Cover

Vorwort

 

 

 

 

 

 

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Lieber Leser, liebe Leserin


Ich wünsche dir viel Spaß bei meiner Geschichte "Tales of Hidden Creek" :)

Ich würde mich sehr über deine Meinung freuen!

 

 

* * *

ECC

Prolog


Busfahrpower

 

Ruhig schien die Nachmittagssonne auf das klare Wasser des Bächleins, das fröhlich vor sich hin floss. Vogelgezwitscher und Geraschel in den Laubbäumen machte sich in der Natur breit und bei jedem kleinen Windstoß schwebten rot-gelbe Blätter auf den Boden zu. Es war ein schöner, aber kühler Herbsttag.

Still hatte er seine Unterarme auf dem hölzernen Geländer der Brücke abgelegt und schaute nachdenklich in die Ferne. Der Blick seiner dunkelblauen Augen schweifte über die Dächer der Stadt, die ein paar Kilometer vor ihm lag. Der herbstliche Duft von Kastanien und Regen kitzelte ihn in seiner Nase, an der er sich kurz kratzte, ehe seine Aufmerksamkeit von etwas Anderem erfasst wurde. Er spürte wie sich etwas an seinem Bein rieb und der Stoff der Jeans scharrte an seiner Haut. Der junge Mann schaute über seine Schulter nach unten und erblickte das kleine, flauschige Wesen.

»Karni, ich hatte dir doch gesagt, du sollst mir nicht folgen«, sagte er zu dem Wesen, das ihn verständnislos mit großen grünen Augen ansah. Mit einem Quieken plusterte sich das Wesen wie ein Vogel auf, schüttelte das pinkfarbene, wuschelige Fell und begann auf der Stelle auf und ab zu hüpfen.

»Quiek, quiek«, antwortete es und er schmunzelte. Er ging in die Hocke und streckte dem Wesen seine Hand entgegen.

»Ich weiß«, sagte er beschwichtigend, als hätte er verstanden was das Wesen gesagt hatte und es sprang auf seinen Arm. Es war etwa so groß wie ein Plüsch-Teddybär, hatte die großen Augen einer Eule, glich sonst aber keinem uns bekannten Wesen. Sein Fell war weich, wie das eines Schafes und sein Kopf ging ohne eine Art Hals in seinen Körper über. Es war sehr rund und besaß auch nur zwei kleine Pfoten ähnlichen Füße unter dem runden Körper.

»Quiek«, erklang es erneut aus dem Wesen, das der junge Mann Karni genannt hatte.

»Du bist unmöglich. Nächstes Mal bleibst du Zuhause, ja? Hier ist es viel zu gefährlich für dich.« Er stand auf, während Karni begann es sich in seinen Armen bequem zu machen und sich an seine Brust schmiegte. Ein beleidigtes Quieken erklang auf seine Aussage hin und er begann fürsorglich durch ihr Fell zu streicheln.

»Jetzt sei nicht schon wieder eingeschnappt, du weißt, dass ich mir nur Sorgen mache...«

Karni quiekte erneut, diesmal klang es aber weitaus fröhlicher. Karni mochte es, wenn man ihr das Gefühl gab sie sei wichtig genug, dass man sich Sorgen um sie machte. Sie quiekte weitere Male und sprang dann mit einem kräftigen Hopps auf seine Linke Schulter. Dort schmiegte sie sich erneut an seine Haut und fiepte leise vor Freude. Doch der junge Mann unterband ihre Kuscheleinheit recht schnell.

»He, Karni, für Kuscheln haben wir nachher Zuhause noch genug Zeit.«

»Quiek?«

»Wir gehen nach Hause, wenn ich meinen Job getan hab.«

Karni schaute ihn fragend an, hopste aber gleich von seiner Schulter runter.

»Davon hab ich dir doch erzählt. Ich muss das Buch abgeben«, er trat mit seinem Fuß sanft gegen den Rucksack, der neben ihm auf dem mit Laub bedeckten Boden lag und den erwähnten Gegenstand beinhaltete. »Wir müssen nur noch warten bis-«

Er fuhr hoch. Überrascht, verwundert und mit ansteigendem Ärger schaute er die Person an, die gerade gut gelaunt mit einem schelmischen Lächeln auf den Lippen um die Ecke geschlendert kam.

»Blake, Bruderherz, was für eine schöne Überraschung«, sagte der Fremde mit einem gewissen spöttischen Unterton als er vor dem Schwarzhaarigen stehen blieb und diesen arrogant anlachte.

»Braxton«, stellte Blake verwundert fest, zog aber sogleich misstrauisch die Augenbrauen zusammen und schob kaum merklich den Rucksack mit dem Fuß weg. Es konnte kein gutes Zeichen sein, wenn Braxton hier auftauchte... er war nicht der vereinbarte Kontaktmann.

»Was hast du hier verloren?«, zischte Blake seinen Bruder an.

»Ich komme abholen, was mir gehört. Ich hab nicht viel Zeit für Diskussionen, also gib mir das Buch«, drängte Braxton und streckte die Hand aus. Blakes Fuß schob den Rucksack noch ein Stückchen weiter aus Braxtons Reichweite, während er von dessen dunkelgrauen Augen auffordernd angeschaut wurde.

»Du bist nicht der Kontaktmann. Ich soll es Alistair geben und werde es auch nur ihm geben. So lautet der Deal.«

»Der Deal ist geplatzt. Du sollst es mir geben«, konterte der dunkelhaarige Braxton und machte eine auffordernde Geste. Immer noch schaute Blake seinen Bruder misstrauisch an. Er beobachtete ihn von oben bis unten und bemerkte, dass er nichts bemerkte. Braxton sah aus wie immer – zumindest so wie an den Tagen als sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Blake dachte kurz darüber nach, ob es weise gewesen wäre Braxton das Buch auszuliefern. Er hatte klare Anweisungen von oben bekommen, dass er das Buch nur Alistair und niemandem sonst aushändigen sollte und er hatte keinen Grund seinem Bruder zu vertrauen.

Der Herbstwind blies sanft durch Blakes schwarzes Haar, während er sich Zeit ließ, sich die möglichen Konsequenzen im Geiste aufzusagen.

»Und?« Braxtons Stimme bekam einen gereizten Unterton. Er hatte wenig Zeit und hasste es, wenn sein Bruder ihn warten ließ. Doch dieser genoss es wiederum.

»Wie bereits erwähnt, soll ich es nur Alistair geben. Und nur ihm«, mit diesen Worten schnappte er sich den Rucksack, wies Karni nickend an ihm zu folgen und machte sich auf den Rückweg. Wenn die dort oben ihm nicht Alistair zur Übergabe schickten, dann hatten sie eben selbst Pech. Sie waren schließlich diejenige, die das Buch in ihrem Besitz sehen wollten. Blake hatte kein Problem damit es länger zu behalten. Braxton seufzte.

»Alistair ist tot...« Diese Aussage Braxtons ließ Blake abrupt stehen bleiben. Skeptisch drehte er sich um und schaute seinen Bruder an.

»Was? Das ist nicht dein Ernst?«, fragte er nach und Karni quiekte zustimmend und ebenso misstrauisch.

»Das ist mein Ernst. Er wurde heute Nacht von Lakaien des Roten Ritters umgebracht. Nahe dem Schlachtfeld von Rich Mountain. Deshalb bin ich hier. Ich soll es an seiner Stelle den Obersten bringen. Also gib mir das verdammte Buch.« Braxtons Blick war kalt und starr, doch Blake erkannte, dass er die Wahrheit sprach, er kannte ihn zu gut. Doch konnte er auf ihn zählen?

»Woher soll ich wissen ob ich dir vertrauen kann? Das Buch ist zu kostbar und nach all den Dingen, die du-«

»Ich bin dein Bruder, schon vergessen? Brüder vertrauen einander und verraten sich nicht«, Braxton lächelte mild, doch Blakes Miene blieb misstrauisch, als sein Bruder erneut fragte: »also gibst du mir das Buch?«

 

* * *

 

»Hidden Creek ist eine Kleinstadt im Monongalia County im Norden des US-amerikanischen Bundesstaats West Virginia. Sie liegt ungefähr 35 Meilen süd-östlich von Morgantown zwischen Bruceton Mills und Kingwood. Hidden Creek wurde 1794 von dem deutschen Arzt Frank Forster und Morgantown-Gründer Zackquill Morgan gegründet. Seit dem 2010-Cencus hat die Stadt eine konstante Einwohnerzahl von circa 15.402 Einwohnern...« Erneut las sie sich den Wikipedia-Eintrag der Kleinstadt durch in der sie die nächsten paar Tage verbringen würde. Gedankenverloren fuhr sie mit den Fingerspitzen über die Tasten ihrer Laptoptastatur und öffnete die Suchmaschine. Sie tippte den Begriff in die Suchleiste ein und klickte dann auf die Bildersuche. Da war es: ein Buch, von der Größe eines Lexikons, mit braunem Ledereinband und dicken, schwarzen Lettern. Von Séancen, Glaube und Magie: Eine Geschichte der okkultistischen Gesellschaft Amerikas ab dem 18. Jahrhundert lautete der Titel und dieses Buch war genau das wonach sie gesucht hatte. Die langen Nächte in der Bibliothek und vor dem PC, die vielen Recherchen, nur um diese eine, ultimative Quelle zu finden um ihre wissenschaftliche Arbeit zu beenden, hatten sich nun ausgezahlt. In einer kleinen Bibliothek im Herzen der Stadt Hidden Creek sollte dieses Buch in einem der hundert Regale stehen – und sie würde es in ihren Händen halten.

Sie hob den Kopf und steckte sich eine lockige Strähne ihres braunen Haares hinter eines ihrer Ohren. Sie spürte wie ihr Handy in ihrer Hosentasche vibrierte und klingelte und unelegant versuchte sie es aus der engen Tasche heraus zu ziehen. Ihr Sitznachbar, ein Mann mittleren Alters, offensichtlich Geschäftsmann von Beruf schaute kurz von seinem Tablet-PC auf und schenkte ihr über die Brillengläser einen unfreundlichen Blick und sie entschuldigte sich schnell milde lächelnd.

Sie schaute auf das Display und las den Namen Pete. Ohne zu zögern tippte sie auf das Icon mit dem grünen Hörer und lauschte der vertrauten Stimme ihres besten Freundes, der ihrem Trip ziemlich negativ entgegen gestanden hatte.

 

|| »...und das willst du wirklich machen, Nora? Einfach so die Universität wechseln?« Verwundert schaute der blonde Lockenkopf seine Freundin an. Sie schloss die Tür ihres grauen Spinds und hing sich ihre Umhängetasche um.

»Nein, Pete. Nicht wechseln. Nur für meine Hausarbeit recherchieren, mehr nicht«, antwortete sie und machte sich auf den Weg zur nächsten Vorlesung. Sie hatte es Pete schon so oft erklärt und trotzdem verstand er ihren Trip nach West Virginia immer noch als endgültiger Wechsel. Dabei war er es doch gar nicht.

»Ich verstehe aber immer noch nicht wieso du für eine Hausarbeit in das über Tausend Meilen entfernte Virginia reisen musst. Für eine einfache Hausarbeit. Wäre es deine Bachelor-Arbeit würde ich es ja noch ansatzweise verste- nein, selbst dann nicht. Nicht mal wenn du promovieren würdest. Also bitte erkläre es mir mal endlich« Pete folgte Nora den langen Gang entlang, während andere Studenten ihren Weg kreuzten. Pete hatte ordentliche Probleme mit Nora Schritt zu halten, denn die anderen Studenten machten nicht gerade viel Platz um an ihnen vorbei zu kommen.

Genervt blieb Nora stehen und drehte sich zu Pete um.

»Ich hab es dir schon ungefähr fünfzehn Mal erklärt. Würdest du zuhören, wüsstest du meine Antwort. Außerdem ist es West Virginia.« Mit einem ernstem Blick ihrer grün-braunen Augen schaute sie ihren besten Freund an, der sofort beleidigt konterte:

»Hey, jetzt werd' nicht schnippisch. Ich weiß doch wie oft du es mir schon erklärt hast, aber ich verstehe es immer noch nicht. Ich weiß nur noch, dass es um irgendein Buch geht, dessen große Wichtigkeit für deine Hausarbeit ich nicht ganz erkennen kann.«

»Dann erkläre ich es dir jetzt zum sechzehnten Mal – und zum Letzten: dieses Buch beinhaltet alles wovon eine Anthropologin träumen könnte. Trends, Statistiken zur kulturellen Entwicklung der Esoterik und des Okkultismus in unserer Gesellschaft. Es ist wie die Bibel – nur eben für esoterisch Interessierte. Dort sind so viele Texte und Geschichten von Zeugen abgedruckt, die ich super für meine Hausarbeit benutzen kann«, antwortete Nora und setzte sich wieder in Bewegung. Hoffentlich hatte Pete endlich verstanden wie wichtig dieses Buch für Nora war.

»Aber du studierst nicht mal Anthropologie. War die Hausarbeit nicht in Literaturwissenschaft? Wie kann man da ein Buch zum Thema Okkultismus verwenden?«

Pete und Nora betraten nun den nächsten Hörsaal und setzten sich auf die ersten freien Plätze, die sie sahen.

»Ja, ich untersuche in meiner Arbeit paranormale Phänome und ihre Umsetzung in der Literatur. Um diese allerdings zu einem Teil verstehen zu können, muss ich auch etwas über den Standpunkt des Paranormalen in der Geschichte der Menschheit und der Gesellschaft herausfinden, wozu das Buch dient«, ehe Nora sich setzte zog sie die dunkelgrüne Hose hoch, die ihr sichtlich zu groß war, während Pete sich setzte und versuchte Noras Gedankengang zu folgen. Für ihn als simplen Studenten der englischen Sprachwissenschaft war dieser ganze Literatur-Kram viel zu komplex, um ihn richtig verstehen zu können. Wenn dann noch anthropologische und geschichtliche Dinge dazu kamen machte sein Gehirn ganz einfach dicht.

»Aber wieso reist du dann nicht nach Alabama, das als der am Meisten von Geistern heimgesuchter Staat gilt?«, Pete packte seinen Laptop aus der Tasche und legte ihn auf dem Tisch ab. Nora tat es ihm gleich und steckte sich eine der dunklen Locken hinter ein Ohr.

»Ganz einfach, weil mich keine Geisterheimsuchungen interessieren, sondern vielmehr wie die Menschen auf solche Dinge reagieren. Wieso sie an Geister glauben, wieso man als Party-Gag Bloody Mary spielt oder eine Séance veranstaltet? Nicht die Geister interessieren mich, sondern die Geschichte dahinter. Außerdem gibt es nur ungefähr zehn Exemplare dieses Buches von denen sich nur eines in den Vereinigten Staaten befindet: in Hidden Creek, West Virginia. Nun alles klarer, Pete?«

Pete nickte. »Wie lange bist du dann weg?«

»Nur ein paar Tage. Drei oder höchstens Vier. Maximal eine Woche, das kommt darauf an, wie viele Infos mir dieses Buch liefern kann. So lange musst du allerdings ohne mich die langweiligen Vorlesungen besuchen«, lachte Nora als auch schon der Professor an sein Podest trat und die Vorlesung begann.

Pete nickte und war sich immer noch nicht ganz sicher, ob er verstand wieso Nora sich den Trip antun würde. ||

 

»Ja, Pete, ist gut. Wir sind erst nahe Pittsburgh, es dauert also noch etwas. Klar ruf ich dich an, wenn ich da bin. Mhm. Ja, natürlich. Du führst dich schon auf wie meine Mutter...«, entnervt seufzte die Dunkelhaarige, während Pete ihr mit seinem Gespräch ein Ohr abkaute. »Ja, wir reden dann. Bye« Nora drückte auf den roten Hörer und steckte das Handy zurück in ihre Hosentasche. Sie liebte Pete wie einen Bruder, doch manchmal überschritt er ihre Nervigkeits-Toleranz-Grenze einfach und sie war froh dieses Gespräch schnell abgewickelt zu haben. Als Pete endlich nachvollziehen konnte, wieso sie diese Reise machte, hatte er sogar begonnen sie dabei zu unterstützen. Er googelte endlos durch die Gegend, welches Klima in West Virginia herrschte, was für Flora und Fauna es gab, was davon giftig und gefährlich war und welche menschlichen Gefahren auf sie zukämen. Er hatte sich verhalten wie eine überfürsorgliche Mutter, die ihr kleines Kind zum allerersten Mal ins Feriencamp schickte und Angst hatte, eine Mücke könnte es verletzen. Nora brauchte gewiss nicht noch so eine Mutter. Ihre Eigene war schon fast so schlimm, weswegen Nora ihr erst gar nichts von ihren Plänen erzählt hatte. Sie ging immer noch davon aus, dass Nora brav in ihrer Wohnung in Alburquerque saß und dem normalen Studentenleben nachging. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Mutter nicht auf die Idee kam von Santa Fe nach Albuquerque zu fahren um ihre Tochter zu besuchen. Die Wohnung würde sie definitiv leer vorfinden.

Nora schaute aus dem Fenster und sah Pittsburgh an sich vorbeiziehen. Durch die Augenwinkel erkannte sie wie ihr Sitznachbar in sich zusammengesackt auf dem Sitz saß und munter vor sich hin schlummerte. Es schien sogar, als tropfte ihm ein wenig Sabber aus dem Mund auf den teuer wirkenden Anzug. Sie schnaubte belustigt und packte ihren Laptop weg. Stattdessen kramte sie ihren MP3-Player aus dem Rucksack zu ihren Füßen und steckte sich die Kopfhörer in die Ohren. Sie drückte auf play und lauschte den rockigen Klängen ihrer Lieblingsbands. Sie legte den Kopf an die Scheibe und schloss ihre Augen um einfach zu entspannen.

