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Dr. Witzig organisiert Weihnachten

Dr. Witzig organisiert Weihnachten

von Thomas Peper

 

 

Kennt ihr Dr. Witzig? Nein?

Dann will ich ihn euch vorstellen.

Dr. Witzig ist Studienrat an einem kleinen Gymnasium in einer noch kleineren Kleinstadt irgendwo in Norddeutschland. Dr. Witzig unterrichtet dort schon sehr lange, das heißt, er hatte viel Zeit, seine Organisationskünste zu verfeinern.

Dr. Witzig ist nämlich ein Meister der Organisation und der Ordnung.

Wenn ihr jetzt aber denkt, dass Dr. Witzig seine besonderen Fähigkeiten ausschließlich auf den beruflichen Bereich konzentriert, dann irrt ihr euch gewaltig. In der Schule ist das Organisieren ja gewissermaßen berufsmäßig gefordert, und daher stellt dies für Dr. Witzig keine besondere Herausforderung dar.

Nein – seine wahren Künste offenbaren sich erst im privaten Bereich.

Wollt ihr ein paar Beispiele? Na gut.

Dr. Witzig kann es zum Beispiel nicht ausstehen, wenn auf der Wäscheleine die Farbe der Wäscheklammern nicht dem Farbschema des entsprechenden Wäschestücks entspricht. Dr. Witzig hält deswegen ein breites Farbspektrum an diversen Klammern verschiedenster Hersteller bereit. Der zugegeben etwas schwache Protest seiner Frau, dass es zunehmend problematisch wird, den etwa 8 kg schweren Klammerbeutel an die Wäscheleine zu hängen, hatte bei Dr. Witzig natürlich keine Chance. Nicht auszudenken, wenn eine rosa Rüschenbluse mit einer neongrünen und einer petrolblauen Klammer an der Leine befestigt wird. Dr. Witzig betont hier immer, dass es im Leben auf die Ästhetik ankommt.

Dr. Witzig ist sowieso ein Ästhet – jedenfalls behauptet er das immer. Und er wird vor seinen Lerngruppen auch nie müde, das zu betonen.

“Was ist ein Ästhet?”, fragte doch frecherweise neulich ein Mädchen aus der 5. Klasse.

Jetzt erklärt ihr einem kleinen Kind mal so etwas Kompliziertes. Das geht natürlich nicht. Und deswegen hat Dr. Witzig die kleine Emily auf später vertröstet. Wenn sie mal älter wird und so etwas Schwieriges versteht. Emily blickte ganz erstaunt, aber auch etwas enttäuscht mit großen, traurigen Augen zu Dr. Witzig hoch und wünschte sich, dass es Menschen gäbe, die ihr die Welt erklären könnten.

Dr. Witzig nahm dieses Beispiel zum Anlass, in seinem Deutsch-Leistungskurs zu erklären, was Entwicklung bedeutet. Nach einem längeren Vortrag zum Thema Sprachverfeinerung, geistige Flexibilität und komplexe Denkstrukturen meldeten sich Jette und Jonas.

Jette und Jonas sind Teil des Leistungskurses – und in Dr, Witzigs Augen eher ein verzichtbarer Teil. Nicht, weil sie zu dumm wären, seinen verschachtelten Gedankengängen zu folgen, sondern eher im Gegenteil.

Sie stellen einfach immer die falschen Fragen. Und falsch sind sie, weil sie immer Dr. Witzigs Lebensweisheiten ins Wanken bringen. So sieht es jedenfalls Dr. Witzig.

In dem Fall der kleinen Emily sagte Jette nämlich: “Warum haben Sie Emily nicht einfach gesagt, dass ein Ästhet ein Mensch ist, der nur schöne Sachen mag?” Und Jonas setzte, wie immer noch, einen drauf: “Natürlich entspricht das nicht der Kantschen Theorie der Sinnhaftigkeit, aber für Emily würde es ja erst einmal reichen, wenn Sie ihr den Begriff in der Alltagssprachlichkeit erläutern, nicht wahr?”

Seht ihr, was ich meine? Jetzt wisst ihr, warum Jette und Jonas sozusagen die Gegenspieler von Dr. Witzig sind. Am liebsten würde er die beiden aus dem Kurs ekeln, aber da sie ziemlich helle Köpfe sind, muss er sich leider mit ihnen abfinden.

