DER HAMBURGER ERNST
von Thomas Peper
sehr frei verfast
nach Oscar Wildes
„The Importance of Being Earnest“
Rollen:
Antonius Mommsen,
manchmal (mehr oder weniger) liebevoll Toni genannt. Sprössling einer hoch angesehenen, renommierten, allerdings (zur Zeit) praktisch bankrotten alten Hamburger Kaufmannsfamilie. Sein extravaganter (sprich: teurer) Lebensstil zeugt davon, dass er die Zeichen der (insolventen) Zeit nicht ganz wahrgenommen hat. Konkret bedeutet das, dass er immer noch ein unverschämt teures Penthouse in Eimsbüttel bewohnt, das er sich nicht leisten kann, rauschende Partys gibt, die er sich nicht leisten kann und zu viele teure Spirituosen konsumiert, die er sich ebenfalls nicht leisten kann. Retterin in der Not ist da häufig seine Tante
Augustine Brommer,
die zwar das (kaum noch vorhandene) Familienvermögen etwas besser zusammenhalten kann als ihr Neffe, jedoch auch permanent über ihre Verhältnisse lebt – und dies auch zeigt. Zu ihrer Entlastung muss man sagen, dass sie sich sehr intensiv um eine zahlungskräftige potenzielle Ehefrau für Antonius bemüht, bisher allerdings ohne Erfolg. Augustine ist eine äußerst dominante Persönlichkeit, die die Familie mit eiserner Hand zusammenzuhalten versucht. Hätte sie ein Familienwappen, so trüge es mit Sicherheit den Ausspruch „Widerstand ist zwecklos“. Ihre Tochter,
Greta Schöning
(aus erster Ehe) ist eine attraktive, junge Frau, der man so leicht nichts vormachen kann. Trotz ihres starken Selbstbewusstseins ist sie (heimlich) verliebt in
Hannes Werther,
Tonis besten Kumpel, wohnhaft irgendwo in der Lüneburger Heide. Bei seinen Besuchen in Hamburg tritt er allerdings immer nur als „Ernst“ auf, um seine wahre Identität zu verschleiern. Im Gegensatz zu seinem Busenfreund Antonius besitzt Hannes ein ansehnliches Vermögen, das er mit diversen Geschäften auf dem Agrarsektor und dem Heide-Tourismus macht. Man nennt ihn auch den „Kartoffelkönig der Heide“. Hannes ist Vormund für
Charlotte Campe,
17 Jahre alt, die in Hannes’ Landvilla irgendwo in einem Heidedörfchen lebt. Das Leben dort ist für ein Mädchen ihres Alters recht langweilig, da Hannes mit Argusaugen über Charlottes Wohlergehen, ihre moralische Erziehung und ihren tadellosen Lebenswandel wacht. So kann es nicht verwundern, dass Charlotte sich in ihrer Fantasie so manche wilden Abenteuer ausdenkt. Dies geschieht insbesondere immer dann, wenn ihr „Onkel“ Hannes wieder einmal nach Hamburg aufbricht, um seinen missratenen Bruder „Ernst“ zu besuchen und ihn zurück auf den rechten Weg der Moral zu bringen. Charlotte träumt schon seit langem davon, eben diesen schlimmen Ernst kennenzulernen. Von diesen sehnsüchtigen Jungmädchenträumen losreißen kann sie nur
Ottilie Prätorius,
die langjährige Erzieherin, Gouvernante und Lehrerin von Charlotte. Sie ist sozusagen Hannes’ Garantin dafür, dass in seiner (häufig stattfindenen) Abwesenheit Charlottes moralischer Standard aufrecht erhalten bleibt. Fräulein Prätorius ist belesen, gebildet, aber natürlich ein wenig altmodisch und prüde, trotzdem heimlich verliebt in
Dr. Severin,
den Pastor der örtlichen Kirchengemeinde, mit dem sie gern einen Spaziergang durch den Kirchgarten unternimmt und über Gott und die Welt plaudert. Zu beiden Themen hat der wortgewandte und studierte Doktor allerlei zu sagen, und Fräulein Prätorius ist natürlich seine liebste Zuhörerin.
Weitere Personen sind:
Jana,
Antonius’ polnische Putzfrau, Anfang zwanzig, Hausangestellte und Faktotum für alles, was Antonius im Alltag nicht schafft – also praktisch alles. Bezahlen kann er sie nur sporadisch, aber trotzdem bleibt sie bei ihm und räumt stets die Hinterlassenschaften der rauschenden Partys am nächsten Morgen weg. Was sie an ihm so fasziniert, bleibt ein Rätsel.
Emma,
Hannes’ Hausangestellte in seiner Heidevilla. Sie wird von Hannes gut bezahlt, ist aber zum Ausgleich stets schlecht gelaunt. Zum Blumengießen lässt sie sich nicht herab, allenfalls ist sie bereit, den Bewohnern des Hauses neu ankommende Gäste anzukündigen.
Geschlossener Vorhang. Spot auf die Mitte an.
Der Erzähler betritt die Bühne.
Erzähler
Meine Damen und Herren! Wir leben im Zeitalter der Unterhaltung – oder wie es so schön auf Neudeutsch heißt: Entertainment. Die Unterhaltung hat praktisch alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens durchdrungen. Überall, wo Sie hinschauen, wollen Menschen unterhalten werden. Fernsehen, Radio, ja, sogar im Internet ist Unterhaltung die oberste Direktive. Und selbst auf das problemgeschulte Theaterpublikum nimmt die Unterhaltungsmafia keine Rücksicht!
Schaurige Neologismen wurden hierfür erfunden: beim Infotainment müssen die neuesten Meldungen aus Politik und Wirtschaft unterhaltsam vermittelt werden – eine echte Herausforderung für alle Nachrichtenredakteure, wie Sie sich vorstellen können. Aber es kann noch schlimmer kommen: das Edutainment! Schule und Bildung, die (ich wage es kaum auszusprechen) Spaß machen soll – der Untergang des Abendlandes!
Der Erzähler macht eine kurze Pause, um sich wieder etwas zu beruhigen, nachdem ihn die letzten Sätze emotional aufgewühlt haben.
Da ist es doch wohltuend zu wissen, dass es Menschen gibt, die all diesem oberflächlichen Tand nichts abgewinnen können. Menschen, die in ihrem Leben andere Schwerpunkte setzen.
Während des letzten Satzes geht langsam der Vorhang auf, und man sieht Antonius’ Junggesellenapartment, trendy und teuer eingerichtet. Die künstlerisch-kreative Atmosphäre wird allerdings im Moment dadurch geschmälert, dass das gesamte Interieur durch die zahlreichen Überreste einer offensichtlich unübersichtlichen Party (oder mehrerer Partys?) überdeckt wird. Nicht nur umgeworfene Gläser, leere Flaschen, diverse Tabletts mit Essensresten, sondern auch herumliegende Kleidungsstücke (von Antonius und anderen – auch weiblichen – Gästen) dominieren das Bild.
Jana bemüht sich gerade, auf dem Boden kniend, die schlimmsten Flecken aus dem weißen Teppich zu entfernen und überhaupt Ordnung in Antonius’ Apartment zu schaffen.
Während der nächsten Sätze geht der Erzähler langsam in das Bühnenbild hinein und setzt sich auf einen der weißen Designerstühle, wo er Janas Bemühungen verfolgen kann.
Ja, meine Damen und Herren, wie Sie sehen, gibt es noch Menschen, die sich bemühen, die etwas Sinnvolles, Schönes, Bedeutungsvolles in ihrem Leben erreichen wollen. Ist es nicht tröstend zu wissen, dass das Streben nach Klarheit, nach Reinheit, nach Sinnhaftigkeit noch nicht ganz verloren ist?
Jana schaut kurz zum Erzähler hinüber, schüttelt frustriert den Kopf und scheuert weiter am Rotweinfleck auf dem Boden.
Ich will es kurz machen: Worum es heute Abend geht, ist nichts Geringeres als die Rückkehr zum Wesentlichen, zum eigentlichen Sinn des Lebens – zum Ernst.
Nach dem letzten Satz steht der Erzähler auf und geht ab.
Von nebenan hört man den satten Klang einer E-Gitarre, eher laut als musikalisch wertvoll.
Antonius Jana!
Jana (mit rotem Kopf, genervt) Ja!
Antonius Jana, hast du gehört, was ich gespielt habe?
Jana Nein. Ich muss mich auf den Rotweinfleck konzentrieren. Der geht nicht raus.
Antonius Schade für dich. Das war gerade ein echt cooler Riff. Ganz spontan improvisiert! Meine Improvisationen sind wie immer erste Klasse. Voller Power, voller Emotion, was? An der Gitarre spüre ich mein volles Gefühl. Den Ernst des Lebens überlasse ich den anderen.
Jana (ironisch) Super.
Antonius Apropos Ernst des Lebens… Hast du schon das Sushi für Tante Augustine fertig?
Jana (immer noch den Fleck bearbeitend) Ja, steht im Kühlschrank.
Antonius (kommt aus dem Nachbarzimmer, geht zum Kühlschrank, holt sich die Sushiplatte und setzt sich aufs Sofa neben der knienden Jana) Ach, und noch etwas: seit letzter Woche, als Hannes und Jimmi hier mit mir gefeiert haben, sind sechs Flaschen Champagner ausgetrunken worden.
Jana Ja, stimmt. Alle leer.
Antonius Wie kommt es eigentlich, dass die Haushälterinnen in Junggesellenapartments immer den Champagner der Gäste trinken? Ich frage nur so aus Interesse.
Jana (unschuldig) Bei uns zuhause gibt es keinen Champagner. Wenn man frisch verheiratet ist, hat man kein Geld mehr für so einen Luxus.
Antonius Meine Güte! Ich wusste gar nicht, dass die Moral in der Ehe so weit gesunken ist.
Jana Na ja, es hat auch Vorteile, verheiratet zu sein. Allerdings kenne ich meinen Leszek noch nicht so lange. Letztes Jahr haben wir geheiratet. Es war besser so. Sonst wär’ er mit der fetten Blondine aus dem Tattostudio durchgebrannt.
Antonius (gelangweilt) Jana, eigentlich habe ich gar keine Lust, mir deine Familiengeschichten anzuhören.
Jana Ja, ich weiß, kein interessantes Thema. Ich finde es selbst ziemlich langweilig.
Antonius Was die Ehe betrifft, hast du eine ganz schön lockere Einstellung, meine Liebe. Ein bisschen zu locker, finde ich. Du bist wirklich kein gutes Vorbild für mich. Bei so wenig Verantwortungsgefühl komme ich glatt auf die schiefe Bahn.
Es klingelt. Jana steht demonstrativ stöhnend auf und öffnet die Tür. Hannes kommt herein.
Antonius Ah, mein lieber Ernst! Wie geht’s? Was führt dich mal wieder in die große Stadt?
Hannes Natürlich das Vergnügen. Der pure Hedonismus. Ah, ich sehe, du bist wieder einmal beim Essen, Toni.
Antonius (betont formal) In unserer großen Stadt ist es üblich, am Nachmittag einen kleinen Imbiss einzunehmen. Als Landei kennst du dich mit solchen vornehmen Gebräuchen natürlich nicht aus. Wo warst du übrigens seit Donnerstag?
Hannes (setzt sich aufs Sofa) Auf dem Lande natürlich.
Antonius Was um Himmels willen tust du da eigentlich die ganze Zeit?
Hannes Wie gesagt, wenn man in der Stadt ist, amüsiert man sich. Wenn man auf dem Lande ist, amüsiert man andere Leute. Es gibt kaum etwas Langweiligeres.
Antonius Und wen musst du da amüsieren?
Hannes (verächtlich) Die Heidetouristen in ihren riesigen Reisebussen.
Antonius Und sind die wenigstens nett, die Touris?
Hannes Nett? Von denen ist keiner jünger als siebzig. Aber immerhin zahlungskräftig. Und sie kaufen meine Kartoffeln. Irgendwie muss der Mensch ja sein Geld verdienen.
Antonius Na, immerhin verdienst du ja nicht schlecht, was? (nimmt ein Stück Sushi vom Teller) Ach, übrigens, du bist doch in der Nähe von Lüneburg zuhause, oder?
Hannes (abgelenkt) Was? Lüneburg? Ach so, ja ja, natürlich. (sieht das Buffet) Hey, was ist denn hier los? Sushi? Tassen? Silberbesteck und Designer-Teller mit Goldrand? So ein verschwenderischer Luxus mitten in der Woche? Erwartest du jemanden?
Antonius (beiläufig) Ach, bloß Tante Augustine und Greta.
Hannes (begeistert) Jetzt gleich? Das ist ja super!
Antonius Ja, mag schon sein, aber ich glaube, Tante Augustine wird sich nicht gerade freuen, dich hier zu sehen.
Hannes (enttäuscht) Wieso?
Antonius Mein lieber Freund, es ist einfach unerträglich, wie heftig du mit Greta flirtest. Fast so schlimm, wie Greta mit dir flirtet.
Hannes Ich liebe Greta! (stolz) Ich warte schon seit Monaten auf eine Gelegenheit, ihr einen Heiratsantrag zu machen.
Antonius Hattest du nicht gesagt, du wärst zum Vergnügen hier? Mir scheint, du bist wohl eher auf Geschäftsreise.
Hannes Mein Gott, wie unromantisch du bist!
Antonius Was soll an einem Heiratsantrag denn romantisch sein? Es besteht immerhin die Gefahr, dass er von deiner Liebsten angenommen wird. Verliebt zu sein, ja, das ist romantisch, der Herzschmerz, das Wiedersehen nach langer Zeit, also nach zwei Tagen. Aber ein Heiratsantrag? Die ganze Spannung und die Aufregung sind doch dann vorbei. Keine Überraschungen mehr, keine Unsicherheiten. Das Schönste an der Romantik ist die Unsicherheit. (entschlossen) Sollte ich jemals heiraten, werde ich den ganzen Romantikkram schleunigst verdrängen.
Hannes Daran zweifele ich keine Sekunde. Der Berufsstand des Scheidungsanwalts wurde extra für Leute wie dich erfunden.
Antonius Wusstest du eigentlich, dass es hier in Hamburg am Familiengericht einmal einen Richter namens Dr. Roth gab? (grinst) Da hat der Standesbeamte bei der Trauung immer gesagt: „… bis dass der Roth euch scheidet“!
(Antonius lacht etwas zu heftig über seinen eigenen Witz; als er merkt, dass Hannes ihn gar nicht komisch findet, räuspert er sich peinlich berührt. Hannes hat Tonis Bonmot genutzt, um heimlich ein Sushi zu nehmen. Hannes merkt es und haut ihm auf die Hand, als er sich ein Stück Sushi nehmen will) Hände weg vom Sushi! Das habe ich extra für Tante Augustine bestellt. (nimmt ein Stück und isst es)
Hannes Du stopfst das doch schon die ganze Zeit in dich hinein!
Antonius Das ist ganz was anderes. Es ist schließlich meine Tante. (nimmt ein Tablett von der anderen Seite) Hier, das kannst du essen. Toast und Butter. Ist für Greta. Sie liebt Toast mit Butter.
Hannes (geht zum Tisch und bedient sich) Mmh, der Toast schmeckt wirklich lecker.
Antonius Mein lieber Freund, jetzt stürz’ dich nicht so gierig darauf, als ob du alles essen wolltest. Das sieht ja fast so aus, als wärst du schon mit Greta verheiratet. Denk daran, dass es noch nicht soweit ist, und außerdem glaube ich, wirst du sie auch nie heiraten.
Hannes Wie kommst du denn darauf?
Antonius Also, erstens heiraten Frauen niemals die Männer, mit denen sie flirten. Das gehört sich nicht.
Hannes So ein Blödsinn!
Antonius Ist es nicht. Es ist die Wahrheit. Was glaubst du, warum hier in Hamburg so viele Singles herumlaufen? Und zweitens bekommst du nicht mein Einverständnis.
Hannes (entrüstet) Dein Einverständnis?!
Antonius Mein lieber Freund, Greta ist meine Kusine. Und bevor ich dir erlaube, sie zu heiraten, musst du mir erst die ganze Geschichte mit Charlotte erklären. (ruft Jana)
Hannes Charlotte? Wer soll das sein? Toni, worüber sprichst du eigentlich? Ich kenne keine Charlotte!
(Jana kommt.)
Antonius Ach Jana, sei so freundlich und bring mir doch bitte das Handy, das Herr Werther bei unserer letzten Party hier vergessen hat.
Jana (genervt) okay. Ich hab ja auch sonst nichts zu tun. (geht ab.)
Hannes (springt auf) Soll das heißen, dass mein Handy die ganze Zeit hier bei dir war? Ich dachte, es wäre mir geklaut worden. Ich war schon kurz davor, zur Polizei zu gehen und eine hohe Belohnung auszusetzen.
Antonius Gute Idee übrigens. Ich bin mal wieder ziemlich knapp bei Kasse.
Hannes Das ist doch Schwachsinn, eine Belohnung auszusetzen, jetzt wo es sowieso wieder aufgetaucht ist. Hättest du mir nicht gleich sagen können, dass mein Handy hier bei dir lag? Ich habe drei schlaflose Nächte hinter mir. Ich konnte nicht einschlafen ohne das melodische Geräusch meines Klingeltons.
Jana (kommt herein und bringt das Handy zu Antonius.) So ein cooles Smartphone hätte ich auch gern. Wenn Sie es nicht brauchen, nehme ich es.
Antonius Also doch keine Belohnung? (tippt auf dem Handy herum) Na ja, wenn ich mir das Ding genauer anschaue, ist es auch egal. Das Handy gehört sowieso nicht dir. (zu Jana) Hier, du kannst es haben. (reicht es Jana)
Jana (erstaunt) Wirklich? Danke!
Hannes (geht dazwischen) Moment mal! Das ist mein Handy! Du weißt doch genau, dass es meins ist. Du hast mich schon hundertmal damit gesehen. Außerdem ist es sehr unhöflich, in fremde Handys zu schauen. Du könntest deine eigenen Nachrichten lesen.
Antonius Erzähl mir nicht, was man darf und was nicht. Dazu muss ich nur nachmittags um halb vier den Fernseher anschalten. Reality-TV! Da lerne ich wenigstens, wie man sich korrekt daneben benimmt.
Hannes (gereizt) Ich habe überhaupt keine Lust, jetzt mit dir über Kultur zu diskutieren. So etwas macht man auf Vernissagen und Autorenlesungen, aber nicht zu Hause. (zu Jana) Könnte ich bitte mein Handy zurück haben?
Jana (unsicher; schaut zu Hannes)
Antonius Jana, gib mir bitte mal kurz das Handy. Du bekommst es gleich wieder. (zu Hannes) Also, dies ist mit Sicherheit nicht dein Handy. Hier ist zum Beispiel eine SMS von einer gewissen Charlotte, und du hast eben noch behauptet, du kennst niemanden, der so heißt.
Hannes (steif) Na gut, wenn du es unbedingt wissen musst: Charlotte ist … meine … Tante.
Antonius Deine Tante!? (lacht laut)
Hannes Ja, eine reizende ältere Dame. Wohnt in … Winsen an der Luhe. Jetzt gib mir endlich mein Handy wieder, Toni!
Antonius (räkelt sich genüsslich auf dem Sofa) Aber wieso nennt sie sich „kleine Charlotte“? Hier, ich zitiere: „… Grüße von deiner kleinen Charlotte.“
Hannes (geht zum Sofa und kniet vor Antonius) Alter, was soll das Ganze? Manche Tanten sind groß, manche sind klein. Das sollte jede Tante doch wohl selbst entscheiden dürfen, oder? Du glaubst doch nur, dass alle Tanten so sein sollten wie deine Tante Augustine – mit einer Figur wie ein Nilpferd und Schuhgröße 46. Ich mag eben lieber … kleine Tanten. Also her mit dem Handy.
Antonius Ja, aber warum nennt deine Tante dich Onkel? Hier: (liest) Von der kleinen Charlotte, viele süße Grüße an ihren Onkel Hannes.“ Du hast natürlich recht, dass Tanten unterschiedlich groß sind, aber warum eine Tante ihren eigenen Neffen ihren Onkel nennt – egal welche Schuhgröße sie hat –, ist mir einfach schleierhaft. Außerdem heißt du überhaupt nicht Hannes. Du heißt Ernst.
Hannes Ich heiße nicht Ernst, ich heiße Hannes.