Die Zeit verging und Nora spürte ein Gewicht auf ihrer linken Schulter, durch das sie aus ihrem dösigen Zustand aufwachte. Langsam öffnete sie ihre Augen und drehte den Kopf nach links um zu sehen was dort war. Ihr Sitznachbar, der laut ihrer Armbanduhr schon seit einer guten Stunde vor sich hin schlief, war zur Seite gekippt und lag nun halb auf ihr. Vorsichtig versuchte sie ihn von sich weg zu schieben, woraufhin er einmal laut schnarchte und die Nase kraus zog – doch er schlief weiter. Immer weiter schob sie ihn und der Tablet-PC, der immer noch auf seinem Schoß lag, drohte schon damit auf den Boden des Busses zu fallen. Mt einer Hand fing sie diesen auf, als er während ihrer Schieb-Aktion bedrohlich nahe an den Abgrund rutschte und schob mit der anderen Hand den Mann weiter in eine aufrechte Position. Doch ein Mann wiegte nun mal Einiges und sein eigenes Gewicht gepaart mit der Schwerkraft verursachte, dass er immer weiter nach links kippte. Und natürlich hatte er nicht daran gedacht die Armlehne hoch zu machen und innerhalb weniger Sekunden plumpste er aus seinem Sitz.

Erschrocken riss Nora die Hände vor den Mund und musste losprusten, während der Gefallene aus seinem Schlaf aufwachte und sich verärgert aufrappelt. Er murmelte ein paar Flüche, die offenbar aber nicht Nora galten, die sich trotzdem schnell entschuldigen wollte. Die anderen Passagiere im Bus hatten diesen Sturz auch verfolgt und schmunzelten ebenso wie Nora in sich hinein.

»'Tschuldigung«, kicherte sie mit so viel Seriosität wie möglich und der Mann setzte sich wieder in seinen Sitz.

»Ist ja nicht Ihre Schuld«, murrte er, offenbar davon überzeugt er sei selbst Schuld an diesem kleinen Unglück gewesen. Na wenn der wüsste! Nora verschwieg die Wahrheit, schließlich wollte sie für die letzten paar Minuten dieser Busfahrt nicht noch mehr Ärger dieses Mannes auf sich ziehen. Die komplette Busfahrt gab es schon Spannungen zwischen ihr und dem Fremden, denn entweder führte er endlos lange und laute Handygespräche über todlangweilige Wirtschaftsdinge oder Nora tippte an ihrer Hausarbeit auf dem Laptop herum, wodurch sie die von ihrem Sitznachbar gewünschte Stille störte. Einmal hatte Nora sogar aus Versehen ein wenig Soda aus ihrer Flasche auf die Aktentasche des Mannes verschüttet, denn der Bus fuhr über eine unvorhersehbar holprige Strecke. Immer noch prangte ein Wasserfleck auf dem schwarzen Leder und der Mann hatte nicht gerade ruhig gewirkt. Verdammt, war sie froh, wenn sie endlich aus diesem Bus draußen war.

Die Fahrt von ihrem Wohnort Albuquerque bis nach West Virginia hatte knapp einen Tag in Anspruch genommen und großartig viel Beinfreiheit gab es in diesem Bus auch nicht. Noras Beine kribbelten schon vor Bewegungsmangel und sie brannte darauf endlich wieder in der frischen Luft rumlaufen zu können. Zum Glück erklang wenige Minuten später eine Durchsage des Fahrers, dass sie in wenigen Augenblicken Morgantown erreichen würden. Nora warf einen Blick auf ihre schwarze Armbanduhr und stellte erleichtert fest, dass sie im Zeitplan lag und vermutlich noch ihren Anschlussbus nach Hidden Creek bekommen würde.

 

Kapitel 1


Willkommen im Mountain State

 

Es fühlte sich gut an, wie der seichte, nächtliche Wind sich um Noras Haut schmiegte. Zwar war es kalt, doch das machte ihr ausnahmsweise nichts aus. Sie war einfach froh, an der frischen Luft zu sein und endlich ihre Beine vertreten zu können. Sie nahm tief Luft und ließ diese so langsam wie möglich aus ihren Lungen heraus. Kleine Dampf-Wolken formten sich vor ihrem Mund und sie spürte langsam die Kälte der Herbstnacht.

Ihre Koffer standen neben ihr an der Bushaltestelle, während sie von einem Fuß auf den Anderen trat, um die Durchblutung in Schwung zu halten. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen an dem sie die Kälte verfluchte, anstatt sie zu lieben und sich wieder in den warmen Fernbus wünschte – egal, wie stickig er auch gewesen war und wie anstrengend ihr Sitznachbar. Eingekuschelt in den braunen Parka warf sie einen Blick auf ihre Uhr: Der Bus von Morgantown nach Hidden Creek hatte offenbar Verspätung. Der Bus hatte sie einfach an der Universität von West Virginia, die WVU, die in Morgantown lag, rausgeschmissen und dort durfte sie nun auf den Anschlussbus warten. Wieder blickte sie auf die Uhr und fluchte innerlich über die Unpünktlichkeit des Busses.

Sie blickte sich um. Sie stand auf einem großen Parkplatz und hinter ihr befand sich ein Bahnhof. Im Vorbeifahren hatte sie gesehen, dass sich wenige hundert Meter die Straße runter eine Feuer- und eine Polizeiwache befanden und hinter ihr die Medizinische Fakultät der Universität ihren Sitz hatte.

Nach endlosem Warten kam endlich der Bus nach Hidden Creek und Nora hatte genug Auswahl an Sitzplätzen. Nur drei Passagiere waren außer ihr im Bus: eine afro-amerikanische Frau, die wild gestikulierend auf Suaheli telefonierte. Ein alter, glatzköpfiger Mann, der aus dem Fenster starrte und ein junger Mann, der mit dem Cap-bedeckten Kopf mit der Musik aus seinen roten Kopfhörern mitging. Nora setzte sich nach vorne und legte ihr Gepäck auf dem Sitz neben ihr ab. Dann wartete sie.

Über Cheat Lake ging es auf dem Interstate Highway 68 nach Hopewell und Bruceton Mills und dann nach Süden in Richtung Hidden Creek.

In Hidden Creek hielt der Bus mitten im Stadtzentrum, am örtlichen Town Square. Obwohl es dunkel war und auch hier nur wenige Straßenlaternen die Stadt erhellten, erfüllten die Häuser, im Stil der Kolonialszeit, die Straßen mit Magie und einer gewissen Helligkeit, die Nora verzauberte. Gute Architektur konnte sie immer wieder umhauen. Und sie liebte die Stile des Klassizismus. Aufgeregt blickte sie sich um. Der Platz im Zentrum, mit Wiese und Laub bedeckt, wurde von der Hauptstraße umrandet, die viele Nebenstraßen bildete, welche sternenförmig ins Äußere der Stadt führten. Dreistöckige Stadthäuser mit Versatzstücken des Klassizismus standen in endlos lang wirkenden Reihen nebeneinander und beherbergten kleine Boutiquen, Läden und Kioske.

Es roch nach einer Herbstnacht, die von Regen durchzogen wurde und kleine Nebelschwaden tänzelten vor den Glühbirnen der gotischen Parklaternen herum.

Nora lief samt ihres Gepäcks auf die gegenüberliegende Straßenseite, an der sich ein Taxistand mit zwei einsamen Taxen, längs zur Straße hin ,befand. Der Fahrer des vorderen Taxis lehnte auf der Beifahrerseite des Wagens und las in einer großen Tageszeitung und rauchte dabei eine Zigarette. Sein Kollege im hinteren Wagen blätterte gemütlich in einem Buch. Nora ging zaghaft auf den ersten Fahrer, einen stämmigen Mann mittleren Alters, mit grau-melierter Halbglatze auf dem Kopf, zu und räusperte sich.

»Verzeihung?«, fragte sie, als der Mann ihr den Kopf zu drehte, »Sind Sie im Dienst?«

Der Taxifahrer zog eine der buschigen Augenbraue hoch und senkte die Zeitung.

»Miss, glauben Sie ernsthaft ich würde mitten in der Nacht hier herum stehen, wenn ich nicht im Dienst wäre?«, belustigt zog er Luft durch die Zähne und nahm einen Zug seiner Zigarette. »Wo soll's denn hingehen?«

Nora kramte aus ihrer hinteren Hosentasche einen gelben Zettel heraus, den sie auffaltete und vorlas.

»Pension Zum Eichwald. In der Oakwood Road«, antwortete sie und der Taxifahrer erblasste. Er ließ die Zigarette sinken und pustete langsam den Rauch aus seinem Mund.

»Oakwood Road, sagten Sie? Da fahr ich nicht hin«, sagte er knapp und zertrat die Kippe auf dem Gehweg.

»Und wieso nicht?«, fragte Nora verständnislos.

»Weil ich dort nicht hinfahre. Fragen Sie Jeff, der ist jünger und tollkühner, nicht Kumpel?«, er ging zum zweiten Wagen und klopfte gegen das Metall des, wodurch er dessen Fahrer aufschreckte. Der junge dunkelhäutige Mann mit der Baskenmütze auf dem Kopf schaute sich verwundert um.

»Die hier ist für dich«, sagte der Ältere und zeigte auf Nora, »die will in die Oakwood Road.«

Der Jüngere schaute sich kaum merklich nervös um.

»Sind Sie sicher?«, fragte er Nora und diese nickte.

»Ja, ich bin sicher« Nora zog die Stirn kraus. Dieser Fahrer schien auch nicht in die Oakwood Road fahren zu wollen, denn er begann grüblerisch auf seiner Unterlippe herum zu kauen. Seine Hände legten zittrig das Buch zur Seite.

»Also...«, der Fahrer zögerte, »ich fahre Sie bis zur Pine Tree Street, das ist eine Querstraße der Oakwood Road und dafür zahlen sie nur den halben Preis. In Ordnung?« Der Mann schaute Nora mit seinen dunklen Augen an.

Nora verstand nicht worin das Problem lag sie in die Oakwood Road zu fahren. Vielleicht hatten die Fahrer ja verschiedene Strecken zugeteilt, weswegen der Ältere sagte er würde dort nicht hinfahren. Doch wieso wirkte der Jüngere auch, als wollte er dort nicht hinfahren? War dort vielleicht eine große Baustelle, die das Befahren der Straße unmöglich machte? Oder lag es vielleicht einfach in einem ärmeren Viertel und die Fahrer hatten Angst überfallen zu werden? Wieso verhielten sie sich so merkwürdig?

»Aber ich versteh' ni-«, Nora stoppte. Sie war müde, erschöpft und ihr war kalt. Sie hatte keine Lust auf Diskussionen. Sie beschloss für sich, ihre Fragen zu unterdrücken und eben in der Querstraße auszusteigen. Konnte ja nicht so schlimm sein und immerhin musste sie so nur den halben Preis zahlen. Sie seufzte. »In Ordnung. Dann bis zur Pine Tree Street.«

Der Fahrer nickte und der Ältere half Nora beim Verstauen ihres Gepäcks im Kofferraum des gelben Fahrzeuges. Nora setzte sich auf den Beifahrersitz und der Dunkelhäutige ließ den Motor an.

Es dauerte einige Zeit bis Nora die entstandene Stille durchbrach und ihre zuvor unterdrückten Fragen rausließ.

»Wieso fahren Sie nicht in die Oakwood Road?« Eine einfache, legitime Frage, die nicht schwer zu beantworten war. Dennoch drückte sich der Fahrer eine Weile lang vor der Antwort. Erst als Nora ein zweites Mal fragte, antwortete der Dunkelhäutige zögerlich.

»Das Gebiet wird gemieden. Von jedem in der Stadt.«

»Wieso?«

»Es ist dort unheimlich.«

»Unheimlich?«

»Ja, unheimlich.« Der Fahrer parkte den Wagen am Straßenrand und schaute sie auffordernd an. »Pine Tree Street. Das macht dann fünf Dollar.«

Nora hätte gerne mehr über dieses Unheimliche an der Oakwood Road erfahren, doch der Fahrer machte nicht den Anschein, als würde er ihr mehr darüber erzählen. Nun ja, ich werde ja noch etwas hier bleiben, sagte sie sich innerlich und kramte ihr Portemonnaie raus und bezahlte den Taxifahrer. Fünf Dollar für eine Strecke von zehn Minuten war schon etwas überzogen – und dann auch nur halber Preis. Aber immerhin war der Fahrer noch so freundlich, ihr mit ihrem Gepäck zu helfen, doch sobald Nora und ihre Koffer auf dem Bürgersteig standen, war das Taxi schon rasend hinter der nächsten Ecke verschwunden.

Die Straßenkreuzung wurde von einer einziges Straßenlaterne erleuchtet und Nora versuchte sich zu orientieren. Laut eines Straßenschildes war sie gerade an der Kreuzung der Pine Tree Street und der Oakwood Road. Sie war also an ihrem Ziel. Naja, fast. Sie musste schließlich noch die Pension finden. Mit ihrem Rollkoffer in der Hand, dem Rucksack auf dem Rücken und einer weiteren Tasche über der Schulter machte sie sich auf in die dunkle Oakwood Road. Offenbar hatten die Stadtwerke es nicht nötig die Glühbirnen der, sowieso wenig vertretenen, Straßenleuchten zu wechseln, sodass hier und da eine Laterne weniger Licht abgab als sie sollte, hier eine wild umher flackerte und Andere ganz erloschen blieben. Doch dennoch kam Nora diese Straße nicht unheimlich vor. Sie war eher hübsch. Große Altstadtvillen in viktorianischem Baustil, die überraschend leer und verwahrlost wirkten, obwohl sie gleichzeitig eine freundliche, belebte Magie ausstrahlten. Nora ging den gepflasterten Gehweg entlang und bestaunte die schöne Architektur. Sie hatte gelesen, dass Hidden Creeks Gebäude überwiegend im 18. und 19. Jahrhundert gebaut wurden und so der Großteil der Architektur dem Historismus unterordnet war. Viktorianische Gebäude, Palladianismus, Queen Anne Style. Nora liebte diese Baustile und war doppelt froh diesen Ort gefunden zu haben. Tolle Architektur für ihre Augen und das Buch, das ihre Hausarbeit rettete – besser konnte sie es sich nicht wünschen.

Während sie die lange Straße entlang ging lauschte sie dem kühlen Wind, der geräuschvoll an den Häuserfronten vorbeizog und die bald kargen Bäume und Büsche in seinen Luftströmen wiegte. Das herbstliche Laub raschelte und vereinzelte Blätter flogen in den bewölkten Himmel hinauf.

Nora zuckte zusammen, als ein gedämpftes Poltern sie aus ihren Gedanken riss. Abrupt blieb sie stehen und schaute sich um. Plötzlich schlug die magische Atmosphäre in die eines Horrorfilms um und Noras paranoide Züge zeigten sich.

»Okay... bleib ganz ruhig«, flüsterte sie zu sich selbst und eine Windböe schoss durch die Straße. Nora strich sich das durchwehte Haar so glatt wie möglich und hielt nach einer möglichen Erklärung für das Scheppern Ausschau. Nach wenigen Sekunden der Erkenntnislosigkeit ging sie weiter und erneut erklang das Poltern. Doch wenige Sekunden später kamen zwei kleine Wesen aus einer Einfahrt auf ihren Tapsepfötchen heraus stolziert und fauchten Nora an.

»Waschbären«, pustete sie erleichtert mit dem Ausatmen heraus und wartete bis die grauen Gefährten über die Straße gelaufen waren, wo sie in der Dunkelheit des nächsten Vorgartens verschwanden.

Die Zeit bis Nora das große Schild mit der Aufschrift »Pension Zum Eichwald« gefunden hatte, kam ihr wie eine Ewigkeit vor, dabei waren es höchstens zehn Minuten. Gerade öffnete sie das Gartentor, in der Mauerumrandung, welche die Straße von dem Vorgarten des Gasthauses trennte, als in der Villa schräg gegenüber in einem halbrunden Fenster Licht anging. Nora schaute auf ihre Armbanduhr, doch es fiel ihr schwer in der Dunkelheit die Zeiger richtig lesen zu können. Sie entzifferte, dass es gegen zwei Uhr nachts sein musste und fragte sich dann, wer in einer Kleinstadt um diese Zeit noch wach war? In jedem der anderen Häuser schien schon seit einer ganzen Weile kein Licht mehr an gewesen zu sein, zumindest schien kein Licht aus den Häusern während Nora sie passiert hatte. Kein Wunder zu dieser späten Stunde. Neugierig blieb sie im offenen Tor stehen und drehte sich zu der Villa um. In der Dunkelheit kaum erkennbar versuchte Nora den Anstrich der Fassade deuten zu können und kam zu dem Entschluss, dass es eine dunkle Farbe sein musste. Rot? Blau? Grau? Jedenfalls waren die Fenster von überdurchschnittlicher Höhe und rankten sich elegant mit hellem Rahmen die Fassade hinauf. Die Villa besaß eine über Stufen erreichbare Veranda von circa zwei Metern Breite, die von einem, von Säulen getragenen Bau, überdacht wurde, der größtenteils in ein Pultdach als Vordach überging und nur an einer Stelle den zweiten Stock durch ein sechseckiges Türmchen ergänzte.

Das Licht kam aus einem Fenster in dem Türmchen und Nora machte eine Gestalt hinter dem Glas aus. Etwas Rundes bewegte sich hinter dem Fenster von links in das Sichtfeld der Studentin, die verwundert die Stirn runzelte. Vielleicht war es ein Ball der hin und her geworfen wurde, überlegte sie. Doch ein Ball konnte nicht einfach so in der Luft stehen bleiben, wie dieser Schatten es tat. Ehe Nora den Schatten weiter beobachten konnte, kam ein zweiter Schatten, diesmal von menschlicher Statur, in das Licht getreten und schien den kugelförmigen Schatten weg zu schicken. Plötzlich überzog Nora das Gefühl, als würde sie beobachtet werden und instinktiv schlang sie Arme um ihren Körper.

»Alles in Ordnung, Nora. Da ging einfach das Licht an; der Bewohner hat es, wieso auch immer, an gemacht und vermutlich aus dem Fenster geschaut. Da ist nichts dabei«, murmelte sie zu sich selber und ging den Weg durch den Vorgarten in Richtung Haustür der Pension. Eine nette Lampe hing neben der Tür und erleuchtete Türgriff, sowie Klingel und ein Schild, das informierte man sollte die Klingel drücken, wenn sie Tür verschlossen sei.

Ehe Nora die unverschlossene Tür öffnete, schaute sie noch einmal auf die Villa auf der anderen Straßenseite. Das Licht im Turm war inzwischen erloschen, doch das Gefühl beobachtet zu werden lag immer noch schwer auf der jungen Frau.

 

Eine wohlige Wärme machte sich in Nora breit, als sie den Eingangsbereich des Gasthauses betrat. An der Decke, die zu großen Teilen aus dunklen Holzbalken bestand, hing eine kleine, orange-gelbe Tiffany-Lampe die freundliches Licht ausstrahlte. Es roch nach Teppichboden und Abendessen und ein kühler Luftzug zog unter der Eingangstür durch. Links der Eingangstür führte eine Holztreppe in die nächste Etage und rechts davon ging es in einem weiteren Raum.

Nora ging zögerlich auf die große hölzerne Theke zu, auf der ein Schild mit dem Wort Rezeption stand und wartete einige Augenblicke. Sie war noch nie mitten in der Nacht in einem Hotel oder einer Pension angekommen und wusste nicht wie sich verhalten sollte. Eine silberne Klingel, wie man sie aus Filmen kannte stand auf der Theke und wartete nur darauf, das Personal zu rufen. Nora stellte erst einmal ihr Gepäck ab und betätigte dann zaghaft die Klingel. Nur ein kleines »ring« ertönte, doch wenige Sekunden später trat eine Frau aus dem Nebenraum.

»N'Abend. Was kann ich für Sie tun?«, fragte die Frau freundlich und stellte sich hinter die Theke. Sie war ungefähr fünfzig Jahre alt, hatte kurzes dunkles Haar mit einer feschen blonden Strähne im Pony und hatte eine etwas fülligere Figur. Sie war nicht dick, aber auch nicht dünn. Ein Mittelding eben.

»Ich hatte reserviert. Auf Gallaghan«, antwortete Nora schüchtern und versuchte ein Lächeln zu Stande zu bringen. Sie mochte es nicht mit Fremden zu reden, aber was blieb ihr hier bloß anderes übrig?

»Gallaghan? Dazu muss Rosie was finden: Gable, Gaccione, Gadsby, Gainor... Ah, hier. Gallaghan! Zimmer... Momentchen«, die Frau kramte in einem kleinen Stapel Papier herum, »Huch? Wir hatten ihnen noch gar kein Apartment zugeteilt. Das ist ja blöd... aber wissen sie was? Suchen sie sich einfach aus welche Zimmernummer Sie wollen. Es stehen alle zur Verfügung«, die Frau lächelte glücklich und wirkte bei den letzten Sätzen ziemlich übertrieben hyperaktiv und freundlich.

»Alle?«, fragte Nora nach.

»Ja, Sie sind der einzige Gast für diese Woche«, antwortete die Frau, »mein Name ist übrigens Rosemarie Houser. Aber Sie können mich ruhig Rosemarie nennen, Miss...«, sie las schnell den Zettel, den sie vorhin gefunden hatte, »Nora. Ich darf Sie doch Nora nennen und duzen, richtig?«

Nora schaute Rosemarie überrascht an. »Ähm, ja... Ja, klar,... Rosemarie.«

Einige Minuten vergingen und Nora suchte sich einfach das erstbeste Zimmer aus. Zimmer 307, das dritte Zimmer auf der linken Seite im dritten Stock. Nora war draußen nicht mal aufgefallen, dass es drei Stöcke in diesem Gebäude gab. Überhaupt hatte sie nicht darauf geachtet, wie das Gebäude von außen ausgesehen hatte. Würde sie wohl morgen bei Tageslicht raus finden.

Rosemarie begleitete sie nach oben und half ihr mit ihrem Gepäck. Nora konnte es sich nicht verkneifen zu fragen, ob es einen bestimmten Grund gab, wieso sie der einzige Gast war. An ihrem Zimmer angekommen, zögerte Rosemarie etwas, zu antworten:

»Nun ja«, begann sie und drehte den Schlüssel für die Tür nervös in der Hand. Nora beobachtete diese Geste aufmerksam und fragte sich, was die Frau vor ihr veranlasste, so nervös zu werden.

»Hidden Creek, unser kleines Städtchen, ist nicht gerade der Touristenmagnet. Zwar ist es nicht weit bis zu einigen Schlachtfelder aus den Kriegen, aber sonst ist dieses kleine Örtchen sehr wenig von Besuchern belebt. Und dann ist noch die Sache mit dieser Straße. Die Oakwood Road ist nicht der beliebteste Anlaufpunkt für ein ruhiges Leben in der Stadt und im Internet gibt es diverse Gerüchte und Geschichten, welche die wenigen Touristen verschrecken. Die Einzigen, die sich in diese Pension hier verirren sind Geisterjäger oder, nun ja, Ahnungslose wie du. Du bist doch ahnungslos, oder?«

»Ja... ich hab keine Gerüchte oder Geschichten gehört. Der Taxifahrer vorhin schien nur ziemlich Angst vor der Straße zu haben und hat mich deswegen an der Pine Tree Street rausgeworfen«, antworte Nora schmunzelnd. Offenbar hatte der Taxifahrer zu viele der Geschichten und Gerüchte gehört. Nora war allerdings sehr gespannt was diese Geschichten waren, vielleicht wäre jemand bereit ihr diese zu erzählen. Vielleicht sogar Rosemarie?

»Und was sind das für Geschi-«

»Apropos, was sucht eine so junge Dame wie du überhaupt in unserem Städtchen?«, unterbrach Rosemarie die Dunkelhaarige, während sie ihr die Tür aufsperrte und dann das Licht in der Suite anschaltete.

»Ich suche ein bestimmtes Buch für eine Hausarbeit, das es nur hier in der Bibliothek geben soll«, antwortete sie und trat in das Zimmer ein.

»Oh, ja, das wirst du sicher in unsere Library of Liberty fündig, sie hat außergewöhnliche Werke in ihren Regalen. Übrigens findet nächste Woche unser Gründerfest statt, ich hoffe du bleibst solange« Rosemarie war für Noras Empfinden viel zu euphorisch und freundlich und langsam hoffte sie, die Wirtin würde endlich weiter ihrem Tagewerk nachgehen. Oder zumindest um diese Uhrzeit schlafen gehen.

»Ich glaube nicht, dass ich-«

»Du MUSST dorthin. Es ist das größte Spektakel des Jahres und... naja, nach unserem Frühjahrsfest sind ein paar schöne Festivitäten gut. Das Frühjahrsfest war der totale Reinfall... vielleicht lag es an diesem Brand damals, hm....« Rosemarie fasste sich grübelnd ans Kinn.

»Das Gründerfest ist sicher toll, aber ich... ich versuche hinzukommen. Ich würde allerdings jetzt wirklich gerne schlaf-«

»Oh natürlich! Sicher, sicher! Was halte ich dich denn noch auf, es ist ja schon so spät. Hab eine schöne Nacht, Nora. Es gibt ab acht Uhr Frühstück, ruf einfach kurz unten an, wenn du wach bist, ja?« Rosemarie legte freundlich ihre Hand auf Noras Schulter, die diese lieber sofort wegschlagen würde, doch das käme unfreundlich rüber, also ließ sie diese freundliche Geste einfach passieren und nickte.

Rosemarie verließ das Zimmer und Nora hatte endlich ruhe und einen komfortablen Schlafort. Das Zimmer, oder vielmehr Apartment, war schön. Die Wände waren in einem hellen Gelb gestrichen und eine holzverkleidete Dachschräge zog sich an einer Wand entlang. Der Boden war hässlicher blau-grauer Teppichboden, doch das störte Nora nicht. Schnell zog sie Jacke und Schuhe aus und ließ sich auf das zwei Meter breite Bett fallen. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Endlich ausruhen. Doch sie merkte, dass das Licht noch an war, also stand sie widerwillig auf, leuchtete sich mit ihrem Handy den Weg zum Bett, knipste die Nachttischlampe an, und begann ihr Schlafoutfit aus dem Koffer zu räumen und es anzuziehen. Dann ließ sie sich wieder auf das Bett plumpsen, vergrub sich unter der Bettdecke, schaltete das Licht aus und verfiel in einen tiefen Schlaf.

Kapitel 2


Library of Liberty


Mit einem lauten Murren warf sich Nora auf die andere Seite ihres Körpers und zog sich die Bettdecke über den Kopf, um ihn in Dunkelheit einzubetten. Doch dieser verflixte Lichtstrahl, der seit den frühen Morgenstunden direkt auf ihr Gesicht fiel, blieb hartnäckig und bahnte sich einen Weg auf die, von der Decke ungeschützte, Haut. Mit einem Mal saß Nora mit genervt dreinschauender Miene aufrecht im Bett und pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie konnte es nicht leiden nicht in Ruhe schlafen zu können. Genervt blickte sie zu ihrer Rechten wo die hellen Sonnenstrahlen durch ein bodentiefes Fenster strahlten ,das genau an die Dachschräge der Wand mit dem Bett grenzte. Nora hatte gar nicht bemerkt, dass genau über ihr die Dachschräge verlief und sie war sich sicher, dass sie früher oder später nach dem Aufstehen mit dem Kopf dagegen stießen würde. Es wäre so typisch.

Sie quälte sich unter der Decke hervor und trat mit den nackten Füßen auf den kratzigen Teppichboden. Ausgiebig streckte sie sich, gähnte dann einmal und rieb sich die Augen. Nora spürte förmlich die Strapazen der gestrigen Reise. Stundenlanges Herumsitzen im Bus war auch nicht gerade das Beste für den Rücken und das bekam Nora gerade zu spüren. Krächzend wie eine alte Oma stand sie auf und schaute sich erst mal den Raum an. Gestern Nacht hatte sie gar keine Gelegenheit – und Lust – gehabt sich das Zimmer genauer anzusehen. Allerdings war Zimmer untertrieben, denn es glich mehr einem ganzen Apartment. Links vom Bett führte eine Holztür in das Badezimmer, dessen Zweck Nora gleich beanspruchen würde. Dem Bett gegenüber, trennte eine Wand den Schlafbereich vom Rest des Raumes und Nora tapste vom Bett aus dorthin. Neben dem Fenster, durch das die helle Sonne schien, stand ein kleiner Flachbildfernseher auf einem hellen Holzschrank und davor stand ein dunkelgrauer Stoffzweisitzer, ein heller Kaffeetisch und eine kleine, einfachen Stehlampe. Gegenüber der kleinen Wohngruppe befand sich die Eingangstür des Apartments und eine kleine Küchenzeile mit eingebautem Herd, Ofen, einer Mikrowelle, einer Kaffeemaschine und einem kleinen Kühlschrank. Nora war überrascht wie gut dieses Pensionszimmer ausgestattet war – es glich fast einer Ferienwohnung. Gerade als Nora sich dazu entschlossen hatte, erst einmal den Weg ins Bad anzutreten und dort eine schöne, warme Dusche zu nehmen klingelte das Zimmertelefon auf einem der beiden Nachttische neben dem Bett.

Nora nahm den Hörer ab und antwortete zart mit einem »Hallo?«. Sofort erklang laut die Stimme Rosemaries aus dem Hörer und Nora erschreckte und ließ beinahe den Hörer aus der Hand fallen. So laute Geräusche am frühen Morgen taten ihren Ohren nicht gut. Rosemarie fragte ob sie schon wach sei – offensichtlich war sie das jetzt dank ihr – und sagte Bescheid, dass Nora nun in den Speisesaal zum Frühstücken kommen könnte. Nora versicherte ihr, dass sie kommen werde, aber zunächst noch ein Date mit ihrer Dusche haben würde. Das Gespräch war, zur Freude Noras, schnell abgewickelt und so trat sie dem Gang ins Badezimmer an.

 

In alter Frische und hochmotiviert, das Buch ihrer Träume zu finden fand sich Nora eine halbe Stunde später im Speisesaal der Pension im Erdgeschoss wieder. In einer gemütlich anmutenden Sitzecke mit bequemen Lederstühlen und einer Sitzbank fand sie sich wieder und Rosemarie erklärte ihr am Tisch was es alles gab. Wie in so ziemlich jedem Hotel gab es ein Buffet mit Cornflakes, Müsli, Brötchen und den passenden Belägen, Pfannkuchen und weiteren Teigwaren und eine große Auswahl an Gelees und Marmelade. Als Nora an den Buffet-Tisch trat, konnte sie sich gar nicht entscheiden was sie nehmen sollte. Cornflakes? Oder doch lieber ein Brötchen mit Nuss-Nougat-Creme? Oder vielleicht Erdnussbutter? Aber diese Croissants und Schokobrötchen sahen auch so gut aus...und diese Düfte erst. Sie entschloss sich erst einmal eine der Müsli-Sorten zu probieren. Laut Rosemarie war es ein extra Fitness-Müsli, das wenig Kalorien enthielt. Und wenn schon, Nora war nicht die Art Frau, die sich sonderlich Gedanken um ihre Figur machte. Sie aß was sie wollte, wann sie es wollte. Egal ob sie davon zunahm. Natürlich ärgerte auch sie sich, wenn der Bikini im Sommer nicht mehr passte, aber dadurch, dass sie Zuhause in New Mexico viel Sport machte – Laufen, Schwimmen, Tennis – waren die übrigen Pfunde sowieso bald Geschichte.

Es war merkwürdig der einzige Gast im Speisesaal zu sein. Es war so ruhig und man hörte wie die Köche in der Küche auf Hochtouren arbeiten und wie hier und da Rosemarie draußen an der Rezeption Dinge notierte und mit Blättern knisterte. Nora hatte sich eine Tasse Kaffee mit viel Milch gegönnt und der Duft des braunen Gebräus zog ihr wohltuend in die Nase. Sie liebte und hasste Kaffee zugleich. Eigentlich schmeckte er ihr nicht, zumindest nicht schwarz, doch seit sie mit dem Studium angefangen hat floss in ihren Adern nur noch Kaffee. Das Studentenleben konnte ermüdend sein und was putschte einen mehr auf als Kaffee und Energiedrinks? Von letzterem war sie allerdings kein Fan gewesen, also fielen diese weg.

Das Müsli war ziemlich lecker. Es beinhaltete außer den Flocken noch getrocknete Früchte, was dem ganzen einen vitalen, erfrischenden Touch gab. Während Nora das Müsli von dem Löffel in den Mund schob, checkte sie simultan mit der freien Hand ihre neue Nachrichten auf dem Handy. Ganze vier davon waren von Pete, der fragte ob sie gut angekommen war und ihr vorwarf, dass sie doch am Abend schon anrufen und Bescheid geben wollte. Schnell tippte sie einhändig eine Entschuldigung, es war schon so spät und sie so müde gewesen. Dann erzählte sie ihm via Sprachmemo von den merkwürdigen Taxifahrern, die ein Problem mit dieser Straße hatten. Während sie die Memo verfasste, schaute sie sich im Raum um und betrachtete diesen genauer. Auch er hatte, wie der Eingangsbereich der Pension, eine mit Holzbalken versehene Decke und die Wände waren mit weißer Rauchfasertapete beklebt. Der Boden war ein dunkles Parkett und an den Wänden hingen bunte, abstrakte Gemälde, die Nora beim Besten Willen nicht hätte interpretieren können. Tageslicht fiel durch ein halbes Dutzend viereckiger Kastenfenster, die weiß lackiert waren. Auf den einzelnen Tischen standen Teelichter und Blumengedecke und trugen zu einem angenehmen Klima bei. Noras Sitzplatz lag gegenüber des Eingangs zum Saal und durch die offene Tür hatte sie einen Blick auf die Rezeption. Als sie in der Memo erzählte, dass diese Straße von Gerüchten und Geschichten umrankt sein sollte, bemerkte sie draußen an der Rezeption, wie sich Rosemaries Gesichtsausdruck veränderte. Ganz klar, sie lauschte dem Gerede von Nora und irgendetwas an ihrem Blick war seltsam.

Nachdem Noras Hunger gestillt war und sie schon spürte wie die schwarze, heiße Brühe sich in ihren Eingeweiden festsetzte und die Müdigkeit vertrieb, ging sie in ihr Zimmer und packte dort die Sachen zusammen, die sie für den Bibliotheksbesuch brauchen würde. Umgezogen hatte sie sich schon nach dem Duschen, es wäre ihr zu peinlich gewesen im Schlafanzug zum Frühstück zu erscheinen, auch wenn sie der einzige Gast war. Ihre Wahl war auf eine dunkel-lila Jeans, ein schwarz-weiß gestreiftes Shirt und einen dunklen Cardigan gefallen.

