Denn die Welt ist nur ein Konstrukt in unserem Kopf.
Seine Schritte durchbrachen die Stille der Nacht, als er hektisch den langen Steg zum Pier entlang ging, hoffend, das Boot sei schon angekommen. Man hörte kein Meeresrauschen – wie denn auch an diesem vermaledeiten Ort? Seine Schritte hallten vom Kopfsteinpflaster wieder und trugen ihn immer weiter durch die Dunkelheit. Licht spendeten nur die gotischen Straßenlaternen, die alle drei Meter seinen Weg kreuzten. Er knete seine Ballonmütze vor dem Bauch und blieb an dem leeren Dock stehen. Er schaute weit in die Ferne, versuchte zu erkennen, ob das Boot sich nähern würde, doch weder sah, noch hörte er etwas. Er sehnte sich nach dem Meeresrauschen, das er von seinen Reisen in Erinnerung hatte, roch das Salz in seiner Nase. Zu bizarr, dass man diesen Ort »Pier« nannte, wenn er doch wenig mit dem Meer gemein hatte. Himmelshafen, Flugboot-Platz, alles wären bessere Bezeichnung. Doch er wusste, dass es keinen Sinn mehr hatte zu reflektieren, sich an die schönen Dinge zu erinnern. Er wusste, dass alles hier, sein Leben und die Welt, bald einem Häufchen Nichts gleichen würde.
Er zog die Mütze auf, steckte die Hände in die Hosentasche und wartete auf dem Steg auf das letzte Zeichen, das ihn am Leben hielt. Würde das Boot kommen, so lebte er weiter. Würde das Boot dem Hafen fernbleiben, so war er frei. Er schmunzelte bei dem Gedanken daran. Er mochte die Freiheit, auch wenn er sie nie richtig auskosten konnte. Doch wer konnte es überhaupt? Sein Vater, der reiche, alte Sack? Nein, selbst er konnte sich mit all seinem Geld keine Freiheit kaufen. Niemand konnte je wirklich frei sein...
Er schluckte. Er würde es bedauern sie im Stich gelassen zu haben, doch auch wusste er, dass verstand, wie sehr er aus dieser Welt ausbrechen wollte. Dafür liebte er sie umso mehr.
Sein Blick wanderte durch die Dunkelheit, bis sie an der großen Kirchturmuhr hängen blieb. Es war kurz vor Mitternacht. Morgen schon würde er ein freier Mann sein. Das Boot war auch noch nicht in Sicht. Das Boot, das alles hätte verändern können. Doch offenbar kam es nicht. Wenn es heute nicht kam, würde es nie kommen.
Der Pier war nicht vollkommen frei, einige Teile, an denen die Boote nicht andockten, waren mit Holzzäunen versehen – zur Sicherheit. Eine der Laternen stand an einem günstigen Standpunkt, sodass er dorthin ging. Dieses Mal ließ er sich Zeit, er hatte nun keine Eile mehr. Das Boot würde nicht mehr kommen. Ihm blieb nun alle Zeit der Welt.
Seine Hand berührte den dunklen Stahl, der sich kalt anfühlte. Zugegeben, er hatte sich nicht die beste Jahreszeit für seinen Tod ausgesucht. Es war noch kalt, der Winter war zwar schon lange vergangen, doch der Sommer schien in weiter Ferne, die Welt blieb kalt. Kalt war diese Welt in seinen Augen ohnehin. Kalt, wie die Herzen der Menschen in dieser Stadt. Kalt, würde auch sein Körper sein, wenn er leise auf die andere Seite schwebte.
Er umfasste den Laternenmast, zog sich auf den Zaun und warf einen kurzen Blick nach unten. Er konnte die Entfernung zum endgültigen Aufprall nicht einschätzen – wer konnte das hier auch schon? - doch es sah tiefer aus, als erwartet.
Er spürte den kühlen Nachtwind auf seiner Haut, lauschte der Stille und warf einen letzten Blick auf die Stadt. Dann sah er sie. Verzweifel stand sie hunderte Meter von ihm entfernt, Tränen in den Augen und mit einer Hand das grün-weiße Blümchenkleid umklammert. Die andere Hand hielt sie verzweifel vor den Mund, dessen Lippen durch die Kälte und vor Angst zitterten.
»Tu das nicht«, flehte sie und kam näher an den jungen Mann heran. Dieser ging in die Hocke, hielt sich mit einer Hand am Laternenmast fest und drehte sich auf dem Zaun zu ihr. Traurig lächelte er, als sie vor ihm stand und er ihre Hand nahm.
»Es tut mir unendlich Leid«, sagte er und drückte ihr einen Kuss auf den Handrücken.
»Wieso tust du es dann? Wieso können wir nicht weitermachen, wie bisher?«, fragte sie mit bebender Stimme und Tränen liefen an ihren Wangen herab. Sie zog die Nase hoch, wollte versuchen wie eine starke Frau zu wirken, doch es gelang ihr nicht. Zu sehr schmerzte sie der Gedanke, den einzigen Menschen zu verlieren, der in dieser Stadt immer für sie da war. Zu sehr schmerzte es, den Mann zu verlieren, den sie liebte.
»Kommst du ohne mich klar?«, fragte er zärtlich, ließ ihre Hand los und strich ihr über die Wange. Eine Träne bahnte sich den Weg zu seinen Fingern und elegant wusch er sie von ihrer sanften Haut.
Sie schüttelte den Kopf und ihr kurzes Haar flog durch den Nachtwind.
»Ich möchte, dass du weißt, dass du immer meine Juliet sein wirst und ich immer dein Romeo«, sagte er milde lächelnd und fuhr ihr durchs Haar. Er mochte es, durch ihr weiches Haar zu fahren, er mochte es in ihre dunklen Augen zu sehen, deren Blick sonst nie so schmerzte, wie zu diesem Augenblick. Er konnte nicht ertragen, dass er sie verlassen musste, doch es war besser so. Für ihn, für sie, für die ganze Welt.
»Muss es denn so enden wie bei Shakespeare?«
Ein kleines, amüsiertes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht, als er ihre Worte vernahm. Doch sogleich war er wieder ernst und in der Luft lag Abschied.
»Ich fürchte ja«, sagte er und sie begann erneut zu schluchzen.
»Ich liebe dich, Juliet«, waren seine letzten Worte, ehe er sie zärtlich küsste und einen Atemzug später vom Zaun kippte und dem Weg in die Freiheit folgte.
Texte: (c) Elise C. Cartrose
Bildmaterialien: "Rgb bei Nacht" (c) Elise C. Cartrose, bearbeitet via Picmonkey
Tag der Veröffentlichung: 30.09.2015
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle nach Freiheit Sehnenden, für alle Liebenden, für alle Korrupten.
Für jeden.