Antonius Seit ich dich kenne, heißt du Ernst. Ich habe dich allen meinen Freunden als Ernst vorgestellt. Du drehst dich um, wenn jemand „Ernst“ ruft, du siehst aus wie ein Ernst – du bist der am ernstesten aussehende Mensch, den ich kenne! Das ist doch absurd, wenn du mir jetzt erzählst, dass du nicht Ernst heißt. Außerdem … (er zieht eine Visitenkarte aus der Tasche) habe ich den Beweis. Hier steht’s: Ernst Werther, Elbchaussee 57, Hamburg. Ich werde diese Karte solange aufbewahren, bis du endlich aufhörst, mich oder Greta über deine wahre Identität anzulügen. (steckt die Karte in seine Tasche.)
Hannes (zögernd) Na ja, hier in Hamburg heiße ich Ernst, und zuhause in der Heide heiße ich Hannes. Und die SMS habe ich eben … in der Heide bekommen.
Antonius Ja, aber das erklärt immer noch nicht, wieso deine kleine Tante Charlotte, die in Winsen an der Luhe wohnt, dich ihren Onkel nennt. Jetzt komm schon, altes Haus, zier dich nicht so! Raus damit!
Hannes Toni, du redest mal wieder wie ein Zahnarzt. Ich nenne das Vortäuschung falscher Tatsachen, wenn man so tut, als wäre man ein Zahnarzt. Am Ende nimmst du von mir noch den 3,5-fachen Satz und rechnest 50 Prozent drauf wegen „besonders schwieriger Behandlung“, nur um an ein paar Kröten zu kommen.
Antonius Keine Sorge. Du kommst ungeschoren davon, wenn du mir hier und jetzt die ganze Wahrheit auftischst. Überhaupt bist du mir plötzlich viel sympathischer; ich habe dich schon seit längerem in Verdacht, ein durchtriebener Bernhardiner zu sein. Und seit unserer kleinen Unterhaltung eben weiß ich es ganz genau: du bist einer!
Hannes Bernhardiner? Was meinst du damit? Ich bin doch kein Hund. Du redest mal wieder in Rätseln!
Antonius Wenn du mir schleunigst erklärst, warum du in Hamburg Ernst heißt und Hannes in der Heide, werde ich dir diesen Begriff haarklein erläutern.
Hannes Erst das Handy.
Antonius Na gut. (zu Jana) Tut mir Leid. Doch kein kostenloses Smartphone. (wirft ihm das Handy zu. Jana wütend ab.) Jetzt deine Erklärung, und bitte mit viel Fantasie! (setzt sich hin.)
Hannes Fantasie ist hier nicht nötig, mein lieber Toni. Die ganze Geschichte ist tatsächlich ziemlich normal, fast schon langweilig. Der ehrenwerte Herr Senator Thomas Campe, der mich adoptiert hat, als ich noch ein kleiner Junge war, bestimmte mich in seinem Testament zum Vormund seiner Enkelin Charlotte. Charlotte, die mich schon immer aus Gründen des Respekts (die du natürlich nicht nachvollziehen kannst) als ihren Onkel bezeichnet hat, lebt in meiner Villa in der Heide unter der Aufsicht ihrer bewundernswerten Gouvernante, Fräulein Prätorius.
Antonius Und darf man fragen, wo diese Villa in der Heide genau steht?
Hannes Darf man nicht. Außerdem würde dir das nichts nützen, denn du wirst sowieso niemals dorthin eingeladen. Auf dem Lande will ich meine Ruhe haben. Die Stadtluft, die du mitbringen würdest, könnte die ganze Idylle zerstören. Ich kann dir nur soviel sagen: es ist nicht in Winsen an der Luhe.
Antonius Das dachte ich mir schon, altes Haus! Ich habe rund um Winsen schon häufig den Bernhardiner gespielt. Aber jetzt weiter: warum bist du Ernst in Hamburg und Hannes auf dem Lande?
Hannes (umfasst Antonius und geht mit ihm über die Bühne) Mein lieber Toni, ich weiß nicht, ob du meine hehren Beweggründe verstehen kannst. Äußerste, vorbildlichste Seriosität ist hier angesagt. Wenn man sich, wie ich, in der Position eines Vormunds befindet, ist man gezwungen, äußerst moralisch zu handeln. Ich muss, wo ich gehe und stehe, ein makelloses moralisches Vorbild für Charlotte sein – und sie ist fast immer da, wo ich gehe und stehe. Da, wie du dir vorstellen kannst, so eine Existenz meiner Gesundheit auf die Dauer nicht guttut, habe ich mir irgendwann einen jüngeren Bruder namens Ernst ausgedacht, der an der Elbchaussee wohnt, und ständig in irgendwelche schlimmen Situationen gerät. Das ist eigentlich schon alles – also ganz einfach!
Antonius Das Leben ist niemals einfach. Und es wäre doch auch furchtbar langweilig, wenn es so wäre, nicht wahr? Nein, das Komplizierte im Leben ist doch die wahre Unterhaltung!
Hannes Wir in der Heide sehen das natürlich ganz anders. Bei uns auf dem Lande pflegt man den familiären Zusammenhalt, die harmonische Familie, langjährige Freundschaften. Wir sind nicht so verdorben wie ihr hier in der großen Stadt. Wir brauchen kein Reality-TV! Uns reicht der Tatort am Sonntagabend, um einen flüchtigen, für uns aber völlig ausreichenden Eindruck von der großen Welt zu bekommen.
Antonius Weißt du, Ernst, jemand, der der „Kartoffelkönig der Lüneburger Heide“ genannt wird, sollte nicht philosophisch angehauchte Reden über das Schlechte in dieser Welt halten. Überlasse das den Großstädtern wie mir zum Beispiel. Trotzdem bin ich jetzt hundertprozentig davon überzeugt, dass du ein echter Bernhardiner bist.
Hannes Spinnst du? Was erzählst du denn da?
Antonius Schau mal: du hast dir einen äußerst nützlichen jüngeren Bruder namens Ernst ausgedacht, um gelegentlich mal eine Pause vom moralisch-anstrengenden Landleben zu haben und hier in Hamburg so richtig ungestört … na ja, das zu tun, was du tun willst – wenn du mal eine Pause von der Rolle des Gutmenschen brauchst. Ich hingegen habe einen unschätzbaren, dauerkranken Freund namens Bernhard erfunden, um immer dann, wenn ich es will, aufs Land zu fahren und meiner anstrengenden Tante zu entfliehen. Wenn es Bernhards schwache Konstitution nicht gäbe, könnte ich heute Abend zum Beispiel nicht mit dir essen gehen, denn eigentlich bin ich bei Tante Augustine eingeplant.
Hannes Ich kann mich nicht erinnern, dass wir heute Abend zum Essen verabredet wären.
Antonius Ich weiß. Du bist ganz schön nachlässig mit deinen Einladungen geworden, mein Lieber. Wenn du so weitermachst, hast du bald keine Freunde mehr.
Hannes Vielleicht solltest du doch besser mit deiner Tante Augustine essen gehen.
Antonius Das meinst du wohl nicht im Ernst, Ernst? Erstens war ich schon am Montag mit ihr essen, und ich finde, einmal in der Woche reicht. Zweitens werde ich immer wie ein Familienmitglied behandelt, was bedeutet, dass ich entweder kein Mädchen kennenlerne, oder gleich zwei. Und drittens weiß ich genau, dass Augustine wieder Maria Fabricius einlädt.
Hannes Und was ist so schlimm an dieser Maria?
Antonius Über dem Tisch flirtet sie ständig mit ihrem Mann und streckt ihm unter dem Tisch irgendwelche Extremitäten entgegen. Ich finde das nicht so toll – vor allem, seit ich versucht habe, dasselbe mit Maria zu tun. Die unangenehmen Konsequenzen daraus sind dir ja bestens bekannt. Überhaupt ist es ein Skandal, wie viele verheiratete Frauen mit ihren Männern flirten! Hier in Hamburg hat das solche Ausmaße angenommen, dass ich kaum noch zu Dinnerpartys gehe. Es ist einfach zu frustrierend.
Hannes Ich glaube, du bist einfach nur neidisch, dass es Menschen gibt, die anderen sympathischen Menschen irgendetwas Nettes entgegenstrecken.
Antonius Gegen diese Form des menschlichen Kontakts habe ich überhaupt nichts – im Gegenteil. Aber doch nicht in aller Öffentlichkeit – und dann noch bei Verheirateten! Aber zurück zum Thema. Jetzt, da ich weiß, dass du ein professioneller Bernhardiner bist, muss ich dir die Regeln erklären.
Hannes Irrtum, lieber Toni. Ich habe nichts mit Bernhardinern zu tun, und schon gar nicht mit deiner Sorte. Wenn Greta meinen Antrag annimmt, werde ich meinen Bruder umgehend diskret beseitigen. Wenn ich’s mir recht überlege, wäre es eigentlich besser, ihn schon jetzt um die Ecke zu bringen. Charlotte ist mir in letzter Zeit ein bisschen zu interessiert am Schicksal dieses ungeratenen Menschen. Sie fragt ständig danach, was er tut und wie es ihm dabei geht. Man bekommt fast den Eindruck, sie sei fasziniert von Leuten, die auf die schiefe Bahn geraten. Nein, nein, Ernst muss sterben, und zwar so bald wie möglich. Ich rate dir, dasselbe mit deinem Kumpel … wie heißt er noch … zu tun.
Antonius Auf keinen Fall werde ich mich von Bernhard trennen – wir haben den Bund fürs Leben geschmiedet, den nur eine kluge, eifersüchtige Ehefrau lösen kann. Überhaupt: falls du jemals heiratest, was ich im Moment noch nicht sehe, rate ich dir dringend, dir einen eigenen Bernhard anzuschaffen. Du wirst sehen – du brauchst ihn! Jeder Mann braucht seinen Bernhard. Ohne ihn ist die Ehe nur halb so schön.
Hannes Was für ein Quatsch. Wenn ich so ein nettes Mädel wie Greta heirate, dann interessiert mich mit Sicherheit kein blöder Bernhard.
Antonius Aber deine Frau vielleicht! Du weißt doch: die beste Ehe besteht aus dreien, die sich verstehen! Schon mal was vom flotten Dreier gehört?
Hannes Mein Lieber, ich glaube, du bist zu oft auf Internetseiten unterwegs, die man erst sehen kann, wenn man diverse Jugendschutzwarnungen durchgeklickt hat. Das bringt dich auf schlimme Gedanken, die ein anständiges Mädchen gar nicht wissen will.
Antonius Stimmt: weil sie es längst weiß und sich danach sehnt.
Hannes Immer, wenn du nicht mehr weiter weißt, wirst du zynisch. Mach dir’s doch nicht so einfach und sag zur Abwechslung mal etwas Schlaues.
Antonius Es gibt viel zu viele Leute, die schlau sind – oder zumindest so tun. Da muss ich einfach ein intelligentes Gegengewicht bilden. (Es klingelt fünf Mal stürmisch.) Oh, das muss Tante Augustine sein. Niemand sonst klingelt wie ein Gerichtsvollzieher – da kenn ich mich aus! Also, jetzt wird’s ernst. Ich schlag dir einen Deal vor. Ich schaff dir zehn Minuten lang meine Tante vom Hals, so dass du in Ruhe Greta deinen Antrag machen kannst, und im Gegenzug gehst du heute Abend mit mir essen. Okay?
Hannes (zerknirscht) Das ist ja Erpressung! Na gut.
Antonius Nein, nicht so halbherzig. Ich hasse es, wenn Leute nicht mit Eifer zum Essen gehen. Es ist so oberflächlich. Essen ist eine ernste Angelegenheit.
Jana kommt herein.
Jana Ihre Tante ist da. Mit Gretamäuschen (verdreht die Augen) …
Augustine und Greta treten ein. Antonius geht ihnen entgegen, um sie zu begrüßen.
Augustine Guten Tag, mein lieber Antonius. Ich hoffe, du lebst weiterhin anständig?
Antonius Ja, mir geht es gut, meine liebe Tante.
Augustine Das ist nicht dasselbe. Anständigen Menschen geht es nur selten gut. (sieht Hannes und schenkt ihm einen kühlen Blick.)
Antonius (zu Greta) Greta, du siehst heute aber toll aus.
Greta Ich sehe immer gut aus. (zu Hannes) Nicht wahr, Herr Werther?
Hannes Sie sind einfach perfekt, Fräulein Schöning.
Greta Oh, ich hoffe, nicht! Da wäre dann ja kein Platz mehr für meine Entwicklung, und ich beabsichtige, mich in viele Richtungen zu entwickeln. Ich bin noch ziemlich jung, wissen Sie?
Greta und Hannes setzen sich nebeneinander aufs Ecksofa.
Augustine Es tut mir Leid, dass wir so spät dran sind, aber ich musste unbedingt noch zu meiner Freundin Elisabeth Hartmann. Seit dem Tod ihres armen Mannes hatte ich sie nicht mehr gesehen. Ich habe noch nie eine Frau kennengelernt, die sich als Witwe so verändert hat. Sie sieht jetzt zwanzig Jahre jünger aus als vorher. Und jetzt hätte ich gern ein Glas Prosecco und das Sushi, das du mir versprochen hast.
Antonius Natürlich, liebe Tante Augustine. (geht zum Buffet)
Augustine Greta, möchtest du nicht lieber hier bei mir sitzen?
Greta Danke, Mama, ich fühle mich hier sehr wohl.
Antonius (sieht voller Schrecken den leeren Teller.) Jana!
(Jana kommt herein.)
Jana (gelangweilt) Was gibt’s?
Antonius Ich hatte doch extra für meine liebe Tante Sushi bestellt. Wo ist es?
Jana (ernst) Es gab keins mehr. Die Kreditkarte ist gesperrt.
Antonius Überhaupt kein Sushi?
Jana Kein Sushi. Noch nicht mal Koi-Karpfen.
Antonius Na gut, Jana. Das war’s.
Jana Von mir aus. (geht genervt ab.)
Antonius Ich bin untröstlich, Tante Augustine, es gibt noch nicht mal Kois. Kein Sushi!
Augustine Das macht nichts. Elisabeth hat mich schon mit ihrem Käsekuchen vollgestopft. Sie scheint mittlerweile nur noch zu ihrem Vergnügen zu leben.
Antonius Ich habe gehört, ihr Haar sei vor lauter Trauer über Nacht ganz blond geworden?
Augustine Na ja, ihre Haarfarbe hat sich definitiv verändert. Woran das liegt, weiß ich nicht. (Antonius bringt ihr den Prosecco.) Danke, Antonius, das ist sehr aufmerksam von dir. Ich habe eine kleine Überraschung für dich. Stell dir vor, du sitzt heute Abend neben … Maria Fabricius! Sie ist so freundlich und so … entgegenkommend ihrem Mann gegenüber. Es ist eine Freude, den beiden zuzuschauen.
Antonius (räuspert sich) Äh, Tante Augustine … es tut mir Leid, aber ich muss absagen.
Augustine (verärgert) Ich hoffe, nicht, mein lieber Antonius. Das würde komplett meine Sitzordnung sprengen. Dein Onkel müsste dann oben in seinem Arbeitszimmer essen. Zum Glück ist er daran gewöhnt.
Antonius Ich weiß, dass das für dich sehr unangenehm ist, aber ich habe soeben eine Nachricht erhalten, dass es … meinem werten Freund Bernhard wieder sehr schlecht geht. (schaut verstohlen zu Hannes) Man sagt, es wäre sehr ernst. Ich muss in dieser Situation bei ihm sein.
Augustine Seltsam – dieser … Bernhard leidet offenbar unter den merkwürdigsten Krankheiten.
Antonius Ja, der arme Bernie ist nicht zu beneiden.
Augustine Weißt du, Antonius, ich finde, es ist höchste Zeit, dass dieser sonderbare Mensch sich irgendwann einmal entscheidet, ob er leben oder sterben will. Dieses ständige Hin und Her bringt einen völlig durcheinander. Außerdem halte ich deine ewige Sympathie für kranke Leute für unangemessen. Deine soziale Ader in Ehren, Antonius, aber was du da tust, grenzt schon an Morbidität. Krankheit ist nichts, was man fördern sollte, schon gar nicht bei Menschen, die man Freunde nennt. Ich finde, es ist die oberste Pflicht eines Menschen, gesund zu bleiben. Schon seit Jahren versuche ich, das deinem armen Onkel zu erklären, aber er hört einfach nicht auf mich.
Jedenfalls fände ich es sehr nett von dir, Antonius, wenn du deinem dauerkranken Freund Bernhard von mir ausrichten könntest, er möge doch bitte davon absehen, am Samstag einen Rückfall zu bekommen. Du weißt, dass ich dich und deine Band für die musikalische Begleitung bei der Dinnerparty brauche. Und da es die letzte Party der Saison ist, bei der sowieso niemand mehr weiß, worüber man sich unterhalten soll, ist die Musik besonders wichtig, um die Gäste zu stimulieren.
Antonius Ich werde sehen, was sich machen lässt, Tante Augustine. Wenn Bernhard noch bei Bewusstsein ist, werde ich ihn überreden, am Samstag eine Krankheitspause einzulegen. Aber mit der Musik hast du natürlich recht. Ist die Musik gut, hören die Leute nicht zu, ist sie schlecht, dann reden sie nicht. Aber rein zufällig habe ich da bereits ein kleines Programm ausgearbeitet. Vielleicht können wir uns im Nebenzimmer in Ruhe darüber unterhalten …
Augustine Danke, Antonius. Das ist sehr aufmerksam von dir. (steht auf und folgt Antonius nach nebenan) Ich bin mir sicher, dass dein Musikgeschmack wie immer hervorragend ist – nach einigen kleinen Veränderungen meinerseits natürlich. Greta, du kommst mit mir.
Greta Ja, Mama.
(Augustine und Antonius nach nebenan, Greta bleibt.)
Hannes Die Sonne scheint heute wieder besonders schön, nicht wahr, Fräulein Schöning?
Greta Bitte reden Sie mit mir nicht über das Wetter, werter Herr Werther. Immer wenn junge Männer mit mir über das Wetter reden, habe ich den Eindruck, sie denken in Wirklichkeit etwas anderes, und das macht mich so schrecklich aufgeregt.
Hannes Ich meine auch etwas anderes.
Greta Das dachte ich mir. Ich habe übrigens immer recht.
Hannes Ja, und da Ihre Mutter im Nebenraum ist, würde ich die Gelegenheit gerne nutzen, um …
Greta Das würde ich Ihnen auch dringendst raten, denn Mama hat die unangenehme Angewohnheit, manchmal völlig unerwartet zurückzukommen. Ich musste schon oft mit ihr schimpfen deswegen.
Hannes (nervös) Fräulein Schöning, seit ich Sie zum ersten Mal sah, habe ich Sie mehr bewundert als alle anderen Mädchen, die ich … kennen gelernt habe, seit ich … Sie kennen gelernt habe.
Greta Ja, natürlich, das war mir von Anfang an klar. Und ich hätte mir gewünscht, dass Sie dieses Gefühl auch öffentlich etwas deutlicher gezeigt hätten. Für mich hatten Sie immer eine unwiderstehliche Faszination. Sogar bevor ich Sie zum ersten Mal traf, fühlte ich mich zu Ihnen hingezogen. (Hannes schaut sie verwundert an.) Herr Werther, wie Sie wissen, leben wir in einer Zeit der Krisen. Die Bankenkrise, die Nahostkrise, die Immobilienkrise, und es gibt sogar die Midlife-Krise, vor der wir alle am meisten Angst haben. In diesen Krisenzeiten ist es einfach ein unermesslicher Trost, jemanden zur Seite stehen zu haben, der eine gewisse Seriosität ausstrahlt. Jemand, der es ernst meint. Mein Ideal ist es schon immer gewesen, einen Mann mit dem Namen Ernst zu heiraten. Dieser Name strahlt absolutes Vertrauen aus. Von dem Augenblick an, als Antonius erwähnte, er habe einen Freund namens Ernst, war es um mich geschehen. Ich wusste, dass ich für dich bestimmt war.
Hannes Du liebst mich wirklich, Greta?
Greta Leidenschaftlich!
Hannes Mein Schatz! Du weißt ja gar nicht, wie glücklich du mich gerade machst!
Greta Mein liebster Ernst!
Hannes Aber das mit dem Namen meintest du doch nicht wirklich ernst?
Greta Was denn?
Hannes Na ja, als du sagtest, du könntest nur jemanden lieben, der Ernst heißt.
Greta Aber du heißt Ernst!
Hannes Ja ja, ich weiß. Aber … stell dir doch mal vor, ich hieße anders. Dann würdest du mich doch sicherlich noch genauso lieben, nicht wahr?
Greta Solche philosophischen Diskussionen finde ich irgendwie unangebracht zwischen zwei frisch Verliebten. Mit Sicherheit gibt es andere Themen, die in unserer Situation angemessener wären.
Hannes Na ja, weißt du, meine Süße, ich will ganz offen mit dir reden. Ich fand den Namen Ernst noch nie so richtig toll. Ich glaube, er steht mir einfach nicht.
Greta Im Gegenteil, er passt hundertprozentig zu dir! Dein Name ist göttlich! Er hat einen Wohlklang, er hat Musik, er erzeugt … Schwingungen! Vibrations!
Hannes Aber Greta, es gibt doch viel schönere Namen. Was hältst du zum Beispiel von … Hannes? Der Name klingt doch sympathisch, oder?
Greta (skeptisch) Hannes? … Nein, in dem Namen steckt überhaupt keine Musik. Ich fühle da gar nichts. Weißt du, ehrlich, ich kenne einige Männer, die Hannes heißen, und allesamt sind sie ausgemachte Langweiler. Außerdem ist Hannes eine Kurzform von Johannes, und das klingt mir einfach zu biblisch. Ich habe doch keine Lust, mit dem Neuen Testament verheiratet zu sein. Nein, nein, der einzig wahre Name ist Ernst.
Hannes (durcheinander) Greta, ich muss mich schnellstens taufen lassen … äh, ich meine, wir müssen schnellstens laufen … (Greta schaut ihn verwirrt an) Also, zum Standesamt laufen … wir müssen heiraten! Wir dürfen keine Zeit verlieren.
Greta (begeistert) Heiraten?
Hannes Ja … natürlich! Du weißt doch, dass ich dich liebe, und du hast mir doch zu verstehen gegeben, dass … ich dir auch nicht ganz egal bin, oder?
Greta Ja, ich liebe dich auch. Aber du hast mir noch keinen Antrag gemacht. Du hast das Thema noch nicht einmal erwähnt.
Hannes Na ja … soll ich dir jetzt einen Antrag machen, oder was?
Greta Ich glaube, das wäre jetzt eine gute Gelegenheit. Und um dir spätere Enttäuschungen zu ersparen, sage ich dir lieber vorher, dass ich deinen Antrag annehmen werde.
Hannes Greta!
Greta Ja, mein werter Herr Werther? Was wollen Sie mir sagen?
Hannes Du weißt doch genau, was ich sagen will.
Greta Aber du sagst es ja nicht!
Hannes Greta, willst du mich heiraten? (geht vor ihr auf die Knie)
Greta Ja, aber natürlich, mein Schatz! Meine Güte, wie lange das bei dir dauert. Anscheinend hast du noch nicht viel Erfahrung bei Heiratsanträgen.
Hannes Meine Liebste! Ich habe noch nie jemanden so geliebt wie dich!
Greta Ja, aber viele Männer üben erst mal bei Heiratsanträgen. Ich weiß, dass mein Bruder Gerald das immer macht. Und alle meine Freundinnen haben schon unzählige Übungsanträge bekommen. Wir reden ständig darüber. – Was für wundervolle blaue Augen du hast, Ernst! So herrlich blau. Ich wünsche mir, dass du mich ganz oft so anschaust, besonders wenn andere zusehen.
(Augustine kommt herein.)
Augustine (entrüstet) Herr Werther! Was tun Sie da zwischen den Beinen meiner Tochter? Stehen Sie sofort auf!
Greta Mama! (Hannes will aufstehen, aber Greta hindert ihn daran.) Du kannst doch hier nicht einfach so hereinplatzen! Wir wollen jetzt nicht gestört werden. Außerdem ist Herr Werther noch nicht fertig.
Augustine Fertig womit?
Greta Ich bin mit Herrn Werther verlobt! (Beide stehen auf.)
Augustine Verlobt? Es tut mir Leid, mein Kind, aber du bist mit niemandem verlobt. Wenn du irgendwann doch mit jemandem verlobt sein solltest, werde ich, oder dein Vater, falls es seine Gesundheit zulässt, dich rechtzeitig darüber informieren. Eine Verlobung sollte für ein junges Mädchen immer eine Überraschung sein – ob nun angenehm oder unangenehm, sei dahingestellt. Eine Verlobung ist wohl kaum etwas, das eine junge Frau selbst in die Hand nehmen sollte. … Und jetzt habe ich ein paar Fragen an Sie, Herr Werther. Während dessen wartest du bitte unten im Wagen, Greta.
Greta (entrüstet) Mama!
Augustine In den Wagen, Greta! (Greta zur Tür. Hannes und Greta pusten sich hinter Augustines Rücken Luftküsschen zu. Augustine schaut sich um, kann aber nicht erkennen, was hinter ihr vor sich geht. Dreht sich schließlich ganz um.) Greta, in den Wagen!!
Greta Ja, Mama. (geht ab, schaut zurück zu Hannes)
Augustine (setzt sich) Es wäre besser, wenn Sie sich auch setzten, Herr Werther. Meine Befragung könnte länger dauern. (holt aus ihrer Handtasche ein Notizbuch.)
Hannes Befragung? Danke, aber bei so etwas stehe ich lieber.
Augustine (notiert alle folgenden Antworten) Gleich zu Anfang muss ich Ihnen sagen, dass Sie nicht auf meiner Auswahlliste stehen. Ich teile Ihnen dies nur mit, damit Sie keine allzu großen Hoffnungen schöpfen.
Hannes Auswahlliste?
Augustine Meine beste Freundin – die Frau des Herrn Senator Bohlmann – und ich haben uns vor einigen Jahren entschlossen, einen gemeinsamen Fundus an respektablen jungen Männern aufzubauen. Unsere Töchter sind beide im gleichen Alter, so dass der Aufwand gerechtfertigt ist. Bei der Auswahl der zukünftigen Ehepartner unserer Töchter überlassen wir nichts dem Zufall. Die entsprechenden jungen Herren, die sich auf dieser Liste befinden, wurden eingehend von uns überprüft. Von Zeit zu Zeit werden sie von uns eingeladen, um zu evaluieren, ob sie den Aufenthalt auf dieser Liste überhaupt noch verdienen. Sie glauben gar nicht, wie sehr sich Männer innerhalb von zwei Jahren verändern können. Manch einer, der sich anfangs als Schürzenjäger und Partyhengst erweist, entpuppt sich später als braver Jurastudent, der nichts anderes im Sinn hat als seine zukünftige Frau glücklich zu machen. Solche Exzesse müssen wir natürlich im Auge behalten.
Ich bin jedoch bereit, Ihnen einen der begehrten Listenplätze anzubieten, falls Ihre Antworten auf meine Fragen zufriedenstellend ausfallen. Rauchen Sie?
Hannes Ja, ich gebe es zu, ich rauche.
Augustine Sehr gut. Ein Mann braucht eine Beschäftigung. In Hamburg laufen viel zu viele junge Männer herum, die offenbar nichts zu tun haben. Wie alt sind Sie?
Hannes Neunundzwanzig.
Augustine Ein passables Alter, um zu heiraten. Welchen Schulabschluss haben Sie?
Hannes (nach einigem Zögern) Ich kann mich daran erinnern, dass ich als Junge gezwungen wurde, ein großen Teil des Tages mit vielen anderen Kindern zusammen in einem seltsamen Gebäude zu verbringen. Ob diese Zeit Auswirkungen auf meine geistige Entwicklung hatte, kann ich nicht sagen.
Augustine Es ist gut, das zu hören. Ich halte nichts davon, zu viel zu wissen. Unwissenheit ist wie eine exotische Pflanze, die vergeht, wenn man sie nur einmal anrührt. Das Hamburger Schulwesen hat zum Glück keine Auswirkungen auf die natürliche Einfältigkeit der Bevölkerung. Wenn das so wäre, gäbe es am Ende noch einen Volksaufstand in Blankenese (schaudert bei dem Gedanken). Wie hoch ist Ihr Einkommen?
Hannes Zwischen ein und zwei Millionen im Jahr.
Augustine (schaut ihn interessiert an und notiert) Woher stammt es, wenn ich fragen darf?
Hannes Ich verdanke es den Heidetouristen, meinen landwirtschaftlichen Großbetrieben und der geschickten Hand meines Investmentbrokers.
Augustine Diese Mischung scheint mir zufriedenstellend zu sein. Im Falle wiederholter Bankenkrisen und übergroßer diverser Rettungsschirme können Sie sich immer noch auf die Produktion von Naturalien verlassen. Essen müssen die Leute ja irgendetwas. Wohnen Sie auch auf dem Lande?
Hannes Ich besitze eine Villa in der Lüneburger Heide, umgeben von etwa 5.000 Quadratmetern Wald.
Augustine Ein Haus in der Heide! Wie viele Zimmer? Na gut, das kann man auch später klären. Haben Sie auch ein Stadthaus? Einem einfachen, unverdorbenen Mädchen wie Greta kann man wohl kaum zumuten, auf dem Lande zu leben.
Hannes Na ja, ich besitze ein Haus an der Außenalster, das ich an den Herrn Umweltsenator vermietet habe. Ich könnte aber jederzeit Eigenbedarf anmelden – falls der Herr Senator keine geschützten Krötenarten auf dem Grundstück entdeckt.
Augustine Auf welcher Seite der Alster?
Hannes Auf der linken.
Augustine (schüttelt den Kopf) Die schlechte Seite. Ich wusste doch, dass da etwas ist. Na ja, das könnte man zur Not ändern. Wie stehen Sie zur Politik?
Hannes Politik, was ist das?
Augustine Sehr gut. Leute mit solch einer festen politischen Einstellung werden gern von uns zu Dinnerpartys eingeladen. Und nun zu einigen Nebensächlichkeiten. Leben Ihre Eltern noch?
Hannes Ich habe beide Eltern verloren.
Augustine (legt ihr Notizbuch nieder) Einen Elternteil zu verlieren, Herr Werther, kann noch als Unglück interpretiert werden. Beide Eltern zu verlieren, grenzt schon an Nachlässigkeit. Wer war Ihr Vater? Anscheinend besaß er ein ziemliches Vermögen. Wurde er in die Senatorenriege hineingeboren oder hat er sich in den Hamburger Patrizierfamilien hochgearbeitet?
Hannes Ich fürchte, das weiß ich nicht. Tatsache ist, dass ich, wie gesagt, beide Eltern verloren habe. Genauer gesagt, scheinen meine Eltern mich verloren zu haben. Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht einmal genau, wer ich bin. Ich wurde … also, ich wurde … gefunden.
Augustine Gefunden?
Hannes Der ehrenwerte Herr Senator Campe, ein echter Gentleman der alten Schule, hat mich gefunden, und gab mir den Namen Werther, denn er hatte gerade sehr viel Goethe gelesen und war ziemlich unglücklich. Ob das eine vom anderen abhing, vermag ich nicht zu sagen.
Augustine Und wo hat dieser Herr Senator mit der Tendenz zum Unglücklichsein Sie gefunden?
Hannes (ehrfürchtig) In einer Handtasche.
Augustine In einer Handtasche?
Hannes (sehr ernst) Ja, Frau Brommer. Ich lag in einer Handtasche – eine recht große, schwarze Lederhandtasche. Mit Griffen. Eigentlich eine ganz normale Handtasche.
Augustine An welchem Ort fand dieser … Senator Krampe oder Campe diese ganz normale Handtasche?
Hannes Im Fundbüro am Dammtorbahnhof. Er erhielt sie aus Versehen. Es war eine Verwechslung.
Augustine (entsetzt) Das Fundbüro am Dammtorbahnhof?
Hannes Ja, unter der S-Bahn.
Augustine Das ist völlig irrelevant. Herr Werther, ich muss gestehen, dass mich Ihre Angaben etwas verwirren. In einer Handtasche geboren oder von mir aus auch aufgewachsen zu sein, entspricht nicht dem, was ich mir als Herkunft für meine Tochter Greta gewünscht habe. Es zeugt von einer gewissen Respektlosigkeit den traditionellen Familienwerten gegenüber, die ich nicht tolerieren kann. Was den Ort betrifft, an dem Ihre Handtasche gefunden wurde, so kann ich nur sagen, dass mir die Angabe eines hamburgischen Bahnhofs auf der Geburtsurkunde meines zukünftigen Schwiegersohns wohl kaum gefallen wird. Sie sind sich doch wohl darüber im Klaren, dass Sie mit solch einem Lebenslauf höchstens ein paar Sozialpädagogikstudentinnen begeistern können.
Hannes Frau Brommer, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich brauche wohl kaum zu betonen, dass ich alles tun würde, um Greta glücklich zu machen. Wozu würden Sie mir raten?
Augustine Herr Werther, ich würde Ihnen dringendst raten, so bald wie möglich ein paar Verwandte aufzutreiben. Sehen Sie zu, dass Sie von irgendwoher ein Elternteil bekommen, egal welchen Geschlechts. Und zwar zeitnah!
Hannes Also, ich weiß wirklich nicht, wie ich das anstellen soll. Die Handtasche kann ich Ihnen jederzeit zeigen. Sie befindet sich in meinem Kleiderschrank zu Hause. Das sollte Ihnen doch wohl genügen, Frau Brommer.
Augustine Mir? Was hat das mit mir zu tun? Sie können sich wohl kaum vorstellen, dass mein Mann und ich auch nur davon träumen würden, unsere einzige Tochter, die wir mit äußerster Sorge aufgezogen haben, mit einem Fundbüro zu verheiraten und sie damit den Bund fürs Leben mit einem Gepäckstück schließen zu lassen. Auf Wiedersehen, Herr Werther! (Augustine entrüstet ab.)
Hannes (zerknirscht) Auf Wiedersehen.
(Antonius spielt nebenan auf seiner Gitarre den Hochzeitsmarsch. Hannes läuft wütend zur Tür.)
Hannes Verdammt noch mal, hör auf, dieses schreckliche Stück zu spielen, Toni. Du bist so ein Idiot!
(Musik hört auf, Antonius kommt fröhlich herein.)
Antonius Na, hat’s nicht geklappt, altes Haus? Hat Greta dich abblitzen lassen? Ja ja, so ist sie. Sie ist der festen Überzeugung, Heiratsanträge seien nur zur Übung. Ziemlich fies von ihr.
Hannes Ach, Greta ist ein Goldschatz. Wenn es nach ihr ginge, wären wir längst verheiratet. Ihre Mutter ist einfach schrecklich! Ich habe noch nie so eine Furie getroffen. So ganz genau weiß ich zwar auch nicht, was eine Furie ist, aber deine Tante ist mit Sicherheit so eine. Sie ist ein Monster, ein Drachen, eine … ach, was, Toni, ich sollte nicht in deiner Anwesenheit so über deine Tante herziehen.
Antonius Mein lieber Ernst, ich liebe es, wenn andere Leute über meine Verwandtschaft lästern! Für mich ist das die einzige Möglichkeit, es mit ihnen auszuhalten. Verwandte sind eben ein fürchterliches Pack, das nicht den geringsten Anstand besitzt.
Hannes So extrem kann man das nicht sehen. Manche Verwandten sind auch nett. Besonders die, deren Vermögen man später erbt.
Antonius Du bist ganz schön materialistisch eingestellt, mein lieber Hannes.
Hannes Wenn du etwas mehr auf dem Konto hättest, wärst du das auch. Ach, Toni, ich bin jetzt nicht in der Stimmung, mich mit dir darüber zu streiten. Immer willst du streiten.
Antonius Das macht das Leben doch lebenswert.
Hannes Wenn ich so denken würde wie du, könnte ich mich gleich erschießen, also wirklich! (Pause) Was meinst du, Toni, wird Greta irgendwann, sagen wir in hundertundfünfzig Jahren, mal so wie ihre Mutter?
Antonius Alle Frauen werden wie ihre Mütter. Das ist ihr schweres Schicksal. Männer dagegen nicht. Das ist ihr Problem.
Hannes Das soll sich wohl wieder einmal besonders schlau anhören.
Antonius Eine perfekte Lebensweisheit! Geboren aus meinem eigenen Erfahrungsschatz.
Hannes Weisheit! Weisheit ödet mich an. Jeder will heutzutage etwas Schlaues sagen. Man kann nirgendwo hingehen, ohne dass die Leute mit ihrer Klugheit angeben. Ich wünschte, es wären irgendwo ein paar Idioten übriggeblieben.
Antonius Oh, die gibt es noch, und es werden leider immer mehr.
Hannes Ach, und worüber unterhalten die sich?
Antonius Die Dummköpfe? Na, darüber, wie sie die Schlauen ärgern können.
Hannes Was für Dummköpfe!
Antonius Apropos dumm, hast du Greta die Wahrheit über dein Doppelleben erzählt? Dass du Ernst in der Stadt und Hannes auf dem Lande bist?
Hannes (belehrend) Mein lieber Antonius, ein nettes, liebes, wohlerzogenes Mädchen verdient es nicht, mit der nackten Wahrheit konfrontiert zu werden. Du hast wirklich seltsame Vorstellungen davon, wie man sich Damen gegenüber benimmt.
Antonius Die einzig wahre Art, sich einer Dame gegenüber zu benehmen, ist, sie zu lieben, wenn sie gut aussieht. Und eine andere zu lieben, wenn sie hässlich ist.
Hannes Das war aber nicht nett, Toni. Und politisch völlig unkorrekt.
Antonius Und was ist mit deinem völlig unkorrekten Bruder? Deinem unmoralischen Ernst?
Hannes Ach, den werde ich noch in dieser Woche los. Ich sag einfach, er wäre in München gestorben. An einem Schlaganfall. Was meinst du? Es sterben doch eine ganze Menge Leute plötzlich an einem Schlaganfall, oder?
Antonius Ja, aber das ist erblich. Eine Familienkrankheit. Du solltest lieber sagen, dass er … an einer schweren Erkältung starb.
Hannes Und du bist sicher, dass eine Erkältung nicht auch erblich ist?
Antonius Natürlich nicht!
Hannes Na gut. Mein armer Bruder Ernst wurde in München von einer schweren Erkältung hinweggerafft. Ja, so werde ich ihn los.
Antonius Aber hast du nicht gesagt, dass deine Charlotte sich sehr für deinen schlimmen Bruder Ernst interessiert? Sein plötzliches Ableben könnte sie in tiefe Trauer stürzen.
Hannes Ach, das wird schon. Charlotte ist zum Glück nicht eins von diesen albernen romantischen Mädchen. Sie hat einen guten Appetit, spielt Fußball und ist stinkfaul beim Lernen.
Antonius Hm … ich glaube, Charlotte würde ich gern mal kennen lernen.
Hannes Ich werde alles daran setzen, dass das niemals passiert, mein lieber Toni. Charly ist extrem attraktiv, und gerade erst siebzehn geworden.
Antonius Hast du Greta eigentlich erzählt, dass du auf dem Lande mit einem extrem attraktiven Mädchen, das gerade erst siebzehn geworden ist, zusammenlebst?
Hannes So etwas hängt man nicht an die große Glocke. Wenn Charlotte und Greta sich jemals kennen lernen sollten, dann werden sie mit Sicherheit in kürzester Zeit beste Freundinnen werden. Ich wette mit dir, dass sie sich spätestens nach einer halben Stunde gegenseitig Schwestern nennen.
Antonius Ja, das tun Frauen immer, aber erst, nachdem sie die andere mit weniger schönen Bezeichnungen beworfen haben. Aber weißt du, mein lieber Ernst, wir reden hier schon viel zu lange. Du hast versprochen, heute Abend mit mir essen zu gehen. Wenn wir noch einen guten Tisch im Haerlin bekommen wollen, müssen wir uns rasch umziehen. Es ist schon fast sieben.
Hannes (schlecht gelaunt) Es ist immer fast sieben.
Antonius Ich habe Hunger.
Hannes Mir ist der Appetit vergangen.
Antonius Was machen wir nach dem Essen? Gehen wir ins Kino?
Hannes Nein, ich hasse Kino. Da sind mir zu viele knutschende Pärchen.
Antonius Vielleicht könnten wir in den Club – neue Mädels abschleppen?
Hannes Nein, auch keine Lust.
Antonius Ja, was sollen wir denn dann machen?
Hannes Nichts.
Antonius Nichts zu tun fällt mir zu schwer. Schwere Arbeit kann ich nur ertragen, wenn sie keinen Sinn ergibt.
(Jana herein.)
Jana Fräulein Schöning ist an der Tür.
(Greta herein)
Antonius Greta! Was tust du denn hier?
Greta Toni, dreh dich bitte um. Ich muss Herrn Werther etwas sehr Wichtiges sagen.
Antonius Wirklich, Greta, ich glaube nicht, dass deine Mutter das erlauben würde.
Greta Toni, spiel hier nicht den Moralischen. Dafür bist du noch zu jung. (Antonius zur Seite)
Hannes Mein Schatz!
Greta Ernst, wir werden niemals heiraten. Seit ich heute Mamas Gesichtsausdruck gesehen habe, bin ich mir da ganz sicher. Ich finde es entsetzlich, wie wenig Eltern heutzutage auf ihre Kinder hören. Wo ist der gute alte Respekt vor der jüngeren Generation geblieben? Das bisschen Einfluss, das ich auf meine Mutter hatte, habe ich spätestens mit drei Jahren verloren. Sie mag vielleicht verhindern, dass wir heiraten, und sie mag mich zwingen, jemand anders zu heiraten, eventuell auch mehrfach. Nichts kann jedoch meine Gefühle zu dir ändern. Ich werde dir auf ewig in Treue verbunden sein.
Hannes Meine Liebste!
Greta Deine romantische Herkunft, wie Mama sie mir mit ihren grässlichen Kommentaren, vermutlich stark verzerrt, erzählt hat, macht mich verrückt nach dir. Dein Vorname besitzt eine unwiderstehliche Faszination. Deine angeborene Schlichtheit macht dich für mich zu einem kompletten Rätsel. Deine Adresse hier in Hamburg habe ich. Wo ist deine Villa auf dem Lande?
Hannes (leise) Der alte Gutshof in Barnstedt, in der Nähe von Lüneburg.
(Antonius hat heimlich gelauscht und schreibt sich dir Adresse auf einen Zettel.)
Greta Ich hoffe, die Bahn- und Busverbindungen sind einigermaßen. Es könnte sein, dass ich im Augenblick größter Verzweiflung unangekündigt bei dir auftauchen muss. Ich schreibe dir jeden Tag.
Hannes Meine Süße!
Greta Wie lange bleibst du noch hier in Hamburg?
Hannes Bis Montag.
Greta Gut. Toni, du darfst dich jetzt umdrehen.
Antonius Danke, das hab ich bereits getan.
Greta Ich werde dann mal gehen.
Hannes Ich komme noch mit zu deinem Wagen.
Greta Mein Liebster!
Jana (im Hereinkommen, zu Antonius) Hier ist die Post. (reicht ihm mehrere Umschläge)
Antonius (schaut einen nach dem anderen durch – alles Rechnungen. Er zerreißt alle und wirft sie in den Mülleimer.) Jana, haben wir noch Whisky?
Jana Ja, noch ein klitzekleiner Rest von der Party ist da.
Antonius Bringst du ihn mir bitte? Ach, und noch was. Ich muss dringend Bernhard besuchen.
Jana (theatralisch) Ooh, welche Krankheit hat er denn diesmal?
Antonius Vor Montag bin ich nicht zurück. Es wäre nett, wenn du mir den Koffer packst, wie immer. Das Übliche … für Bernhard.
Jana Verstehe. Hier ist der Whisky.
Antonius Danke. Ich hoffe, morgen wird das Wetter wird gut.
Jana Ich glaube nicht.
Antonius Jana, du bist einfach zu pessimistisch.
Jana Ich streng mich an.
(Jana ab, Hannes herein)
Hannes So ein vernünftiges, kluges Mädchen! Die einzige, die mir je im Leben etwas bedeutet hat. (Antonius lacht herzlich) Was ist daran so komisch?
Antonius Ach, ich mache mir nur Sorgen um Bernhard, weiter nichts.
Hannes Wenn du nicht aufpasst, wird dich dein Bernhard eines Tages noch in ziemliche Schwierigkeiten bringen.
Antonius Ich liebe Schwierigkeiten. Das sind die einzigen Dinge, die man nicht ernst nehmen sollte.
Hannes Du redest mal wieder totalen Blödsinn. Wie immer.
Antonius Genau wie wir alle.
(Hannes schaut ihn verärgert an und geht ab. Antonius zieht den Zettel aus seiner Hosentasche, nimmt einen Schluck Whisky und lächelt.)
Garten an einem alten Landhaus in der Lüneburger Heide. Es ist Hochsommer, wahrscheinlich Juli, und der Garten erblüht in voller Pracht. Im Hintergrund führen einige Stufen zum großzügigen Garteneingang hoch. Auf dem Rasen im Vordergrund ist ein Gartentisch mit Büchern aufgebaut. Rundherum einige Korbstühle. Alles macht einen wohlhabenden, harmonischen, aber auch etwas langweiligen Eindruck. Die Szenerie wird dadurch vervollkommnet, dass der Tisch unter einer schattigen Eiche steht.
(Frl. Prätorius sitzt am Tisch und wartet leicht ungeduldig auf Charlotte, die mit einer Gießkanne die Blumenbeete links und rechts der Treppe wässert.)
Prätorius (ruft) Charlotte! Charlotte, jetzt komm doch endlich! Die Blumen kannst du immer noch gießen. Ich verstehe sowieso nicht, was das soll. Dafür ist Emma zuständig. Und außerdem erwarten dich intellektuelle Vergnügungen. Du musst deine englische Grammatik wiederholen. Seite 17, Aufgabe 4. Charlotte!
Charlotte (kommt sehr langsam herüber) Aber ich mag kein Englisch. Die Sprache steht mir einfach nicht. Immer wenn ich Englisch lerne, krieg ich Pickel.
Prätorius So ein Unsinn! Du weißt selbst, wie viel Wert dein Onkel Hannes darauf legt, dass du Englisch lernst. Noch gestern hat er mich darauf hingewiesen, bevor er nach Hamburg abfuhr. Wenn ich’s mir recht überlege, betont er immer, dass Englisch äußerst wichtig sei, wenn er in die Stadt fährt.
Charlotte Ach, Onkel Hannes ist immer so ernst. Manchmal wirkt er so ernst, dass ich glaube, es geht ihm nicht gut.
Prätorius Deinem Onkel geht es bestens. Und wenn er zuweilen etwas bedrückt wirkt, dann liegt das daran, dass er so viel zu tun hat. Denk daran, welche vielfältigen Aufgaben er zu erfüllen hat, und das, wo er noch so jung ist. Ich kenne niemanden, der ein solches Pflichtgefühl hat wie er.
Charlotte Deswegen wirkt er wahrscheinlich auch immer so gelangweilt, wenn wir drei zusammen sind.
Prätorius Charlotte! Dein Onkel wirkt so ernst, weil es in seinem Leben nur die Arbeit gibt. Er ist nicht der Typ für sinnlose Vergnügungen. Und du darfst auch seinen schlimmen Bruder Ernst nicht vergessen, um den er sich Tag und Nacht Sorgen machen muss.
Charlotte Ich wünschte, Onkel Hannes würde diesen unglücklichen Ernst mal zu uns einladen. Wir hätten bestimmt einen guten Einfluss auf ihn. Sie könnten ihm zum Beispiel alle möglichen Dinge beibringen, wie Englisch und Geografie und Biologie und so. So was macht auf Männer Eindruck. (Charlotte schreibt ihr Tagebuch.)
Prätorius Ich bin mir nicht sicher, ob ich auf solch einen unsteten Charakter einen erheblichen Einfluss ausüben könnte. Dieser Ernst scheint moralisch äußerst schwach und verwerflich zu sein. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich überhaupt Lust dazu hätte, ihn zu bessern. Ich halte nichts von dieser modernen Psychomasche, aus schlechten Menschen gute zu machen. Wie man sät, so erntet man. Charlotte, jetzt leg endlich dein Tagebuch weg. Ich weiß sowieso nicht, was du da immer hineinschreibst.
Charlotte In das Tagebuch schreibe ich alle wunderbaren Geheimnisse meines Lebens. Wenn ich das nicht täte, würde ich sie für immer vergessen, und das wäre doch schade.
Prätorius Die Erinnerung ist das wahre Tagebuch unseres Lebens, Charlotte. Merk dir das.
Charlotte Ja, aber wir erinnern uns immer nur Dinge, die nie passiert sind, und auch nie passieren werden. Ich glaube, das ist auch der Grund dafür, dass so viele ältere Damen Kitschromane lesen. (bemerkt ihren Fauxpas) Oh, Entschuldigung Fräulein Prätorius. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.
Prätorius Du solltest niemals abfällig über Trivialliteratur reden. Trivialitäten halten unsere Gesellschaft zusammen. Ich selbst habe einmal ein solches Oeuvre verfasst.
Charlotte (interessiert) Wirklich? Ich wusste ja schon immer, dass Sie unheimlich klug sind. Und? Wie endete ihr Roman? Ich hoffe, es gab kein Happy-End. Davon werde ich immer ganz depressiv.
Prätorius Die Guten wurden glücklich, und die Schlechten unglücklich. So ist das eben in der Literatur.
Charlotte Wahrscheinlich haben Sie recht. Aber irgendwie unfair ist das schon. – Und konnten Sie Ihren Roman auch veröffentlichen?
Prätorius Leider nein. Das Manuskript ist verschollen.
Charlotte Oh, wie schade. Ich hätte so gern einmal etwas von Ihnen gelesen.
Prätorius Charlotte, du lenkst wieder vom Thema ab. An die Arbeit. Englische Grammatik.
Charlotte Aber ich sehe gerade, dass Dr. Severin durchs Gartentor kommt.
Prätorius (steht schnell auf und läuft Dr. Severin entgegen) Dr. Severin! Das ist wirklich eine angenehme Überraschung!
(Dr. Severin herein)
Severin Wie geht es uns heute morgen? Fräulein Prätorius, ich nehme an, es geht Ihnen gut?
Charlotte Fräulein Prätorius hat mir gerade erzählt, dass sie unter leichten Kopfschmerzen leidet. Einer kleiner Spaziergang durch den Park würde ihr sicher gut tun, Dr. Severin.
Prätorius Aber Charlotte, ich habe überhaupt nichts von Kopfschmerzen gesagt.
Charlotte Ich weiß, aber ich kenne Sie doch. Mein Instinkt sagte mir, dass Sie Kopfschmerzen haben. Daran habe ich sofort gedacht, als Dr. Severin hereinkam.
Severin Ich hoffe, du bist nicht unaufmerksam, Charlotte.
Charlotte Oh, ich fürchte doch.
Severin Sehr merkwürdig. Hätte ich die Ehre, von Fräulein Prätorius unterrichtet zu werden, so würde ich natürlich die ganze Zeit an ihren Lippen hängen. (Er bemerkt den Doppelsinn seines Satzes.) Das war eine Metapher! Aus dem Bereich der Bienen! (Es entsteht eine peinliche Pause. Severin räuspert sich.) Also … ist Herr Werther schon wieder da?
Prätorius Nein, vor Montag Nachmittag kommt er sicher nicht.
Severin Ach ja, er verbringt immer den Sonntag in Hamburg. Herr Werther gehört zum Glück nicht zu den jungen Leuten, die nur für ihr Vergnügen leben – so wie sein fürchterlicher Bruder. Aber ich möchte die Muse nicht zu lange aufhalten.
Prätorius Muse? Wen meinen Sie?
Severin Eine kleine Anspielung auf die schönen Künste, wenn Sie erlauben. Sie kommen doch beide zur Abendmesse?
Prätorius Ich glaube, wenn ich’s mir recht überlege, habe ich doch Kopfschmerzen, Dr. Severin. Ein Spaziergang mit Ihnen würde mir gut tun.
Severin Mit Vergnügen, Fräulein Prätorius. Wir gehen einmal bis zur Kapelle und zurück. Einverstanden?
Prätorius Wunderbar. Charlotte, in meiner Abwesenheit wiederholst du die gestrige Biologiestunde. Den Abschnitt über die Fortpflanzung kannst du weglassen. Für ein junges Mädchen sind diese Erkenntnisse noch zu verwirrend.
(geht mir Dr. Severin ab.)
Charlotte (nimmt ein Buch vom Tisch, wirft es aber gleich heftig zurück.) Blödes Biobuch, blöde Englischgrammatik! Scheiß-Erdkunde! Doofes Mathebuch!
(Emma kommt aus dem Haus.)
Emma Besuch für Sie, Charlotte. Es ist ein Ernst Werther.
Charlotte (begeistert) Onkel Hannes’ Bruder! Er ist wirklich hier? Das gibt’s doch nicht!
Emma Er hat’s mir selbst gesagt, und er möchte dringend mit Ihnen sprechen.
Charlotte Mit mir? Dringend? Ich wusste, dass dieser Ernst ein interessanter Mensch ist. Das Ganze wird ja unheimlich spannend! Geleiten Sie ihn hier in den Garten, bitte!
Emma Okay. (geht ab.)
Charlotte Das ist das erste Mal, dass ich einen wirklich unmoralischen Menschen kennen lerne. Oh Mann, ich bin so aufgeregt. Wie er wohl ist? Ich habe Angst, dass er ganz normal aussieht.
(Antonius kommt in den Garten, fröhlicher Stimmung)
Charlotte (enttäuscht) Er sieht ganz normal aus.
Antonius Du bist bestimmt die kleine Charlotte, meine liebe Kusine.
Charlotte Mit Sicherheit nicht. Ich bin nicht lieb und ich bin nicht klein. Für mein Alter bin ich sogar ziemlich groß. (Antonius verwundert) Aber deine Kusine Charlotte bin ich. Und du bist bestimmt Ernst, der schlimme Bruder, der auf die schiefe Bahn geraten ist.
Antonius Nein! Ich bin überhaupt nicht schlimm, Charlotte. Eigentlich bin ich ein ganz netter Typ, wirklich.
Charlotte Dann hast du uns alle an der Nase herumgeführt. Ganz schön mies von dir. Ich hatte mich eigentlich darauf gefreut, mal einen richtig üblen Typen kennen zu lernen. Mit Kontakt zur Mafia und so.
Antonius (zögerlich) Na ja, es gab schon Zeiten, in denen ich kein guter Junge war …
Charlotte (erfreut) Oh, wie aufregend! Du musst mir alles über die bösen Leute in Hamburg erzählen.
Antonius Ich bin nicht gerade stolz darauf, Charlotte. Außerdem war ich nur ein kleiner Fisch in einem großen Tank. So ganz viel kann ich dir also nicht aus der Unterwelt berichten.
Charlotte Trotzdem strahlt deine Person eine gewisse durchtriebene Faszination auf mich aus.
Antonius Ehrlich gesagt, bin ich sehr froh, jetzt hier zu sein, bei dir.
Charlotte Wieso bist du überhaupt hier? Onkel Hannes sagte, er wäre nicht vor Montag Nachmittag zurück.
Antonius Oh, das ist aber schade! Ich muss Montag Mittag wieder in Hamburg sein. Wichtiges Meeting, das ich unbedingt … verpassen sollte.
Charlotte Könntest du es nicht hier verpassen?
Antonius Nein, ich muss dann wirklich nach Hamburg.
Charlotte Mir ist natürlich klar, dass man eine Menge Meetings verpassen muss, um wirklich wichtig zu werden, aber ich denke, du solltest doch auf Onkel Hannes warten. Er muss unbedingt mit dir über diese Auswanderersache sprechen.
Antonius Worüber?
Charlotte Na, du wanderst doch aus, oder? Nach Argentinien.
Antonius Nach Argentinien? Ich denke nicht daran. Warum sollte ich das tun?
Charlotte Onkel Hannes hat gesagt, er schickt dich in die Pampa. Durch die zahlreichen Geografiestunden bei Fräulein Prätorius weiß ich jetzt, dass das in Argentinien liegt.
Antonius Ich glaube, das meinte er eher im übertragenen Sinne, meine liebe Charlotte. Ich denke, er wollte damit andeuten, dass er genug von meiner schlimmen Lebensweise hat.
Charlotte Und du glaubst, du könntest dich hier bessern, ohne das heilende Umfeld der argentinischen Pampa?
Antonius Am schönsten wäre es, wenn du mir dabei helfen könntest, Charlotte.
Charlotte Tut mir Leid, ich habe heute Nachmittag keine Zeit.
Antonius Dann muss ich mich heute Nachmittag wohl selbst anstrengen, ein besserer Mensch zu werden.
Charlotte Nach all den Jahren in der Hamburger Unterwelt ist das ein ziemlich hoher Anspruch. Aber versuchen kannst du es ja.
Antonius Versprochen. (kl. Pause) Ich fühle mich schon viel besser.
Charlotte Du siehst allerdings schlechter aus als vorher.
Antonius Das liegt daran, dass ich Hunger habe.
Charlotte Aber natürlich! Wie konnte ich das vergessen? Wenn man ein neues Leben anfängt, braucht man regelmäßige Mahlzeiten. Möchtest du nicht hereinkommen?
Antonius Nein danke. Ich bleibe lieber hier draußen und (dreht sich zur Treppe) bewundere die schönen Rosen.
Charlotte (kommt mit ihm zum Rosenbeet) Das ist eine echte Baccararose. Extrem langstielig und teuer. Genau das, was Mädchen lieben.
Antonius Ach, mir gefallen die rosafarbenen besser.
Charlotte (enttäuscht) Wieso?
Antonius Weil du wie eine rosa Rose bist, Charlotte.
Charlotte Ich glaube, du solltest nicht so mit mir sprechen. Fräulein Prätorius sagt nie so etwas zu mir.
Antonius Sie ist wohl die kurzsichtigste Person, die es gibt. Du bist das hübscheste Mädchen, das ich je gesehen habe.
Charlotte Fräulein Prätorius sagt, dass Menschen, die attraktiv aussehen, oberflächlich sind.
Antonius Eine Oberfläche, die jeder Mann gerne berühren würde!
Charlotte Aber nicht hier draußen! (zieht Antonius ins Haus.)
(Prätorius und Severin kehren vom Spaziergang zurück.)
Prätorius Dr. Severin, ich habe das Gefühl, dass Sie zu viel allein sind. Warum heiraten Sie nicht? Sie sind doch kein Frauenhasser, oder?
Severin Meine Gemeinde ist meine Familie, verheiratet bin ich mit meiner Kirche. Eine Ehefrau hätte da keinen Platz.
Prätorius Verheiratet mit der Kirche? Ich weiß ja nicht, wie Sie sich diese Form der Ehe vorstellen, aber glauben Sie mir, mit einer leibhaftigen Frau aus Fleisch und Blut bekäme diese Allianz ganz andere Dimensionen, Dr. Severin. Abgesehen davon sind Sie sich wahrscheinlich nicht im Klaren darüber, dass sie als permanenter Single für Ihre Gemeinde eine Gefahr darstellen?
Severin Wie meinen Sie das?
Prätorius Na, als unverheirateter Oberhirte sind Sie doch eine wandelnde Versuchung für alle Schäfchen in ihrer Gemeinde – weibliche und … vielleicht sogar männliche.
Severin Aber ist man denn als verheirateter Mann nicht genauso attraktiv?
Prätorius Nein, Ehemänner sind nur für ihre Frauen attraktiv.
Severin (seufzt) Oft nicht einmal für die. Ich habe da reichhaltige Erfahrungen aus meiner Gemeindearbeit.
Prätorius Solche traurigen Familienverhältnisse findet man nur bei jüngeren, unreifen Frauen, die glauben, sie hätten etwas verpasst. Mein lieber Dr. Severin, vertrauen Sie der reiferen, süßeren Frucht … (Sie versucht, langsam ihre Lippen denen von Dr. Severin zu nähern)
Severin Wo ist eigentlich Charlotte?
Prätorius (zuckt enttäuscht zurück) Ja, also, ich meinte das nur im übertragenen Sinne. Eine Metapher aus dem Bereich Gartenbau. Charlotte ist …
(In dem Augenblick kommt Hannes über den Garten herein. Er ist ganz in Schwarz, Trauerkleidung. Beide, Severin und Prätorius erschrecken sich bei seinem Anblick.)
Prätorius Herr Werther!
Severin Herr Werther!
Prätorius Was für eine Überraschung! Vor Montag Nachmittag hatten wir gar nicht mit Ihnen gerechnet.
Hannes (schüttelt ihr die Hand langsam, redet in übertriebener Trauermanier) Ich musste früher abreisen als geplant. Dr. Severin, ich hoffe, Ihnen geht es gut?
Severin Es ist doch wohl nichts Schlimmes passiert, mein lieber Herr Werther?
Hannes Mein Bruder.
Severin Hat er jemanden umgebracht?
Prätorius Müssen Sie sich noch mehr Sorgen um ihn machen?
Hannes (schüttelt den Kopf) Tot.
Severin Ihr Bruder Ernst ist … tot?
Hannes Ziemlich tot, ja.
Prätorius Das wird ihm eine Lektion sein. Ich hoffe, er lernt etwas daraus.
Severin Werter Herr Werther, ich möchte Ihnen mein tiefstes Beileid aussprechen. Es mag sie trösten zu wissen, dass sie zeitlebens der beste aller nur denkbaren Brüder für ihren Bruder waren.
Hannes Der Arme! Er hatte viele Fehler, aber jetzt … fehlt er mir irgendwie doch.
Severin Es ist wirklich traurig. Waren Sie bei ihm, als es zu Ende ging?
Hannes Nein, er starb im Ausland. In München. Ich bekam heute Mittag einen Anruf vom Grand Hotel.
Severin Hat man Ihnen die Todesursache mitgeteilt?
Hannes Eine schwere Erkältung.
Prätorius Wie man sät, so erntet man.
Severin Fräulein Prätorius, urteilen Sie nicht vorschnell. Selbst ich neige zu grippalen Infekten bei Zugluft. Soll er hier beerdigt werden?
Hannes Nein. Er hat gewünscht, in München bestattet zu werden.
Severin In München? (schüttelt den Kopf) Ihr Bruder litt offenbar schon länger an geistiger Verwirrtheit. Wenn Sie mögen, werde ich beim nächsten Gottesdienst sein unrühmliches Schicksal in meine Predigt einflechten. (Hannes schüttelt Severins Hand fest.) Ich habe da ein paar Bibelstellen, die fast zu jeder Gelegenheit passen, ob Geburt, Taufe, Konfirmation, Hochzeit oder Todesfall. (Alle seufzen.) Der Bischof war bei seinem letzten Besuch sehr angetan von meiner Predigt. Ich konnte erkennen, dass er ein Taschentuch aus seiner Hosentasche zog.
Hannes Dr. Severin, Sie hatten die Taufe erwähnt … Sie können doch Leute taufen, oder? Ich meine, so richtig mit Wasser und so, nicht wahr? (Severin erstaunt)
Prätorius In Dr. Severins Gemeinde ist das in den letzten Jahren eine seiner Hauptaktivitäten geworden. Die Reproduktionsrate scheint stark gestiegen zu sein. Der Vikar meint, es läge an den häufigen Stromausfällen.
Severin Meinen Sie ein bestimmtes Kind, Herr Werther? Ihr Bruder war doch unverheiratet, oder?
Hannes Oh ja.
Prätorius Das ist wieder mal typisch für Leute mit schlechtem Lebenswandel.
Hannes Nicht alle Menschen mit schlechtem Lebenswandel sind schlechte Menschen, Fräulein Prätorius. Nein, die Sache ist die: ich möchte selbst getauft werden.
Severin Sie selbst? Aber Sie wurden doch sicher bereits als Kind getauft.
Hannes Ich kann mich an nichts dergleichen erinnern.
Severin Zweifeln Sie denn daran?
Hannes Mein Leben besteht voller Zweifel, besonders was meine Identität betrifft, Dr. Severin. Aber ich hoffe, es kommt Ihnen nicht ungelegen. Oder bin ich gar zu alt für die Taufe?
Severin Oh nein! Die Erwachsenentaufe ist in unserer Gemeinde eine oft angewandte Praxis. Wir verwenden meist unseren Löschteich hierzu.
Hannes Ihren Löschteich?
Severin Wenn Sie wasserscheu sind, reicht eine Benetzung der Stirn aus, keine Angst, Herr Werther. Man weiß ja nie, wie das Wetter wird. Nachher holen Sie sich noch eine Grippe, und später heißt es dann, die Taufe sei tödlich. Über die Kirche werden in letzter Zeit die wildesten Gerüchte verbreitet. Wann würde es Ihnen denn passen?
Hannes Vielleicht gegen fünf? Haben Sie da Zeit?
Severin Ja, wunderbar! Das passt mir gut. Da habe ich sowieso noch zwei Taufen. Frau Kruse, die Tochter des Bioladenbesitzers, hat nach drei Kindern noch Zwillinge bekommen. Die Ärmste! Na ja, wenn man so fürs Natürliche schwärmt …
Hannes Ehrlich gesagt, habe ich nur wenig Lust, zusammen mit irgendwelchen schreienden Babys am Löschteich herumzustehen. Ginge es nicht eine halbe Stunde später, so um halb sechs?
Severin Wunderbar, kein Problem. (schaut auf die Uhr) Oh, ich muss los, Herr Werther. Ich möchte Sie in Ihrer Trauer nicht länger belästigen. Lassen Sie sich durch solche Ereignisse nicht zu tief herunterziehen. Manch vermeintlicher Schicksalsschlag erweist sich später als Wohltat.
Prätorius Besonders dann, wenn er so gelegen kommt.
(Charlotte aus dem Haus.)
Charlotte Onkel Hannes! Wie schön, dass du wieder da bist! Aber wie siehst du denn aus? Ist das die neueste Mode in Hamburg?
Prätorius Charlotte!
Charlotte (geht zu Hannes, der ihre Stirn melancholisch küsst) Was ist denn los, Onkel Hannes? Du siehst aus, als hättest du Zahnschmerzen. Dabei hast du allen Grund, fröhlich zu sein!
Hannes (düster) Wieso?
Charlotte (begeistert) Du errätst niemals, wer im Wohnzimmer sitzt! Na? – Dein Bruder!!
Hannes Wer?
Charlotte Dein Bruder Ernst. Er ist seit einer halben Stunde hier.
Hannes Wie bitte? Ich habe keinen Bruder.
Charlotte Sei nicht so hartherzig, Onkel Hannes. Ich weiß, dass er in der letzten Zeit nicht nett zu dir gewesen ist, aber er ist immerhin noch dein Bruder. Du kannst doch nicht so gemein sein, ihn zu verleugnen! Weißt du was? Ich hole ihn heraus, und dann könnt ihr euch begrüßen. (läuft ins Haus.)
Severin Das sind wirklich frohe Nachrichten.
Prätorius Nachdem wir uns alle an sein Ableben gewöhnt hatten, kommt mir seine plötzliche Rückkehr etwas eigenartig vor.
Hannes (entsetzt) Mein Bruder im Wohnzimmer? Ich glaube, ich träume. Das ist doch …
(Antonius und Charlotte Hand in Hand, kommen heraus, gehen Richtung Hannes)
Hannes (mit entsetztem Gesichtsausdruck) Oh nein!
Antonius Bruder Johannes, ich bin gekommen, um dir zu sagen, wie Leid mir alles tut. Ich möchte um Entschuldigung bitten für all die Schwierigkeiten, die ich dir gemacht habe. Ich werde von nun an ein besseres Leben führen, versprochen! (Hannes starrt ihn an, regungslos.)
Charlotte Onkel Hannes, du wirst doch nicht die Hand deines Bruders abweisen?
Hannes Nichts in der Welt kann mich dazu bringen, ihm die Hand zu schütteln. Es ist eine Schande, dass er hier auftaucht, und er weiß genau, warum.
Charlotte Onkel Hannes, sei nett zu ihm. In jedem Menschen steckt etwas Gutes. Außerdem hat Ernst mir soviel über seinen kranken Freund Bernhard erzählt, den er so oft besucht und um den er sich sorgt. Und schau mal, wer so viele Opfer bringt, extra aufs Land fährt, um am Krankenbett eines guten Freundes zu sitzen, der kann doch kein schlechter Mensch sein.
Hannes Ach, von Bernhard hat er dir auch erzählt?
Charlotte Ja, er hat mir alles über Bernhard erzählt, und über seinen labilen Gesundheitszustand.
Hannes Ich werde es nicht erlauben, dass er sich hier in meinem Hause in Anwesenheit anderer über Bernhard auslässt!
Antonius Ich gebe zu, dass ich viele Fehler gemacht habe. Ich bereue zutiefst alles. Allerdings muss ich sagen, dass mich deine unterkühlte Begrüßung sehr schmerzt. Besonders, wenn man bedenkt, dass dies das erste Mal ist, dass ich hier bin.
Charlotte Onkel Hannes, wenn du jetzt nicht deinem Bruder die Hand gibst, rede ich nie wieder ein Wort mit dir!
Hannes Nie wieder?
Charlotte Nie, nie, nie!
Hannes Na gut, ausnahmsweise. (gibt Antonius die Hand und starrt ihn an.)
Severin Es ist doch immer wieder schön, Zeuge der Versöhnung zweier zerstrittener Seelen zu sein. Ich glaube, wir sollten die beiden allein lassen. Sie haben sich sicher viel zu erzählen.
Prätorius Charlotte, du kommst mit uns.
Charlotte Natürlich, Fräulein Prätorius. Meine Aufgabe ist nun beendet.
Severin Für heute hast du deine gute Tat vollbracht, mein Kind.
Prätorius Wir sollten niemals vorschnell urteilen, Dr. Severin.
Charlotte Ach, ich bin so glücklich! (Alle ab außer Hannes und Antonius)
Hannes Du wirst sofort wieder verschwinden, hörst du? Ich werde nicht zulassen, dass du hier den Bernhardiner spielst.
(Emma kommt aus dem Haus.)
Emma Ich habe die Sachen von Herrn Ernst in das Gästezimmer gebracht. In Ordnung?
Hannes Was?
Emma Das Gepäck von Herrn Ernst. Ich hab’s ins Gästezimmer gestellt.
Hannes Sein Gepäck?
Emma Drei große Koffer, eine Reisetasche und ein Picknickkorb.
Antonius Ja, tut mir Leid, ich kann leider nicht länger als eine Woche bleiben.
Hannes Emma, rufen Sie bitte ein Taxi, Herr Ernst muss sofort abreisen. Dringende Angelegenheiten in Hamburg.
Emma Ist gut. (geht wieder ins Haus.)
Antonius Aber ich habe gar keine Termine, Hannes. Was redest du da?
Hannes Doch, die hast du. Und jetzt verschwinde!
Antonius Ach, und welche Angelegenheiten sollen das sein, bitte schön?
Hannes Deine Pflicht als Gentleman!
Antonius Meine Pflicht als Gentleman war meinem Vergnügen noch nie im Wege. Ich bin durchaus in der Lage, beides zu vereinbaren. Na ja, und Charlotte ist auch eine richtig süße Schnitte!
Hannes So redest du mir nicht über Charlotte! Das gefällt mir nicht.
Antonius Mir gefallen deine Klamotten nicht. Willst du dich nicht endlich mal umziehen? Es ist doch albern, um jemanden zu trauern, der gerade angekommen ist, um dich eine Woche lang zu beglücken.
Hannes Mein lieber Freund, du wirst mit Sicherheit nicht eine Woche lang hier bleiben. Um es genauer zu sagen: wenn das Taxi gleich kommt, wirst du sofort einsteigen und verschwinden!
Antonius Ich werde doch keinen trauernden Freund im Stich lassen. Man kann mir ja viel nachsagen, aber wenn ich gebraucht werde, bin ich da. An meiner Schulter kannst du dich ausweinen.
Hannes (genervt) Und wenn ich mich umziehe, fährst du dann ab?
Antonius Wenn du nicht wieder so lange brauchst. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so lange zum Umziehen braucht wie du.
Hannes Ich für meinen Teil kleide mich jedenfalls passend zu jeder Gelegenheit.
Antonius (lacht) Passend? Mit diesem Outfit kannst du höchstens die Gothic-Szene am Hauptbahnhof beeindrucken. Und das auch nur, wenn du ein Sixpack Bier mitnimmst.
Hannes Und dein Auftritt hier ist lächerlich, dein Verhalten unmöglich und deine Anwesenheit in meinem Garten unerträglich. Ich bitte dich jetzt wirklich, das Taxi zu rufen und wünsche dir eine angenehme Heimreise nach Hamburg. Deine Existenz als Bernhardiner war hier jedenfalls nicht besonders erfolgreich. (geht ins Haus)
Antonius Ganz im Gegenteil. Ich liebe Charlotte, und das ist alles, was zählt.
(Charlotte kommt in den Garten. Sie nimmt die Gießkanne und wässert die Blumen.)
Aber bevor ich gehe, muss ich dafür sorgen, dass ich noch einmal den Bernhard spielen kann. Ah, hier kommt sie.
Charlotte Ach, Sie sind ja noch da. Ich wollte nur die Rosen gießen.
Antonius Ich glaube, Hannes ruft ein Taxi.
Charlotte Macht er mit Ihnen eine schöne Rundfahrt durch die Heide?
Antonius Schön wär’s. Er schickt mich weg.
Charlotte Dann müssen wir uns schon wieder trennen?
Antonius Ich fürchte ja. Es ist sehr schmerzhaft für mich.
Charlotte Der Trennungsschmerz bei Freunden, die man erst kurz kennt, ist immer am größten. Die Abwesenheit von alten Freunden kann man stoisch ertragen, aber auch nur eine Minute von jemandem getrennt zu sein, den man gerade erst kennen gelernt hat, ist nicht auszuhalten.
Antonius Danke, das hast du so schön gesagt, Charlotte.
(Emma kommt heraus.)
Emma Das Taxi ist da.
(Antonius schaut flehend auf Charlotte)
Charlotte Ach … das Taxi soll … fünf Minuten warten.
Emma Ist gut, Fräulein Campe.
(Emma ab.)
Antonius Charlotte, ich … muss dir etwas sagen. (Charlotte erwartungsvoll) Ich will ganz offen sein: du bist für mich … die perfekte … Verkörperung der … Perfektion.
Charlotte Ich weiß überhaupt nicht, warum Onkel Hannes dich für einen so schlechten Menschen hält. Wieder einmal hast du bewiesen, dass du stets die Wahrheit sprichst. Wenn du erlaubst, würde ich gern deine Äußerung in mein Tagebuch übertragen. (geht zum Tisch und schreibt ins Tagebuch.)
Antonius Du führst ein Tagebuch? Kann ich mal hineinschauen?
Charlotte Auf keinen Fall! (umklammert ihr Tagebuch) Weißt du, ein Tagebuch enthält alle Gedanken, Eindrücke und Gefühle eines jungen Mädchens – und eignet sich daher wunderbar, um als Taschenbuch veröffentlicht zu werden. Wenn es auf dem Markt erscheint, fände ich es nett, wenn du mindestens ein Exemplar kaufen würdest. Aber, jetzt mal im Ernst, könntest du bitte wiederholen, was du gerade gesagt hast? (liest) Als letztes steht hier: ‘… Verkörperung der Perfektion.’ Du kannst weitermachen. Ich bin bereit. (schaut ihn erwartungsvoll an, mit Stift in der Hand)
Antonius (verwirrt, hüstelt)
Charlotte Bitte nicht husten. Erstens weiß ich nicht, wie ich das transkribieren soll, und zweitens ist es beim Diktieren wichtig, flüssig zu sprechen.
Antonius Also, Charlotte, seit ich zum ersten Mal deine unvergleichliche und einzigartige Schönheit erblicken durfte, entstand in mir der tiefe Wunsch, dich zu lieben – voller Hingabe, wild, leidenschaftlich, hoffnungslos.
Charlotte Meinst du wirklich, du solltest mich voller Hingabe, wild, leidenschaftlich, hoffnungslos lieben? ‘Hoffnungslos’ ergibt in dem Zusammenhang irgendwie keinen Sinn, nicht wahr?
Antonius Charlotte!
(Emma in den Garten)
Emma Das Taxi wartet.
Antonius Soll nächste Woche wiederkommen, zur gleichen Zeit.
Emma (schaut zu Charlotte, die keine Reaktion zeigt) Ja, mein Herr.
(Emma ab.)
Charlotte Onkel Hannes wird sicher sehr böse auf dich sein, wenn er erfährt, dass du bis zur nächsten Woche bleibst, und dann noch zur gleichen Zeit.
Antonius Ach, Hannes ist mir völlig egal. Mir sind alle egal auf der ganzen Welt. Nur du interessierst mich noch. Charlotte, ich liebe dich. Willst du mich heiraten?
Charlotte Du dummer Junge! Natürlich. Wir sind doch schon seit drei Monaten verlobt.
Antonius (verwirrt) Seit drei Monaten?
Charlotte Am Donnerstag sind es genau drei Monate.
Antonius Und wie kam es zu unserer Verlobung?
Charlotte Na ja, seit Onkel Hannes erwähnte, dass er einen jüngeren Bruder hat, der auf die schiefe Bahn geraten ist und sich in alle möglichen schlimmen Lebenslagen hineinmanövriert, warst du natürlich das Hauptgesprächsthema hier im Hause. Fräulein Prätorius und ich haben kaum noch über etwas anderes geredet. Und ein Mann, über den man soviel redet, muss schließlich sehr attraktiv sein. Vielleicht war es ja ein bisschen dumm von mir, aber ich hab mich sofort hoffnungslos in dich verliebt, Ernst.
Antonius Mein Schatz! Und was war der offizielle Termin der Verlobung?
Charlotte Der 14. Februar natürlich. Dadurch, dass du mich bisher komplett ignoriert hattest, wollte ich schon mit dir Schluss machen, aber nach einem langen Kampf mit mir selbst hatte ich mich entschlossen, dir das Eheversprechen unter diesem schönen Baum zu geben. Am nächsten Tag habe ich dann in deinem Namen diesen kleinen Ring gekauft, und hier ist der Ohrring mit dem Liebesknoten, den ich versprochen habe auf ewig zu tragen.
Antonius Und das habe ich dir wirklich geschenkt? Sieht sehr hübsch aus, nicht wahr?
Charlotte Du hast einen wunderbaren Geschmack, Ernst. Einem Mann, der so herrlichen Schmuck aussuchen kann, verzeiht man so manchen Fehltritt in anderen Lebenslagen. Und hier ist die Schachtel, in der ich alle Briefe von dir aufbewahre. (holt Schachtel unter dem Tisch hervor, öffnet sie und zeigt einen Stapel zusammen gebundener Briefe.)
Antonius Meine Briefe? Aber meine liebste Charlotte, ich habe dir doch niemals Briefe geschrieben!
Charlotte (vorwurfsvoll) Du musst mich nicht daran erinnern, Ernst. Ich weiß nur zu gut, dass ich gezwungen war, alle Briefe selbst zu schreiben. Dreimal in der Woche, manchmal sogar öfter.
Antonius Kann ich sie lesen?
Charlotte Auf keinen Fall. Das würde dich viel zu eingebildet machen. (stellt Schachtel zurück) Die drei, die du mir nach unserer Trennung geschrieben hast, waren so voller Gefühl und voller Rechtschreibfehler, dass ich sie heute noch nicht lesen kann, ohne ein bisschen zu weinen.
Antonius Wurde unsere Verlobung denn gelöst?
Charlotte Aber natürlich! Am 22. März. Du kannst hier den Eintrag im Tagebuch sehen. (zeigt es) ‘Heute habe ich die Verlobung mit Ernst gelöst. Es ist besser für uns beide. Das Wetter ist weiterhin gut.’
Antonius Aber wieso hast du die Verlobung gelöst? Lag es an mir? Was habe ich getan? Charlotte, das verletzt mich doch irgendwie sehr. Und das, wo das Wetter weiterhin so gut war.
Charlotte Wir wären wohl kaum ernsthaft verlobt, wenn es nicht einmal eine ernsthafte Krise gegeben hätte. So etwas schweißt zusammen und hält ein Leben lang. Manchmal glaube ich, ich habe dir etwas zu schnell verziehen.
Antonius (kniet vor ihr nieder) Mein süßer Engel.
Charlotte Mein romantischer kleiner Junge. (Er küsst sie, sie fährt mit ihren Fingern durch sein Haar.) Du hast doch Naturlocken, oder?
Antonius Aber natürlich, mein Schatz. Mit ein bisschen Hilfe von anderen …
Charlotte Ich bin so glücklich.
Antonius Versprich mir, dass du nie wieder unsere Verlobung lösen wirst, Charlotte.
Charlotte Jetzt, wo ich dich tatsächlich kennengelernt habe, wäre das wohl nicht mehr besonders sinnvoll, nicht wahr? Außerdem ist da ja noch die Sache mit deinem Namen.
Antonius (nervös) Ach ja, natürlich.
Charlotte Bitte lach mich nicht aus, aber schon als kleines Mädchen hatte ich den Traum, dass mein Märchenprinz Ernst heißen muss. (Beide stehen auf.) In diesem Namen ist etwas, das absolutes Vertrauen erzeugt. Mir tut jede Frau Leid, die nicht mit einem Ernst verheiratet ist.
Antonius Aber meine Liebste, soll das heißen, dass du mich nicht lieben könntest, wenn ich anders hieße?
Charlotte Wie denn?
Antonius Na ja, zum Beispiel … Antonius?
Charlotte (finster) Antonius? Nein, der Name gefällt mir überhaupt nicht.
Antonius Aber meine Liebste, mein süßer Schatz … ich weiß wirklich nicht, was du gegen den Namen Antonius hast. Der ist doch gar nicht so schlimm. Eigentlich ist es sogar ein klassischer Name. Denk an Kleopatra.
Charlotte Deine humanistische Bildung in allen Ehren, aber du kannst doch von mir nicht ernsthaft erwarten, dass ich Kleopatras Schicksal teilen soll.