Nachdem Laptop, Schreibblock, Stifte, sowie Handy, Portemonnaie und Zimmerschlüssel in ihrer Shopping Bag, die sie mitgenommen hatte, verstaut waren, machte sie sich auf den Weg an die Rezeption.

»Hey, Rosemarie«, begann sie die Wirtin anzusprechen, »hast du vielleicht einen Stadtplan von Hidden Creek? Ich würde heute Morgen gerne in die Bibliothek, weiß nur nicht wo sie ist«

Die Wirtin nickte.

»Natürlich, Liebes«, sie öffnete eine Schublade und nahm eine zusammengefaltete Karte hinaus und reicht sie der Dunkelhaarigen. Diese betrachtete sie genau und suchte nach etwas, das wie eine Bibliothek aussah. Über einem wie ein L aussehendem Gebäude fand sie in kleinen Lettern die Worte Library of Liberty geschrieben. Schnell schaute sie sich die Straße an und prägte sich den Namen ein.

»Danke, Rosemarie«, grinste sie. Sie freute sich wie ein Pfannkuchen das Buch in ihren Händen halten zu können, wenn sie in der Bibliothek angekommen wäre.

»Gern geschehen«, entgegnete Rosemarie lächelnd und Nora zog sich ihre Jacke an und rollte den Stadtplan zusammen. Sie verabschiedete sich von der Wirtin und verließ euphorisch die Pension.

Die Sonne schien durch die dicke Wolkendecke durch und spendete gerade genug Licht, dass es angenehm war. Nora nahm tief Luft und mit Vorfreude im Bauch ging sie in Richtung Straße. Ihr fiel auf, wie viele Eichenbäume an den Straßenrändern in regelmäßigen Abständen standen und wie unbewohnt die Stadtvillen bei Tag aussahen. Sie war in der Nacht der Meinung gewesen dieser Eindruck läge an der späten Stunde, doch das war wohl ein Trugschluss. Vermutlich waren diese schönen Häuser doch unbewohnt oder zumindest machten ihre Besitzer sich nicht die Mühe, die verblichenen Farben nach zu streichen oder Vorhänge in die majestätischen Fenster zu hängen.

Gerade hatte sie das Gartentor hinter sich geschlossen, überfuhr sie wieder das Gefühl des Beobachtet-Werdens von gestern Nacht. Sie schaute sich um, konnte aber keine lebende Entität weit und breit sehen. Automatisch blickte sie schräg gegenüber zu der Villa in der gestern Nacht im obersten Stock Licht gebrannt hatte. Kurz blickte sie das Gebäude nachdenklich an, beschloss aber dann weiter zu gehen. Gerade als sie sich nach rechts drehte, um dem Straßenverlauf zu folgen, sah sie wie zwei Gestalten aus der Villa kamen. Sie blieb stehen und versuchte, nicht allzu auffällig zu wirken. Es schien als würden sich die zwei Personen streiten, denn einer der Beiden, ein junger Mann etwa in Noras Alter, fuchtelte wild mit den Armen durch die Gegend und sein Mund war weit geöffnet. Nora konnte hören, wie der junge Mann der anderen Person Dinge an den Kopf schrie: er sei nicht würdig, hätte sie verraten und sollte sich am Besten nicht mehr blicken lassen. Die zweite Person, gehüllt in einen langen schwarzen Mantel mit blonden Haaren, schien die Wut seines Gegenübers nicht sonderlich zu interessieren, denn er blieb vollkommen ruhig und ging den Pfad in Richtung Straße entlang. Nora entschied sich dazu weiter zu gehen, ehe sie bemerkt werden würde. Doch das ging schneller als gedacht, denn tollpatschig wie sie war, stolperte sie über ihre eigenen Füße und landete vornüber auf dem Gehweg. Sie konnte sich noch mit den Händen auffangen, sodass nur ihre Tasche unbequem über ihre Schulter rutschte und sie weiter nach unten zog. Mit dieser kleinen Panne und dem dazugehörigen »Autsch!«-Ruf hatte sie die Aufmerksamkeit der beiden Gesellen auf sich gezogen. Der Blonde, dessen Gesicht sich immer noch nicht erkennen könnte, nickte dem Schwarzhaarigen zu und verschwand in die linke Richtung und der Schwarzhaarige blickte misstrauisch zu Nora herüber. Sie erwiderte den Blick und sie durchzog eine intensive Kälte. Der junge Mann verschränkte sie Arme, warf durch eine gekonnte Kopfbewegung seine Haare in richtige Position und verschwand dann wieder in der Villa; nicht ohne noch einmal in Noras Richtung zu schauen und die Augenbrauen verwundert zusammen zu ziehen. Nora spürte wie ihr die Schamesröte in die Wangen stieg.

»Wie peinlich das war...«, murmelte sie und stand schnell auf, rückte ihre Tasche zurecht und ging mit gesenktem Blick und schnellen Schrittes die Straßen entlang.

An der Mündung der Oakwood Road und der Pine Tree Street blieb sie kurz stehen und checkte den Stadtplan. Gerade aus weiter durch die Sycamore Road, dann rechts auf die Fleming Street und dann weiter gerade aus. Dann käme man man den Town Square, an dem sich die Bibliothek befand. Nora war sich jetzt schon ziemlich sicher, dass sie sich verlaufen würde. Das wäre auch typisch gewesen. Ihre Orientierung war so gut wie nicht vorhanden, was sich bei Schulausflügen früher öfter gezeigt hatte. Einmal in der Grundschule als sie mit ihrer Englisch-Klasse in ein Theaterstück extra für Kinder gegangen waren hatte sie es doch wirklich geschafft im Theatergebäude die Orientierung zu verlieren. Sie war damit überfordert gewesen, dass es mehr als zwei Etagen gab und nachdem sie auf der Toilette war und ihre Klasse sich schon im Saal hingesetzt hatte, wusste Nora nicht mehr wo sie hin musste. Gut, sie hätte vielleicht ihrer Lehrerin zuhören sollen, als sie erzählte wo sie sitzen würden, aber die arme, kleine Nora ist eine gefühlte Ewigkeit im Theater herum geirrt, weil sie die richtige Etage nicht gefunden hatte. Erst als sie heulend im Foyer saß hat einer der Mitarbeiter mit ihr ihre Klasse gesucht. Das war auch ziemlich peinlich gewesen, damals.

 

Erstaunlicherweise hatte sie es ohne große Schwierigkeiten bis ins Stadtzentrum geschafft. Der Town Square sah bei Tag noch schicker aus als in der Nacht. Pappeln säumten die Gehwege vor den Häuserreihen und spendeten im Sommer Schutz vor der heißen Sonne. In dieser Jahreszeit war allerdings das Laub schon vollständig abgefallen und nur vereinzelt hingen noch bunte Blätter an den zarten Ästen. Die Anstriche der historistischen Gebäude leuchteten im Tageslicht und strahlten immer noch eine wohlige Wärme aus. Für Nora fühlte es sich seltsam vertraut an als die Straße überquerte und den von Wiese bedeckten Platz überquerte. Fröhlich gingen Leute ihrem Tagwerk nach, viele Autos fuhren die Straße um den Town Square entlang und das typische Kleinstadt-Feeling machte sich breit. Hier kannte noch jeder Jeden und das machte sich darin bemerkbar, dass an Nora vorbeigehende Passanten nach wenigen Metern immer wieder stehen blieben um mit ihnen bekannten Personen zu palavern und den neusten Klatsch auszutauschen. Nora blieb in der Mitte des Platzes stehen und kramte wieder den Straßenplan aus ihrer Tasche. Als sie sich nach einem Gebäude, das einer Bibliothek glich, umsah fiel ihr die große Statue an Rand des Steinweges, der über den Platz führte, auf. Sie legte den Kopf schief und betrachtete sich die aus Stein gemeißelte Figur die einige Meter in die Höhe ragte. Neugierig ging sie näher an die Staue ran, über die Wiese und suchte ein Schild mit weiteren Informationen. Sie wurde sogar fündig. Diese Statue stellte Frank Forster dar, einen der Mitbegründer der Stadt. Zusammen mit seinem Freund und Kameraden Zackquill Morgan wurde die Stadt als einfache Arbeiterkolonie im Jahre 1794, ein Jahr bevor Morgan verstarb, der zuvor 1772 die Stadt Morgantown gegründet hatte, gegründet.

Nora blickte von dem Schild auf und steckte sich eine Haarlocke hinter das Ohr, die von einer Windböe in ihr Gesicht geweht wurde. Der steinerne Mann stand mit gerader Haltung auf seinem Sockel, den Blick weit in die Ferne gerichtet, mit einer Hand an der Krempe seines Zylinders und die Andere um den Griff eines Stockes geschlossen, auf dem er sich ein wenig abzustützen schien. Er hatte einen Rauschebart und Nora machte alte Gesichtszüge aus. Er schien alt gewesen zu sein, als die Statue angefertigt worden war. Nora fand, dass Forster eine Art von Geborgenheit und Glückseligkeit auf diesem Monument ausstrahlte. Es war fast, als hieße er sie in Hidden Creek Willkommen und wollte ihr sagen, dass es ihr hier gefallen würde. Nun ja, bisher konnte sie auch noch nichts Gegenteiliges fühlen. Bisher gefiel ihr es hier ziemlich gut.

Sie ermahnte sich, dass sie unbedingt dieses Buch brauchte und ließ den Blick von der Statue ab. Wie von selbst ging ihr Blick nach rechts, wo sie auch schon an einer weißen Gebäudefassade die goldenen Lettern »Library of Liberty« lesen konnte und mit einem erleichterten Seufzer ging sie nach Rechts in Richtung Bibliothek. Sie überquerte schnell die Straße mit kurzen Blicken zu beiden Seiten und blieb dann vor dem Gebäude stehen. Es passte irgendwie nicht ganz rein. Im Gegensatz zu ihren angrenzenden Gebäuden war die Bibliothek ungefähr zwanzig Meter nach hinten versetzt. Auch baulich grenzte sie sich stark vom Rest ab. Wo Stadthäuser im Stil des Klassizismus und Historismus ringsherum standen, glänzte die Bibliothek in einer modernen Version des Konstruktivismus. In der vorderen Fassadenfront waren bodentiefe Fenster eingelassen und Nora erkannte durch die Scheibe schon die ersten hohe Bücherregale. Aufgeregt ging sie auf die große, weiße, altmodische goldverzierte Pforte, die so gar nicht in das Gesamtbild passte und drückte den dunklen Türgriff runter und zog daran. Die Tür war zu.

»Huch?«, fragte sich Nora selbst und betätigte erneut den Griff. Vielleicht hatte sie in die falsche Richtung gezogen? Nein, auch dieses Mal blieb dir Tür zu. Frustriert trat Nora ein paar Schritt von der Tür zurück.

»Das darf doch nicht wahr sein!«, fluchte sie leise und fuhr sich durch die Lockenpracht, während sie sich wieder zur Straße umdrehte.

»Die Bibliothek ist aufgrund von Betriebsurlaub geschlossen. Das Gründerfest steht bald an, da haben viele Institutionen geschlossen«, sagte eine männliche, dunkle Stimme. Nora drehte sich erschrocken nach links und sah einen Mann im Blaumann und brauner Mütze auf dem Kopf der gerade mit einem Besen anfing Laub zusammen zu kehren.

»Wissen Sie zufällig ob es hier noch andere Bibliotheken gibt? Möglichst mit ähnlichem oder, am Besten, gleichen Beständen?«, fragte Nora den Mann, der nach ihrer Vermutung ein Alter von Fünfzig hatte.

»Tut mir Leid, Miss. Ich bin hier nur der Hausmeister. Ich kenn' mich mit den Beständen nicht aus«, er zog kurz die Mütze aus und wischte sich mit dem Handrücken über das schüttere, dunkle Haar, »die einzige Bibliothek in diesem Umkreis sind die Morgan-Library in Morgantown und die Uni-Bibliothek der WVU. Vielleicht finden Sie da ja etwas Passendes? Was suchen Sie denn?«

»Ach«, Nora winkte ab, »nur ein Buch über Anthropologie, Soziologie und Geschichte. Danke für ihre Hilfe...« Sie machte sich schon bereit zum gehen, hielt dann aber kurz inne, »Sie wissen nicht zufällig ob es hier eine Autovermietung in der Nähe gibt?« Es würde auf Dauer teuer werden, wenn Nora jedes Mal mit dem Bus fahren müsste. Dann könnte sie sich gleich einen Wagen mieten.

»Ja, gleich eine Straße weiter bei Ben's Tankstelle, der betreibt auch eine Werkstatt und Vermietung... Sie sind nicht von hier, richtig?« Der Mann schaute Nora mit seinen dunklen Augen an und stützte sich auf den Besen.

»Danke Ihnen. Nein, ich bin nicht von hier«, antwortete sie lachend.

»Sie wirken auch wie ein verlorenes Reh, wenn ich das anmerken darf. Sie werden sich hier schnell einleben, vertrauen sie mir«, er zwinkerte ihr zu und machte dann mit seiner Arbeit weiter. Nora bedankte sich nochmal für seine Hilfe und verabschiedete sich dann.

Jetzt musste sie Ben's Tankstelle finden, wie der Mann es ihr gesagt hatte und dann könnte sich einen Wagen mieten, für hoffentlich nicht zu großes Geld, und dann würde sie nach Morgantown fahren. Laut Internet hatte es allerdings nur eine Ausgabe des Buches gegeben und diese sollte eben in der Library of Liberty sein. Sie war gespannt, ob allerdings nicht auf die Städtische und die Universitätsbibliotheken von Morgantown das Buch in ihrem Sortiment haben. Sonst wäre sie vollkommen umsonst hierher gefahren.

Sie ging erneut über den Platz, dieses Mal auf der Suche nach der Nebenstraße, von der dieser Mann erzählt hatte. Leider gingen vom Town Square einige Seitenstraßen ab, sodass Nora wieder den Stadtplan heraus kramen musste. Dabei nahm sie auch gerade ihr Handy in die Hand und sah, dass sie einen verpassten Anruf hatte. Camila Gallaghan. Noras Mutter. Kurz zögerte sie ob sie wirklich zurückrufen sollte, allerdings wollte sie nicht, dass sich ihre Mutter unbegründete Sorgen machte. Vermutlich war sie schon längst in Noras Wohnung gewesen und bemerkt, dass sie nicht da war. Vermutlich hatte Pete auch den Lügen nicht standhalten können und sie verpfiffen, weswegen nun die Standpauke wartete.

Sie seufzte und drückte dann auf den grünen Hörer zum Rückruf. Während das nervtötende Piepsen der Leitung andauerte, inspizierte Nora den Plan nach der Tankstelle. Als sie fündig wurde, nahm auch gerade ihr Gesprächpartner am anderen Ende ab.

»Eleonora Dayanara Marcia Gallaghan!«, ertönte die erzornte Stimme ihrer Mutter mit ihrem spanischen Akzent.

»Ja, mamá?«, entgegnete Nora und überquerte erneut die Straße. Ihr Ziel lag der Morrisson Street, auf deren Ecke zur Fleming Street sich ein Coffeeshop befand. Nach diesem Gespräch würde sie auch dringend einen Kaffee gebrauchen. Allerdings wäre ein Whiskey auch nicht verkehrt gewesen.

»¿Sabes qué preocupaciones mí ha tenido?« Natürlich begann jetzt ihre hispanische Mutter auf Spanisch mit ihr zu reden. Nora verdrehte genervt die Augen. Allerdings wurde ihr bewusst, dass sie sicher wusste, dass sie sich gerade nicht in New Mexico befand.

»Nein, ich weiß nicht, welche Sorgen du dir gemacht hast. Rede Englisch. Was hat dir Pete erzählt?«, hakte sie sogleich nach.

»Pete hat mir nada erzählt«, meinte Camila, »ich war an deiner Wohnung und da war alles so ruhig. Das war mir suspekt. Ich habe Pete angerufen, doch er hat mir nichts sagen wollen. Loyales Kerlchen. Donde eres, Eleonora?«

»Nicht da wo du bist«, meinte Nora griesgrämig als sie am Coffee Shop vorbei in die Morrisson Street ging. Nachfolgend musste sie sich eine Tirade ihrer Mutter anhören in der diese ihrem Zorn ausdruck machte, dass ihre – erwachsene – Tochter ihr nicht sagte wo sie hin ging.

»Ich bin 21, mamá. Du kannst nicht mehr über mich entscheiden. Wenn ich wegfahren will, dann fahre ich weg. Basta!« Ohne ihr auch nur einmal genannt zu haben wo sie sich gerade befand, legte Nora genervt auf. Das Gespräch war für sie beendet. Hätte ihre Mutter einfach nett angefragt wo sie sei, hätte sie es ihr auch erzählt, aber zu erst einmal minutenlang geschimpft zu bekommen gefiel ihr nicht. Deshalb sagte sie nichts. Sollte sie doch vor Ungewissheit in der Hölle schmoren!

Nora konnte von Weitem schon die Leuchtbuchstaben G A S S T A I O N sehen. Die Röhren, die das zweite T formten waren kaputt gegangen und flackerten hier und da nur auf. Von Weitem erkannte Nora schon, das ein wenig Betrieb an der Tankstelle herrschte und sie wohl warten müsste bis man ihr weiterhelfen konnte.

Das kleine Kioskhäuschen war mit dreckigem Weiß angestrichen und in der gläsernen Tür hing ein weiß-rotes Schild mit der Aufschrift »Open«. Nora ging an den Zapfsäulen vorbei und sah sich nach Personen um, die hätten Mitarbeite sein können. Und ehe sie jemanden finden konnte wurde sie gefunden.

