Dicke Tränen kullerten ihr über die leicht geröteten Wangen. Krampfhaft, um sich wieder zu beruhigen, krallte sie ihre zarten Hände in das noch leicht feuchte Gras. Es war noch früh am Morgen, noch vor 8 Uhr und die meisten Menschen würden an einem Sonntagmorgen noch lange schlafen.
Sie nicht.
Jeden Morgen sah ich sie in dieser Pose an genau derselben Stelle sitzen und mir zerbrach das Herz aufs Neue, kannte ich sie doch so gut, wie sonst niemand auf dieser Welt. Ich würde so gerne mit ihr sprechen, sie berühren und beruhigend in den Arm nehmen, doch das konnte ich nicht, würde es nie können.
„Wieso?“, murmelte sie weinend und starrte mich, ohne dass sie es merkte, an.
Wieso? Das war die Frage, die sie immer stellte, wenn sie hierher kam. Wieso? Warum? Wieso lässt du mich allein? Ich wünschte, ich könnte ihr antworten...
Sie weinte heftiger, vergrub ihr so hübsches Gesicht in ihren Händen und zog die Knie näher an ihren Körper.
In einiger Entfernung fiel mir mit einem Mal eine Person auf. Ein junger Mann, wie sich herausstellte.
Auch ihm stand die Trauer im Gesicht, zwar war sein jugendliches Gesicht nicht von Tränen bedeckt, doch auch sprach die Traurigkeit aus seinem Blick. Er ging langsam über den unbefestigten mit Gras bewachsenen Weg und kam uns dabei immer näher.
Oh. Ich kannte den Jungen.
Sie hatte mir von ihm erzählt. Der beliebte und süße Junge von ihrer Schule, in den sie sich ein kleines bisschen verguckt hatte. Sie hatte es mir erst vor kurzem gesagt und das aus ihrem Mund zu hören, war wunderschön für mich gewesen, denn es zeigte mir, dass es ihr besser ging.
Und nun kam er auf sie zu. Neugier spiegelte sich in seinem Blick wieder, als er um den kleinen Busch trat und sie entdeckte.
Beim Weinen erwischt, wischte sie sich schnell die Tränen aus dem Gesicht und blickte dann zu ihm auf.
„Hallo“, sagte er leise, fast schon flüsternd.
„Hi“, kam es von ihr und sie blickte auf ihre Hände. Sie war schon immer ein bisschen schüchtern gewesen, doch wirkte das an ihr genau richtig und einfach nur süß.
„Alles in Ordnung bei dir?“
Sie nickte stumm, doch sagte sie kein Wort.
„Hast du was dagegen, wenn ich mich zu dir setze?“
„Nein“, sagte sie und lächelte. Flüsternd fügte sie ein kleines „gerne“ hinzu.
Er setzte sich neben sie und blickte geradeaus.
Sie wirkten beide so friedlich zusammen, so als würde sie Kraft aus dem jeweils anderen schöpfen und dabei sprachen sie kein Wort miteinander. Es war ein wundervoller Anblick. Wann hatte ich sie das letzte Mal mit einem Lächeln im Gesicht gesehen? Die leichte Röte in ihren Wangen und die ineinander verschlungenen Hände, nur weil sie sich nicht traute ihn richtig anzusehen.
„Du bist noch nicht sehr lange hier, oder?“, fragte er sie nach einer ganzen Zeit, die sie gemeinsam in der Sonne gesessen hatten.
„Nein. 3 Wochen sind es her.“
„Das tut mir leid.“ Wieder nickte sie nur und ich konnte ihr ansehen, dass sie den Tränen schon wieder nahe war. Um sie zu verstecken verbarg sie ihr Gesicht in den Händen und schniefte herzzerreißend. Und doch musste ich lächeln, als er ihr einen Arm um die Schultern legte und sie an sich drückte. Sie schien erschrocken zu sein, als ihr seine Nähe bewusst wurde, doch sträubte sie sich nicht, sondern blickte ihn einfach mit ihren ehrlichen Augen an.
„Ist okay“, hauchte er ihr entgegen und sie sah ihm einfach weiter in die Augen, war unfähig etwas zu sagen.
„Weißt du, es hätte mir damals sehr geholfen, wenn ich mit jemanden darüber geredet hätte, doch es war niemand da.“
Ich wusste von ihr, dass er eigentlich viele Freunde hatte, umso mehr wunderte es mich, dass er sich wohl genauso einsam gefühlt hatte, wie sie.
Er sprach weiter, so als wurde diese stumme Frage, wie das sein könnte, wenn man doch so beliebt war, laut ausgesprochen.
„Es ist etwas ganz anderes, wenn man mit seinen Freunden über belanglose Dinge spricht oder, als über den Verlust eines geliebten Menschen. Nicht jedem würde ich das erzählen.“
„Ich weiß, was du meinst“, sagte sie leise und himmelte ihn weiter mit ihren rehkitzbraunen Augen an. „Jeder sagt immer, man solle darüber reden, doch mit wem, das sagen sie einem nicht.“
„Du kannst mit mir darüber reden.“
Bei diesen Worten, drückte ich mir die Hände auf die Brust, genau über meinem Herzen. Er war ein herzensguter Mensch, wie sich herausstellte, denn er konnte sie verstehen, hatte etwas Ähnliches durchgemacht und stand ihr nun zur Seite. Konnte es einen schöneren Anblick geben?
„Wie war sie?“, fragte er.
„Sie war toll“, sagte die junge Frau und schmiegte sich noch etwas enger an ihn. „Wäre da nur nicht dieser Streit gewesen. Sie muss mich hassen. Der Gedanke, dass es das letzte gewesen war, was ich zu ihr gesagt hatte...“
„Das darfst du nicht denken. Sie wird dich genauso lieben, wie vor diesem Streit. Sie ist bestimmt genauso traurig, wie du im Moment.“
„Woher willst du das wissen?“
„Weil ich mir das gleiche bei meiner Mutter vorstelle“, er flüsterte diese Worte nur, legte zusätzlich eine Hand unter ihr Kinn um es anzuheben. Wie in Zeitlupe näherten sie sich an, bis sie sanft ihre Lippen aufeinander legten. Es war ein zärtlicher und keuscher Kuss, und doch steckte so viel Gefühl in ihm, dass auch mir eine Träne über die Wange lief.
So wunderbar dieser Anblick. So schön dieser ganze Moment.
Mein Blick riss sich nur schwer von den beiden los, doch schließlich sah ich auf, in die Richtung aus der er gekommen war. Dort, in einiger Entfernung stand eine Frau, die ebenso zufrieden wirkte, als sie die beiden beobachtete.
Ich wusste sofort, wer sie war, denn genau denselben Blick hatte ich in meinem Gesicht.
Wir beide waren Mütter, die sahen, wie ihre Kinder zueinander gefunden haben, nachdem wir gestorben waren.
The End
Texte: Jana S. Morgan
Bildmaterialien: https://pixabay.com/de/
Cover: Jana S. Morgan
Tag der Veröffentlichung: 02.04.2014
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