Antonius Nein, aber … ehrlich, Charlotte, (kommt zu ihr) wenn ich Antonius hieße, würdest du mich dann überhaupt nicht lieben?
Charlotte (steht auf) Mein lieber Ernst, ich könnte dich vielleicht als Mensch respektieren, ich würde wahrscheinlich deinen Charakter bewundern, aber meine ungeteilte Liebe könnte ich dir nicht schenken.
Antonius (nachdenklich) Äh … also Charlotte … euer Pastor hier kennt sich doch in Kirchendingen gut aus, oder?
Charlotte Dr. Severin? Na ja, er ist eben ein Pastor. So was macht er professionell. Wieso fragst du?
Antonius Ich muss ihn dringend sprechen. Er muss mich taufen … äh … trauen. (Charlotte schaut verwirrt) Also, ich meine, ich muss mit ihm über unsere Trauung reden. Was man so … macht dabei … und so …
Charlotte (verwirrt) Aha.
Antonius Es dauert nicht länger als eine halbe Stunde.
Charlotte Angesichts der Tatsache, dass wir seit 14. Februar verlobt sind und wir uns heute erst zum ersten Mal gesehen haben, finde ich es irgendwie unpassend, dass du jetzt schon wieder für eine halbe Stunde verschwindest. Könntest du nicht in zwanzig Minuten zurück sein?
Antonius Ich fliege wie ein Vöglein. (küsst sie und flitzt durch den Garten)
Charlotte Was für ein wilder kleiner Junge! Sein Haar ist so wunderschön. Seinen Heiratsantrag muss ich sofort ins Tagebuch schreiben.
(Emma kommt heraus.)
Emma Ein Fräulein Schöning ist an der Tür. Sie will Herrn Werther sprechen. Wegen einer dringenden Angelegenheit, sagt sie.
Charlotte Ist Herr Werther nicht in der Bibliothek?
Emma Herr Werther ist vor einiger Zeit Richtung Pastorenhaus weggegangen.
Charlotte Bringen Sie sie hier in den Garten. Herr Werther ist kommt gleich wieder zurück. Und Sie können Kaffee servieren.
Emma Okay. (Emma ab.)
Charlotte Fräulein Schöning … bestimmt eine von diesen älteren Damen, die Onkel Hannes bei seiner Arbeit im Wohltätigkeitsverband unterstützen. Was sie nur will?
(Emma kommt.)
Emma Fräulein Schöning.
(Greta kommt heraus. Emma ab.)
Charlotte (geht ihr entgegen) Hallo! Ich bin Charlotte Campe. Willkommen in der Heide!
Greta Charlotte Campe? (gibt ihr die Hand) Ein netter Name. Ich habe das Gefühl, dass wir beiden gute Freundinnen werden, vielleicht sogar einmal beste Freundinnen. Mein erster Eindruck trügt fast nie.
Charlotte Wie freundlich von Ihnen, dass Sie mich schon so sehr ins Herz geschlossen haben, obwohl wir uns erst seit relativ kurzer Zeit kennen. Bitte setzen Sie sich doch.
Greta (bleibt stehen) Darf ich Sie duzen?
Charlotte Aber natürlich.
Greta Dann ist ja alles geklärt, nicht wahr?
Charlotte Scheint so. (Pause. Beiden setzen sich.)
Greta Ich glaube, ich muss dir erklären, wer ich bin. Mein Vater ist Karl Brommer. Wahrscheinlich hast du noch nie von ihm gehört, oder?
Charlotte Nicht, dass ich wüsste.
Greta Außerhalb der Familie ist Papa zum Glück völlig unbekannt. Als guter Ehemann widmet er sich voll und ganz seinen häuslichen Pflichten. Findest du nicht auch, dass Männer zu stark verweichlichen, wenn sie ihre häuslichen Pflichten vernachlässigen? So etwas gefällt mir ganz und gar nicht. Das macht sie immer in bestimmten anderen Kreisen immer so attraktiv. Mama ist genau das Gegenteil. Von ihr habe ich gelernt, dass Strenge eine Tugend ist. Leider durfte ich deshalb nie eine Brille tragen, obwohl ich extrem kurzsichtig bin. Dürfte ich einmal deine benutzen, um dich richtig anzuschauen?
Charlotte Aber natürlich, Greta. Ich mag es, wenn man mich anschaut.
Greta (schaut kurz durch die Brille) Du bist wohl auf einen kurzen Besuch hier?
Charlotte Oh nein, ich wohne hier!
Greta Mit deiner Mutter oder Tante?
Charlotte Oh nein, ich habe keine Mutter oder andere Verwandte.
Greta Wirklich?
Charlotte Mein Vormund sorgt hier für mich, mit Hilfe seiner fleißigen Erzieherin Fräulein Prätorius.
Greta Dein Vormund?
Charlotte Ja, Herr Werther ist mein Vormund. Ich sage immer „Onkel“ zu ihm.
Greta Seltsam! Er hat mir gegenüber nie erwähnt, dass er Vormund eines so … jungen und … hübschen Mädchens ist. Ich muss sagen, ich hätte nicht gedacht, dass er so ein Geheimniskrämer ist. Wie spannend! (steht auf und geht zu ihr) Eigentlich mag ich dich, Charlotte, aber ich würde dich noch mehr mögen, wenn du … na ja, ein bisschen älter wärst und nicht ganz so … gut aussehend. Darf ich ganz offen sein?
Charlotte Aber bitte! Unangenehme Dinge sollte man immer ganz offen aussprechen.
Greta Um ganz ehrlich zu sein, Charlotte – mir wär’s am liebsten, du wärst 62, hättest mausgraues Haar und wärst ein bisschen hässlicher. Weißt du, Ernst hat zwar einen ehrlichen und festen Charakter, aber selbst die standfestesten Männer werden manchmal schwach, besonders wenn die Versuchung so nahe liegt.
Charlotte Entschuldigung, Greta, hattest du gerade ‘Ernst’ gesagt?
Greta Ja, sicher.
Charlotte Nein, das ist ein Missverständnis. Ernst ist nicht mein Vormund. Mein Vormund ist Ernsts Bruder – sein älterer Bruder.
Greta (setzt sich) Ernst hat nie etwas von einem älteren Bruder erzählt.
Charlotte Ja, das kann ich mir vorstellen. Sie hatten lange Zeit ein sehr schlechtes Verhältnis zueinander.
Greta Ah, deswegen. Und wenn ich’s mir genau überlege, dann redet doch eigentlich kein Mann gern über seinen Bruder. Scheint kein besonders angenehmes Thema zu sein. Charlotte, du weißt gar nicht, wie erleichtert ich bin. Ich hatte schon Angst, dass unsere enge Freundschaft einen Riss bekommen könnte. Und du bist wirklich sicher, dass nicht Ernst Werther dein Vormund ist?
Charlotte Ganz sicher. (Pause) Sonst wäre ich ja nicht mit ihm verlobt.
Greta Wie bitte?
Charlotte (schüchtern) Greta, was soll ich um den heißen Brei herumreden? Als eine gute Freundin kann ich es dir ja schon jetzt sagen: Herr Ernst Werther und ich sind verlobt! Wir werden natürlich eine Anzeige im Lokalblättchen aufgeben.
Greta (steht auf, sehr formal) Meine liebe Charlotte, ich glaube, hier unterliegst du einem Irrtum. Herr Ernst Werther ist bereits verlobt. (laut) Mit mir! Unsere Anzeige erscheint übermorgen im Abendblatt!
Charlotte (steht auf, ebenfalls sehr formal) Ich denke, das Missverständnis liegt ganz auf deiner Seite. Ernst und ich haben uns vor exakt zehn Minuten verlobt. Hier. (zeigt Tagebuch)
Greta (nimmt Brille und schaut hinein) Das ist wirklich seltsam, denn er hat seinen Heiratsantrag gestern Nachmittag um 17.32 gemacht. Wenn du mal schauen möchtest. (zeigt ihr Tagebuch) Ich reise nie ohne Tagebuch. So wird mir nie langweilig. Es tut mir wirklich Leid, liebe Charlotte, aber du siehst, ich war früher dran.
Charlotte Meine liebe Greta, aber die Tatsache, dass Ernst erst vor wenigen Minuten um meine Hand angehalten hat, bedeutet doch nichts anderes, als dass er es sich in der Zwischenzeit anders überlegt hat.
Greta Das kann nur bedeuten, dass der arme Ernst in eine ganz gemeine Liebesfalle getappt ist, aus der ich ihn mit Entschlossenheit und festem Griff retten werde.
Charlotte Ich jedenfalls werde Ernst seine Affären nicht übelnehmen, sobald wir einmal verheiratet sind. Was geschehen ist, ist geschehen. Männer müssen sich schließlich die Hörner abstoßen.
Greta Willst du etwa damit ausdrücken, dass ich für Ernst nur eine flüchtige Affäre darstelle?
Charlotte Und willst du etwa sagen, dass Ernst nur deshalb mit mir verlobt ist, weil ich ihn mit unredlichen Verlockungen geködert habe? Jetzt ist Schluss mit lustig. Die Wahrheit muss auf den Tisch, in guten Zeiten und in schlechten Zeiten.
Greta (zynisch) Sage mir, was du nachmittags tust, und ich sage dir, wer du bist …
(Emma herein mit Kaffeegedeck, Kuchen usw. auf einem Tablett. Emmas Anwesenheit zwingt beide Frauen plötzlich zum zivilisierten Umgang miteinander, was beiden sichtlich schwerfällt.)
Emma Soll ich den Kaffeetisch wie üblich decken, Fräulein Campe?
Charlotte (betont ruhig) Ja, wie immer, Emma. Danke. (Emma beginnt den Tisch mit den diversen Gegenständen zu decken. Es zieht sich. Charlotte und Greta starren sich giftig an.)
Greta Gehen Sie hier oft spazieren, Fräulein Campe? Die Landschaft muss herrlich sein.
Charlotte Oh ja, ziemlich oft. Von dem Berg dort drüben kann man vier Dörfer gleichzeitig sehen.
Greta Vier Dörfer! Das wäre nichts für mich. Ich hasse Menschenmassen.
Charlotte (süß) Deswegen leben Sie wohl auch in Hamburg, Fräulein Schöning, nicht wahr?
Greta (reißt sich nur mühsam zusammen) Ein schöner Garten, Fräulein Campe. Sehr gepflegt.
Charlotte Vielen Dank, Fräulein Schöning. Schön, dass es Ihnen hier gefällt.
Greta Ich wusste gar nicht, dass es in der Heide so viele Blumen gibt.
Charlotte Blumen sind hier ganz normal. Wie Menschen in Hamburg.
Greta Also, ich weiß ja nicht … mir ist schleierhaft, wie überhaupt irgendjemand hier auf dem Lande leben kann. Die ganze Umgebung finde ich wahnsinnig öde.
Charlotte Ja, das kommt davon, wenn man zu viel zwischen Häusern und Straßen herumläuft. Wussten Sie, dass viele Großstädter neuerdings Depressionen kriegen, wenn sie Blumen sehen? Möchten Sie einen Kaffee?
Greta (sehr gezwungen höflich) Danke, gern. (zu sich selbst) Grässliche Frau! Aber ich brauche jetzt unbedingt einen Kaffee.
Charlotte (süß) Zucker?
Greta (arrogant) Nein, danke. Kein Mensch in Hamburg nimmt noch Zucker. Total out. (Charlotte schaut sie angewidert an und gibt langsam und genüsslich vier Stück Zucker in den Kaffee.)
Charlotte Kuchen oder Muffins?
Greta (betont gelangweilt) Muffins, bitte. Kein Mensch in Hamburg isst heutzutage noch Kuchen. Muffins betonen die Weltoffenheit viel mehr.
Charlotte (legt ein dickes Stück Kuchen auf Gretas Teller und stellt ihn aufs Tablett) Emma, geben Sie das bitte Fräulein Schöning.
(Emma tut es. Greta trinkt den Kaffee, spuckt aus. Sie sieht den Kuchen auf dem Teller. Das ist zuviel für Greta. Sie steht wütend auf.)
Greta Sie haben mir den Kaffee mit Zucker zugeschüttet, und obwohl ich betont habe, wie sehr ich Kuchen verabscheue, haben Sie mir ein dickes Stück abgeschnitten. Fräulein Campe, ich bin bei meinen Freunden bekannt für meine zurückhaltende und freundliche Art, aber das hier, das geht zu weit. Ich warne Sie – ich kann auch ganz anders!
Charlotte (steht ebenfalls auf) Wenn es darum geht, meinen Jungen vor den üblen Machenschaften eines durchtriebenen Weibsstücks zu schützen, erwachen in mir Kräfte, die Sie das Fürchten lehren werden, Fräulein Schöning!
Greta Ich wusste, dass man Ihnen nicht trauen kann. Ich wusste es von Anfang an. Sie sind falsch und hinterhältig.
Charlotte Ich möchte Ihre wertvolle Zeit nicht länger in Anspruch nehmen, Fräulein Schöning. Sicherlich haben Sie in der Nachbarschaft noch ein paar ähnliche Besorgungen zu erledigen.
(Hannes herein.)
Greta (erblickt ihn) Ernst! Mein liebster Ernst!
Hannes Gretaschätzchen! (will sie küssen)
Greta (zieht zurück) Einen Moment! Erst musst du mir eine Frage beantworten: Bist du mit dieser Frau hier verlobt? (zeigt auf Charlotte)
Hannes (lacht) Mit Charly? Natürlich nicht! Wie kommt dein süßes kleines Köpfchen denn darauf?
Greta Danke, das reicht. Jetzt darfst du. (küsst ihn)
Charlotte (zuckersüß) Ich wusste doch, dass da was nicht stimmen kann, Greta. Der Arm, der sich gerade an deiner Hüfte befindet, gehört meinem Vormund. Hannes Werther!
Greta Wie bitte?
Charlotte Das ist Onkel Hannes!
Greta (tritt zurück) Hannes? Oh!
(Antonius herein.)
Charlotte Hier, das ist Ernst.
Antonius (sieht nur Charlotte, geht zu ihr) Meine Liebste!
Charlotte (zieht zurück) Einen Augenblick, Ernst! Bist du mit dieser Frau verlobt?
Antonius (schaut sich um, erschrickt) Welche Frau? Mein Gott, Greta! Was machst du denn hier?
Charlotte Also? Bist du oder bist du nicht mit ihr verlobt?
Antonius (lacht) Mit Greta?? Natürlich nicht! Wie kommt dein kleines Köpfchen denn auf sowas?
Charlotte Dann bin ich beruhigt. (küsst ihn)
Greta Ich wusste doch, dass da etwas nicht stimmt, Charlotte. Die Arme, die sich gerade um deinen Hals schlingen, gehören meinem Cousin, Antonius Mommsen!
Charlotte (reißt sich los) Antonius? Oh!
(Beide Frauen laufen zueinander und umarmen sich, als suchten sie Schutz vor bösen Mächten.)
Charlotte (zu Antonius) Und du heißt Antonius?
Antonius Leider ja.
Charlotte Oh!
Greta (zu Hannes) Und dein Name ist wirklich Hannes?
Hannes Ich müsste jetzt lügen, wenn ich nein sagte. Aber ich heiße wirklich Hannes. Und das schon seit vielen Jahren.
Charlotte (zu Greta) Man hat uns beide reingelegt!
Greta Meine arme Charlotte!
Charlotte Meine arme Greta!
Greta (ernst) Wir wollen uns nie mehr streiten, nicht wahr, Schwesterherz? (Sie umarmen sich. Hannes und Antonius stöhnen genervt und laufen auf und ab.)
Charlotte Aber eine Sache ist da noch, Onkel Hannes, die ich wissen muss.
Greta Genau, Charlotte, ich hätte es fast vergessen. Wo ist dein Bruder Ernst? Wir sind beide mit deinem Bruder Ernst verlobt. Du musst verstehen, dass es für uns beide sehr wichtig ist zu wissen, mit wem wir eigentlich verlobt sind.
Charlotte Und wo sich unser Verlobter eigentlich aufhält!
Hannes (langsam, stockend) Greta … Charlotte … ich muss euch etwas sagen. Es tut mir ganz schrecklich Leid, aber … zum ersten Mal in meinem Leben muss ich einen Fehler gestehen … und daher bin ich auch nicht so geübt darin, aber … ganz ehrlich … ich habe gar keinen Bruder. Ich hatte nie einen Bruder, und ich habe auch keine Absicht, mir einen anzuschaffen.
Charlotte (überrascht) Keinen Bruder?
Hannes (fröhlich) Überhaupt keinen!
Greta (ernst) Und du hattest auch noch nie irgendeinen Bruder?
Hannes (fröhlich) Noch nie.
Greta Das kann für uns alle nur eine Konsequenz haben: niemand ist hier mit irgendjemandem verlobt!
Charlotte Solche Überraschungen gefallen mir überhaupt nicht, um ehrlich zu sein.
Greta Lass uns ins Haus gehen. Die trauen sich sowieso nicht, uns zu folgen.
Charlotte Bestimmt nicht. Männer sind ja solche Feiglinge!
(Charlotte und Greta ins Haus mit zornigen Blicken.)
Hannes Da hast du den Salat! Das kommt bei deinem komischen „Bernhardiner-Dasein“ raus.
Antonius Ja, der beste Bernhardiner, den ich je hatte. Toll!
Hannes Du hast kein Recht, hier den Bernhardiner zu spielen.
Antonius Das ist absurd. Es gibt keine feste Regeln dafür, wo man seinen persönlichen Bernhard ansiedelt. Jeder ernsthafte Bernhardiner weiß das.
Hannes (angewidert) Ernsthafter Bernhardiner! Ich glaube, du spinnst!
Antonius Jeder Mann braucht wenigstens eine Sache, die er ernsthaft verfolgt. Bei mir ist es eben das Vergnügen in Form meines lieben Bernhard. Bei dir bin ich mir nicht sicher, was du überhaupt ernst nimmst.
Hannes Ich nehme das ganze Leben ernst.
Antonius Ha! Deswegen bist du auch so eine aufgeblasene Person, nicht wahr?
Hannes Apropos aufgeblasen: ich denke, dass dein Freund Bernhard mittlerweile explodiert ist! Ich möchte sehen, welche Entschuldigung du dir jetzt einfallen lässt, um für ein paar Tage vor deiner kleinen Tante Augustine zu flüchten!
Antonius Du musst gerade reden! Dein böser Bruder hat sich von selbst ins Nirwana katapultiert, nicht wahr, Hannes? Ich bin gespannt, welche Entschuldigung du dir einfallen lässt, um dir eine Pause von deinen anstrengenden Pflichten als Moralapostel bei deiner kleinen Charlotte zu genehmigen!
Hannes Also, was dein Verhalten gegenüber Charlotte betrifft, muss ich sagen: Als Vormund bin ich entsetzt, wie du ein unschuldiges, unerfahrenes junges Mädchen schamlos eingewickelt hast.
Antonius Und, mein lieber Hannes, was dein Verhalten gegenüber Greta betrifft: Als ihr älterer Cousin muss ich sagen, ich finde es unglaublich, wie du eine kluge, erfahrene junge Dame so täuschen konntest!
Hannes Ich will Greta nur heiraten. Ich liebe sie. Weiter nichts.
Antonius Ich dagegen will Charlotte nur heiraten. Ich verehre sie!
Hannes Na ja, daraus wird ja jetzt wohl nichts.
Antonius Dito, mein Lieber. Aus der glorreichen Vereinigung von Greta und dir wird wohl auch nichts.
Hannes Das geht dich überhaupt nichts an.
Antonius Genau das ist der Grund, warum ich so gern darüber rede. (fängt an, Muffins zu essen.) Leute, die nur über ihre eigenen Angelegenheiten reden, sind mir zuwider. So etwas tun nur Rechtsanwälte und Banker, und deren Ruf möchte nun wirklich niemand haben.
Hannes Wie kannst du nur hier seelenruhig herumsitzen und Muffins essen? Bei all den Problemen, die wir jetzt am Hals haben, fällt dir wohl nichts Besseres ein, wie?
Antonius Muffins kann ich nur in ruhigem Zustand essen. Wenn ich aufgeregt bin, mache ich mir bloß Fettflecken auf mein Hemd. Nein, Muffins sind was für ruhige Stunden.
Hannes (entrüstet) Unglaublich! Du erkennst den Ernst der Lage überhaupt nicht, was?
Antonius Mein lieber Hannes, Essen ist das einzige, was ich noch kann, wenn ich in Problemen stecke. Du müsstest mich doch mittlerweile so gut kennen, dass du das weißt. Im Augenblick esse ich Muffins, weil ich unglücklich bin. Außerdem mag ich Muffins sehr gerne. (steht auf)
Hannes (steht auch auf) Das ist noch lange kein Grund, alle Muffins so gierig herunterzuschlingen. (nimmt einige Muffins von Antonius weg)
Antonius (bietet ihm Kuchen an) Hier, du kannst Kuchen essen. Ich mag keinen Kuchen.