»Kann ich Ihnen helfen, Miss?«, fragte eine männliche Stimme und ein Mann in dem aufzug eines Mechanikers kam unter einem Auto heraus auf einem Brett gerollt. Er hielt Schraubenschlüssel und Zange in den Händen und überall an ihm klebten Rückstände von dunklem Öl und Ruß. Schweißperlen hatten sich auf der Stirn des Mannes, mittleren Alters gebildet und das dunkelblonde Haar klebte an der Haut. Auf seinem grauen Anzug war ein Aufnähe an der Brust, der ihn als Ben identifizierte.

»Mir wurde gesagt man könne hier Autos mieten?«, fragte Nora höflich als der Mann sich von dem Brett erhob und auf sie zukam. Aus einer der Hosentaschen des Anzugs hing ein Handtuch heraus, mit dem sich Ben die Hände abwischte.

»Ja, genau, das können Sie hier bei mir, Ben mein Name. Na dann kommen Sie mal mit«. Ben führte Nora um den Shop herum auf einen großen Parkplatz wo viele verschiedene Wagen standen. Von Oldtimern wie 67er Camaros bis hin zu neuwertigen Mini Cooper.

Nora hatte nicht lange zu suchen brauchen bis sie sich für einen Volkswagen Golf entschied, dessen Mietpreis auch vollends in ihrem Budget lag, sie hatte ja nur vor ein paar Tage zu bleiben, da wurde es auch nicht teuer. Schnell wickelte sie die Vermietung mit Ben ab, der ihr dann die Schlüssel aushändigte und sie begab sich sogleich auf den Weg nach Morgantown. Hoffentlich würde sie dort fündig werden.

 

Kapitel 3


Morgens in Morgantown

 
Morgantown lag unter einer grauen Wolkendecke, die jeden Moment danach aussah, als würden gleich tausende Eimer voller Regentropfen aus ihr fallen. Nora hatte das Autoradio aufgedreht und auch dort bestätigte der Nachrichtenmoderator an diesem Morgen die gleichen Wetteraussichten, die sich Nora schon gedacht hatte. Regen. Super, sie hatte nicht daran gedacht einen Regenschirm mitzunehmen.

»Bin ja zum Glück nicht aus Zucker«, murmelte sie zähneknirschend.

Sie musste die halbe Stadt durchqueren bis sie zur Universität kam. Gut, dass das Auto ein Navigationsgerät eingebaut hatte, denn mit Noras Orientierungssinn hätte sie nie wieder nach Morgantown gefunden.

Als sie sich nach etwa einer halben Stunde durch den Berufsverkehr bis zur Universität durchgeschlagen hatte, parkte sie dort auf einem Parkplatz und machte sich auf den Weg über den Campus. Das Gute war, dass der Parkplatz sich direkt neben der Campus Bibliothek befand und sie so nicht über den Campus irren musste.

Die Bibliothek war groß und geräumig und Nora fühlte sich sofort wohl. An einem der vielen Schreibtische ließ sie sich nieder, legte ihren Laptop auf den Tisch und fuhr ihn dann hoch. Wenn sie wegen den Betriebsferien der Hidden Creek-Bibliothek schon nicht an das Buch rankam, hatte sie noch die Hoffnung vielleicht andere Bücher hier zu finden, die ihr bei ihrer Hausarbeit weiterhalfen. Sie überprüfte schnell online ob die WVU einen Online-Katalog besaß um Bücher auszuleihen und wurde fündig. Sie tippte den Begriff »Okkultismus« in die Suchleiste und ließ das Internet den Rest tun. Und dann staunte sie.

Der Online-Katalog hatte sogar die Library of Liberty von Hidden Creek in ihrem Sortiment und Nora sah zu ihrer Enttäuschung, dass ihr Wunsch-Buch schon ausgeliehen war. Ungläubig starrte sie ihren Bildschirm an. Bibliothek zu und Buch ausgeliehen. Zweimal Pech heute.

»Wer leiht sich schon das Buch aus?!«, fluchte sie leise über die Person, die so frech war ihr das Buch wegzunehmen. Tja, offenbar hatte es noch jemand gebraucht. Doch dann kam ihr ein Gedanke und sie klappte den Laptop zu und nahm ihn unter ihren Arm. Sie ging zu einem der Service-Stände und wartete bis eine ältere, blonde Frau mit Brille sie bediente.

»Guten Tag, ich hab in Ihrem Online-Katalog gesehen, dass sie auch das Sortiment der Bibliohek in Hidden Creek verwalten. Ich interessiere mich für ein bestimmtes Buch, von dem es nur ein Exemplar dort gibt, das leider ausgeliehen ist und wollte fragen ob es möglich wäre zu erfahren, wer es ausgeliehen hat?«, sie lächelte freundlich und die Frau schaute ernst über ihrer Brillengläser.

»Titel des Buches?«, fragte sie und schaute Nora an.

»Von Séancen, Glaube und Magie«,antwortete Nora und die Finger der Frau begannen über die Tasten des Computers zu fliegen.

»Von Séancen, Glaube und Magie: Eine Geschichte der okkultistischen Gesellschaft Amerikas ab dem 18. Jahrhundert? Ausgeliehen vor knapp einem Monat von Matrikelnummer 2553843, einem Mr Andrew Forster«, antwortete die Frau und schaute Nora wieder über die Brillengläser an.

»Haben Sie vielleicht eine Adresse? Ich würde gerne diesen Mr Forster kontaktieren.«

»Wir dürfen keine Daten wie Anschrift oder Telefonnummer an Fremde herausgeben. Wir bitten um Ihr Verständnis«, sagte die Frau mit gereiztem Unterton, als wäre es selbsterklärend und logisch und als hätte Nora sich dran gestellt wie der letzte Idiot auf Erden.

»Klar...das ist klar... danke trotzdem«, mit Enttäuschung im Bauch ging Nora zurück zum Tisch, wo sie ihre Tasche stehen gelassen hatte. Natürlich verstand sie es, dass man nicht einfach Adressen und Nummern an Fremde herausgeben durfte, aber hätten sie nicht einmal eine Ausnahme machen können? Sie war völlig umsonst nach Hidden Creek gefahren und hatte völlig umsonst all ihr Gespartes für den Trip ausgegeben. Verzweifelt ließ sie sich in den Stuhl sinken, stütze die Arme auf dem Tisch ab und legte das Gesicht in ihre Hände. Was stellte sie denn bloß mit ihrer Hausarbeit an? Wie sollte sie die nötigen Infos beschaffen?

»Verzeihung?«, eine weibliche Stimme erklang von ihrer linken Seite und Nora schaute auf und blickte in das Gesicht einer jungen Afro-Amerikanerin.

»Ich hab gerade eben mitangehört, dass du die Adressen von Andrew Forster haben willst? Ich kann sie dir geben«, lächelte sie, »ich bin Malory Lawrie«

»Nora Gallaghan«, entgegnete Nora und ihr Miene erhellte sich, »Das würdest du tun? Das wäre unfassbar lieb von dir.«

»Klar«, Malory kramte einen Zettel aus ihrer Hosentasche und kramte in ihrer Tasche nach einem Stift. Malory hatte schokoladendunkle Haut und schwarzes Haar, das in feinen Zöpfchen nach hinten geflochten war und in einem Pferdeschwanz endete. Ihre dunklen Augen waren auf das weiße Stück Papier geheftet, während sie Nora die Adresse des erwähnten Andrew notierte. Malory trug einen dunkelblauen Kapuzenpulli mit der Frontaufschrift »University of West Virginia« und einen klassischen knielangen, schwarzen Faltenrock.

»75 Oakwood Road in Hidden Creek«, las Nora auf dem Zettel und schaute Malory überrascht an, »Oakwood Road?«

»Oh, ja...«, Malory steckte den Stift weg, »... ich könnte es verstehen, wenn du da lieber nicht hingehen willst, bei all den Dingen, die da vor sich gehen...«

»Das meinte ich nicht mal«, sagte Nora. Auch Malory dachte, dass dort merkwürdige Dinge vor sich gingen. Was war nur mit den Leuten hier los?

»Nein? Aber du wirkst so überrascht darüber.«

»Das war nur weil... ich wohne momentan in der Pension in der Oakwood Road.«

»Ja? Rosemarie ist eine gute Freundin meiner Tante. Sie ist manchmal etwas seltsam und überfreundlich, aber sonst eine richtig Liebe«, Malory lächelte, »du bist nicht von hier, richtig?«

»Nein, ich komme aus Albuquerque«, antwortete sie knapp.

»Und wieso bist du hier?«

»Eigentlich nur wegen dem Buch, das Mr Forster hat.«

Malory zog die Augenbrauen überrascht die Augenbrauen hoch.

»Oh, ich hätte echt gedacht, dass du vielleicht wegen dem ganzen Geister- und Urban Legends-Kram hier bist. Es laufen viele Möchtegern-Geisterjäger auf dem Campus und der Stadt herum, die Beweise für all die seltsamen Dinge sammeln wollen, die hier in der Region abgehen.« Malory hatte sich auf dem Tisch abgestützt und die Stimme gesunken.

»Geister und urbane Legenden?« Nora war überrascht. Gut, das erklärte das Verhalten der Bewohner – offenbar waren sie alle sehr affin für Paranormales. Aber das war doch alles Quatsch. Geister, Feen, Dämonen, Werwölfe. All dieser Fantasy-Kram war doch nur der klägliche Versuch unbekannte Dinge erklären zu können, wenn die physikalischen und wissenschaftliche Erklärungen zu kompliziert waren. Nora war sich sicher, dass die Phänomene, die bei Geistererscheinungen entstanden ganz einfach mit der Wissenschaft erklärbar waren. Sie amüsierte die paranoiden Gedankengeschöpfe der Menschen, weswegen sie ihre Hausarbeit auch darauf fixiert hatte. Man könnte sagen, Nora sei eine waschechte Skepitkerin.

»Ich hab 'ne Idee, Nora«, setzte Malory lächelnd an, »Wir gehen 'nen Kaffee trinken und ich erzähl dir all die krassen Geschichten dieses Countys. Wie sieht's aus?«

Nora winkte lachend ab. »Normalerweise gerne, ich mag Geistergeschichten, aber ich muss mich um das Buch kümmern. Vielleicht ein andermal, Malory...«

»Oh, okay. Vielleicht sieht man ja mal im Dorf«, sagte Malory, lächelte und verließ sie dann.

Sie packte ihren Laptop in ihre Tasche, steckte den Zettel mit der Adresse in die Jackentasche ihres Parkas und verließ die Bibliothek.

Draußen war es immer noch ungemütlich und bewölkt und Nora gab die Hoffnung auf hier in West Virginia noch die Sonne zu erblicken. In New Mexico war es selbst im Herbst noch angenehm warm und die Sonne schien lange. Sie konnte es kaum erwarten diesem Mistwetter zu entfliehen und wieder im Süden zu sein. Dennoch musste sie erst dieses Buch beschaffen, ehe sie sich guten Gewissens wieder in den Bus zurück nach Albuquerque sitzen konnte.

Auf dem Parkplatz stieg sie in den Mietwagen und fuhr wieder in Richtung Hidden Creek. Oakwood Road Nr. 75, das müsste sich doch finden lassen.

 

* * *

 

Langsam blätterte er die vergilbten Seiten des dicken Buches um und las mit angestrengter Miene die fremdländischen Buchstaben. Neben dem Buch lag ein offenes, kleines, schwarzes Notizbuch in das er sich mit einem Kugelschreiber Notizen machte. Immer wieder murmelte er ein paar einzelne Worte und Sekunden später kritzelte er diese, sowie kleinere Zeichnungen auf das weiße Papier seines Notizbuches. Nach einiger Zeit und einigen vollgeschriebenen Seiten, klappte er das große, mit braunem Leder gebundene Buch zu und schob es auf seinem Schreibtisch zur Seite, sodass er in der Mitte der Holzplatte eine freie Fläche zum Arbeiten hatte. Dann ging er durch den kompletten Raum, verließ ihn, ging in seine Küche und holte dort ein Tablett mit Utensilien. Er hatte das Tablett am gestrigen Abend vorbereiten und war gespannt ob das kleine Experiment das er wagen würde auch funktionieren würde. Das Tablett stellte auf dem Schreibtisch ab und räumte es ab. Darauf befanden sich eine weiße, dicke Kerze, ein Bündel voller verschiedenster Kräuter, eine kleine Schüssel mit Salz, eine Schüssel mit Pfeffer und ein Glas mit klarem Wasser. Aus seiner Hosentasche zog er dazu eine kleine Phiole, die ebenfalls mit durchsichtiger Flüssigkeit gefüllt war.

Er stellte die Kerze in die Mitte der Holzplatte und streute das Salz aus der Schüssel in Kreisform darum aus. Nachdem das Salz im Kreis um der Kerze herum platziert war, fiel ihm auf, dass noch Utensilien fehlten. Schnell ging er zum Ende des rechteckigen Raumes, wo eine Glasvitrine an der holzverkleideten Wand stand und er öffnete die Glastür. Er nahm ein weißes Seidentuch und ein Gerät, das einem Messer glich, heraus und ging wieder zu seinem Schreibtisch. Ehe er alles weiter für das Experiment vorbereitete, blätterte er in seinem Notizbuch und las sich erneut sein Geschriebenes durch.

»Das geweihte Wasser auf den Docht der Kerze träufeln...In der Flamme Thymian, Chilischoten und Safran verbrennen... dann mit Athame Blutopfer-«, seine Aufmerksamkeit wurde plötzlich von etwas Anderem erfasst. »Karni? Was machst du denn hier unten? Ich hab dir doch gesagt du sollst oben bleiben, weil ich diesen Zauber testen muss.« Blake ging in die Hocke und das pinke Wesen kam auf ihn zu gehüpft. Sie begann zu quieken.

»Ich mache das weil ich wissen will ob der Zauber denn funktioniert.« Blake strich durch Karnis Fell, doch diese schaute ihn vorwurfsvoll mit ihren großen Augen an und ließ erneut ein Quieken hören.

»Nein, ich bin nicht verzweifelt!«, missmutig zog er eine Augenbraue hoch, »das letzte Mal ist eben ewig her. Wieso sollte ich dann nicht ein wenig mit Magie nachhelfen? Ich weiß, dass es dumm ist Liebeszauber zu praktizieren, aber wenn es eben nicht anders funktioniert. Außerdem hat die Welt mehr Freundlichkeit verdient – erst recht wo Braxton wieder in der Stadt ist.«

Sicher, Blake hatte nicht die besten Argumente parat um das Praktizieren eines Liebeszaubers zu rechtfertigen, zumal er sogar gegen das Credo seines Zirkels verstoßen würde, wenn der Zauber sich als wirksam bewies. Doch ehrlich gesagt hatte Blake wenig Hoffnung, dass seine Traumfrau wenige Minuten nach der Zauberei vor seiner Haustür stehen würde. Karni quiekte tief, das einem Seufzer gleichkam und meinte dann in einem anderen Quieken, dass sie ihn nicht daran hindern würde.

»Danke«, lächelte Blake und richtete sich wieder auf. Karni hüpfte wieder aus dem Raum und er konnte hören, wie das Wesen jede der knarzenden Treppenstufen nach oben nahm. Er lächelte belustigt und wandte sich wieder dem Zauber zu. Es war alles fertig vorbereitet.

Ehe Blake begann das Wasser aus der Phiole über die Kerze zu träufeln griff er vom Ausschnitt aus in seinen Pullover und zog einen runden, grauen Anhänger an einer Kette, die um seinen Hals lag, heraus. Die runde Marke zeigte ein Symbol, bestehend aus zwei parallelen Linien, die schwungvoll von oben nach unten verliefen und sich kurz über der Mitte näher kamen um wieder auseinander zu fließen und in der Mitter einen Bauch zu formen. Wie eine Fließ-Bewegung wirkten die eingeritzten Linien, die nichts verband außer eine Querlinie, die sich durch die breite Stelle der beiden fließenden Linien zog. Zusammen mit einer, etwas kürzeren, vertikal verlaufenden Linie bildete die Querlinie ein Kreuz, das wirkte als wäre es um 90° im Uhrzeigersinn gedreht worden.

Blake betrachtete kurz andächtig den Anhänger, führte ihn kurz zu seinen Lippen und ließ die Kette dann wieder auf seine Brust fallen.

Er öffnete die Phiole, tröpfelte das geweihte Wasser, das er sich diesen Morgen noch aus der Dorfkirche besorgt hatte, auf die weiße Kerze und zündete diese mit einem Feuerzeug an. Mit einem leisen Zischen erhob sich die Flamme und Blake nahm die nächsten Zutaten. Zuerst nahm er sich ein Zweig Thymian, den er in die gelbliche Flamme hielt und sofort erfüllte sich der Raum mit angenehmem, aphrodisierendem Geruch. Gefolgt wurde der Thymian, nachdem der Zweig zu Asche geworden war, von einer kleinen Chilischote, die sogar die Kerzenflamme kurz rötlich erscheinen ließ. Magie! Danach streute Blake eine Prise Safran in die Flamme, die unkontrollierbar zu züngeln begann, nur um sich in Sekundenschnelle wieder zu beruhigen. Blake begann kurze Sätze auf einer fremden Sprache zu flüstern, während er die messerartige Gerätschaft, ein sogenanntes Athame, nahm und sich in die Handinnenfläche schnitt.

»Ìfẹ wá si mi«, er hielt die Hand über die Kerzenflamme und ein paar Tropfen Blut tropften in die Flamme, die darauf verrückt spielte, »Wa mi lori. Enchant mi. Ni ife mi. Fẹran pupọ mi.« Er machte eine kurze Pause und drückte seine Hand weiter zusammen, sodass mehr und mehr Blut in die Flamme und auf das weiße Tuch fielen. Erst dann setzte er zu den nächsten Phrasen an.

