Cover

Narben der Abhängigkeit

Ich sehe zum Fenster hinaus in die sternenklare Nacht. Der Mond leuchtet weiß und rund am Firmament und um ihn herum die Sterne, verstreut als wäre einem der Salzstreuer umgekippt. Auf meiner Fensterbank brennt nur noch eine Kerze, die anderen sind nach und nach flackernd erloschen. Ich blicke eine Weile verzaubert auf die tanzende Flamme, vergesse kurz meine Situation, doch der piepsende Ton meines Handys sagt mir das ich eine neue Nachricht habe und holt mich somit in die Realität zurück. Ich lese sie erst garnicht, denn ich weiß was in ihr steht. Eine geheuchelte Aufmunterung von einem meiner „Freunde“. Doch habe ich nicht erst neulich begriffen, dass ich in Wahrheit allein bin, dass mich keiner von ihnen auch nur ansatzweise versteht auch wenn sie es immer wieder beteuern? Ich seufze kurz und leidvoll, dann greife ich zu meinem einzigen Freund, der mir immer wieder hilft meine Schmerzen zu überdecken. Flüchtig betrachte ich den leuchtenden Schein der Kerze, welcher von der spiegelnden Oberfläche der Klinge zurück geworfen wird. Sie ist wunderschön auf ihre ganze eigene Art und Weise.

In den letzten Tagen, Wochen, ja sogar Monaten war ich süchtig nach ihr geworden. Was als verzweifelter Versuch meine Schuld an ihm zu begleichen begonnen hatte, wurde von Mal zu Mal zu einer Art Abhängigkeit.

Ich drücke die geschliffene Teil der Klinge auf meinen Arm, spüre wie scharf sie ist und ziehe sie zur Seite. Es bildet sich eine feine rote Linie, doch das mir bekannte Brennen lässt noch auf sich warten. Vielleicht war es noch nicht fest genug. Erneut drücke ich die Klinge an meinen Arm und ziehe sie weg, doch diesmal drücke ich fester, ziehe schneller. Tatsächlich brennt es leicht und es bilden sich kleine Perlen auf der Linie. Wie wunderschön sich doch das flackernde Kerzenlicht in ihnen bricht. Ich sehe einen Augenblick verzückt auf die blutroten Perlen, doch das Brennen lässt bereits nach, der unerträgliche Schmerz in meinem Herzen kommt abermals zum Vorschein. Ich weiß es zu verhindern, ziehe nochmals die Klinge über meinen Arm, nicht nur einmal, sondern auch ein zweites, drittes, viertes und ein fünftes mal. Das Blut fließt über meinen Arm, tropft auf mein Bettlacken und hinterlässt bordeauxrote Flecken auf weißem Grund.

Die stechende Qual in mir lässt nach, weicht einem dumpfen Gefühl in meinem Herzen und einem brennenden Schmerz an meinem Arm. Doch dieses Leid ist weitaus leichter zu ertragen, als das Gefühl den Tod seines besten Freundes nicht verhindert zu haben. Ich fühle mich schuldig, Tag ein Tag aus und einzig am Abend, wenn ich alleine auf meinem Zimmer bin kann ich für ein paar Stunden diesem Schuldgefühl entfleuchen.

Heute soll es jedoch anders sein, ich will nicht länger mit diesem Gefühl kämpfen, will ihm nachgeben. Auch wenn das bedeutet alles andere hinter mir zu lassen. Ich seh also ein letztes mal aus dem Fenster, sehe hinaus in die Nacht und auf unseren Garten, in dem schon längst die ersten Knospen bereit sind sich zu öffnen, verstärke meinen Griff um die Klinge, sie schneidet mir in die Hand, doch ich merke es nicht mehr. Einen Moment lasse ich sie über meinem Arm schweben, dann drücke ich sie fest in meine Haut, viel fester als die letzten Male, ziehe sie zur Seite, mit mehr Druck und schneller als die letzten Male. Das Blut fließt und fließt, es hört garnicht mehr auf, bildet einen Rinnsal, der ungehindert auf meine Kleidung und meine Bettwäsche tropft. Ich sehe verschwommen, nicht nur weil ich unkontrolliert weine, sondern auch weil mich langsam aber stetig meine Kräfte verlassen. Schwach hebe ich meine Hand und streiche mir eine Strähne meines Haares aus dem Gesicht, drehe es in Richtung meines Spiegels, will mich noch einmal sehen bevor ich gehe. Meine Haut ist bleich und an den Stellen im Gesicht die ich berührt habe sieht man mein Blut. Meine blauen Augen sind mit Tränen gefüllt und haben ihren Glanz verloren, genauso wie meine dunkel blonden Haare, sie hängen einfach schlapp um mein Gesicht. Ich versuche ein letztes Mal zu lächeln, doch es missglückt, es sieht eher aus wie ein verzweifelter Versuch festgefrorene Mundwinkel anzuheben. Ich spüre wie mir mit jedem Tropfen Blut mehr Kraft aus dem Körper fließt, bis ich zu einem Punkt komme an dem mir schwarz vor Augen wird. Ein letztes Atmen, ein letzter Herzschlag und ein letzter Gedanke: Es ist endlich vorbei.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 07.01.2014

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /