach unten.

„Ist das die Kontrolle ob ich auch wirklich vorhabe, gleich zu gehen?“, rief ich und erreichte die unterste Stufe. In diesem Moment erstarrte ich mitten in der Bewegung.

In der Bar, also direkt vor mir, standen vier vermummte Kerle mit schwarzen Sturmhauben. Der Schlitz der Masken ließ nur die Augen frei. Alle vier Augenpaare ruhten auf mir. Mein Blick huschte über die Männer, und mir fielen sofort Baseballschläger und Schlagringe auf, die sie trugen.

Die Zeit schien in diesem Moment still zu stehen, zumindest kam es mir so vor. Finstere Blicke huschten über mich. Mein Herz schlug nicht mehr, denn dann würde ich wissen, dass die Zeit nicht stillstand.

Ich stieß den Atem aus und drehte mich so schnell ich konnte um. Ich wollte mich in Sicherheit bringen und mein Instinkt riet mir zur Flucht. Mir blieb nur das Büro, doch auch das war eine Sackgasse. So weit dachte ich in diesem Moment allerdings nicht, denn ich wollte nur weg von diesen Männern.

Ich wollte die Treppe nach oben sprinten, doch einer von diesen Vermummten bekam mich am Fuß zu fassen und zog mich brutal zurück. Ich kam der ganzen Länge nach auf den Kanten der Treppenstufen auf und rutschte nach unten.

Schon da tat mir alles weh.

Ich stöhnte auf, wollte sehen, wer das war und was er vorhatte, da wurde ich an den Schultern gepackt, schnell auf die Beine gezogen und mit dem Rücken gegen die Bar gedrückt. Die harte Kante drückte sich direkt auf meine Wirbelsäule.

Es waren ein Paar braune Augen, die mich zornig anfunkelten.

„Wo ist das Geld?“, brüllte er mich an, sodass ich zusammenzuckte.

Noch nie in meinem Leben hatte ich so große Angst. Ich war nicht in der Lage, etwas zu sagen. Mein ganzer Körper zitterte und meine Hände krallten sich in die Arbeitsplatte der Bar.

Ein anderer trat an uns vorbei und beäugte die Kasse.

„Leer“, sagte er.

Es musste doch jemanden geben, der mir helfen konnte! Irgendjemand musste das hier doch sehen. Oder hatte sie sehen müssen, als sie vermummt in die Bar gekommen waren.

„Wie schade“, sagte der Typ vor mir leiser. Dann sah ich kleine Fältchen um seine Augen herum, so als würde er lächeln. „Zerlegt den Laden“, rief er laut und schon brach der Krach über uns herein. Mit ihren Baseballschlägern schlugen sie auf die Einrichtung ein, zerstörten alles, was sie zu fassen bekamen. Der eine, der noch an der Kasse stand, nahm diese und warf sie mit voller Wucht in das Glasregal hinter der Bar. Es zerbrach in tausende von Scherben und diese regneten auf den Boden hinab. Ich hatte die Augen geschlossen und war erneut zusammengezuckt, als auch ich einige der Scherben spürte.

Noch immer war ich unfähig, mich zu bewegen. Der Kerl vor mir, rührte sich ebenfalls nicht von der Stelle. Er musterte mich und lehnte sich mir dann entgegen.

„Und nun zu dir, Schätzchen“, säuselte er und packte mich am Arm. Er zog mich von dem, Tresen weg und stieß mich auf den Boden zwischen den ehemaligen Regal und der Bar. Als ich mich abfangen wollte, schnitten mich die Scherben und ich stöhnte vor Schmerzen auf. Er packte mich erneut und drehte mich auf den Rücken. Das Glas knirschte unter mir und drückte sich bedrohlich gegen meine Sachen. Der Kerl kniete sich über meine Beine, dabei schienen ihm die Scherben gar nichts auszumachen.

„Nein!“, stieß ich aus, da ich schon ahnte, was er vorhatte. Also nutzte ich diesen Moment um ihm eine zu verpassen. Ich schlug auf ihn ein, schrie, er solle mich loslassen und wehrte mich so gut ich konnte.

„Du kleine Schlampe“, motzte er und griff meine Handgelenkt. Er drückte sie auf meinen Bauch und holte mit der anderen aus.

Der Schlag traf mich so hart, dass ich für einen Moment Sterne sah. Leicht benommen wollte ich mich bewegen, ihm mein Bein in die Weichteile stoßen, damit ich von ihm fortkommen konnte, als mich ein weiterer dieser Schläge traf.

Und dann noch einer.

Und noch einer.

Es tat so weh, dass mir Tränen aus den bereits zu schwellenden Augen liefen.

Er hatte meine Hände losgelassen und ich hob sie schützend über mein Gesicht.

Doch er hörte nicht auf.

Ich glaubte, er würde mich totschlagen, so sehr, wie er mir in Bauch und Seite schlug. Ich hustete, schmeckte Blut auf meiner Zunge und wünschte mir nur noch, dieser Schmerz würde aufhören.

Dann hörte er auf. Ich konnte nur noch verschwommen sehen, denn die Schwellungen meiner Haut drückten meine Augen zusammen, sodass ich sie kaum mehr auf bekam. Nur noch schemenhaft konnte ich die Gestalt über mir erkennen.

„Es hätte so schön werden können“, hörte ich ihn sagen und spürte dann, wie sein Gewicht von mir verschwand. Kurz darauf folgten schnelle Schritte und laute Stimmen.

„Lasst uns abhauen“, rief einer.

„Schnell, da kommt jemand“, rief ein anderer.

Da kam jemand? Konnte er mir helfen?

Ich wollte schreien, doch selbst dazu fehlte mir die Kraft. So lag ich auf dem Boden in meiner zerstörten Bar, während meine Gedanken immer weiter abdrifteten und konnte nur noch hoffen, dass man mich fand.

Kapitel 16 – Der Retter

Alles war schwarz.

Und es war still.

Doch ich war mir sicher, dass ich noch atmete. Mein Brustkorb hob und senkte sich, bei jeder Bewegung kam ein dumpfer Schmerz hinzu, dessen ich mir jetzt erst bewusst wurde.

Ich schluckte, denn mein Hals war so verdammt trocken.

Dann wollte ich die Augen öffnen, doch das war leichter gesagt, als getan. Irgendetwas lag auf meinem Gesicht. Oder zumindest über meinen Augen, denn atmen konnte ich ohne Probleme.

Ich hob die Hand an, wollte das, was auch immer da auf mir lag, beiseite nehmen, als es plötzlich wie von selbst verschwand.

„Joanna?“

Ich zwang mich, die Augen aufzuschlagen, auch wenn der damit verbundene Schmerz heftig durch meinen Körper zuckte.