»Ìfẹ wá si mi. Jẹ ki ọwọ mi o. Jẹ ki mi sọrọ si nyin. Nipa awọn oriṣa. Lori awọn iseda. Nipa o ati ki o mi. Jẹ ki mi jẹ aye re. Ìfẹ wá si mi. Amin.«

Mit dem letzten Wort fiel auch der letzte Tropfen Blut in die Kerzenflamme und mit einem Mal leuchtete das Symbol auf Blakes Kettenanhänger auf. Sekunden später war die Flamme der Kerze erloschen und jeglicher Duft von Thymian, der zuvor den Raum erfüllt hatte, war wie weggeblasen. Es war so als wäre nie etwas gewesen. Lediglich Blakes Kopf tat nun weh. Doch er war dennoch froh, dass es zu Teilen funktioniert haben müsste, denn bei schiefgegangen Zaubern spürte man die Magie noch in die Luft. Bei Vollendeten Zaubern verflog diese sofort aus der Umwelt und wurde in die Aura des Zauberers integriert.

Erschöpft ließ Blake sich in seinen Schreibtischstuhl sinken und beschloss all die Zauberutenisilien später wegzuräumen. Zaubern kostete viel Energie, die er sich gerne erst wieder beschaffen wurde, ehe er sich erneut anstrengen musste.

Er schloss kurz die Augen nachdem er den Schnitt in der Hand betrachtet hatte, der aufgehört hatte zu bluten. Er strich sich durch das schwarze Haar und begann gerade weg zu dösen als seine schrille Türklingel ertönte. Seufzend stand er auf und ging in den Flur um zu sehen wer an der Tür war. Er strich sich mit der Hand durchs Gesicht und drückte mit der anderen den Türgriff hinunter. Wie müde ihn dieser verhältnismäßig einfache Zauber gemacht hat, erschreckte ihn. Er öffnete die Tür und erschrak noch mehr.

 

Author's note:

*ich weiß, dass noch Fehler drin sind, die werden aber in den kommenden Tagen berichtigt!*

Kapitel 4

 
Im Tunnel

 

Erschrocken schaute er die fremde Person an, die ihn freundlich anlächelte.

»Hallo, guten Morgen, entschuldigen Sie die Störung. Mein Name ist Nora Gallaghan, ich suche einen Andrew Forster«, sagte die junge Frau vor ihm, doch Blake konnte zuerst gar nicht reagieren. Sie war... er wusste gar nicht, wie er es beschreiben sollte.

Ihre dunklen Locken fielen geschmeidig auf ihre Schultern und die grün-braunen Augen musterten ihn erwartungsvoll. Er fühlte sich wie gefangen in ihrem Blick und bemerkte gar nicht, dass er eigentlich etwas antworten sollte. Sie schien ihn in eine Art Bann gezogen zu haben und plötzlich fühlte er eine Hitze in der Region seines Herzens als würde dieses in Flammen aufgehen.

»Alles in Ordnung?«, fragte sie zögerlich und Blake fuhr auf.

»Ja... ja, klar. Andrew Forster? Das bin ich. Naja, eigentlich Andrew Blake. Blake ist mir lieber«, sagte er und versuchte so cool wie möglich zu bleiben. Irgendetwas musste bei dem Zauber schief gelaufen sein. Er fühlte sich so seltsam in diesem Moment. »Was gibt es denn?«

»In der Bibliothek der WVU sagte man mir Sie hätten das Buch Von Séancen, Glaube und Magie ausgeliehen und ich wollte fragen, ob Sie es noch benötigen? Wissen Sie, ich bräuchte es für eine wichtige Hausarbeit-«

Blake zog die Augenbrauen zusammen.

»Ich habe das Buch nicht«, log er und plötzlich bemerkte er wie sich etwas auf der gegenüberliegenden Straßenseite bewegte. Misstrauisch schaute er an Nora vorbei. Etwas verbarg sich im Gebüsch des Vorgartens des gegenüberliegenden Hauses. Als würden sie beobachtet werden.

»Was? Aber in der Bibliothek sagten sie Sie hätten-«

»Scheiße«, murmelte Blake und richtete dann den Blick wieder auf Nora. Plötzlich war alle Müdigkeit von ihm gefallen und sein innerer Alarm war aktiviert. Er sah wie sich die Büsche regten und der Beobachter aus seinem Versteck heraus trat. Zielsicher kam er auf Blakes Haus zu.

»Sie sollten jetzt besser gehen«, sagte er und legte seine Hände auf Noras Schulter und versuchte sie von seiner Türschwelle weg zu schieben. Doch Nora empörte sich darüber und war nicht bereit zu gehen.

»Wirklich, Miss, Sie müssen jetzt geh-«, Blake beobachtete die Person, die schnellen Schrittes die Straße überquerte. Die Kleidung war dunkel, mit kleinen, roten Ornamenten versetzt und sein Gesicht wurde durch eine Kapuze verhüllt. In der Mittagssonne blitzte eine Klinge aus dem Ärmel des Mantels der Person hervor und Blakes Augen weiteten sich. Nora bestätigte, dass sie nicht eher gehen würde ehe sie nicht wüsste wo das Buch nun war und es in ihren Händen hielt.

»Fuck«, zischte er, nahm Noras Handgelenk und zog sie mit einem heftigen Ruck in sein Haus. Perplex blieb Nora im Flur stehen, während Blake die Haustür zuknallte und so gut es ging verriegelte. Er hörte schon, wie der Klingen-Mann die Verandastufen hinauf ging und Blake stürmte in sein Wohnzimmer und packte sich schnell das kostbare Buch, das auf seinem Schreibtisch lag. Nora musterte das Spektakel irritiert, doch Blake kam schnell wieder, ergriff erneut ihre Hand und zog sie hinter sich her in Richtung Keller. Nora hörte schon wie der Fremde mit seiner Klinge gegen die Eingangstür hämmerte und versuchte das dicke Holz zu durchbrechen.

Blake zog Nora quer durch das Haus, das Buch fest unter dem Arm geklemmt. Bevor sie die Schwelle zum Keller überschritten ließ Blake ein paar scharfe Pfiffe hören. Nora wunderte sich wozu es gut war, doch es blieb keine Zeit ihn zu fragen. Er zog sie auf die dunkle Treppe und ließ sie dort stehen, während er in die Tiefen des Kellers rannte.

»Schließen Sie die Tür«, -1 rief er vorher noch und die Dunkelhaarige tat wie ihr aufgetragen. Sie schloss die Kellertür und drehte den Schlüssel so oft um wie möglich um, während Blake das Licht anschaltete.

»Was zur Hölle ist hier los? Wer war das? Sind wir nun sicher?«, fragte Nora und ging die beleuchtete Treppe hinab in den Keller. Adrenalin fuhr durch ihren Körper und sie fühlte sich unwohl in diesem Gemäuer.

»Nein, noch lange nicht. Aber Karni wird sich für's Erste um ihn kümmern. Wir haben etwas Zeit. Wie war Ihr Name noch gleich? Nora, richtig?«, Blake begann auf dem Boden das Buch aufzuklappen und hektisch darin herum zu blättern. Dann setzte er sich auf die Knie, legte seine Hände auf die Doppelseite des Buches und schloss die Augen.

»Ja, Nora. Wer ist Karni und was wollte dieser Kerl von uns? Ist der hinter Ihnen her oder wieso attackiert er uns mit einer undefinierbaren Klinge?«, Nora sah sich in dem kleinen Raum um und wartete auf eine Antwort von Blake. Doch diese kam nicht. Er saß schweigend auf dem Boden, atmete kontrolliert ein und aus und formte stille Wörter mit seinen Lippen.

Der Raum war ungefähr zwanzig Quadratmeter groß und an den steinernen Wänden standen auf jeder Seite hohe Regale, die voll mit Büchern, Gläsern und kleinerem Schnickschnack. Nora ging die Regale ab, betrachtete die verstaubten Buchrücken und fuhr mit den Fingern darüber. Auch nahm sie das ein oder andere Glas in die Hand, in dem merkwürdige Substanzen und Ingredienzen vor sich hin vegetierten. Mal war es grüner Schleim, rote Flüssigkeit oder schwarze Körnchen. Manches hatte Nora fasziniert betrachtet, anderes angeekelt zurück ins Regal gestellt.

»Also, wie geht es jetzt weiter?«, fragte Nora nach einer Weile und schaute zu Blake. Zuerst hatte er panisch gewirkt und sie hier runter geschleppt – verständlich wenn man bedroht wurde, doch jetzt erschien alles so ruhig und er gelassen. Was war los? Das war komplett sinnlos. Doch wieder bekam sie keine Antwort und schob die Unterlippe beleidigt vor. Sie ging rüber zu Blake und ging gegenüber von ihm in die Knie.

»Was ist das für ein Buch?«, fragte sie und fuhr mit dem Zeigefinger über die vergilbten Seiten. Blitzschnell hatte Blake ihre Hand weg gehauen und Nora schaute ihn fragend an.

»Aua«, fluchte sie, ihre Stimme hebend und stand wieder auf. »Nicht mal gucken darf man«, murmelte sie.

»Nehmen Sie es nicht persönlich. Das Buch ist empfindlich«, sagte Blake und öffnete seine Augen.

Nora schaute ihn an. »Sie können mich übrigen duzen...Woah!«

Aus der Etage über ihnen ertönte plötzlich ein lautes Fiepen und etwas knallte mit großer Wucht auf den Boden, dass die Kellerdecke wackelte und ein wenig Staub und Dreck runter prasselte. Nora schreckte auf und schaute nach oben. »Was war das?«

»Das war... meine Katze.« Blake schaute hoch, stand auf, schnappte das Buch und schnappte sich eine Taschenlampe aus einem der Regale.

»Wir müssen weg. Ihre Kräfte haben versagt. Er wird bald hier sein. Mein Schutzzauber wird nicht viel bringen... ich wurde ja unterbrochen« Er blickte Nora böse an, änderte aber schnell seinen Gesichtsausdruck als er merkte, dass Nora ihm nicht folgen würde.

»Ich weiß, das hier alles erscheint ganz wirr und irreal und wirft viele Fragen auf. Ich kann dir die Antworten geben... später. Wir müssen erst lebend hier weg«, Blakes Stimme war ruhig und sein Blick hatte etwas, das Nora magisch in seinen Bann zog.

»Wie sollen wir hier weg? Der Keller ist eine Sackgasse und wenn du nicht durch Magie, oder so etwas, ein paar unterirdische Tunnel herzauberst, kommen wir hier nicht weg...«, Nora verschränkte die Arme vor der Brust und ging näher auf Blake zu, der begann eines der Regal etwa einen Meter zur Seite zu schieben. In der Steinwand klaffte ein großes Loch durch das locker ein Mensch passte.

»Das ist jetzt nicht dein Ernst?« Nora untersuchte das Loch und legte die Hand auf den Stein. Sie schaute hinein und sah nichts außer Absoluter Dunkelheit.

»Taschenlampe«, sagte Blake nur und warf Nora die Taschenlampe zu, die er in den Händen hielt. Ungeschickt fing sie die Lampe auf und knipste sie an. Blake nahm eine Zweite aus dem Regal und schaltete bei dieser auch das Licht ein.

»Wo kommen wir raus?«, fragte Nora und leuchtete in den Gang. Sie hasste die Dunkelheit, hasste es mehr als jede Mathematikaufgabe, mehr als unfreundliche Menschen, mehr als all die Krabbeltiere in der Natur, die sie verabscheute. Dunkelheit war das Schlimmste für sie von allem. Diese Kontrolllosigkeit, wenn die Augen nichts erkennen konnten, die gruseligen Geräusche der Nacht, die rationale Erklärungen besaßen und einem trotzdem das Mark in den Knochen gefrieren ließ, die Angst alleine gelassen zu werden und einsam zu verenden.

Blake ging mit dem Buch unter dem Arm in den Gang und wies Nora per Handbewegung an, ihm zu folgen. Zögerlich überschritt sie die Schwelle und zog den Kopf ein.

»Nein, nein, ich kann das nicht«, sagte sie plötzlich und sprang zurück in den Keller.

»Komm jetzt, wir verlieren Zeit!«, fauchte Blake und winkte sie zu sich. Doch Nora schüttelte den Kopf. Sie spürte wie ihre Augen nass wurden und sie kaum noch Luft bekam. Zu schwer war die Angst vor dem Dunklen, zu stark ein Trauma aus ihrer Kindheit.

Blake seufzte. Er ging die wenige Schritte zurück, verließ damit den Gang und legte seine Hand auf Noras Schulter als er vor ihr stand.

»Hast du Angst vor der Dunkelheit?«

Nora nickte.

»In Ordnung. Du schaffst das. Ich bin da, dir kann nichts passieren. Ich passe auf dich auf. Wir müssen jetzt los, der Schutzzauber hält nichts lange... vertraust du mir?«

Er schaute sie mit seinen grauen Augen sanft an und Nora nickte.

»Mir bleibt wohl nichts Anderes übrig«, sagte sie mit belegter Stimme und Blake lachte auf.

»Nicht die beste Einstellung, aber für den Anfang reicht es. Gib mir deine Hand und bleib vor mir, dann kann dir nichts passieren«, sagte er und Nora schob sich an ihm vorbei in den Gang.

»Dieser Schutzzauber? Das kann doch nicht dein Ernst sein? Es gibt so was wie Magie nicht. So etwas existiert nicht«, meinte Nora als sie einige Schritt gegangen waren. Blake hatte zur Sicherheit das Regal wieder vor den Eingang des Ganges geschoben. Er hatte sich extra in die Rückwand des Regals Kerben geschnitzt, damit es leichter war die glatte Fläche zu ziehen. Nora beunruhigte die jetzige Situation dadurch noch mehr. Es gab nicht mal mehr einen Ausgang, den man auf die Schnelle hätte nutzen können.

»Hey, wie du siehst leben wir noch und der Typ hat uns nicht verfolgt. Das ist doch perfekte Beweis, dass Magie funktioniert?«, Nora konnte durch das Licht der Taschenlampen erkennen wie Blake sie verschmitzt angrinste.

»Das ist sicher nur Zufall. Vielleicht hat er von uns abgelassen... das wäre schön«, meinte Nora und mit ihrer Taschenlampe sondierte sie die Umgebung. Der Gang war gerade nur so hoch, dass man als durchschnittlich großer Mensch reinpasste, weswegen Blake sich etwas krumm machen musste. Er war mit seinen 181 Zentimetern etwas zu groß für den Gang gewesen. Nora passte mit ihren 170 hingegen ohne Probleme hinein. Die Wände standen nah beieinander, sodass die Beiden kaum eine Möglichkeit hatten nebeneinander zu laufen.

»Pappalapapp«, sagte Blake belustigt, »Magie existiert. Nicht so wie man glauben mag. Als Beherrscher der Magie schießt man keine Lichtblitze und -Kugeln aus seinen Fingern. Es ist vielmehr eine Kraft, von der wir alle umgeben sind und die jeder in sich trägt. Andere nennen es Aura, Karma oder Mana, aber im Grund ist es alles das Gleiche.« Blake trat einen Schritt näher an Nora und diese bleib abrupt stehen.

»Wenn ich zum Beispiel so nah bei dir stehe, berühren sich deine und meine Magie und sogenannte Chemie entsteht. Spürst du es?« Blake schaute sie schief lächelnd an und wartete auf ihre Reaktion.

Nora spürte tatsächlich etwas. Etwas zog sie an diesem Mann an. Etwas Magisches. Eine Art Wärme und ein seltsames Gefühl von Wohlbefinden.

»Nein«, log sie und wich seinem Blick aus, ehe sie weiterging. Sie hörte wie er leise kicherte, als wäre er sich sicher gewesen, dass sie gelogen hatte. Sie spürte wie ihre Wangen rot anliefen und konnte sich nicht erklären wieso.

»Woher weißt du das mit dieser Energie?«, fragte sie neugierig, während sie den Gang weiter ging. Vor ihnen tat sich eine Kreuzung auf und Blake schob sich an Nora vorbei nach vorne.

»Wir gehen nach rechts. Nun ja, wenn du von einer Familie abstammst, die sich damit rühmt die ersten Hexen in Monongalia County zu sein bekommst du einiges an Informationen ab – ob du willst oder nicht.«

»Deine Familie hält sich für Hexen?«

»Zumindest ein Teil. Meine Großeltern waren Professoren für Geschichte in Massachusetts und haben sich mit den Hexenprozessen von Salem beschäftigt. Durch ihre Forschungen waren sie beide irgendwann so wirr, dass sie selbst angefangen haben zu glauben sie könnten Zaubern und das hat sich dann irgendwann auf meine Eltern übertragen, die sogar in Jugendjahren einem Zirkel angehört haben – laut eigener Aussage.«

»Wow, das ist schräg«, lachte Nora.

»Willkommen bei den Forsters«, lachte Blake und bog an einer weiteren Tunnelkreuzung nach links ab. Ab jetzt ging es einige Stufen nach unten.

»Pass auf, man rutscht gerne ab«, warnte Blake und leuchtete mit der Taschenlampe auf die Stufen. Selbst er hatte hier oft Probleme und trat zu schief auf, obwohl er diesen Weg fast täglich ging und die Tunnel in und auswendig kannte.

»Wo gehen wir überhaupt hin?«, fragte Nora und tastete sich mit der freien Hand an der Wand entlang die Stufen hinab.