Dr. Witzigs Ordnungssinn stoppt natürlich nicht an der Wäscheleine. Ich gebe euch mal ein weiteres Beispiel aus dem häuslichen Bereich. Hier läuft Dr. Witzig ständig auf Höchstform auf, denn im Haushalt gibt es eigentlich immer etwas zu organisieren.

Da wäre zum Beispiel die Einkaufsliste für den Wocheneinkauf, die Dr. Witzigs Frau Wiebke aus purer Nachlässigkeit einfach so auf einen Zettel schreibt, gerade so, wie es ihr einfällt. Das geht nicht.

Im Falle des Einkaufszettels muss Dr. Witzig jeweils eine schwere Entscheidung treffen: entweder für die alphanumerische Aufzählung der einzelnen Posten (also kommt die Apfelsine vor der Birne und als Letztes die Zwetschge) oder eine thematisch gegliederte (kategorisiert nach Obst, Gemüse, Getreideprodukten, Milchprodukten, Fleisch, Getränken und Non-Food). Letzteres hat Dr. Witzig nach monatelangem Nachdenken in seinen Wortschatz aufgenommen: ein garstiger Anglizismus, der sich aber kaum vermeiden ließ, weil die deutschen Wörter hier einfach zu sperrig wurden (“Nicht-Nahrungsmittel-Haushaltsartikel”).

Wiebke Witzig hat es längst aufgegeben, ihren Mann zur Vernunft zu bringen. Schließlich ist sie schon seit 26 Jahren mit ihm verheiratet. In den ersten Jahren ihres Ehelebens hielt sie Dr. Witzigs seltsames Hobby noch für eine Schrulle, die wohl bald verschwinden würde, denn sie liebte ihn schließlich. Als sie nach ein paar Jahren merkte, dass es im Gegenteil immer schlimmer wurde, hat sie gelernt, mit dem Ordnungsfimmel umzugehen. Im Alltag heißt das: sie ignoriert es einfach. Manchmal schüttelt sie mit dem Kopf, aber nur ganz, ganz leicht, damit ihr Mann nicht auf die Idee kommt, diese rhythmischen Bewegungen in ein Wertesystem hineinzuorganisieren oder die Frequenz der Kopfbewegungen zu analysieren.

Das Beispiel des Einkaufszettels wird von Dr. Witzig häufig im Unterricht genutzt, wenn er seinem Leistungskurs erklären möchte, wie Ordnungssysteme funktionieren. Er läuft dann immer zu Höchstform auf. Wie ihr euch denken könnt, machen ihm Jette und Jonas wieder einmal einen Strich durch die Rechnung.

Jonas fragte doch tatsächlich, ob Dr. Witzig die Lebensmittel auch alphabetisch oder nach Kategorien geordnet verzehre. Dann käme ja immer das Fleisch vor den Kartoffeln, und ganz am Ende der Zwieback? Und sei es nicht langsam langweilig, immer die Avocado als erstes auf dem Teller zu haben?

Wieder so ein Fall, bei dem Dr. Witzigs Blutdruck langsam, aber stetig steigt. Und wenn Jette dann noch fragt, ob Dr. Witzigs System eher der idealistischen oder der materialistischen Weltanschauung von Erich Fromm entspricht, dann steht er auf ganz dünnem Eis. Man könnte fast den Eindruck bekommen, dass Jette und Jonas es darauf angelegt haben, Dr. Witzig irgendwann ins kalte Wasser einbrechen zu lassen.

So ist es nur natürlich, dass sich Dr. Witzig in letzter Zeit (also seit Jette und Jonas im Leistungskurs sind) in der Schule nicht mehr so wohl fühlt.

Aber um diese Jahreszeit naht ein schier unendliches Betätigungsfeld: die Vorweihnachtszeit.

Von Mitte November bis zu den eiligen Festtagen gibt es ja bekanntlich so viele Dinge zu organisieren, dass ein Mensch wie Dr. Witzig hier nur aufblühen kann.

Das fängt mit der Auswahl, der Ausschmückung und der Platzierung des Adventskranzes an. Dass die Deko mit der Kerzenfarbe harmonieren muss, ist selbstverständlich. Welches Farbschema ist angemessen? Der Klassiker in rot-grün? Das eher unterkühlte silber-weiß-blaue Arrangement oder die warmgold-rote Farbpalette? Schwierige Entscheidungen, aber es muss sein.

Wiebke Witzig hatte einmal vorgeschlagen, eine verspielte Lösung zu realisieren, also einen ganz bunten, lustigen Kranz mit diversen …

Der Blick, den ihr Dr. Witzig zuwarf, ließ sie mitten im Satz erstarren. Sie ahnte, dass sie einen Riesenfehler gemacht hatte, denn nun hob ihr Mann zu einem längeren Vortrag über die Ästhetik (ja, hier konnte er das Wort ohne Gefahr benutzen, denn Jette und Jonas waren weit weg) des Adventskranzes an, der nur durch das Klingeln der Türglocke unterbrochen werden konnte. Erleichtert rannte Wiebke zur Haustür, um der Nachbarin ein Ei zu leihen.

Noch schlimmer wird es mit der Weihnachtsdekoration im Haus. Hier spielt nicht nur das Farbschema eine Rolle, sondern auch die Anordnung der einzelnen Symbole im Haus. Sollen alle Dekorationsgegenstände mit tierischer Symbolik (Rentier, Rotkehlchen, rotnasiger Elch) von geometrischen Symbolen (Stern, Sechseck, Kugel) getrennt aufgestellt werden? Da wäre die Schneekugel, die Tante Petra vorletztes Jahr mitgebracht hatte (ein Rudolph mit roter Nase in einer Kugel!), allerdings ein äußerst störendes Element und benötigte einen Extraplatz zwischen den Kategorien.

Eine große Herausforderung bieten die diversen Lichterketten und Lichtinstallationen, die das Ehepaar Witzig im Laufe der Jahre angehäuft hat. Auf den ersten Blick liegt es ja nahe, die Lichterketten in aufsteigender Reihenfolge der Lichterzahl zu platzieren, aber sinnvoll wäre auch die Anordnung nach der Farbe der Birnchen oder der Komplexität des Geräts: erst die einfachen, linearen Ketten, dann die Lichternetze und zum Schluss die beleuchteten Figuren.

Es gibt Tage, da möchte Wiebke Witzig auch mal zum heimischen Glück beitragen. So schlug sie bei der Lichterkettenfrage tatsächlich einmal vor, alles nach Stromverbrauch geordnet aufzuhängen.

Dr. Witzig betrachtete seine Frau danach lange und gründlich. Als er auch nach zwei Minuten noch keine Reaktion auf die Idee seiner Gattin herausgebracht hatte, merkte Wiebke, dass sie etwas Falsches gesagt hatte, denn schlagartig wurde ihr klar, dass ihrem Mann diese Idee niemals gekommen wäre, und das stellte ihn vor ein großes Problem: am Ende war Wiebke genauso schlau wie Jette und Jonas! Das würde ja bedeuten, dass er nicht einmal zu Hause in Ruhe seine Ordnungsliebe ausleben könnte und immer wieder unbequemen Fragen ausgeliefert wäre. Eine schreckliche Vorstellung. Das ahnte auch Wiebke Witzig, als sie in die dunklen Augen ihres Mannes schaute und mit einem verlegenen Lachen anmerkte: “Ach, war nur so eine blöde Idee. Vergiss es einfach.”

Ihr glaubt nicht, wie froh Dr. Witzig war, denn jetzt konnte er seinem Lieblingsthema frönen: dem Weihnachtsbaum.

Ihr glaubt nicht, was es bei einer normalen Nordmanntanne alles zu organisieren gibt!

Erst einmal muss eine thematische Karte aller Standorte von Verkaufsstellen angefertigt werden. Dazu muss vorher recherchiert werden, wie teuer die Bäume bei den einzelnen Händlern sind. Aus den entsprechenden Daten konstruiert Dr. Witzig dann die optimale Route, um am Ende den besten Baum zum günstigsten Preis-Leistungsverhältnis zu bekommen.