„Mason?“, hauchte ich seinen Namen, als ich die Stimme und das noch immer etwas verschwommene Gesicht erkannte.

„Gott sei Dank. Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt.“

„Was...?“ ...ist passiert, wollte ich fragen, doch meine Stimme versagte mir den Dienst.

„Ruh dich aus. Es ist alles in Ordnung“, sagte seine Stimme.

Ich hatte die Augen schon wieder geschlossen, da es mir zu schwer fiel, sie offen zu halten.

Ich nickte darum nur und war dabei, wieder einzuschlafen. Nur eine Frage, brannte sich dennoch in meinem Kopf fest.

Wieso war Mason Starck bei mir?

 

 

Als ich das nächste Mal zu mir kam, fiel es mir schon deutlich leichter, die Augen zu öffnen. Erst da wurde mir richtig bewusst, dass ich in einem Bett lag - und zwar nicht meinem eigenen. Dafür war es sehr weich und die großen Decken über mir spendeten eine angenehme Wärme.

Vorsichtig setzte ich mich auf und hielt mir schnell die Seite, als es dort mächtig zog. Ich versuchte ruhig zu atmen und wartete, dass der Schmerz weniger wurde. Dann setzte ich meinen Plan weiter um und saß schließlich, mit dem Rücken am Kopf des Bettes gelehnt, da. Als ich mich umsah, fiel mir auf, dass dieser Raum ziemlich groß war. Es gab einen Kamin, in dem ein kleines Feuer brannte, einen Sekretär aus dunklem Holz und eine bequem aussehende Sitzecke. Und eben dieses große Bett, in dem ich lag.

Meine Hände waren verbunden und auch an den Armen hatte ich einige Pflaster und kleine Verbände. Ich wollte meine Hand gerade daraus befreien, als die Tür geöffnet wurde. Ich sah neugierig zu der eintretenden Person.

Obwohl ich mich an seine Stimme und auch sein Gesicht erinnerte, überraschte es mich, Mason Starck zu sehen. Er gab sich große Mühe, die Tür so leise wie möglich zu öffnen, was ja gar nicht mehr nötig war, da ich wach war.

Seine Miene erhellte sich, als er mich sitzend vorfand.

„Du bist wach.“

„Gerade eben“, sagte ich, wobei meine Stimme heiser klang.

Mason nahm sich einen Stuhl und stellte ihn neben das Bett.

„Was ist passiert?“, fragte ich ihn und bettet meine Hände über der Decke in meinem Schoß. Da fiel mir auch erst auf, dass ich nur noch BH und Slip anhatte, doch gerade war ich nicht in der Lage mir groß Gedanken darüber zu machen.

Die Decke bedeckte mich ja noch ein gutes Stück.

„Du bist überfallen worden, Joanna.“

Als er diese Worte sprach, kam alles wieder. Meine Hände legten sich auf meinen Mund, während ich Mason schockiert ansah.

„Oh Gott“, hauchte ich und spürte, wie Tränen in meinen Augen brannten. Ich erinnerte mich wieder. An die Männer, die ich nicht erkennen konnte, daran, wie sie die Bar zerstört hatten und auch an die Schmerzen, die mir einer von ihnen zugefügt hatte.

„Hast du mich gefunden?“

Er nickte, wirkte aber nicht sonderlich glücklich darüber. „Ich habe dich den ganzen Abend über versucht anzurufen. Als ich dich nach wiederholtem Mal nicht erreichen konnte, habe ich beschlossen, dich nach der Arbeit zu sehen. Ich habe eine Querstraße von der Bar entfernt geparkt und gewartet. Ich wollte nicht aufdringlich wirken und dich gleich in der Bar abholen.“ Er lächelte mich an. „Dann sah ich den Wagen von Rick und wusste, dass du wohl auch bald gehen würdest. Aber du kamst nicht.“

„Und dann hast du nachgesehen?“

Er nickte. „Es war kein schöner Anblick, Joanna. Ich habe dich aus der Bar geschafft und hierher gebracht.“ Abwehrend hielt er die Hände nach oben. „Ich weiß, ich hätte dich ins Krankenhaus bringen sollen“, fügte er schnell hinzu, „aber ich wollte nicht riskieren, dass diese Kerle dich dort finden und beenden könnten, was auch immer sie vorgehabt haben.“

„Danke“, war alles, was ich sagte.

„Immer wieder“, sagte er, während seine wachsamen grünen Augen, auf mir ruhten. „Dr. Nolan meint, du sollst dich eine ganze Zeit ausruhen und dich nicht überanstrengen. Du hast eine Gehirnerschütterung, eine leicht geprellte Rippe und Blutergüsse, aber keine inneren Verletzungen.“

Ich verstand fast nur Bahnhof.

„Dr. Nolan war hier?“

„Ich habe ihn angerufen.“

„Aber...“ Ich setzte mich weiter auf und zog scharf die Luft ein, als meine, wie er mir gerade erklärt hatte, geprellte Rippe wehtat.

„Er ist ein guter Freund. Mach dir keine Sorgen.“

Ich nickte stumm und kam mir mit einem Mal total erbärmlich vor, wie ich hier in diesem Bett saß. Es schien mir so unwirklich, dass Mason mich mit zu sich genommen hatte.

Machte er sich tatsächlich Sorgen um mich?

„Hast du einen der Männer, die dir das angetan haben, erkannt?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Wie sieht meine Bar aus?“, fragte ich ihn stattdessen. Sie hatten so vieles zerstört, dabei war die Neueröffnung doch noch keine ganze Woche her.

„Joanna.“ Seine Stimme klang traurig. „Sie haben randaliert und vieles kaputt geschlagen.“

„Sie hatten Baseballschläger“, sagte ich, war dabei aber mehr in meinen eigenen Gedanken versunken. Sie hatten meine Bar verwüstet. Das Erbe von Leon. Meine Hände ballten sich zu Fäusten und ich ignorierte den Schmerz, der von meinen Handflächen ausging.

„Beruhige dich, okay? Um die Bar kannst du dich kümmern, wenn es dir besser geht.“

„Ich möchte nach Hause“, sagte ich leise.

„Das glaube ich dir, aber ich fände es besser - und das war auch Dr. Nolans Meinung - dass du jetzt nicht allein sein solltest.“

„Aber ich kann doch nicht...“

„Doch“, unterbrach er mich, „kannst du. Zumindest für eine Nacht. Morgen bringe ich dich dann nach Hause, wenn du das willst.“

Ich nickte und schwang meine Beine über die Bettkante.

„Joanna“, mahnte er mich, doch ich sah ihn nur ernst an.