Hannes Ich kann doch wohl in meinem eigenen Garten meine eigenen Muffins essen!
Antonius Gerade eben hast du dich noch darüber entsetzt, dass ich in dieser Situation Muffins esse.
Hannes Ja, aber das ist etwas ganz anderes. Ich bin hier zu Hause, und das sind meine Muffins.
Antonius Kann schon sein, aber ich bin dein Gast. (nimmt Hannes den Muffinteller weg.)
Hannes Toni, kannst du nicht bitte endlich nach Hause fahren?
Antonius Also, hör mal, Hannes, nennt man das Gastfreundschaft? Du kannst mich doch nicht einfach wegschicken, ohne mir Abendessen anzubieten. Ich fahre nie vor dem Abendessen. So etwas machen nur Veganer und alte Leute. Außerdem habe ich noch einen Termin.
Hannes Einen Termin?
Antonius Mit Dr. Severin. Um viertel vor sechs. Ich werde getauft. Auf den Namen Ernst.
Hannes Mein lieber Freund, das schlag dir gleich aus dem Kopf. Ich werde nämlich bereits um halb sechs getauft, und zwar, wie du dir vorstellen kannst, auf den Namen Ernst. Greta zuliebe. Und dir ist wohl klar, dass wir nicht beide auf denselben Namen getauft werden können. Außerdem habe ich das Recht auf eine Taufe, denn soweit ich weiß, bin ich noch nie getauft worden. Du, mein lieber Toni, hast ja schon einen Namen bei deiner Geburt erhalten. Ich denke, Dr. Severin sieht das alles genau so.
Antonius Ich bin schon seit Jahren nicht mehr getauft worden.
Hannes Ja, aber dein Kopf war schon mal unter Wasser. Das ist der kleine, aber feine Unterschied.
Antonius Ich bin mir sicher, dass meine körperliche Verfassung es zulässt, meinen Kopf noch einmal mit Wasser in Verbindung zu bringen. Bei dir wäre ich mir da nicht sicher.
Hannes Was soll das heißen?
Antonius Darf ich dich daran erinnern, dass erst vor kurzem eine dir nahestehende Person durch eine starke Erkältung ums Leben gekommen ist?
Hannes Ja, aber du hast selbst gesagt, dass so etwas nicht erblich ist.
Antonius Bis jetzt. Du weißt, Hannes, die Medizin macht heutzutage große Fortschritte.
Hannes (nimmt den Muffinteller) So ein Quatsch. Du redest wie immer totalen Blödsinn.
Antonius Hannes, du fängst ja schon wieder mit den Muffins an! Schau mal, nur noch zwei übrig! (nimmt sie) Ich habe dir doch gesagt, ich liebe Muffins!
Hannes Und ich hasse Kuchen.
Antonius Und wieso servierst du den Kuchen dann deinen Gästen? Eine komische Art der Gastfreundschaft.
Hannes Antonius, ich habe dich gebeten zu gehen, und du bist immer noch hier! Ich will dich hier nicht mehr sehen. Hau endlich ab!
Antonius Ich hab meinen Kaffee noch nicht ausgetrunken, und außerdem ist noch ein Muffin übrig.
(Hannes stöhnt genervt, Antonius isst weiter.)
(Salon/Wohnzimmer im Landhaus. Greta und Charlotte am Fenster. Beide schauen hinaus in den Garten.)
Greta Die beiden sind uns nicht gefolgt. Anscheinend besitzen sie doch noch ein bisschen Schamgefühl.
Charlotte Sie essen Muffins. Das sieht nach tiefster Reue aus.
Greta (nach einer Pause) Die scheinen uns gar nicht mehr wahrzunehmen. Könntest du nicht husten?
Charlotte Aber ich habe keinen Husten.
Greta Da schau mal! Sie gucken zu uns herüber! Was für eine Frechheit!
Charlotte Jetzt … jetzt kommen sie! Was für ehrliche Typen das doch sind!
Greta Also, Charlotte – wir sagen nichts. So behalten wir unsere Würde.
Charlotte Genau. Gute Idee.
(Antonius und Hannes herein. Beide singen total falsch – irgendein bekanntes Stück aus der Popmusik.)
Greta Sollen wir immer noch nichts sagen? Das ist nicht die Wirkung, die ich mir erhofft hatte.
Charlotte Stimmt. So wird das nichts.
Greta Aber wir fangen nicht an.
Charlotte Niemals. Die sollen zuerst um Verzeihung bitten.
Greta Herr Werther, ich muss dich etwas sehr Wichtiges fragen. Von deiner Antwort hängt sehr viel ab.
Charlotte (fährt dazwischen) Genau, Greta, genau so eine Frage habe ich auch. Herr Mommsen, warum hast du so getan, als wärst du Onkel Hannes’ Bruder?
Antonius Um eine Gelegenheit zu bekommen, dich zu sehen.
Charlotte (zu Greta) Die Antwort ist ganz gut, oder?
Greta Glaub schon … wenn er nicht lügt.
Charlotte Das tut er mit Sicherheit. Aber seine Antwort ist trotzdem wunderschön!
Greta Ja, stimmt. Wenn es um ernste Angelegenheiten geht, zählt nur der Stil. Die Wahrheit ist hier nebensächlich. (zu Hannes) Herr Werther, warum hast du einen Bruder erfunden? Hast du es getan, weil du so oft wie möglich nach Hamburg kommen wolltest, um mich zu treffen?
Hannes Aber natürlich – nur deswegen.
Greta Ich habe da so meine Zweifel, aber ich möchte es einfach glauben. Na ja, der Glaube stirbt zuletzt, wie man so sagt, nicht wahr, Charlotte? (zu Charlotte) Was die beiden da vorgebracht haben, klingt doch eigentlich ganz plausibel, was? Hört sich an wie die reine Wahrheit, besonders wenn Hannes so einen sanften Blick aufsetzt.
Charlotte Absolut. Ich bin höchst zufrieden mit dem, was die Jungs uns vorgeschwindelt haben. Allein bei Tonis Stimme werde ich schon weich.
Greta Also verzeihen wir ihnen?
Charlotte Ja, klar. (schnell) Nein, natürlich nicht!
Greta Wie konnte ich das nur vergessen! Der Name! Wir müssen unbedingt unseren Prinzipien treu bleiben. Wer von uns sagt es ihnen? Ich trau mich nicht.
Charlotte Ich auch nicht. Könnten wir nicht gleichzeitig sprechen?
Greta Gute Idee! Ich rede sowieso fast immer den Leuten ins Wort. Ich zähle?
Charlotte Klar. (Greta zählt 1-2-3)
Greta und Charlotte Wir können euch nicht verzeihen. Eure Vornamen sind immer noch ein großes Hindernis. Sonst wäre alles in Ordnung.
Hannes und Antonius Unsere Vornamen? Ist das alles? Wir werden uns beide heute Nachmittag taufen lassen.
Greta (zu Hannes) Du würdest so etwas Schreckliches wirklich für mich tun?
Hannes Natürlich!
Charlotte (zu Antonius) Um mir zu gefallen, stellst du dich solch einer grauenvollen Herausforderung?
Antonius Natürlich!
Greta Da sieht man mal wieder, wie absurd dieses Gerede von der Gleichberechtigung ist. Männer sind uns weit voraus, wenn es um Selbstaufopferung geht.
Hannes Allerdings. (drückt Antonius die Hand.)
Charlotte In solchen Situationen zeigen Männer solch enormen Mut, von dem wir nur träumen können.
Greta (zu Hannes) Mein Schatz!
Antonius (zu Charlotte) Mein Schatz! (Beide Paare fallen sich glücklich in die Arme.)
(Emma herein, wird aber von den beiden innig verbundenen Paaren nicht bemerkt. Nach einer Weile schüttelt sie den Kopf und räuspert sich demonstrativ, sehr laut. Die beiden Pärchen drehen sich zu Emma um.)
Emma Da ist jemand angekommen. Eine Frau Brommer.
Hannes (erschreckt) Oh nein! Das darf nicht wahr sein! Was will die denn hier?
(Augustine herein. Die beiden Pärchen trennen sich erschreckt.)
Augustine Greta! Was soll das hier werden?
Greta Wir feiern gerade unsere Versöhnung und Verlobung, Mama.
Augustine Komm sofort her! Sofort! Setz dich hin! Jetzt gleich! (wendet sich an Hannes) Durch die notorische Geldknappheit ihrer besten Freundin Louise war es mir möglich herauszufinden, wohin Greta so schnell abgereist ist. Was junge Frauen nicht alles für ein bisschen Handyguthaben tun! Unsere Geheimdienste sollten sich diese Informationsquellen mal näher ansehen. Ich bin mir sicher, dass sich da noch ganz neue Möglichkeiten auftun. Apropos geheim – ich bin sozusagen in geheimer Mission hier. Gretas Vater weiß nichts von meiner Reise, und ich beabsichtige ihn auch nicht mit der Wahrheit zu belasten, dass ich, um das Glück meiner einzigen Tochter zu retten, diese grausige Fahrt in die öde Heide unternommen habe. Wie auch immer, Herr Werther, eins muss klar sein. Jeglicher Kontakt zwischen Ihnen und meiner Tochter ist von nun an beendet. Ist das klar?
Hannes Aber Frau Brommer, ich bin mit Greta verlobt! Wir wollen heiraten.
Augustine Totaler Blödsinn, das Ganze! Und was Antonius betrifft … Antonius?
Antonius Ja, Tante Augustine?
Augustine (schaut sich um) Ist das hier das Haus, in dem dein seltsamer Freund Bernhard wohnt?
Antonius (stottert) Oh, nein! Nein, Bernhard wohnt hier nicht. Bernhard ist im Augenblick … woanders. Eigentlich ist er … tot.
Augustine Tot? Wann ist er denn gestorben? Sein Tod muss sehr plötzlich gekommen sein.
Antonius Ach … ich hab Bernhard heute Nachmittag umgebracht. (schnell) Also, ich meine, der arme Bernhard verstarb heute Nachmittag.
Augustine Und woran ist er so schnell verstorben?
Antonius Bernie? Ach, der ist eigentlich … geplatzt.
Augustine Geplatzt? Soll das heißen, dass hier in der Heide revolutionäre Zirkel ihr Unwesen treiben und hypochondrische Junggesellen in die Luft jagen? Ich wusste gar nicht, dass dein Bernhard sich so für Politik interessiert. Na ja, nun ist er ja bestraft genug für seine ewigen Grippeanfälle.
Antonius Liebe Tante Augustine, ich meine doch nur, dass er aufgedeckt wurde. (konzentriert) Die Ärzte haben entdeckt, dass Bernhard nicht mehr leben konnte, und so ist er eben gestorben.
Augustine Dein seltsamer Freund schien ein großes Vertrauen in seine Ärzte gehabt zu haben. Na ja, wie auch immer, ich bin froh, dass er sich endlich für einen Weg entschieden hat, und das noch unter ärztlicher Aufsicht. (stöhnt) So, und da wir nun endlich diesen unseligen Bernhard losgeworden sind, würde ich gern von Ihnen, Herr Werther, wissen, wem die Hand gehört, die mein Neffe Antonius für meine Begriffe etwas zu intensiv berührt.
Hannes Das ist Charlotte Campe. Ich bin ihr Vormund. (Augustine starrt Charlotte kühl an.)
Antonius Charlotte und ich sind verlobt. Wir wollen heiraten, Tante Augustine.
Augustine Wie bitte?
Charlotte Toni und ich wollen heiraten, Frau Brommer.
Augustine Ich weiß ja nicht, was in dieser berühmt-berüchtigten Landluft in der Heide so alles enthalten ist, aber sie scheint mir das Paarungsverhalten junger Leute ein bisschen zu sehr zu fördern. Dieser Landkreis gleicht offenbar die allgemein rückläufige Geburtenrate in Deutschland mehr als aus. Bevor die Statistik zu sehr nach oben schnellt, würde ich gern nur eines von Ihnen, Herr Werther, wissen. Ist Frau Campe in irgendeiner Form mit dem Dammtorbahnhof verbunden? Ich frage nur so aus Interesse, denn bis gestern wusste ich noch nicht, dass es Familien gibt, deren Stammbaum auf einem Bahnsteig beginnt. (Hannes sehr wütend, hat sich aber unter Kontrolle.)
Hannes (kühl) Frau Campe ist die Enkelin des verstorbenen Herrn Senators Theo Campe. Sie kennen sicherlich die Campe-Villa am Rondeelteich. Vielleicht haben Sie auch schon vom Campe-Gestüt gehört, dessen Pferde regelmäßig hoch dotierte Trabrennen und Dressurwettbewerbe gewinnen. Wenn Sie möchten, dürfen Sie gern ein Wochenende in dem dazugehörigen Wellness-Hotel in Mecklenburg verbringen. Ich hoffe, das reicht Ihnen, Frau Brommer.
Augustine (grimmig) Woher weiß ich, dass Sie mir die Wahrheit sagen?
Hannes Unsere Anwaltskanzlei Petersen, Petersen und Petersen, wird Ihnen gern auf Wunsch alle Angaben bestätigen, Frau Brommer.
Augustine Petersen, Petersen und Petersen? Die größte und bedeutendste Anwaltskanzlei in Hamburg? Einer der Petersens kommt manchmal sogar zu unseren Dinnerpartys. (kurz) Na gut, ich bin zufrieden.
Hannes (sauer) Wie außergewöhnlich freundlich von Ihnen, Frau Brommer. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen auch Charlottes Geburtsurkunde, Taufzeugnis, Impfpass, Führerschein, Blutspendeausweis und ihre Bahncard zeigen, wenn Sie das noch mehr zufriedenstellt.
Augustine Ein Leben in vollen Zügen, und das bei so einer jungen Frau! Na ja, ich bin nicht dafür, jungen Leuten so viele Lebenserfahrungen zu früh zuzumuten. (steht auf, sieht auf ihre Uhr) Greta, wir müssen los. Du hast für heute genug Landluft genossen. (zögert) Ach Herr Werther, nur noch eine Frage: Besitzt Fräulein Campe Vermögen?
Hannes (genießt den Augenblick) Nicht besonders viel. Sie hält einen dreißigprozentigen Anteil an allen Familiengeschäften und Transaktionen. Das ist alles. Auf Wiedersehen, Frau Brommer.
Augustine (interessiert) Und auf wie viel beläuft sich der Jahresgewinn der Campeschen Unternehmen, wenn ich fragen darf?
Hannes Nur etwa acht bis zehn Millionen im Jahr. Es war nett, Sie kennenzulernen, Frau Brommer.
Augustine (setzt sich wieder) Einen Augenblick, Herr Werther. Acht bis zehn Millionen, in mehreren florierenden Unternehmen … Fräulein Campe scheint mir beim näheren Hinsehen eine attraktive junge Frau zu sein. Solch eine solide … Persönlichkeit haben heutzutage nicht mehr viele junge Leute, wo doch heutzutage, leider, leider, die Oberflächlichkeit überhand nimmt. (zu Charlotte) Komm doch mal her, mein Kind. (Charlotte geht herüber.) Was für ein hübsches Mädchen du bist! Dieses Kleid ist natürlich entsetzlich, und dein Haar sieht fast so aus, als ob Mutter Natur es geschaffen hätte. Aber das kann man alles ändern. Meine Modeberaterin und meine Visagistin wirken da wahre Wunder innerhalb kürzester Zeit. Ich kann mich erinnern, dass ich die beiden mal meiner Freundin Eleonore empfohlen hatte. Schon nach drei Wochen hat sie nicht mal ihr Mann wieder erkannt.
Hannes Und nach drei Monaten hat sie sich wahrscheinlich selbst nicht mehr im Spiegel erkannt.
Augustine (wirft Hannes einen bösen Blick zu, wendet sich dann aber mit einem geübten Lächeln zu Charlotte) Ach, dreh dich doch mal, mein Kind. (Charlotte dreht sich einmal herum.) Nein, von der Seite. (Charlotte präsentiert ihr Profil.) Ja, genau wie ich mir dachte. In deinem Profil stecken noch ungeahnte Ressourcen. Den jungen Leuten mangelt es heute an Prinzipien und am Profil. Das Kinn höher, meine Liebe! Ein markanter Stil passt nicht zu herunterhängendem Kinn. Man trägt das Kinn heutzutage sehr hoch, Antonius!
Antonius Ja, Tante Augustine.
Augustine Ich sehe ganz definitiv große Perspektiven für Fräulein Campe in ihrem Profil.
Antonius Charlotte ist das süßeste, netteste, attraktivste Mädchen auf der ganzen Welt. Und ihre „großen Perspektiven“ sind mir so was von egal.
Augustine Rede niemals abfällig über die bessere Gesellschaft, Antonius. Das tun nur diejenigen, die niemals dazugehören werden. (zu Charlotte) Mein liebes Kind, du weißt hoffentlich, dass Antonius nichts als seine Schulden mit in die Ehe bringen wird. Aber das war bei mir auch nicht anders. Als ich Herrn Brommer heiratete, hätte ich nicht im Traum daran gedacht, ihm das vor der Hochzeit zu erzählen. Eine gute Ehe hält auch so. (nachdenklich) Also, nach reiflicher Überlegung muss ich doch eurer Verlobung zustimmen.
Antonius Danke, Tante Augustine.
Augustine Charlotte, du darfst mich küssen.
Charlotte (küsst sie) Danke, Frau Brommer.
Augustine Ach, nenn mich doch einfach Tante Augustine.
Charlotte Danke, Tante Augustine.
Augustine Es wäre wohl besser, wenn die Hochzeit möglichst bald stattfindet.
Antonius Danke, Tante Augustine.
Charlotte Danke, Tante, Augustine.
Augustine Um ganz ehrlich zu sein, war ich noch nie für lange Verlobungszeiten. Die geben den beiden jungen Leuten zu viel Zeit, um eine Menge über den Charakter des anderen herauszufinden, und das tut einer Ehe nie gut.
Hannes Frau Brommer, es tut mir ja Leid, das junge Glück zu stören, aber diese Verlobung, geschweige denn Heirat, ist völlig unmöglich. Ich bin Charlottes Vormund, und daher kann sie nicht ohne mein Einverständnis heiraten. Und angesichts der gegenwärtigen Umstände werde ich dieses Einverständnis niemals geben.
Augustine Und warum nicht? Was sollen das für „Umstände“ sein? Antonius ist ein junger, respektabler Mann. Er hat nichts, sieht aber so aus, als hätte er alles. Was kann man sich noch wünschen?
Hannes Diese von mir erwähnten „Umstände“, Frau Brommer, beziehen sich auf Ihren Neffen. Genauer gesagt, auf seinen moralischen Charakter. Er ist ein unehrlicher Mensch. (Antonius und Charlotte schauen ihn mit fassungslosem Gesichtsausdruck an.)
Augustine Unehrlich! Mein Neffe Antonius? Unmöglich. Er hat Jura studiert.
Hannes Ich fürchte, da gibt es keinen Zweifel. Ihr Neffe hat heute Nachmittag die Zeit, in der ich nicht zuhause war, schamlos ausgenutzt, um mein Haus unter falschem Namen zu betreten. Und was noch schlimmer ist: er hat vorgegeben, mein Bruder zu sein. Mit Hilfe dieser falschen Identität hat er – Emma hat es mir erzählt – eine ganze Flasche meines besten Champagners ausgetrunken. Ein edler Tropfen, den ich ausschließlich für mich reserviert hatte. Aber damit nicht genug: in diesem angeheiterten Zustand hat er es geschafft, die Zuneigung meines einzigen Vormunds für sich zu gewinnen. Und es kommt noch schlimmer: er blieb zum Tee und verspeiste jeden einzelnen Muffin! Das Herzloseste an der ganzen Angelegenheit ist, dass er genau wusste, dass ich gar keinen Bruder habe, dass ich nie einen hatte und mit Sicherheit nicht beabsichtige, mir einen anzuschaffen. Das habe ich ihm in aller Klarheit noch gestern Abend gesagt.
Augustine (peinlich berührt) Also … na ja, nach großzügiger Berücksichtigung der … näheren Umstände bin ich bereit, das Verhalten meines Neffens zu … ignorieren.
Hannes Sehr großzügig von Ihnen, Frau Brommer, aber meine Entscheidung bleibt, wie sie ist. Ich kann mein Einverständnis auf keinen Fall geben.
Augustine (zu Charlotte) Komm mal her, mein Kind. (Charlotte geht zu ihr.) Wie alt bist du, meine Liebe?