Für einen kurzen Augenblick hatte Dr. Witzig die Idee, das als Optimierungsaufgabe in Kleingruppen in seinen Erdkundekurs zu geben. Aber das musste er sofort verwerfen, denn auch im Erdkundekurs – ihr ahnt es schon – sitzen Jette und Jonas, und die hätten bestimmt wieder einen ihrer superschlauen Einwürfe gemacht, die Dr. Witzig so fürchterlich ins Schleudern bringen.

Also wird Dr. Witzig die Auswahl der richtigen Tanne ohne schulische Elemente vornehmen. Zu beachten sind: die Wuchsform (birnenförmig, dreieckig oder kugelig), das Verhältnis von Breite zu Höhe muss stimmen und natürlich die Dichte der Zweige, denn der Baumschmuck muss geeignete Befestigungsmöglichkeiten bieten.

A propos Baumschmuck: hier ergeben sich ebenfalls unzählige Variationen, die ich hier unmöglich aufzählen kann, weil sie nur Dr. Witzig einfallen können. Und Jonas und Jette natürlich.

Aber die werden Dr. Witzigs Baum niemals sehen.

Wirklich nicht?

In diesem Jahr scheint alles anders zu sein. Dr. Witzig merkt schon seit ein paar Wochen, dass Jette und Jonas keine peinlichen Fragen mehr stellen, sondern im Gegenteil, sie sind plötzlich nett und freundlich und zeigen Interesse an Dr. Witzigs Hobbys. Sie lassen sich launig die unterschiedlichen Ordnungssysteme der häuslichen Weihnachtsvorbereitungen erklären, angefangen von den unterschiedlichen Plätzchenformen über die Anordnung der Geschenkpakete unter dem Baum bis zur Aufteilung des Heiligen Abends, also in welchem Zeitfenster der Weihnachtsspaziergang stattfindet, der Termin des Gottesdienstes und die Aufgliederung der Bescherungszeremonie.

Während Dr. Witzig bereitwillig und fast schon fröhlich seine Konzepte darlegt, schwant ihm innerlich, dass er den beiden irgendwie auf dem Leim geht. Er weiß nur noch nicht, wie. Könnten die beiden ihm einen Streich spielen? Sie lachen immer so fröhlich und sind recht ausgelassen. Immer weiter wird Dr. Witzig ermuntert, das gesamte Ordnungskonzept des Witzigschen Weihnachtsfestes ausführlich darzulegen.

Irgendetwas stimmt da nicht.

Schließlich bricht Dr. Witzig seine Ausführungen ab, mit dem Hinweis darauf, dass man ja auch noch den Lehrplan zu erfüllen habe. Also geht es weiter mit der Versstruktur der Ovidschen Liebesgedichte.

Aber so ganz ist Dr. Witzig nicht bei der Sache. Immer wieder passieren ihm Patzer, er macht Fehler, die er erst zu spät erkennt und die ihm peinlich sind. Und das Seltsamste: Jette und Jonas sagen nichts dazu. Keine neunmalklugen Bemerkungen, keine mega-schlauen Verbesserungsvorschläge.

Ganz, ganz unheimlich.

Zwar findet Dr. Witzig dieses Verhalten anfangs beunruhigend, aber diese trüben Gedanken werden schon bald verscheucht: vom Beginn der Weihnachtsferien. In Dr. Witzigs Erinnerung sind Jette und Jonas schon nach ein paar Tagen Ferien im diffusen Nebel verschwunden, denn die wenigen Tage bis Weihnachten müssen generalstabsmäßig durchorganisiert werden.

Schließlich ist der große Tag gekommen: Heiligabend. Die Witzigs haben Ute und Helmut, ein befreundetes Paar, eingeladen, um mit ihnen zusammen zu feiern. Dr. Witzig wird diese Gelegenheit nutzen, um den beiden sein perfektioniertes Konzept der Weihnachtsfeierlichkeiten zu präsentieren. Es wurde vereinbart, dass man sich beim Weihnachtsgottesdienst trifft und danach zu Witzigs geht, um Bescherung, Essen und anschließendes gemütliches Beisammensein zusammen zu verbringen.

So kann Dr. Witzig schon vorher alles so arrangieren, dass das Ordnungsprinzip perfekt zur Schau gestellt wird.