„Darf ich nicht mal ins Bad?“, fragte ich mit hochgezogener Braue. Ich würde schon nicht weglaufen. Erst recht nicht nur in BH und Slip. Da er mich wahrscheinlich schon so gesehen hatte, schlug ich die Decke zur Seite und stand auf. Meine Beine waren zwar noch etwas wackelig, aber es ging. Ich zeigte auf eine Tür am anderen Ende des Raumes. Mason war durch die andere ins Zimmer gelangt, also gab es die Möglichkeiten, dass sich dahinter entweder ein Ankleidezimmer oder aber ein Badezimmer befand. Als er nickte, machte ich mich auf den Weg zu der Tür. Seinen Blick spürte ich die ganze Zeit auf mir, doch das störte mich gerade herzlich wenig. Ich wollte nur einen Moment allein sein.

Erst als ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, atmete ich tief durch. Es tat weh, doch das musste ich ertragen, denn ich wollte mich selbst beruhigen.

Man hatte mich zusammengeschlagen und meine Bar zerstört. Was für einen Grund hatten sie dafür haben können? Waren es alte Geschichten, von denen weder Rick noch Holly etwas wussten? Hätte Leon mir dann nicht etwas hinterlassen und mich gewarnt, sodass ich vorsichtig war?

Mit dem Rücken an die Tür gelehnt sah ich mich in dem Badezimmer um. Alles war in schlichtem Weiß gehalten und wirkte so sehr elegant. Es gab eine ebenerdige Dusche, eine extra Wanne, sowie zwei Waschbecken und Toilette. Was mir allerdings am Meisten ins Auge stach, war der große Spiegel. Er stand der Tür direkt gegenüber, sodass ich mich selbst im Spiegel sah. Doch das, was ich da sah, konnte unmöglich ich sein.

Ich trat näher an den Spiegel heran und musterte mich von Kopf bis Fuß.

Mein Gesicht war geschwollen, mein linkes Auge und ein Teil meiner linken Wange waren blau, dort, wo er mit rechts zugeschlagen hatte. Meine Lippe war aufgeplatzt. Meine Hände, die in den Verbänden steckten wiesen einige Schnittverletzungen auf, die von dem Glas des Regals stammen mussten. Und meine linke Seite war ebenfalls bläulich. Dort musste die Prellung sitzen.

Ich gab ein furchtbares Bild ab.

Ich wusste nicht, wie lange ich so vor dem Spiegel stand und mich ansah.

Dann klopfte es schließlich an der Tür.

„Alles in Ordnung?“, rief Mason durch die geschlossene Tür hindurch.

„Ja“, sagte ich, „noch einen Moment.“

Nachdem ich die Toilette benutzt und mich mit etwas Wasser frisch gemacht hatte, ging ich zurück ins Schlafzimmer.

„Ich...“ Ich stockte und schlang meine Arme um meinen Körper. Hier so, nur in Unterwäsche, vor ihm zu stehen, hatte ich mir irgendwie anders ausgemalt. „Ich würde gerne Duschen, wenn das okay ist.“

Mason lächelte breit und erhob sich.

„Natürlich. Fühl dich ganz wie Zuhause.“

Da kam mir mit einem Mal ein wichtiger Gedanke.

„Wie spät ist es eigentlich?“

„Drei Uhr am Nachmittag, wieso?“

„Dann muss ich Rick und Holly anrufen, dass sie nicht in die Bar gehen sollen.“

„Das habe ich schon gemacht. Genauso, wie ich die Polizei informiert habe.“

„Oh.“

„Sie werden deine Aussage noch haben wollen, aber sie werden warten, bis es dir besser geht.“

Ich nickte. Daran hatte ich gar nicht gedacht.

Wahrscheinlich war die Bar schon abgesperrt und die Beweise, wenn es denn welche gab, genommen worden.

„Du brauchst dir wirklich keine Gedanken machen, Joanna.“

Wieso sagte er ständig meinen Namen? Und dann auch noch mit so einem Unterton. „Jo reicht völlig.“

„Ich mag Joanna aber lieber.“ Langsam kam er auf mich zu, grinste mich unterdessen einfach nur an. Ich erwiderte es kurz, dann verschwand es wieder.

„Dann gehe ich jetzt wohl besser zurück ins Bad“, sagte ich ruhig und drehte mich etwas zu schnell um. Mein Sichtfeld verwackelte und alles schien sich zu drehen. Meine Beine gaben nach, doch ich ging nicht zu Boden, da sich ein Paar starke Arme um meinen Körper geschlungen hatten.

„Vorsicht“, murmelte Mason und stellte mich wieder auf die Beine, dabei stand er so dicht hinter mir, dass sich seine Brust leicht gegen meinen Rücken drückte.

Mir wurde gleichzeitig heiß und kalt, was nicht an der Gehirnerschütterung lag, sondern einzig und allein an seiner Nähe zu mir.

Ich schluckte schwer und löste mich von ihm. Jedoch legte Mason eine Hand auf meine Schulter und dirigierte mich ins Bad.

„Was hältst du von einem Bad? Dann muss ich mir keine Sorgen machen, dass du in der Dusche umkippst.“

Wieder nickte ich und ließ mich von ihm zum Badewannenrand führen, wo ich mich setzte. Mason stellte das Wasser an und fügte einen Badezusatz hinzu. Es roch herrlich nach Melisse und Lavendel. Schon allein dieser Geruch entspannte mich.

Mason blieb so lange, bis die Wanne gefüllt war. Immer wieder hatte er mich angesehen und gefragt, ob es mir gut ginge.

Jedes Mal nickte ich ihm zu und versuchte ein kleines Lächeln zustande zu bringen.

„Dann steig‘ in die Wanne und ich mache etwas zu essen“, sagte er. „Kommst du klar?“

„Ich werde mich jetzt nicht vor dir ausziehen, Mason, also ja, ich komme klar.“

„Klingt gut, deinen Humor wieder hören zu können.“ Er grinste mich an und holte aus einem kleinen Regal zwei Handtücher, die er an den Badewannenrand legte.

„Lass dir Zeit.“

„Mach ich. Mason?“, sagte ich, als er an der Tür war. „Danke“, sagte ich, als er sich zu mir umdrehte.

Dann verließ er das Badezimmer.

Ich atmete tief durch und begann mich auszuziehen. Gerade wollte ich nichts anderes, als mich in dieses warme Wasser zu legen.

Kapitel 17 – Wie ein weiterer Schlag

Wie gut diese Wärme war. Ich seufzte entspannt, als ich mich in der Wanne zurücklehnte.