Charlotte Also, eigentlich bin ich erst siebzehn, aber bei Dinnerpartys sage ich immer, ich sei schon achtzehn.
Augustine Genau richtig, meine Kleine. Keine Frau sollte sich durch ihr wahres Alter tyrannisieren lassen. Kleine taktische Änderungen, an der richtigen Stelle angebracht, wirken oft Wunder. (nachdenklich) na ja, in einem Jahr bist du volljährig und damit unabhängig von der Fuchtel deines (blickt kalt zu Hannes) Herrn Vormunds.
Hannes Es tut mir Leid, Sie schon wieder enttäuschen zu müssen, aber da wäre noch ein klitzekleines Problem. In seinem Testament hat Charlottes Großvater bestimmt, dass sie erst über ihr Vermögen verfügen kann, wenn sie 35 ist.
Augustine Das scheint mir kein großer Hinderungsgrund zu sein. 35 ist ein sehr attraktives Alter. Auf den angesagten Hamburger Partys trifft man immer wieder auf Damen, die schon lange 35 sind. Eine meiner besten Freundinnen, Erdmuthe, ist schon 35 seit ihrem vierzigsten Geburtstag, und der ist auch schon wieder eine Weile her. Ich denke, unsere gute Charlotte wird auch mit 35 noch so attraktiv sein wie heute. Hinzu kommt noch das Vermögen, das sie bis dahin angesammelt hat.
Charlotte Toni, würdest du auf mich warten, bis ich 35 bin?
Antonius Aber natürlich, Charlotte. Du weißt doch, dass ich alles für dich tue.
Charlotte Ja, das wusste ich, Toni. Das Problem ist nur, dass ich nicht warten kann. Ich hasse es, zu warten! Ich selbst bin natürlich nie pünktlich, aber wenn andere mich warten lassen, werde ich zur Furie. Und sogar das Warten auf meine Hochzeit bringt mich auf die Palme.
Antonius Ja, und was sollen wir da machen?
Charlotte Keine Ahnung, Toni. Ich weiß es wirklich nicht.
Augustine Mein werter Herr Werther, sie haben ja gehört, dass Charlotte ein etwas ungeduldiges Gemüt besitzt und nicht warten kann, bis sie 35 wird … Könnten Sie Ihre Entscheidung nicht noch einmal überdenken? Sie wollen doch sicher nicht dem jungen Glück im Wege stehen!
Hannes Meine liebe Frau Brommer, die ganze Angelegenheit liegt jetzt bei Ihnen. Sobald Sie der Hochzeit mit mir und Greta zustimmen, werde ich ein gutes Wort bei Petersen, Petersen und Petersen einlegen, damit die liebe Charlotte bereits jetzt an ihre Vermögenswerte kommt.
Augustine (steht auf) Es ist Ihnen doch wohl klar, dass das völlig unmöglich ist. Wie bereits gesagt, ich werde nicht zulassen, dass meine Tochter sich mit einem Gepäckschließfach verheiratet.
Hannes In diesem Fall sehen wir alle einer langen, leidenschaftlichen Zeit der Enthaltsamkeit entgegen. Das Leben der Nonnen in ihren Klöstern soll ja heute auch aufregender sein als allgemein angenommen.
Augustine Um Himmels Willen! So eine Zukunft hatte ich mir für Greta nicht vorgestellt. Antonius kann natürlich machen, was er will. (schaut auf die Uhr) Greta, wir haben hier nichts mehr verloren. (Greta steht auf.) Es ist Zeit zu gehen. Wenn wir noch länger bleiben, geraten wir womöglich in tiefere theologische Diskussionen, und die enden meist ziemlich unbefriedigend.
(Dr. Severin herein.)
Severin Alles wäre jetzt für die Taufe bereit.
Augustine Die Taufe? Was für eine Taufe? Ist das nicht ein bisschen verfrüht? Ich wusste doch, dass diese Heideluft die Reproduktionsrate enorm erhöht.
Severin (verwirrt) Also, diese beiden Herren haben den Wunsch geäußert, getauft zu werden. Und das noch heute!
Augustine In dem Alter? Was für eine groteske Idee! Antonius, ich verbiete dir solch einen Unsinn. Dein Vater würde sich nur unnötig aufregen, wenn er hört, womit du hier dein nicht vorhandenes Geld verplemperst.
Severin Das heißt, jetzt wollen Sie doch nicht getauft werden?
Hannes So wie es jetzt aussieht, wäre der ganze Aufwand wohl kaum von Nutzen für uns.
Severin Es betrübt mich sehr, das zu hören. Vielleicht interessiert es Sie zu erfahren, dass ich in meiner Zeit als Theologiedozent diverse Abhandlungen über dieses Thema verfasst habe. Mein damals hoch beachtetes Papier trug den Titel „Taufe als moralischer Imperativ – Sind Ungetaufte trotzdem gute Menschen?“ Na ja, wie ich sehe, kreisen Ihre Gedanken mehr um weltliche Angelegenheiten. Ich werde dann mal zurück in meine Kirche. Wie mir der Küster mitteilte, wartet Fräulein Prätorius dort schon seit anderthalb Stunden auf mich.
Augustine (fährt hoch) Prätorius? Hatten Sie eben ein Fräulein Prätorius erwähnt?
Severin Aber ja, ich werde sie gleich treffen.
Augustine (erregt) Bitte warten Sie noch einen Moment. Diese Angelegenheit könnte von äußerster Wichtigkeit für uns alle werden. Dr. Severin, ist dieses Fräulein Prätorius eine weibliche Person mit abstoßendem Charakter und hat entfernt etwas mit Pädagogik zu tun?
Severin (entrüstet) Sie ist eine äußerst kultivierte Dame und das Ebenbild eines moralischen Menschen.
Augustine Wir reden offensichtlich von derselben Person. Darf ich fragen, welche Rolle sie in Ihrem Leben spielt?
Severin Also bitte, ich bin unverheiratet.
Hannes Fräulein Prätorius ist seit drei Jahren Charlottes Hauslehrerin und Gouvernante.
Augustine Ich muss diese Person sofort sprechen. Sie soll herkommen.
Severin (schaut sich um) Da kommt sie ja, sie ist schon nah.
(Prätorius eilt heran.)
Prätorius Lieber Dr. Severin, ich habe schon seit über anderthalb Stunden auf Sie gewartet. Und da ich dachte, Sie hätten mich vergessen, bin ich …. (Prätorius erblickt Augustine und erstarrt vor Schreck. Augustines Blick könnte töten. Prätorius wird leichenblass, blickt sich um wie ein in die Enge getriebenes Tier. Der Fluchtversuch steht ihr auf die Stirn geschrieben.)
Augustine (mit harter, diktatorischer Stimme) Ottilie Prätorius! (Prätorius schrumpft förmlich zusammen.) Ottilie Prätorius, ja, Sie sind es. (geht langsam, fast bedrohlich auf sie zu; Prätorius wimmert. Sie sieht aus, als erwarte sie Schläge.) Nach all den Jahren. Wer hätte gedacht, dass wir uns je wiedersehen, nicht wahr? (Die anderen auf der Bühne reagieren auf diese unverhoffte Wendung mit Unglauben, Schock und Entsetzen.)
Du hattest wohl geglaubt, dich hier in der Heide verstecken zu können, was? Aber jetzt hab ich dich endlich gefunden. (Pause) Wo ist das Baby?
(Antonius und Hannes erstaunt, Charlotte und Greta schreien kurz auf.)
Heute vor 28 Jahren – ich werde diesen Tag nie vergessen – haben Sie das Haus von Professor Dr. Konrad Brommer verlassen. In Ihrer Obhut befand sich ein Kinderwagen, darin ein Baby männlichen Geschlechts. Der Stolz der Familie! Sie (mit dem Zeigefinger auf Prätorius) sind seitdem spurlos verschwunden. Ein paar Tage später fand die Hamburger Polizei den Kinderwagen in der Nähe der Reeperbahn – um drei Uhr morgens! Das Baby fehlte jedoch. Eine groß angelegte Suche der Sonderkommission „St. Pauli-Baby“ blieb jedoch ohne Erfolg. Statt des Babys fand die Polizei im Kinderwagen das Manuskript eines außergewöhnlich kitschigen Liebesromans, das von unerfüllter Liebe zu einem katholischen Theologiestudenten handelte. (Prätorius zuckt zusammen.) Ottilie Prätorius! (laut und prononciert) Wo – ist – das – Baby?
Prätorius (langsam, mit verzweifelter, zittriger Stimme) Frau Brommer, ich weiß es nicht. Ich wünschte, ich wüsste es. Dieser Tag, den Sie gerade beschrieben, ist der schwärzeste Tag in meinem Leben. Ich werde ihn nie vergessen, und mehr als einmal habe ich mir gewünscht, ich könnte alles wieder gut machen. Die Wahrheit ist die: An diesem Tag hatte ich wie gewöhnlich das Baby zum Ausfahren im Kinderwagen fertig gemacht. Ich hatte außerdem, wie üblich, meine schöne, große Handtasche mit, in die ich mein neues Romanmanuskript legen wollte, das ich in meinen wenigen freien Stunden verfasst hatte. (schluchzt) In einem kurzen Augenblick der Träumerei habe ich das Manuskript in den Kinderwagen und … das Baby in die Handtasche gelegt.
Hannes (hat die ganze Zeit aufgeregt zugehört; erregt) Und was haben Sie mit dieser Handtasche gemacht?
Prätorius (weinend) Bitte fragen Sie mich nicht. Es ist alles so schlimm.
Hannes Fräulein Prätorius, dies ist eine sehr ernste Angelegenheit für mich. Ich muss unbedingt wissen, was mit der Handtasche passiert ist.
Prätorius Ich habe Sie aus Versehen stehen gelassen und nie wieder bekommen.
Hannes Fräulein Prätorius, wo war das genau? Erinnern Sie sich.
Prätorius In einem Hamburger Bahnhof.
Hannes (sehr aufgeregt) Welcher Bahnhof? Fräulein Prätorius!
Prätorius (verzweifelt) Am Dammtorbahnhof. (sinkt im Stuhl zusammen)
Hannes Entschuldigt mich bitte für einen Augenblick. Ich bin gleich wieder da. Bitte warte hier, Greta.
Greta Wenn es nicht zu lange dauert, würde ich für dich mein ganzes Leben lang warten.
(Hannes ab in großer Aufregung.)
Severin Frau Brommer, was hat das alles zu bedeuten?
Augustine Ich wage es nicht einmal zu vermuten. In unseren Kreisen sind solche unerwarteten Ereignisse nicht erwünscht. Wir pflegen gewöhnlich dem Schicksal nachzuhelfen, nicht umgekehrt.
(Von oben hört man polternde Geräusche. Alle schauen nach oben.)
Charlotte Onkel Hannes ist ganz schön erregt.
Severin Ihr Vormund hat ein sehr emotionales Wesen.
Augustine Dieser Lärm macht mich unruhig. Das hört sich an, als würde er sich mit jemandem streiten. Und Streit kann ich nun einmal nicht ausstehen. Vor allem, wenn man am Ende den Kürzeren zieht.
Severin (schaut hoch) Der Lärm hat aufgehört. (Die Geräusche gehen weiter – mit doppelter Lautstärke.)
Augustine Wenn er doch endlich findet, was er sucht!
Greta Die Spannung ist ja unerträglich. Hoffentlich dauert das Ganze hier noch lange!
(Hannes herein mit einer schwarzen Lederhandtasche.)
Hannes (stürzt zu Prätorius) Ist das Ihre Handtasche? Schauen Sie genau hin. Von Ihrer Äußerung hängt das Glück vieler Menschen ab.
Prätorius (überraschend ruhig) Das scheint meine zu sein. Ja, hier ist die Schramme an der Unterseite. Ich hatte die Tasche bei einer U-Bahn-Fahrt aus Versehen in der automatischen Tür eingeklemmt und konnte sie erst wieder an der nächsten Station befreien. Und hier, ja! Da ist ja der Limonadenfleck! In einem völlig unverständlichen Anfall von Extravaganz hatte ich mir eine Flasche Limonade gekauft, die dann leider an einem wunderschönen Augusttag auf der Tasche geplatzt ist. Die Initialen! Hier: „O.P.“ Als ich noch jung, glücklich und unerfahren war, glaubte ich, meine Tasche durch das Anbringen meiner Initialen aufwerten zu müssen. (träumerisch) Was waren das doch für schöne Zeiten. (eher sachlich) Kein Zweifel, das ist meine Tasche. Wie schön, sie endlich wiederzubekommen. Es war ziemlich umständlich, 28 Jahre ohne Handtasche auszukommen.
Hannes (pathetisch) Fräulein Prätorius, nicht nur Sie haben etwas wiederbekommen. Ich habe meine Identität wiederbekommen. Ich war das Baby in der Handtasche!
Prätorius (erstaunt) Sie?
Hannes Ja! (umarmt sie stürmisch) Mutter!
Prätorius (versucht ihn abzuwehren) Herr Werther, ich war noch nie verheiratet!
Hannes (leicht verwirrt) Noch nie verheiratet? Aber was macht das schon? Ich wäre jedenfalls der Letzte, der dies einer Frau übelnehmen könnte! Und solange ein Kind geliebt wird, ist es doch völlig egal, ob es ehelich oder unehelich zur Welt kommt. So viele gute Mütter sind heutzutage allein erziehend und mühen sich redlich, ihre Kinder für die Widrigkeiten des Lebens fit zu machen. Mutter, ich verzeihe dir! (versucht wieder, sie zu umarmen.)
Prätorius Herr Werther, so gern ich mich von einem jungen Mann umarmen lasse … (zeigt auf Augustine) … dies ist jedoch die Frau, die Ihnen sagen kann, wer Sie wirklich sind.
Hannes (verwirrt) Frau Brommer, Sie sind doch nicht etwa meine …
Augustine Um Himmels Willen, nein.
Hannes Wer bin ich dann? Ich möchte ja nicht neugierig wirken, aber interessieren würde es mich schon.
Augustine (setzt sich langsam und gewichtig) Wahrscheinlich wird Ihnen die Wahrheit nicht passen, Herr Werther, aber Sie sind der Sohn meiner verstorbenen Schwester, Florentine Mommsen, und somit …
Hannes (führt entsetzt den Satz fort) … Tonis Bruder!
Augustine So ist es.
Hannes Ich habe einen Bruder! Ich habe wirklich einen Bruder! Ich hab doch die ganze Zeit gesagt, dass ich einen Bruder habe! Also, wie konntet ihr das je anzweifeln? Charlotte, darf ich dir meinen Bruder vorstellen? (greift sich Antonius) Dr. Severin, mein Bruder. Fräulein Prätorius, mein Bruder.
Greta, mein Bruder. Weißt du, Toni, in Zukunft kannst du mich nicht mehr so frech behandeln, jetzt, wo ich dein Bruder bin. Und überhaupt – du hast mich nie wie einen Bruder behandelt!
Antonius Stimmt. Aber ich gelobe Besserung, versprochen!
(Die beiden schütteln sich die Hände und umarmen sich herzlich.)
Greta (zu Hannes) Mein liebster … (erschrickt) ja, mein liebster was? Wie heißt du denn nun eigentlich? Ich weiß, es ist sehr oberflächlich von mir, aber ich finde, eine zukünftige Ehefrau sollte rechtzeitig darüber informiert werden, wie ihr Verlobter eigentlich heißt.
Hannes Um Himmels Willen, diese ganze Namensangelegenheit hatte ich ja völlig vergessen. Hast du deine Meinung bezüglich meines Namens denn inzwischen geändert?
Greta Ich ändere nie meine Meinung, außer bei Ehestreitigkeiten. Aber noch sind wir ja nicht soweit. Also …
Charlotte Was für ein edles Geschöpf du doch bist, Greta!
Hannes Dann müssen wir die Frage schnellstens aufklären. (zu Augustine) Als Fräulein Prätorius mich in der Handtasche liegen gelassen hatte, hatte ich da schon einen Namen?
Augustine Aber natürlich! Ihre Eltern haben Sie von vorn bis hinten verwöhnt. Kein Luxus der Welt war ihnen zu teuer.
Hannes (freudig erregt) Ich habe also wirklich einen Namen! Frau Brommer, wie heiße ich? Bitte sagen Sie es mir. Ich bin auf das Schlimmste vorbereitet.
Augustine (nachdenklich) Als ältester Sohn einer alteingessenen Senatorenfamilie erhielten Sie natürlich den Namen Ihres Vaters.
Hannes (ungeduldig) Und wie hieß mein Vater?
Augustine (langsam) Hmm, lassen Sie mich nachdenken … Der Name fällt mir im Augenblick nicht ein, aber ich weiß genau, dass er einen hatte. Er war ein etwas seltsamer Mensch. Nicht nur, dass er über vierzig Jahre mit derselben Frau verheiratet war, nein, er war auch noch sehr lange als deutscher Botschafter in London tätig und litt zeitlebens an Blähungen. Ob da ein Zusammenhang besteht, kann ich natürlich nicht sagen.
Hannes Toni, weißt du nicht, wie unser Vater hieß?
Antonius Aber woher denn? Ich habe kaum mit Vater gesprochen. Er starb, als ich ein Jahr alt war, und in der Zeit hat er mir nie seinen Namen verraten.
Hannes (verzweifelt) Aber es muss doch eine Möglichkeit geben, seinen Namen herauszufinden. (hat eine Idee) Frau Brommer, unser Vater war doch Senator in der Bürgerschaft, nicht wahr? Da muss es doch noch Dokumente geben, Sitzungsprotokolle, Abgeordnetenlisten oder irgend so etwas.
Antonius Kannst du dich nicht erinnern, dass ich dir vor ein paar Jahren die Kopie einer Doktorarbeit zum Geburtstag geschenkt hatte? Du weißt doch, die von diesem Freund von mir, der nachweisen wollte, dass die Hamburger Senatoren alle miteinander verwandt sind. Sein Ziel war es, die Fehlentscheidungen der Bürgerschaft durch fortgesetzte Inzucht zu erklären. Soweit ich weiß, waren da historische Listen der Senatoren der gesamten Nachkriegszeit verzeichnet. Vielleicht hast du das Buch ja nicht sofort weggeworfen.
Hannes Aber natürlich! Gleich als du es mir geschenkt hast, habe ich es sorgfältig ins oberste Regal gelegt, damit es ja nicht beschädigt wird. (läuft zum Bücherregal) Warte mal, wo ist es denn … nein, hier nicht … (findet es) ja! Hier ist es! (nimmt es heraus und blättert wild darin herum) Ja, hier sind tatsächlich Namenslisten! Warte mal … hier … Matuschek … Marwede … Methfessel … Morlang … was für schreckliche Namen es doch gibt! Hier … Mommsen, Senator von 1956 bis 1969, Vorname …
(Alle Anwesenden schauen Hannes erwartungsvoll an.)
Hannes (denkt kurz nach, klappt das Buch zu und stellt es bedächtig wieder an seinen Platz im obersten Regal, dreht sich um und schaut Greta an) Greta, ich habe es dir doch immer gesagt! Wie konntest du nur an mir zweifeln? Er hieß natürlich … Ernst! Und ich heiße auch Ernst!
Augustine Ja, jetzt, wo Sie’s sagen, fällt es mir wieder ein. Ich wusste doch, dass ich diesen Namen noch nie mochte.
Hannes Greta, du glaubst gar nicht, wie schrecklich ich mich fühle!
Greta Schrecklich? Wieso fühlst du dich schrecklich?
Hannes Ich fühle mich so schlecht, weil ich plötzlich gemerkt habe, dass ich mein ganzes Leben lang die Wahrheit gesagt habe – nichts als die reine Wahrheit. Greta, kannst du mir noch einmal verzeihen?
Greta Das kann ich. Denn ich weiß, dass du das nicht lange durchhältst.
Hannes Meine Liebste! (fällt ihr in die Arme und küsst sie leidenschaftlich.)
Severin (zu Prätorius) Ottilie! (fällt ihr in die Arme und küsst sie leidenschaftlich.)
Prätorius (leidenschaftlich) Endlich!
Antonius Charlotte! (fällt ihr in die Arme und küsst sie leidenschaftlich.) Endlich!
Hannes Greta! (fällt ihr in die Arme und küsst sie leidenschaftlich.) Endlich!
Augustine Mein lieber Hannes, kaum gehörst du zur Familie, schon benimmst du dich unseriös und albern.
Hannes Aber ganz im Gegenteil, (betont) meine liebe Tante Augustine, (zum Publikum) ab jetzt fängt der Ernst des Lebens erst an!
(Vorhang)
Tag der Veröffentlichung: 03.05.2019
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