Die Dekoration steht bereits thematisch geordnet (das Konzept hat sich durchgesetzt) und optimal verteilt in der Wohnstube. Die Lichterketten bilden geometrisch geordnete Muster und blinken in vorschriftsmäßigem Rhythmus. Der Weihnachtsbaum steht exakt zentriert und genau senkrecht im Wohnzimmer und trägt die genau vorgeschriebene Anzahl von Kerzen, die in vorher definierten Abständen auf den Zweigen befestigt sind. Die Geschenkpäckchen liegen, nach Größe und Adressat geordnet, unter dem Baum. Ihre Seitenkanten sind genau parallel zueinander gestapelt.

Die Weihnachtsgans schmort schon seit Stunden im programmierten Backofen vor sich hin und wird genau zur richtigen Zeit perfekt gegart sein.

Der Tisch ist so gedeckt, dass die Distanz zwischen den einzelnen Tellern genau 23 cm beträgt – die gleiche Entfernung wie zwischen den Stühlen. Die Farbe des Geschirrs spiegelt sich in dem Farbschema der Servietten wider. Auf der kleinen Anrichte stehen bereits die Getränkeflaschen, angeordnet nach dem Alkoholgehalt. Ganz links also die Wasserflasche, dann streng aufsteigend, bis an der rechten Kante der Wodka erscheint, rein äußerlich aber ebenso unschuldig aussehend wie das Wässerchen ganz links.

Ein letzter Blick noch. Dr. Witzig schaut zufrieden in die Runde. So kann er dem Besuch sein beeindruckendes Schema vorführen. Ja, Dr. Witzig freut sich richtig über die bewundernden Blicke und Bemerkungen, die der Besuch mit Sicherheit später von sich geben wird.

Es ist nur merkwürdig, dass Wiebke immer stiller und schlechter gelaunt wird. Und das, obwohl das ganze Haus in weihnachtlicher Ordnung erstrahlt! Es wirkt auch fast so, als hätte sie Tränen in den Augen. Dr. Witzig ist sich sicher, dass es Freudentränen sind.

Der Weihnachtsgottesdienst zieht sich diesmal unendlich in die Länge. Dr. Witzig hat den Eindruck, dass der Pastor etwas von seinen Plänen ahnt und diesmal die Weihnachtsgeschichte besonders ausführlich erzählt. Wurden die drei Weisen immer schon so detailliert beschrieben? Ist es wirklich notwendig, das Innere des Stalles in Bethlehem in allen Einzelheiten zu schildern? Und ist der Dialog zwischen den Weisen und dem Erzengel wirklich 20 Minuten lang?

Irgendwann ist aber auch der längste Gottesdienst zu Ende. Etwas zu hastig steht Dr. Witzig auf und zerrt Wiebke und das befreundete Paar in Richtung Ausgang. Bis zum Witzigschen Heim sind es nur zehn Minuten Fußweg, aber die kommen ihm vor wie ein Halbmarathon. Ungefähr in dieser Geschwindigkeit zieht Dr. Witzig auch seine kleine Karawane nach Haus. Damit die Gäste schon vor Betreten des Hauses die wunderschöne Ordnung erkennen können, hat Dr. Witzig die Außenleuchte eingeschaltet, die ein Licht auf die wohlgeformte Türdeko werfen soll.

Als die Gruppe um die letzte Straßenecke biegt, merkt Dr. Witzig gleich, dass etwas nicht stimmt. Das Licht ist aus. Wie kann das sein?

Dadurch, dass der Außenbereich im Dunkeln liegt, fällt Wiebke gleich auf, dass im Innern des Hauses ein festlicher Lichtschein durch die Fenster dringt. Dr. Witzig kann sich nicht erinnern, dass er eine der Illuminationen bereits vorher eingeschaltet hätte, denn das hätte ja das Gesamtkonzept zerstört. Waren hier vielleicht Einbrecher am Werk? Oder sind sie am Ende noch im Haus und wüten wie die Vandalen?

Vorsichtig schauen alle vier durchs große Panoramafenster ins Wohnzimmer. Von Personen ist nichts zu sehen, aber alle Zimmer scheinen irgendwie erleuchtet zu sein.