Unfassbar, dass ich gerade in der Badewanne von Mason Starck lag ohne, dass da irgendwas zwischen uns gewesen war. Nun ja, mit Ausnahme dieses Kusses, doch den zählte ich nicht wirklich. Ich hatte ihm deutlich gemacht, dass das so nicht zwischen uns sein würde und doch war ich jetzt hier. Ich war ihm sehr dankbar, denn, hätte er mich nicht gefunden, hätte er nicht den Ehrgeiz gehabt, mit mir zu reden, dann hätte ich dort wohl noch die ganze Nacht gelegen.

Da fiel mir ein, dass ich ihn noch gar nicht gefragt hatte, was er von mir gewollt hatte, dass er die halbe Nacht in seinem Auto auf mich wartete.

Das würde ich später noch tun können.

Ich schloss die Augen und versuchte mich zu entspannen, doch die Bilder des Tages, oder der letzten Nacht, waren mit einem Mal immer wieder da.

Wie sie randaliert hatten und so vieles zu Bruch gegangen war. Wie der Kerl mich in die Scherben gestoßen hatte und dann versucht hatte…

Ich schluckte schwer, versuchte diese Gedanken zu vertreiben, doch so einfach war das nicht.

Die Bar konnten wir wieder aufbauen. Wie ich das bezahlen würde, wusste ich zwar noch nicht, aber irgendwie würden wir das schon schaffen. Meine Verletzungen würde ich länger tragen, doch auch sie würden irgendwann verschwinden. Ich musste nur die Zeit ihr Werk tun lassen.

Ich wusch mir das Haar und den Körper und wickelte mich dann in das große Handtuch, welches Mason mir hingelegt hatte. Es war unglaublich flauschig, trocknete zwar nicht so gut, doch das machte nichts. Da das Bad wirklich warm gewesen war, setzte ich mich einen Moment um meinen Kreislauf zu beruhigen. Ich hatte wirklich keine Lust, dass mir noch einmal schwarz vor Augen wurde.

Etwas missmutig blickte ich auf meine Sachen. Wollte ich die noch einmal anziehen? Eigentlich blieb mir doch eh keine andere Wahl.

Ich fragte mich, wo der Rest meiner Sachen abgeblieben war.

Eine ganze Zeit blieb ich einfach so da sitzen. Mein Körper war erschöpft, das spürte ich jetzt sogar noch stärker als vor dem warmen Bad.

Ich traute mich gar nicht mehr aufzustehen, aus Angst, ich würde es nicht weit schaffen. Und doch konnte ich nicht die ganze Zeit hier so sitzen bleiben. Ich stemmte mich hoch und hielt mich am Waschbecken fest.

Da klopfte es an der Tür.

Ich schleppte mich weiter und öffnete die Tür einen Spalt breit, während ich das Handtuch fester um mich hielt. Es war ein komisches Gefühl, fast nackt vor diesem Mann zu stehen.

Er hat dich gerettet, also sei nett, sagte mir mein Verstand.

„Hi“, formten meine Lippen das eine Wort, was sich doch so bescheuert anhörte, betrachtete man die Situation, in der ich mich hier befand. „Ähm, was gibt’s?“

„Ich wollte nur nach dir sehen“, sagte er ruhig. „Und das Essen ist fertig.“

Ich nickte. „Wo sind denn meine Sachen?“ Wieso war ich gerade so verlegen?

„Die haben es leider nicht geschafft. Dr. Nolan musste einen Teil zerschneiden.“

„Verstehe.“

„Ich kann dir etwas anderes geben. Vorübergehend.“

„Das wäre gut“, sagte ich musste einfach lächeln. „Das hier ist etwas kühl.“

Ich sah, dass er schluckte und mir schoss die Röte ins Gesicht.

Da bist du gerade mal über den Berg und schon fängst du das Flirten an? Am liebsten hätte ich mir die flache Hand vor die Stirn geschlagen, aber ich vermutete, dass das äußerst schmerzvoll sein würde.

„Warte kurz“, sagte er und schloss die Tür von außen wieder.

Ich blieb genau da stehen, wo ich stand und lauschte. Ich konnte seine Schritte hören und auch, dass er herumkramte, wohl immer noch auf der Suche nach etwas war, was ich anziehen konnte.

Dann klopfte es erneut und ich öffnete die Tür wieder einen Spalt.

Es kam mir so jugendlich vor, wie wir uns hier verhielten. Vor Scham gerötete Wangen, unsichere Blicke, das schnelle Schlagen meines Herzens.

„Hier“, sagte er und reichte mir ein paar Sachen.

„Danke.“

„Kommst du runter, wenn du fertig bist?“

Ich nickte und lächelte ihn dankbar an. Dann drückte ich die Tür wieder zu und legte die Sachen ans Waschbecken. Erst da fiel mir auf, dass es Sachen von Mason sein mussten, denn sie waren mir viel zu groß. Er hatte mir eine Jogginghose gegeben, die ich mit den Bändern am Bund festzurren konnte, damit sie nicht herunterrutschte. Das Shirt war ein einfaches Longsleeve, was mir zwar auch zu weit war, dafür aber angenehm auf der Haut lag.

Als ich erneut in den Spiegel sah, wurde mir nur wieder bewusst, wie furchtbar ich aussah. Zum Glück war nichts gebrochen. Der Typ hatte wohl doch nicht so einen festen Schlag gehabt, auch wenn es sich für mich ganz anders angefühlt hatte. Ich erkannte mich einfach nicht mehr wieder. Da half es auch nicht, wenn ich noch länger mein Spiegelbild anstarrte.

Ich nahm einen tiefen Atemzug und verließ das Badezimmer. Als ich ins Schlafzimmer zurückkam, war ich kurz versucht mich einfach wieder ins Bett zu legen und einzukuscheln, doch mein Magen war da anderer Meinung.

Als ich das Schlafzimmer verließ, fand ich mich auf einem langen Flur wieder. Ich erkannte ihn von der kleinen Führung, die Mason mir gegeben hatte und wusste, dass direkt gegenüber das Arbeitszimmer war aus dem ich nach diesem Kuss geflüchtet war.

Als ich dann im Erdgeschoss ankam, musste ich nur meiner Nase folgen, denn es duftete wirklich herrlich. Meine Füße trugen mich in die Küche, die direkt ans Esszimmer grenzte, wo Mason gerade dabei war, Teller aus den Schränken zu nehmen.

Als er mich bemerkte, huschte ein Lächeln über seine Lippen. Ich musste ja wirklich sehr lustig aussehen, in diesen viel zu großen Sachen und mit noch zu geschwollenen Augen...

„Könnte ich dein Telefon benutzen?“

„Natürlich“, sagte er und holte es aus einem weiteren angrenzenden Raum, was wahrscheinlich so etwas wie ein Wohnzimmer war. „Hier.“

„Danke.“ Mit dem schnurlosen Telefon in der Hand ging ich ein Stückchen zurück und wählte dann Hollys Nummer. Wo war eigentlich mein Handy?