»Ich muss das Buch bei einem Freund abgeben«, antwortete Blake und blieb stehen. »Achtung, da ist eine Felsenklippe zu unsere Linken. Hier geht’s weiter.« Er leuchtete mit der Lampe geradeaus, wo es etwa einen Meter auf dem restlichen Weg runter ging. Blake hopste gemütlich von dem Vorsprung und half Nora dann vom Vorsprung runter, nachdem er das Buch auf dem Boden ablegte. Nora rutschte mit einem Fuß weg, doch Blake konnte sie auffangen. Wie bei der Endposition eines Tangos lag sie in seinen Armen und sie schaute ihn verwundert an. Im schwachen Licht der Taschenlampen erkannte sie jetzt erst, dass seine linke Gesichtshälfte anders wirkte. Verschrumpelt und narbig. War das vorher auch schon gewesen? Wieso war es ihr dann nicht früher aufgefallen?

»Gerettet«, grinste er verschmitzt und Nora befreite sich aus seinen Armen.

Sie bedankte sich schnell und rutschte in ihre Gedankenwelt ab. Was war das in seinem Gesicht gewesen? Hatte sie sich das nur eingebildet oder wirklich übersehen gehabt? Peinlich berührt wandte sie den Blick ab und ließ Blake wieder den Vortritt. Er hatte schließlich Ahnung wo sie hin mussten. Auch wenn Nora nicht ganz klar war wo sie rauskommen würden. Bei einem Freund war nun wirklich keine präzise Antwort. Stattdessen dachte sie darüber nach, weiter ihr Ziel zu verfolgen. Sie brauchte dieses Buch, das ganz allein war der Grund, wieso sie in dieser Stadt war. Und heute war sie mehr vom Ziel abgekommen, als sie es geplant hatte. Sie hatte gedacht es wäre einfach dieses Buch zu beschaffen, doch da hatte sie sich wohl getäuscht.

»Was ist das da überhaupt für ein Buch?«, fragte sie nach einer Minute des Schweigens und zeigte auf das Buch unter Blakes Arm.

»Du glaubst es mir ja eh nicht, aber das ist ein Zauberbuch«

Nora blieb ungläubig stehen. Blake drehte sich um und leuchtete sie mit seiner Lampe an.

»Du willst mich doch mit diesem ganzen Magie-Kram veräppeln? Und du hast mir immer noch nicht erzählt, wo wir hingehen und wieso uns dieser Typ vorhin attackiert hat. Ich hätte gerne Antworten«, Nora verschränkte die Arme vor der Brust und schaute ihren Begleiter mit einer hochgezogenen Augenbraue an.

»Es hängt alles zusammen. Dein Buch, mein Buch, die Magie, der Angreifer. Eigentlich darf ich dir nichts davon erzählen, doch nun bist du hier und mitten drin in dem ganzen Chaos.«

»Was für ein Chaos?«, fragte Nora und Verzweiflung mischte in ihrer Stimme mit. Verdammt, wieso konnte dieser Kerl ihr keine normale Antwort auf ihre Fragen geben?

»Wenn wir aus dem Tunnel sind beantworte ich dir jede einzelne Frage«, sagte Blake nach einem tiefen Seufzer, »Versprochen.«

Nora schaute den Mann kurz an und nickte dann. Er wich ihren Fragen schon wieder aus.

»Okay. Dann nichts wie raus hier«, raunte sie sauer und marschierte an Blake vorbei, der daraufhin versuchte mit Nora Schritt zu halten. Blake musste feststellen, dass es nicht so einfach war. Nora beeilte sich ziemlich: Sie wollte jetzt hier raus! Sie wollte Antworten! Sie wollte dieses Buch und sie wollte nach Hause! Wut stieg in ihr auf und sie musste sich beherrschen, nicht die Wände einzuschlagen. Hätte sie geahnt wie aufwendig das werden würde, hätte sie einfach eine Hausarbeit über Quantenphysik geschrieben.

Ja, das wäre vermutlich einfacher gewesen.

 

 

ENDE Kapitel 4

 

Kapitel 5


Fremde Menschen

 

| »Frank, mein Freund«, freudig kam Zackquil Morgan auf seinen alten Freund Frank Forster zu und klopfte ihm auf die Schulter, »Beeindruckend, was du in den letzten zwei Jahren aus dieser Siedlung gemacht hast« Zackquil Morgan lachte seinen Freund an und dieser kratzte sich am dunklen Bart.

»Das ist korrekt. Aber ich wette deine Siedlung läuft noch besser. Du bist mir schließlich drei Jahre voraus«, meinte Frank Forster und sie gingen über den Markplatz der Siedlung. Ein Jahr war es her, dass Frank und seine Familie sich südlich von Morgans Siedlung niedergelassen hatten. Und in dieser kurzen Zeit war die Siedlung wahrlich erblüht. Es hatte sich eine Art Zentrum gebildet, der Marktplatz über den die beiden Männer liefen, auf dem einmal in der Woche ein Markt stattfand, auf dem Händler aus der ganzen Region ihre Waren gegen wenig Geld verkauften. Umsäumt wurde der Platz von erdigen Wegen, die Straßen bildeten auf denen von Pferden gezogene Kutschen den Verkehr bildeten und provisorischen Holzhütten, die schon bald prachtvollen Stadthäusern weichen würden. Soldatentrupps in blau-roten Uniformen machten ihre Patrouillen-Gänge und die paar hundert Einwohner der Siedlung gingen ihrem Tagwerk nach. Die Männer arbeiteten außerhalb auf den Feldern oder in den Steinbrüchen und Mienen, in denen sie nach Kohle und anderen Bodenschätzen suchten.

»Ist dir schon ein Name für das Alles hier in den Sinn gekommen?«, fragte Morgan und machte eine präsentierende Geste. Forster strich sich durch den Bart und grübelte.

»Nicht wirklich, mein Freund. Allerdings bin ich vor einigen Tagen im Westen auf einen Bach gestoßen, versteckt hinter vielen Büschen und schönen Blumen. Vielleicht nenne ich es Hidden Creek«.

Morgan nickte, »das ist ein durchaus prachtvoller Name.«

Im Vorbeigehen grüßten die Männer, die sich in ihren Vierzigern befanden, vorbeigehende Passanten, meist weiblich oder militärisch, ehe sie sich dazu entschlossen auf einer Bank Platz zu nehmen.

»Wie gut funktioniert denn das Lazarett und die... andere Sache«, erkundigte sich Morgan bei seinem Freund. Er selbst war lange nicht mehr hier gewesen. Er hatte alle handvoll in seiner Siedlung zu tun und außerdem befanden sie sich im Krieg. Jeden Moment hätten sie von den Briten angegriffen werden können, auch wenn sie erst seit knapp einem Monat im Krieg waren.

»Das Lazarett ist im vollen Gange. Wir haben das Glück viele talentierte Ärzte zu haben und viele Freiwillige die helfen, wenn es darauf ankommt. Und was die andere Sache betrifft«, Forster schaute sich um, als hätte er Angst jemand könnte ihr Gespräch belauschen, »...sie haben uns sehr in der Zubereitung der Medizin geholfen, ihr Wissen über Kräuterheilkunde ist unglaublich. Ich bin mir nur noch nicht ganz sicher ob sie uns auf längere Sicht nutzen, allerdings werfe ich sie ungern aus dem Dorf – nicht, dass ich hinterher einen Fluch angehängt bekomme. Außerdem bin ich mir nicht sicher ob diese...Hexen... und gutgesinnt gegenüber stehen.« !!!

»Das wird sich wohl erst mit der Zeit herausstellen, mein Freund. Ich traue ihnen auch nicht – aber ich bin auch nicht der Bürgermeister dieser Stadt und mir steht es nicht zu über sie zu urteilen, aber an deiner Stelle, Frank, würde ich sie im Augen behalten. Sie sind aber noch nicht auffällig geworden, oder?«, Morgan schaute seinen Freund an. Forster ließ seinen Blick über den Platz schweifen. So viele Seelen, die gar nicht wussten was in ihrer Stadt vor sich ging.

»Wenn auch nur jemand in dieser Stadt erfährt, dass sich Hexen unter uns befinden sind alle in größter Aufruhr. Aber um auf deine Frage zurück zu kommen: nein, sie haben sich besser integriert als gedacht.«

»Das ist gut zu hören«, Morgan schien mit diesem Satz das Gespräch beenden zu wollen und stand auch von der Bank auf. Er drehte sich zu seinem alten Freund um und blickte ihn mit sorgenvollem Ausdruck an. »In wenigen Tagen findet in Philadelphia der zwei Kontinentalkongress statt, hast du das gehört?«

»Ja, das habe ich. Man munkelt dort würde der Plan für eine Armee gegen die Briten erschaffen werden. Weißt du wer unsere Region vertritt?« Forster stand ebenfalls auf und die beiden Männer nahmen wieder den Weg

»Die Delegierten? Ja, ich kenne tatsächlich die Namen derer, die vermutlich erscheinen werden. Ein Freund nahe der Grenze zu Pennsylvania hat sie mir genannt«, Morgan hob seine Hand und zählte jeden Mann mit einem Finger ab, »Richard Bland, Ben Harrison, Richard Henry Lee, Thomas Nelson Jr, Edmund Pendleton, Peyton Randolph, Thomas Jefferson, George Wythe, Patrick Henry, Francis Lightfoot Lee und Geotge Washington – ich glaub das waren alle, von denen mir berichtet wurde. Sind einige interessante Persönlichkeiten dabei. Ich bin sehr gespannt was das Ergebnis sein wird. Gott habe sie und ihre Entscheidungen selig.«

Forster schmunzelte. Er war auch sehr darauf gespannt was dieser Kongress in Pennsylvania bringen würde und inwieweit sie sich auf den Krieg einstellen könnten.

»Doch nun zu einem anderen Thema, mein Freund«, meinte Forster. »Wie lange wirst du in unserem bescheidenen Dorf verweilen? Wann reist du zurück in deine Stadt?«

»Ich denke schon morgen wieder. Ich wollte nur schnell vorbeikommen und sehen wie sich mein alter Freund so als Bürgermeister macht – sehr gut offensichtlich. Die Menschen scheinen glücklich zu sein«, Morgan gab Forster einen bewundernden Klaps auf dem Rücken.

»Ich gebe mein Bestes, dass sich jeder hier wohlfühlt«, lachte dieser und blieb stehen, »wenn dich dein Weg schon morgen wieder in den Norden treibt, wie wäre es, wenn du meiner Familie und mir heute Abend zum Dinner Gesellschaft leistest?«

»Das wäre eine große Freude«, antwortete Morgan froh und Forster klärte mit ihm die Einzelheiten ab. |

 

Tock. Tock.

Blakes Hand musste schon wehtun, so oft hatte er schon mit der flachen Hand auf die Tür vor ihnen geklopft.

»Das darf doch nicht-«, fluchte Blake leise und Nora zwängte sich an ihm vorbei.

»Lass mich mal«, sagte sie und der Schwarzhaarige machte ihr Platz. Auch sie schlug einige Male auf die Tür ein, doch auch wieder tat sich nicht. Die Tür wurde nicht geöffnet.

»Mann, Nico, nie bist du da, wenn man dich braucht«, fluchte Blake und drückte Nora das Buch in die Hand. Er kramte aus seiner Hosentasche sein Handy und tippte schnell die Nummer seines Freundes ein. Nora betrachtete derweil das Buch, dass sie in den Händen hielt und blätterte ein wenig darin rum. Die Seiten waren vollkommen leer. Verwundert zog sie die Stirn kraus, während Blake das Gespräch mit Nico begann.

»Nico! Wo bist du? Wir stehen im Tunnel und niemand macht auf... Wie, du und Mal seid was essen? Wir hatten vereinbart, dass ich dir das Buch bringe... okay, ja, dann machen wir es so. Bis nachher«, Blake legte auf und Nora klappte das Buch wieder zu. Dann fiel ihr der Titel ins Auge.

»Wir müssen den Tunnel ein Stück zurück und dann rechts die Stufen hoch. Wir kommen am Wald raus und müssen dann das Stückchen bis Nicos Haus laufen... Nora? Hörst du mir überhaupt zu?« Blake schaute Nora an, die ihm mit verärgerter Miene das Buch zurückgab.

»Wieso hast du gelogen? Du sagtest du hast das Buch nicht – dabei ist es das«, sie zeigte auf die goldenen Lettern, die Von Seancen, Glaube und Magie darstellten. Blake seufzte.

»Ich muss das Buch meinem Freund, Nico, abgeben, also habe ich es so gesehen nicht mehr, auch wenn ich es in meinen Händen halte.«

»Und wieso sind alle Seiten leer, aber waren vorhin noch voll geschrieben?«

»Wie gesagt: ich erkläre dir alles später. Bei den Göttern, das wird mich zwar sicher meinen Kopf kosten, aber du steckst sowieso schon viel zu tief in allem drin, dass ich dir auch gleich alles erzählen kann.«

»Worin stecke ich tief drin?« Perplex schaute sie Blake an.

Dieser schüttelte nur den Kopf.

»Lass uns erst einmal hier raus – oder ist deinen Angst vor der Dunkelheit plötzlich verflogen?« er schob sich an Nora den Gang entlang und bog dann nach rechts ab.

Er hatte recht: Noras Angst vor der Dunkelheit hatte sie die letzten Minuten gar nicht wirklich bemerkt. Viel zu beschäftigt war sie damit sich Gedanken über diese merkwürdige Situation und diesen Kerl zu machen. Sie sagte nichts, sondern folgte Blake einfach den Gang entlang. Obwohl ihre Angst sich nicht gemeldet hatte, war sie froh wenn sie wieder an der frischen Luft sein würde.

 

Nora atmete tief ein und aus und sog die frische Nachmittagsluft ein. Moment, Nachmittag? Sie schaute auf ihre Armbanduhr und stellte überrascht fest, dass sie doch länger in den Tunnel waren als sie vermutet hätte. Blake ging schnellen Schrittes voraus, während Nora sich erst ein mal die Umgebung ansahen. Sie waren am Rande eines Waldgebietes und in der Ferne hörte man den brummenden Straßenverkehr. Die Seitenstraße, die man durch die Büsche und Bäume erkennen konnte lag wiederum still da und kein Auto oder Mensch ließ sich blicken.

Blake ging einen kleinen Trampelpfad entlang, der von Herbstlaub überdeckt war, das der kühle Wind von den Ästen der Bäume geweht hatte.

»Kommst du?«, fragte Blake und drehte sich zu Nora um als er bemerkt hatte wie diese trödelte.

»Sofort«, sagte sie und warf einen Blick in die fast kahlen Baumkronen. Vereinzelte Vögel konnte sie ausmachen, die allerdings vollkommen ruhig auf den Ästen saßen und keinen Ton von sich gaben. Man hörte nur das Rascheln des Laubes unter den Schuhsohlen Blakes, der wieder weitergegangen war. Nora schloss zu ihm auf und musterte ihn. Nein, sie hatte sich die merkwürdige Gesichtshälfte ihres Begleiters nicht eingebildet. Seine Haut war auf der linken Seite wirklich schrumpliger und vernarbter als auf der anderen Seite und sie sah, dass diese Wunde, wenn es denn eine war, sich über die äußere Seite seines Halses bis zu der Schulter zog, ehe sie unter dem dunklen Pullover verschwand.

Sie gingen einige Minuten den Waldpfad entlang und Nora musterte immer noch Blakes Gesicht. Faszinierend wie kleine Narben die Haut zierten, sich mit anderen verbanden und ein Netz voller Unebenheiten bildeten.

»Was starrst du so?«

Abrupt blieb Blake stehen und Nora rannte ihn fast um, da sie zu spät reagierte.

»Ähm...«, Nora wusste nicht was sie antworten sollte. Hey, ich betrachte mir nur dieses komische Ding in deinem Gesicht? In der Kindheit zu viel mit Feuer gespielt? Nein, wohl lieber nicht.

Blake seufzte.

»Es ist wegen dem hier, richtig?« er zeigte auf seine linke Wange und Nora nickte leicht.

»Was ist passiert?«, fragte sie mitleidig.

»Nichts, das jetzt relevant wäre. Erinnerungen, die besser gleich hätten mit verbrennen sollen...«, Er schaute mit harter Miene auf den Boden und ging dann weiter. Nora sagte nichts mehr, sie hätte vermutlich keine Antworten mehr erhalten, selbst wenn sie nachgehakt hätte.

Nach einem Waldmarsch von ungefähr zehn Minuten tat sich vor ihnen eine Lichtung auf, in deren Mitte ein Haus stand. Und was für eins.

»Wow«, staunte Nora über die dreistöckige, klassizistische Villa in weiß. Ein Weg aus hellem Stein, eingebettet von fast verwelkten Blumenbeeten, führte vom Waldrand aus zur Veranda der Villa.

Blake ging die Stufen zur Veranda hoch und hinterließ eine staunende Nora. Wenn sie weiterhin so trödelte müsste er sie noch tragen, damit sie vorankommen, befürchtete Blake. Allerdings trödelte sie nicht weiter und als sie neben ihm auf der Veranda stand drückte Blake die Türklingel.

Wenige Augenblicke später öffnete sich eine kleinen Klappe in der Tür auf Augenhöhe und Nora konnte sehen, dass jemand dadurch sah. Doch ehe sie Genaueres erkennen konnte war die Klappe wieder zu und die Tür ging auf.

»Blake, ore mi!«, sagte ein junger Mann, etwa in Blake und Noras Alter freudig und umarmte den Schwarzhaarigen. Das musste also Nico sein. Der mysteriöse Buch-abliefer-Freund. Er hatte blondes Haar im Undercut-Stil und eine schwarze Hornbrille zierte seine Nase. Als er und Blake die Umarmung abgeschlossen hatten betrachtete Nico die für ihn fremde Nora argwöhnisch.