Dr. Witzig beschließt, den Helden zu spielen und öffnet langsam die Haustür. Wiebke hat Angst. Das befreundete Paar mahnt ebenso zur Vorsicht: “Man weiß ja nie!”

Als die Haustür ganz geöffnet ist, fällt als erstes das große Rentier auf, das mitten im Flur steht. Eigentlich hatte Dr. Witzig es neben die Rotkehlchen (weihnachtliche Tierweltordnung) im Esszimmer platziert. Aber jetzt glotzt es die vier Menschen trotzig an. Auf seinem Rücken liegt eine elektrische Heckenschere, festgebunden mit goldenem Geschenkband und dekoriert mit einer Kerze aus echtem Bienenwachs, das langsam, aber zielsicher die scharfen Messer der Heckenschere verklebt.

Wiebke schaut fassungslos auf das skurrile Arrangement im Flur und kann nur stammelnd herausbringen: „Siegfried, das ist dein Weihnachtsgeschenk! Was macht das hier auf dem Rentierrücken?“

Helmut schaut mit Kennerblick auf das Typenschild und nickt leicht neidisch: „Tja, Ute, die HSX4000 hätte ich auch gern zu Weihnachten gehabt!“

So langsam löst Dr. Witzig sich aus seiner Schockstarre und merkt, dass die Haustür immer noch offen steht. Mittlerweile wird es nämlich ziemlich kalt im Flur. Beim Schließen der Tür stellt er fest, dass es keinerlei Einbruchsspuren gab und teilt diese Beobachtung seinen Gästen mit. Als geschulte Sonntagabend-Tatort-Zuschauer wissen sie, dass die Eindringlinge freien Zugang zum Haus gehabt haben müssen. Aber wie? Die vier stehen verwirrt rund um das Rentier und wissen nicht, was sie davon halten sollen.

Wiebke ist die erste, die zur Tat schreitet und in die Wohnstube läuft. Was sie dort sieht, verschlägt ihr den Atem.

Alle Kerzen sind vom Weihnachtsbaum abgenommen worden und stehen verteilt und brennend im gesamten Wohnbereich, völlig ungeordnet, herum. Couchtisch, Bücherregal, Anrichte, Esstisch, Fernseher – alles, was eine freie Fläche hat, wird vom goldenen Schein einer Bienenwachskerze erleuchtet. Der gesamte Raum ist von einem geheimnisvollen Glanz erfüllt, der durch das Flackern der Kerzen noch verstärkt wird.

Die längste Lichterkette wurde von der Wand abgenommen und liegt nun so auf dem Boden, dass sie in einer anmutigen Wellenform einmal quer durchs Wohnzimmer führt – so, als ob die Urheber dieser eigenwilligen Dekoration ihren Zuschauern eine Erlebnistour bieten wollten. Und tatsächlich: ganz unbewusst folgen die vier dem Verlauf der elektrischen Leitung und entdecken immer wieder Neues.

Der Toaster, der eigentlich als Geschenk für Wiebke gedacht war, wurde mit Goldspray übersprüht und dient jetzt als technologisch gestylter Halter für eine dicke Stumpenkerze, die gemütlich vor sich hin flackert.

Ein paar Lichterreihen weiter läuft die Kette über die Ledergarnitur und zeigt den Anwesenden das Arrangement auf der Couch. Die Krippe wurde so umgestaltet, dass das Innere des Stalls durch bunt blinkende Lämpchen (eine Lichterkette, die Wiebke eigentlich längst hätte wegwerfen wollen) eher an eine Party erinnert. Dem entsprechend stehen Maria, Josef und die drei Weisen nicht einfach im Stall herum, so wie es sonst üblich ist, sondern tanzen wild zu unhörbaren Sounds. Ihre traditionellen Gewänder hat man übermalt: Josef trägt jetzt ein Glitzerjackett und Maria einen Minirock. Einer der Weisen steht in der Ecke und trinkt ein Glas Bier auf Ex.

Immer weiter geht die Tour durchs Wohnzimmer. Dr. Witzig kann immer noch nicht glauben, was aus seinem sorgsam ausgefeilten Arrangement geworden ist.