„Hallo?“, hörte ich Holly Stimme sagen, als sie das Telefonat annahm.

„Holly, ich bin es, Jo.“

„Jo? Ach du meine Güte. Ich hab mir schon solche Sorgen gemacht. Rick hat mir erzählt was passiert ist und dass er von Mason Starck angerufen wurde...“ Sie redete in einer Tour und holte zwischendurch nicht mal richtig Luft.

„Holly, es geht mir gut“, unterbrach ich ihren Redefluss.

„Wirklich?“

„Ja. Das wird alles in den nächsten Wochen weggehen.“

„Oh, Jo, das tut mir so leid. Wir hätten dich nicht allein lassen sollen.“ Ich hörte ihrer Stimme an, dass sie Schuldgefühle hatte.

„Mach dir keine Gedanken. Vielleicht wäre dann nichts passiert, aber dafür ein anderes Mal. Sie haben die Bar ganz schön demoliert.“

Sie fluchte leise.

„Mach dir keine Sorgen, okay? Ich kriege das schon wieder hin. Ich will nur, dass du dich von der Bar fern hältst, damit so etwas nicht nochmal passiert.“

„Okay“, sagte sie nach einem Moment. „Bist du zuhause?“

„Nicht direkt.“ Dann sprach ich leiser. „Ich bin bei ihm.“

„Wirklich?“, sie flüsterte mit einem Mal auch, klang aber aufgeweckt, so als würde sie aufgeregt auf und ab hüpfen.

„Ja. Er hat mir geholfen.“

„Der Ritter in strahlender Rüstung, was?“, kicherte sie.

„Nichts dergleichen. Ich bin ihm einfach nur dankbar.“

„Joanna?“, rief er ausgerechnet jetzt nach mir. Ich rollte mit den Augen und hielt das Mikrofon des Telefons zu.

„Ich komme gleich“, rief ich durch den Raum und hielt dann das Telefon wieder ans Ohr.

„Uhhh“, schnurrte Holly und ich musste tatsächlich grinsen.

„Fang erst gar nicht an“, herrschte ich sie gespielt böse an.

„Ist ja schon gut. Du bist also wirklich okay?“

„Ja. Es geht schon. Mach dir um mich keine Sorgen. Ich melde mich die Tage bei dir, wenn ich mehr von der Bar weiß, okay?“

„Ist gut“, sagte sie und ich war schon drauf und dran, ihr Tschüss zu sagen, als sie in einem unheimlichen Tempo sagte: „Und jetzt schnapp ihn dir!“

Ich kam gar nicht mehr dazu, etwas zu erwidern, da hatte sie auch schon das Telefonat beendet. Total irritiert starrte ich das Telefon in meiner Hand an. Sie konnte wirklich furchtbar sein! Trotzdem mochte ich sie. Und ich hatte definitiv nicht vor, ihn mir zu schnappen.

Eigentlich hatte ich sie noch fragen wollen, ob sie die Infos an Rick weitergeben konnte, doch wahrscheinlich würde sie das so oder so tun.

Dass ich bei Mason zuhause war, war für Holly doch ein gefundenes Fressen. Das würde sie eine ganze Zeit beschäftigen.

Ich ging zurück in die Küche und legte das Telefon auf den Tisch.

„Hast du sie erreicht?“

„Ja. Das riecht wirklich gut.“

„Warte mal, wie es schmeckt“, sagte er grinsend und holte vom Herd einen großen Topf.

Neugierig warf ich einen Blick hinein und sah dann mit einem anerkennenden Grinsen zu Mason.

„Minestrone?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ein Familienrezept.“

„Deine Familie kommt aus Italien?“

„Nein, aber bei uns wurde es eigentlich schon immer gekocht.“ Er lächelte und deutete, nachdem wir uns gesetzt hatten, auf meinen Teller. „Darf ich?“

Ich reichte ihm meinen Teller und Mason füllte ihn ordentlich. Dann begannen wir ohne große Worte mit dem Essen. Es schmeckte fantastisch und war genau das, was mein  Magen brauchte. Reichhaltig, gesund und doch nicht zu viel. Eine Suppe gab es doch schon seit jeher, wenn man krank war. Nun, ich war nicht wirklich krank, sondern verletzt, doch das ließ sich bestimmt ausweiten.

„Schmeckt sie dir?“

Überrascht sah ich von meinem Teller auf, der nun schon fast halb leer war. Ich war völlig vertieft in das Essen gewesen, dass mir die Stille zwischen uns gar nicht aufgefallen war.

„Oh, ja. Sehr gut.“ Ich lächelte ihn kurz an und nahm dann einen weiteren Löffel.

Mason lachte leise und wir aßen wirklich im Stillen weiter.

Die Suppe war aber auch lecker.

 

 

Nach dem Essen kam dann die Müdigkeit und auch ein leichter Kopfschmerz setzte ein. Den versuchte ich zu ignorieren so gut ich es eben konnte. Die Suppe hatte wirklich gut getan, doch zeigte sie mir auch, dass mein Körper noch ganz schön schwach war. Ich fühlte mich, als wäre ich einen Marathon gelaufen und hätte keinen Teller Suppe gegessen.

Ich seufzte schwer und lehnte mich zurück.

„Du solltest zurück ins Bett, Joanna.“

Ich nickte, stand aber nicht auf. Meine Lider wurden immer schwerer und da mir von innen wohlig warm wurde, hatte ich das Gefühl auf der Stelle einzuschlafen.

Als mich etwas am Arm berührte, zuckte ich zusammen und schlug die Augen auf. Mason saß mir nicht mehr gegenüber, sondern stand jetzt neben mir. Seine Hand lag auf meinem Arm und er lächelte mich ziemlich süß an.

„Komm schon.“

Als er mich so ansah und mir seine Hand anbot, fragte ich mich wieder, wieso er das eigentlich tat? Sich um mich kümmern? Eigentlich kannte er mich doch gar nicht.

Da mir aber mehr als nur schwindelig war, ließ ich mir von ihm aufhelfen. Mason brachte mich wieder nach oben in das Schlafzimmer und ich fragte mich, ob das ein Gästezimmer war. Ich hoffte es sogar, denn die Vorstellung, das wäre sein Bett, war irgendwie gruselig.

Ich schlüpfte wieder unter die Bettdecke und lehnte mich mit dem Rücken an das Kopfstück des Bettes. Mein Magen grummelte leise vor sich hin und verarbeitete das Essen. Das schaffte mich wirklich, doch da Mason sich ebenfalls wieder an das Bett gesetzt hatte, versuchte ich mich wachzuhalten.

„Du solltest morgen noch einmal ins Krankenhaus zu Dr. Nolan gehen. Er hat darum gebeten, dich noch einmal zu untersuchen.“

Ich nickte. Das war wahrscheinlich das Beste um sicher zu gehen, dass keine Schäden zurückblieben.

„Das mache ich. Und zur Polizei gehe ich dann auch noch, wegen meiner Aussage.“

„Willst du Anzeige erstatten?“

„Auf jeden Fall. Auch wenn ich nicht sicher bin, ob sie die Typen überhaupt jemals finden würden. Mehr kann ich schließlich nicht machen.“

„Das ist die richtige Entscheidung.“ Er beugte sich nach vorne und stützte die Arme auf seinen Beinen ab. Dann atmete er tief durch. Er wirkte mit einem Mal so bedrückt.

„Mason?“

„Wenn ich früher zur Bar gekommen wäre, dann wäre dir das hier gar nicht passiert.“

Mein Herz setzte einen Schlag aus. Er machte sich selbst Vorwürfe? Hatte er Schuldgefühle, weil er zwar in der Nähe aber nicht zur Bar gekommen war?

„Du konntest das doch nicht wissen.“

„Trotzdem. Ich war so nahe. Das Ganze hätte verhindert werden können, wenn ich...“

„Du konntest nichts tun. Wären diese Typen fünf  Minuten später gekommen, wäre ich weg gewesen.“

Ich sah, wie er die Hände zu Fäusten ballte und mich dann ansah. Den Schmerz, den er empfand, konnte ich in seinen Augen sehen. Meine Haut prickelte und kleine Schauer überkamen mich.

„Ich bin froh, dass du überhaupt in die Bar gekommen bist.“

„Nur zu spät.“

Unsere Blicke hingen noch immer aneinander.

„Das ist doch egal“, sagte ich leise.

Mason sagte darauf nichts mehr und eine unangenehme Stille breitete sich zwischen uns aus. Sie war so vollkommen anders als die Stille, die sich während des Essens entwickelt hatte. Dann stand er urplötzlich auf und ging Richtung Fenster.

Er stützte sich mit beiden Händen an der Glasscheibe ab und ließ den Kopf hängen. Ich hörte ihn laut atmen, dann schüttelte er den Kopf.

„Ich hatte ihm gesagt, dass er das lassen sollte“, sagte er leise. „Dieser alte Hitzkopf.“

„Von wem sprichst du?“

Er richtete sich wieder auf und sah mich an.

„Versteh mich bitte nicht falsch. Ich hätte es dir sagen sollen.“

„Was sagen sollen?“

Mason atmete noch einmal tief durch, dann kam er zum Bett und setzte sich. Während er die nächsten Worte sprach, sah er mir tief in die Augen.

„Leon, dein Bruder, ich kannte ihn. In den letzten Wochen vor seinem Tod sogar sehr gut. Als ich dich dann vor seiner Wohnung gesehen habe, wollte ich nicht, dass sein Tod zwischen uns stehen könnte, wenn du schon alles erfahren würdest.“

„Ich verstehe gerade gar nichts. Du kanntest Leon?“

„Ja“, sagte Mason und nickte. „In den Jahren die er hier gelebt hat, hat er diese Stadt lieben gelernt. Es war unausweichlich bei einem solch ähnlichen Interesse, dass wir uns kennenlernten.“

„Okay, dann kanntest du Leon. Es wäre schön gewesen, das zu wissen, aber nun gut.“

„Es ist gar nichts gut, Joanna, denn ich glaube, dass Leons Unfall kein Unfall war. Ich glaube, er wurde ermordet.“

Kapitel 18 – Die Behauptung

Ich hatte das Gefühl, aus allen Wolken zu fallen.

Leon ermordet?

Was erzählte Mason da eigentlich? War er noch bei Sinnen?

„Im Polizeibericht stand, dass es ein Unfall mit Fahrerflucht war.“

„Ja, genau“, sagte in einem angewiderten Tonfall. „Das haben sie so gedreht.“

„Wie kommst du auf so etwas?“ Ich rutschte von ihm weg. „Wer sollte einen Grund haben, Leon ermorden zu lassen?“

„An dieser Antwort arbeite ich noch. Bitte, Joanna. An seinem plötzlichen Tod stimmt etwas nicht.“

„Bist du verrückt geworden? Es war ein Unfall, die Polizei...“

„Die Polizei steckt da wahrscheinlich mit drin“, unterbrach er mich so laut, dass ich zusammenzuckte. Er stand wieder auf und stapfte wütend auf und ab.

Gerade hatte ich wirklich Angst vor ihm.

Das nun stärker werdende Schwindelgefühl und die Kopfschmerzen ignorierend, schwang ich die Beine aus dem Bett und setzte mich auf. Wieso erzählte er so etwas?

„Was tust du da?“

„Es ist besser, wenn ich jetzt gehe.“ Ich bewegte mich auf die Tür zu, drehte mich dann aber noch mal zu ihm um. „Wieso sollte ich dir eine so vage Vermutung glauben? Erklär' mir das, Mason? Wie viele Geheimnisse hast du noch, die mich auf irgendeine Art doch etwas angehen?“ Dann atmete ich tief durch und sprach in ruhigerem Ton weiter. „Ich rufe mir ein Taxi.“

„Ich fahre dich.“

„Nein“, kam es sehr schnell von mir. „Ich meine, ich danke dir, dass du mich da rausgeholt hast, aber gerade will ich nur allein sein.“ Ich wollte einfach nur weg. Vor allem weg von ihm. Und dabei war ich mir nicht mal sicher, ob ich auch nur ansatzweise an das glauben sollte, was er mir über Leons Unfall gesagt hatte. Es hatte einen Bericht gegeben. Wir hatten den Sarg geschlossen halten müssen, weil es hieß, der Unfall habe sein Gesicht entstellt und wir sollten ihn besser so in Erinnerung behalten, wie er war.

Schnurstracks ging ich die Treppe hinunter und nahm das Telefon, mit welchem ich vorhin schon Holly angerufen hatte.

Nachdem ich das Taxi herbestellt hatte, wartete ich im Flur, dass es ankam. Überraschenderweise hatte ich meine Schuhe unten im Eingangsbereich stehen sehen, doch gerade wäre ich auch barfuß nach draußen gegangen. Ebenfalls im Flur auf einer kleinen Kommode lagen meine Schlüssel, die sich wohl noch in meiner Hosentasche befunden hatten. Eigentlich landeten sie immer mit in meiner Tasche, doch aus irgendeinem Grund, der mir nicht bekannt war, hatte ich sie wohl in meine Hosentasche gesteckt. Sonst könnten sie ja unmöglich hier sein.