In einer etwas versteckten Ecke stehen drei Weihnachtszwerge aus Filz. Nur eine einzelne Kerze erleuchtet schummrig das Trio, das bei näherem Hinsehen mit der Spitzenunterwäsche bekleidet ist, die Dr. Witzig für Wiebke noch einen Tag vor Heiligabend bei C&A gekauft hatte.

Der Weihnachtsteller auf dem Esstisch wurde seiner Süßigkeiten beraubt und enthält nun einen See aus Duschgel, auf dessen glibbriger Oberfläche jetzt die Rotkehlchen schaukeln. Die Süßigkeiten selber sind nicht mehr auffindbar.

Auf einmal kommt ein Schrei aus der Küche. Ute hatte die Runde im Wohnzimmer bereits gedreht und steht jetzt vor der Food-Installation auf dem Induktionsherd. Die halbgare Gans liegt dort auf einem Silbertablett und ist mit selbstgestrickten Wollsocken und einer elektrischen Pfeffermühle dekoriert. Mit Goldklebeband und Bienenwachs ist ein riesiges Poster befestigt, das in großen Buchstaben die Aufschrift trägt „STOP EATING ANIMALS!“

Alle vier stehen irgendwann nebeneinander in der Küche und lassen das Gesamtkunstwerk auf sich wirken. Dr. Witzig ist völlig verzweifelt und fragt sich, wer hier so gewütet hat, und warum. Bei Ute und Helmut sind sie mit Sicherheit unten durch und werden nie wieder eingeladen. Bevor Dr. Witzig sich krampfhaft irgendeine Erklärung überlegen kann, die glaubwürdig erscheint, entwickelt sich der Abend ganz anders.

Helmut schlägt ihm nämlich wohlwollend auf die Schulter und sagt: „Mensch, Siegfried, da hast du dich ja mal selbst übertroffen! Ich dachte immer, du wärst so ein steifer Typ, aber jetzt merke ich, dass ein richtig kreativer Geist in dir wohnt! Alle Achtung!“ Auch Ute muss schmunzeln und stimmt zu: „Ja, Siegfried, die Zwerge in Reizwäsche waren das Beste! Woher hast du nur all diese Ideen? Und die ganzen Kerzen – eine wunderschöne Stimmung!“

Beim Thema Kerzen merkt Wiebke, dass die Luft trocken ist. Sie hat Durst. Schnell füllt sie ein großes Glas mit dem Inhalt der linken Flasche und leert alles sofort in einem Zug. Zu spät merkt sie, dass in der Flasche kein Wasser war. Die Eindringlinge haben die Flüssigkeiten in den Karaffen vertauscht. Die im Alkoholtrinken völlig ungeübte Wiebke haut ein Viertelliter Wodka sofort aus den Puschen.

Sie verspürt plötzlich den Drang, ihren heißgeliebten Siegfried leidenschaftlich zu küssen – vor den Augen der Gäste, die dieses Schauspiel mit einem amüsierten Lächeln verfolgen. Aber das ist ihr jetzt egal. Und auch Siegfried, der zum letzten Mal vor zwanzig Jahren so geküsst wurde, leistet keinerlei Widerstand.

Ute ist es etwas peinlich, den beiden bei solch intimen Szenen zuzuschauen und lässt ihren Blick in der Küche schweifen. Dabei entdeckt sie auf dem Küchentisch einen großen goldenen Umschlag, der an das Ehepaar Witzig adressiert ist. Sie nimmt ihn hoch und zeigt ihn den beiden: „Schaut mal, was hier liegt. Das ist für euch!“

Dr. Witzig löst sich etwas widerwillig von Wiebkes Umarmung und öffnet den Umschlag. Wiebke schaut ihm über die Schulter. Beide lesen:

„Lieber Herr Dr. Witzig! Ordnung ist das halbe Leben. Heute bekommen sie die andere Hälfte geschenkt. Genießen sie es. Liebe Grüße von Ihren Wohltätern.“

PS. Auch bei der Kreativität müssen Sie noch etwas üben. Der Schlüssel unter der Fußmatte ist kein besonders einfallsreiches Versteck.

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Tag der Veröffentlichung: 11.12.2020

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