Mason stand am Fuß der Treppe, sagte aber kein Wort zu mir.

Auch ich mied seinen Blick und wartete im Stillen darauf, dass das Taxi endlich kam.

Warum glaubte er, dass Leon ermordet worden war? Wie kommt man überhaupt auf einen solchen Gedanken? In was war mein Bruder hineingeraten, dass man ihn hatte umbringen lassen?

Halt. Nein. Es war ein Unfall. Einzig und allein Mason behauptete, dass es ein Mord gewesen sein sollte.

Gab es dafür überhaupt irgendwelche Beweise?

Mein Innerstes zog sich heftig zusammen. Allein der Gedanke, dass irgendjemand meinen Bruder etwas so furchtbares angetan hatte, schmerzte stark. Stärker sogar, als es damals wehgetan hatte, als man uns von seinem Tod erzählt hatte.

Wo blieb dieses dumme Taxi?

Es war mehr als unangenehm, Masons Blick auf mir zu spüren. Mir war klar, dass ihn das verletzen musste, dass ich jetzt einfach so gehen wollte, doch ich hielt es hier einfach nicht mehr aus. Ich wollte allein sein, in meiner... Leons Wohnung und einfach nicht mehr darüber nachdenken.

Ich hatte den Blick gesenkt und konnte nur auf dieses Taxi warten. Dabei musste ich mich sehr zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen.

Wieso sagte Mason so etwas? Wo lag diese Vermutung begründet? Er musste doch etwas mehr wissen, denn eine Vermutung reichte da doch nicht aus um so etwas zu behaupten.

„Joanna“, hörte ich, wie er meinen Namen sagte, doch ich schüttelte nur den Kopf. Ich konnte gerade nicht mit ihm reden. Über gar nichts.

Ich schluckte schwer und zwang mich, ihn anzusehen.

„Danke“, sagte ich leise und verließ den Eingangsbereich.

Es war mir egal, ob es draußen kalt war, ich musste da nur einfach raus. Die Luft schien sich mir abzuschnüren, je länger ich in seiner Nähe blieb.

Mason folgte mir auf leisen Sohlen, blieb dann aber in der Tür stehen. Ich spürte weiterhin seinen Blick in meinem Rücken. Dann hörte ich ihn seufzen.

„Geh morgen zu Dr. Nolan, ja?“, sagte er leise.

Ich nickte, starrte aber weiterhin auf die große Einfahrt des Anwesens. Dann hörte ich, dass er ging. Es raschelte und seine Schritte wurden wieder lauter. Ohne mich vorzuwarnen legte er mir mit einem Mal eine Jacke um die Schultern. Ich zuckte zusammen, denn damit hatte ich nicht gerechnet. Für einen Moment lagen seine Hände noch auf meinen Schultern, dann trat er wieder einen Schritt zurück.

Ich brachte es nicht über mich, etwas zu sagen, denn dann hätte ich mit Sicherheit angefangen zu weinen. Mir saß jetzt schon ein dicker Kloß im Hals.

Dann kam endlich das Taxi.

Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und ging die letzten Stufen hinunter. Ich drehte mich nicht mehr zu Mason um, stieg in das Taxi und nannte dem Fahrer meine Adresse. Er sollte mich nur von hier weg bringen. Weg von den Vermutungen, mein Bruder wäre ermordet worden, weg von Mason und diesem kribbeligen Gefühl, welches ich in seiner Nähe hatte und weg von allem, was mich an den Überfall erinnerte.

Zum Glück war der Taxifahrer so clever, dass er mich nicht ansprach, sondern einfach in Ruhe ließ. So fuhren wir im Stillen zu meiner Wohnung. Als er dort anhielt, wurde mir mit einem Mal klar, dass ich gar kein Geld bei mir hatte. Meine Tasche mitsamt Handy und Geld konnten sonst wo sein.

„Ähm, könnten Sie kurz warten? Ich habe gerade kein Bargeld dabei.“

„Haben Sie etwas, was Sie mir als Pfand dalassen können?“, grummelte er.

„Hören Sie, ich habe nicht vor einfach abzuhauen. Ich habe nur einen schweren Tag hinter mir und will nur noch nach Hause. Ich verspreche, ich komme gleich wieder runter.“

Seine finstere Miene wurde sanfter, dann nickte er.

„Aber beeilen Sie sich bitte.“

„Danke.“

Ich huschte aus dem Taxi und betrat das Haus. Die Haustür ließ ich extra offen. Dann erklomm ich die Stufen und suchte in meiner Wohnung schnell nach etwas Geld. Ich hatte nie alles bei mir, was wohl eine gute Entscheidung war. Wieder unten beim Taxi angekommen, bezahlte ich meine Fahrt.

„Danke fürs Warten.“

„Schon in Ordnung, Miss.“ Er tippte sich an die Schläfe und fuhr wieder los.

Da wurde es mit einem Mal ganz still um mich herum. Ich stand draußen vor dem Haus, in viel zu großen Sachen von Mason – dich ich ihm auf jeden Fall zurückgeben würde – und hatte das Gefühl, die nicht vorhandene Decke über mir würde mir auf den Kopf fallen.

Leon ermordet...

Diese zwei Wörter kreisten in meinen Gedanken in allen erdenklichen Formen.

Langsam ging ich zurück in meine Wohnung und schloss die Tür hinter mir zwei Mal ab.

Eigentlich hatte ich gedacht, es wäre der Überfall, der mich jetzt einholen würde, doch nie hätte ich geglaubt, es würde eine so verrückte Vermutung von Mason sein. Glaubte er tatsächlich daran, dass Leon umgebracht worden war?

Ich meinte, da müsste es doch einen Grund für geben. Als mein Großvater damals gestorben war, hatte niemand gedacht, jemand anders hätte ihn umgebracht. Und außerdem stand im Polizeibericht doch, dass es ein Autounfall mit Fahrerflucht war. Sie hatten uns versichert, dass sie nach dem Täter suchen würden, doch wahrscheinlich würde dieser Fall, offen wie er war und bleiben würde, zu den anderen ungelösten Fällen gepackt werden.

Er ist tot. Das wird durch nichts mehr zu ändern sein, sagte ich mir und spürte, wie die erste Träne über meine Wange rollte.

Ich versuchte nicht mehr, sie aufzuhalten und ließ sie einfach laufen. So sehr ich nicht daran glauben wollte, dass Mason damit Recht behalten könnte, so fester verankerte sich dieser Gedanken in meinem Kopf.

Was wäre, wenn er wirklich Recht hatte?

Dann müsste die Polizei das doch wissen. Den Unterschied zwischen einem Unfall und einem Mord sollten sie doch erkennen, oder?

Doch was hatte er gesagt? Er glaubte, dass die Polizei da mit drin steckte? Wo drin? Und wieso sollte die Polizei den Mord an meinem Bruder vertuschen wollen. Hatte Leon etwas getan, was die Polizisten von Orchard Park dazu gezwungen hatte, es zu vertuschen? Und wenn ja, was war das?

Nein, das war absurd.

Ich kannte Leon. Er würde niemals etwas so Schlimmes tun können, dass ihn als Folge jemand umbringen wollte.

Tränen liefen unaufhaltsam über meine Wangen. Mein Herz schlug schnell und tat erschreckend weh. So wie bei der Nachricht seines Todes. Ich schleppte mich ins Schlafzimmer und legte mich so wie ich war ins Bett. Die Decke zog ich mir bis über die Ohren, dann weinte ich, ließ alles raus.

Ich versuchte einen klaren Kopf zu bekommen, doch alles was ich konnte, war mir vorzustellen, wie jemand Leon erschoss, ihn erstach oder erdrosselte. Mir wurde schlecht und ich versuchte diese Gedanken beiseite zu schieben. So ging das die ganze Zeit.

Mit vom Weinen gerötete Augen lag ich da, wollte nur noch schlafen, doch wenn ich die Augen schloss, dann erschienen diese Bilder vor meinem inneren Auge.

Dann endlich wurde die Erschöpfung so groß, dass ich doch einschlafen konnte.

 

 

Ich hatte nur sehr unruhig geschlafen, mich stundenlang hin und her gewälzt. Viel Schlaf hatte ich nicht bekommen, doch noch länger im Bett liegen, konnte ich auch nicht, schließlich hatte ich noch einiges zu tun.

Zu allererst musste ich zum Revier und meine Aussage machen. Es war immer besser, wenn das früher als später passierte. Als ich im Bad vor dem Spiegel stand, schauderte es mich. Mein Gesicht war zwar nicht mehr ganz so geschwollen, doch das blaue Auge war noch gut zu sehen. Ich wappnete mich jetzt schon für die mitleidigen Blicke von anderen Leuten. Ich würde auch heute gleich zu Dr. Nolan gehen, damit er noch einmal nachsehen konnte, wie es meiner geprellten Rippe ging. Ich hatte sie kaum bemerkt, denn der Schmerz in meinem Inneren hatte wohl alles andere überdeckt. Jetzt, wo ich so darüber nachdachte, spürte ich aber den Druck und den ziehenden Schmerz in meiner Seite.

Nachdem ich mich angezogen hatte, ging ich ohne ein Frühstück nach draußen. Ich hatte gar keinen Hunger, holte mir auf dem Weg aber einen Tee, denn nach Kaffee war mir im Moment auch nicht. Als erstes nahm ich den Bus zum Krankenhaus, denn es war mir in erster Linie wichtiger zu wissen, ob alles okay war, anstatt eventuell meine Habseligkeiten wiederzubekommen.

Ich gehörte zu den Menschen, die Krankenhäuser nicht ausstehen konnten, denn ich war der Meinung, wenn man noch nicht krank war, wenn man dort hin ging, dann war man es spätestens, wenn man dort war. Ich fühlte mich da einfach nicht wohl. Leon hatten sie mal den Blinddarm rausgenommen und wir hatten ihn besucht, als er noch etwas im Krankenhaus hatte bleiben müssen. Schon das war zu viel für mich gewesen. Als unsere Eltern dann am zweiten Tag wieder zu ihm gehen wollten, hatte ich ihm eine Karte gemalt, damit ich nicht mit musste.

Aber mittlerweile war ich erwachsen und da musste man über so etwas drüber stehen.

Am ersten Infoschalter, an dem ich vorbei kam, blieb ich stehen und wartete, dass sich eine der Schwestern an mich wandte.

„Ich würde gerne zu Dr. Nolan.“

„Dr. Nolan ist den ganzen Morgen schon im OP.“

„Oh. Wissen Sie, wann er wieder Zeit hat?“

Die Schwester tippte etwas in den Computer ein und klickerte mit der Maus einige Male hin und her.

„Hmm“, meinte sie, „er hat einen sehr vollen Terminkalender.“

„Nun, er wollte, dass ich heute vorbeikomme.“

„Sind sie Miss Harvelle?“, fragte eine andere Schwester, die gerade erst zum Tresen kam.

„Ja.“

„Wenn Sie möchten, können sie auf den Doktor warten. Er müsste bald mit der OP fertig sein“, sagte sie mit einem Lächeln. Ihr Blick huschte zu meinem blauen Auge. Ob sie wusste, was mir passiert war?

„Wo kann ich denn warten?“

„Ich bringe Sie in den Wartebereich.“

Ich folgte ihr durch einige Gänge, dann zeigte sie mir den Wartebereich. Ich setzte mich und nun hieß es wohl warten. Während ich so dasaß, wünschte ich, ich hätte mein Handy bei mir, dann würde ich wieder nach draußen gehen und Claire anrufen. Hoffentlich konnte die Polizei mir weiterhelfen und vielleicht hatten sie meine Tasche ja sogar gefunden. Wenn diese Typen sie nicht mitgenommen hatten, dann musste sie noch in der Bar gelegen haben. Ich würde nachher einfach nachfragen.

Mit Claire zu sprechen hatte mir schon immer geholfen, doch hätte ich ihr wirklich alles gesagt? Wenn sie von dem Überfall wusste, dann würden auch meine Eltern davon erfahren. Vielleicht nicht sofort, doch irgendwie würde es rauskommen. Vielleicht sollte ich es ihnen lieber selbst sagen?

Besser ich sagte es gar keinem. Sonst standen sie hier mit einem Mal auf der Matte und da konnte ich gerade gar nicht drauf. Außerdem gab es da noch eine andere Sache, über die ich mir klar werden musste. Auf gar keinen Fall würde ich meinen Eltern von Masons Vermutung erzählen. Vor allem, weil sie gar nicht begründet war. Wie konnte er so etwas nur behaupten? Zum unzähligen Mal stellte ich mir diese Frage. Ich fand einfach keine Antwort.

Am besten vergaß ich Mason Stark und lebte mein Leben weiter.

In der nächsten Zeit würde ich wohl allerhand mit der Bar zu tun haben, denn so wie ich mich an den Überfall erinnerte, hatten sie ganz schön großen Schaden angerichtet. Das würde teuer werden.

Impressum

Texte: Jana S. Morgan
Bildmaterialien: https://pixabay.com/de/
Cover: Jana S. Morgan
Tag der Veröffentlichung: 31.08.2014

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