»Tani eyi?«, fragte Nico misstrauisch und Blake hob beschwichtigend die Hände.

»Eleyi jẹ Nora. O ni a ore«, antwortete Blake und nickte zu Nora. Diese verstand kein Wort von der ihr unbekannten Sprache, erkannte aber, dass es die gleiche Sprache war wie Blake sie zuvor im Keller verwendet hatte als er in dem Buch las. Dieses überreichte er nun seinem Freund und dieser nahm es entgegen.

»Bei dir ist es sicherer, Nico«, sagte Blake.

»E dupe. Ti o ba ti Braxton yoo ti fe o fun nyin, a yoo wa ni ti sọnu. Sugbon akọkọ ba sinu o«, meinte Nico und machte den Beiden Platz um sein Haus zu betreten. Dann ging Nico an ihnen vorbei einen langen Flur entlang und sie folgten ihm.

»Kann er eigentlich auch Englisch reden?«, fragte Nora Blake leise und dieser lachte leise. Jedoch brauchte er nicht zu antworten, denn Nico blieb stehen und drehte sich schwungvoll zu Nora.

»Ja, ich kann sehr wohl Englisch reden. Jedoch tue ich es nicht gerne, wenn Fremde anwesend sind«, sagte er barsch und kam Nora gleich unsympathisch vor. Sie mochte es nicht, wenn man sie gleich grundlos ablehnte, und das war hier definitiv der Fall.

Nora schnaufte, versuchte aber sich ihren Ärger nicht anmerken zu lassen. Nico ging den Flur entlang und die beiden Gäste folgten ihm. Die Wände des Flures waren in einem hellen grau gestrichen und es hingen Gemälde á la Jackson Pollock und anderen ähnlichen Künstlern und das ein oder andere Bild verstörte Nora auf eine merkwürdige Weise. Auf dem hellen Holzboden waren massenhaft Kabel verlegt, die in den Raum führten, in den die Drei nun traten. Und Nora sah auch wieso:

Der Raum, der nicht gerade durch Größe bestach, war vollgestopft mit Schreibtischen auf denen mindestens zehn Monitore und Rechner in allen möglichen Positionen montiert waren sowie Tastaturen, Mischpulte und die ein oder andere Kamera plus Stativ. Nora kam sich plötzlich aufgrund der ganzen Technik unbehaglich vor und all die blinkende Lichter und Piep-Töne, die all die Gerätschaften von sich gaben fuhren ihr durch Mark und Bein. Unwillkürlich musste sie daran denken, dass der blonde Nico sogar wie ein Technik-Nerd wirkte und bei all diesem Chaos wohl auch wirklich einer wahr. Klischee bestätigt. Sie musste innerlich kichern.

Nico ließ sich in einen bequem wirkenden Drehstuhl sinken und weckte zwei seiner Monitore aus ihrem Stand-by-Schlaf auf. Auf dem rechten der beiden Monitore erschien eine Satelliten-Karte, die eine Stadt von oben zeigte. Ein roter Fleck blinkte im Norden immer wieder auf. Auf dem anderen Monitor war lediglich ein Fenster mit Dateien geöffnet und die Dateinamen konnte Nora nicht entschlüsseln, da sie in einer ihr fremden Sprache geschrieben waren.

»Du wurdest also angegriffen, Blake?«, fragte Nico und zoomte auf der Karte etwas heran.

»Ja, vor zirka einer halben Stunde. Irgendwelche Auffälligkeiten? Es war ein Lakai des Ritters, da bin ich mir hundert Prozent sicher«, antwortete Blake und blickte mit verschränkten Armen auf den Bildschirm.

»Nein, mein Radar hat nichts Auffälliges eingefangen. Sicher, dass es ein Lakai war? Wie siehst du das, Nina?« Nico drehte sich zu Blake und Nora um und schaute die junge Frau vor sich an.

»Ich weiß nicht mal wer dieser Ritter sein soll, wie kann ich dann wissen wie seine Lakaien aussehen? Und ich heiße N-O-R-A«, antwortete die Dunkelhaarige wahrheitsgemäß.

Blake schaute sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Du weißt nicht wer der Rote Ritter i-? Oh, ja... ich schulde dir ja noch ein paar Antworten. Hatte kurz vergessen, dass du keine Eingeweihte bist.«

Das wurde ja alles immer besser. Blake hatte es vergessen? Ein großes WTF machte sich in Noras Gedanken breit. Nun bekam sie langsam noch mehr den Drang vor Neugier und Unwissenheit auszuflippen, doch ehe sie etwas erwidern konnte übernahm Nico verblüfft die Konversation und fragte bei Blake nach ob sie wirklich keine Ahnung von alledem hatte. Blake verneinte dies, worauf Nico seufzte und die beiden Jungs führten sie dann in einen Nebenraum in dem mehrere Sessel und Sofas standen. Dieser Raum war nicht ganz so überfüllt wie der Technik-Raum und hatte ein altmodisches Flair. Rote Tapeten mit goldenem Jacquard und Brokat-Muster war an die Wände geklebt und teure Gemälde und Fotos in goldenen, protzigen Rahmen hingen darüber. Die Sofa und Sessel wirkten auch altmodisch und man fühlte sich als wäre man beim Betreten des Raumes vom Cyber-Zeitalter in das viktorianische England gefallen.

Nora nahm auf einer dunkelgrünen, mit Samt bezogenen Chaiselongue Platz und die beiden jungen Männer setzten sich in nicht weniger bunte Sessel.

»Okay. Ich hab dir Antworten versprochen und du bekommst sie jetzt«, Blake schaute sie eindringlich an, lehnte sich nach vorne und legte seine Unterarme auf den Oberschenkeln ab. »Doch vorher noch eins: Bist du bereit, dass sich dein komplettes Weltbild auf den Kopf stellen wird?«

Nora schluckte. So dramatisch hatte sie es nicht erwartet, doch das machte es noch spannender. Mit fester Stimme antwortete sie:

»Ja. Bin ich.«

Und wie bereit sie war!

Kapitel 6

 

Hintergründe

 

»Wir sind Hexer.«

Stille lag im Raum und der Satz hing lose irgendwo auf dem Weg zwischen Blake und Nora.

»Hexer?«, fragte die Dunkelhaarige ungläubig und zog die Stirn in Falten.

»Ja.«

»Vielleicht sollten wir vorne anfangen, Blake?«, mischte sich Nico ein, »sie scheint immer noch verwirrt zu sein.«

»Natürlich bin ich immer noch verwirrt. Ein Satz als Erklärung für all das hier reicht nun wirklich nicht aus«, meinte Nora harsch. Es erklärte zumindest den Teil mit dem Schutzzauber, aber immer noch nicht diese ganze Roter Ritter-Sache.

»Okay. Also starten wir vorne«, Blake räusperte sich und begann zu erzählen:

»Im Jahre 1774 gründete der deutsche Arzt Frank Forster zusammen mit Zackquil Morgan, der Morgantown gründete die kleine Siedlung Hidden Creek. Sie diente als Lazarett und Forschungsort während dem Revolutionskrieg und aufgrund der vielen Verletzten, die man hier behandelte brauchte man bald mehr Ärzte und Freiwillige, die Ahnung von Medizin hatten. Es kam dazu, dass sich viele Frauen und Männer hier niederließen, die sich selbst als Hexen betitelten, aufgrund ihrer großen Kenntnisse von Kräuterheilkunde und nun ja, Zaubern. Schon bald bildeten sich Zirkel in denen das Wissen weitergetragen wurde, denn hier waren all die Hexen sicher. Forster hatte ihnen versichert man würde sie hier nicht verfolgen – die Hexenprozesse, wie in Salem, waren zwar schon fast ein Jahrhundert her, doch gesellschaftlich waren sie immer noch verpönt. Heute noch. So nahm die Geschichte ihren Lauf: Die Hexen paarten sich mit den Siedlern, die Zirkel wuchsen und das Wissen würde bis heute überliefert.«

Nora nickte. Ganz sicher, ob was sie davon nun halten soll, war sie sich nicht. Sie fand solche Geschichten allerdings ziemlich interessant. Das könnte sie glatt in ihre Hausarbeit aufnehmen. So viele Fragen lagen ihr noch auf der Zunge. Ein Fakt machte sie allerdings stutzig.

»Warte... Forster? Heißt du nicht auch so, Blake?«

Blake schmunzelte und Nico musste sich die Hand vor den Mund halten um nicht laut loszulachen.

»Genau. Liegt vielleicht daran, dass Frank Forster mein Vorfahre war«, lachte er, weswegen Nora sich jetzt dumm vorkam. Darauf hätte sie auch wirklich selbst kommen können.

»Und was hat es jetzt mit dem Buch auf sich? Meinem Buch? Und diesem komischen Ritter?«

»Falls du das große, braune Buch meinst«, übernahm Nico und schlug die Beine übereinander, »das ist unser Gremoire, beziehungsweise Buch der Schatten. Dort stehen alle wichtigen Dinge drin, die man als Hexe braucht: Rezepte, Sprüche, Anleitungen, alle Infos aus den letzten Jahrhunderten.«

Nora nickte.

»Ich hab das Buch vorhin aufgeschlagen. Wieso stand dort nichts auf den Seiten?«, fragte sie und erinnerte sich daran, dass sie ganz genau gesehen hat, dass die Seiten vollgeschrieben waren, als Blake in ihm gelesen hatte.

»Schutzzauber« Nico zog charmant einen Mundwinkel hoch.

»Schutzzauber?«

»Ja, Schutzzauber. Du bist keine Hexe, Laura, folglich kannst du nicht in dem Buch lesen.«

»Sie heißt immer noch Nora, Nico«, korrigierte Blake den Blonden, der darauf argwöhnisch zur Seite schaute.

»Wie funktioniert das? Erkennt das Buch Zauberkräfte?«, Nora ignorierte den Fakt, dass Nico sie wieder mit dem falschen Namen angesprochen hatte. Diese ganze Magie-Geschichte war weitaus spannender und sie wollte mehr Wissen erlangen.

»Wie genau das funktioniert wissen wir selbst nicht, allerdings besitzt jedes magische Geschöpf eine besonders stark ausgeprägte Aura, die das Buch spüren kann und sich danach ausrichtet. Würde jetzt ein schwarzer Magier das Buch in seinen Besitz bekommen, würde das Buch ihm alle mächtigen schwarzen Zauber preisgeben, die dort notiert wurden. Das Blöde daran ist eben, dass wir«, Nico zeigte auf sich und Blake, »Weiße Magie ausüben und daher auch nur wenige der, nennen wir sie, bösen Zauber, praktizieren können.«

»Mhm«, nickte Nora der Erklärung folgend.

»So viel dazu«, übernahm nun wieder Blake, »das eigentliche Problem – du erinnerst dich, dass wir bei mir angegriffen wurden? Genau. Das hat alles mit dem Buch zu tun. Der sogenannte 'Rote Ritter' gehört zu einem Zirkel von Schwarzmagiern, die mithilfe des Buches die Weltherrschaft an sich reißen wollen.«

Nora zog die Augenbrauen skeptisch zusammen. Jetzt war der Moment gekommen an dem alles eher seltsam und unglaubwürdig wirkte. Das mit der Weltherrschaft klang in ihren Ohren wie aus einem Fantasy-Roman entsprungen, der voll von Klischees und verrückter Leute war. Oh Warte...

»Wir wissen, dass das alles sehr schräg klingen muss – besonders dieses Weltherrschaftsding, aber vor einigen Jahren, hat es der Rote Ritter ein paar Mal schon geschafft gehabt einige der mächtigsten Zerstörungszauber aus dem Buch umzusetzen: das Ergebnis war Hurrikan Katrina, 2005. Der Rote Ritter und sein Zirkel der Allmächtigen wollen unsere Erde in ein Chaos stürzen, wie es der Evangelist Johannes in seiner Offenbarung in der christlichen Bibel voraussagt. Und unsere Aufgabe ist es zu vermeiden, dass dies dem Roten Ritter und seiner Gefolgschaft gelingt...«

Stille.

Nora wechselte ihren Blick zwischen den beiden jungen Männern hin und her. Einerseits fand sie das alles faszinierend – es gab Magie! - andererseits aber auch erschreckend – Apokalypse? Und irgendwie konnte sie es nicht glauben, so absurd war es.

Die beiden Männer sagten nichts mehr. Für sie war alles gesagt. Jetzt lag es an Nora die Konversation weiter zu führen, doch sie wusste nicht wie. So viel Input, und endlich all die Antworten, die sie haben wollte. Doch was sollte sie sagen? Schön? Nicht schön? Aha?

Und dann fiel ihr ein, was der eigentlich Grund für all das hier war: ihre Hausarbeit. Doch wenn dieses Buch nun ein Hexengremoire war, was bedeutete es jetzt für sie? Für ihre Hausarbeit?

»Du siehst also«, setzte Blake an, als hätte er ihre Gedanken gehört, »ich kann dir das Buch nicht geben.«

Nora senkte den Blick und atmete ein. All die endlosen Meilen Fahrt von New Mexico hierher. Die hunderten Dollar, die sie in diesen Trip gesteckt hatte. Alles umsonst? Frustration machte sich in ihr breit. Sie stand auf und zog ihr Oberteil zurecht. Gefasst wie möglich steckte sie eine Locke hinter ihr Ohr und schulterte ihre Tasche.

»Dann geh ich jetzt besser. Kein Buch, kein Grund mehr hier zu bleiben«, sagte sie leise und die Jungs standen ebenfalls auf. Sie war sichtlich enttäuscht. Sie hatte fest damit gerechnet, dass Blake ihr das Buch übergeben würde, schließlich wusste sie da noch nicht wie besonders es war.

»Tut mir Leid«, Blake hatte die Hände in die Hosentaschen seiner dunklen Jeans gesteckt und schaute sie mit leichtem Lächeln an. Sie glaubte ihm sogar, dass es ihm wirklich Leid tat. Und das tat es ihm auch.

»Sollen wir dich nach Hause bringen?«, fragte Nico und begleitete sie in den Flur.

»Nein, nicht nötig. Ich werd' den Weg irgendwie finden«, antwortete sie und öffnete die Haustür.

Nico nickte und Blake schob sich an ihm durch den Flur vorbei.

»Nora«, begann er und blieb wenige Zentimeter vor ihr stehen. Er fixierte sie mit seinem Blick und wie in Trance starrte sie zurück. Seine Augen waren schön, fiel ihr auf, doch sie vertrieb den Gedanken gleich wieder als er weitersprach: »Bitte verrate nichts was du gehört hast. Obwohl wir weiße Magie ausüben kennen auch wir Zerstörungszauber. Und ich würde wirklich ungern einen anwenden müssen.«

Obwohl der Schwarzhaarige es nett sagte, so hatten seine Worte doch einen bedrohlichen Unterton, der definitiv gewollt war. Nora nickte und versicherte, dass ihre Lippen bei dieser Thematik verschlossen blieben. Sie würde schweigen wie ein Grab – um ihrem Eigenen erst einige Jahre in der Zukunft zu begegnen.

Sie verließ das große Haus und als sie auf der Veranda stand und sich erst einmal sammelte, fiel die Tür geräuschvoll ins Schloss und wenige Sekunden später drang Nicos wütende Stimme durch das dicke Holz, die Blake fragte, was er sich eigentlich dabei gedacht hat. Sie konnte nicht hören ob und, wenn ja, was Blake darauf antwortete, doch Nico schien über diese Situation hörbar verärgert zu sein. Nora warf einen letzten Blick auf das Haus und durchquerte dann den großen Vorgarten um auf der Straße dann ihren Weg zurück zur Pension zu finden. Oder bis zum nächsten Taxistand.

 

Nora öffnete die Tür zur Pension und trat in den warmen Flur ein. Sie hatte unweit von Nicos Haus entdeckt, dass sein Haus gar nicht so weit von der Pension und Blakes Haus weg war und so war sie nur knapp zehn Minuten gelaufen.

Sie betrat den warmen Flur der Pension und ein süßer Duft von Essen zog in ihre Nase und ihr Magen begann zu knurren. Es war schon einige Zeit seit dem Frühstück vergangen und längst Zeit für das Mittagessen. Hungrig blieb Nora in Höhe des Speisesaals stehen und hielt sich den Magen, der sich fast anfühlte, als würde er sich gleich selbst verdauen.

Rosemarie stand an der Rezeption und ging wieder Papiere durch. Als sie das laute Knurren von Nora Bauch hörte, lächelte sie und teilte ihr mit, dass sie bald etwas essen konnte, wenn sie denn wollte. Nora nahm dankend das Angebot an, als das Handy in ihrer Hosentasche klingelte und Petes Name auf dem Display angezeigt wurde.

»Hi, Pete«, meldete sich Nora und lehnte sich gegen den Tresen, während Rosemarie Dinge notierte und Papiere lochte und abheftete. Offenbar tat sie auch nie etwas Anderes.

»Nein, ich musste bei einen jungen Mann namens Blake, der das Buch ausgeliehen hat«, antwortete Nora auf die Frage, ob sie das Buch hatte. »Leider wollte er es mir nicht geben. Es ist ihm offenbar zu wichtig oder heilig. Es scheint als sei es für ihn magisch...«, sie schmunzelte bei dem Gedanken an all das Gerede über Magie und, dass Pete so planlos von all dem war, was sie hier erfahren hatte. Sie würde es ihm zu gerne erzählen, doch er würde es noch weniger glauben als sie selbst.

»Es scheint als müsste ich wieder Heim fahren. Dieser Blake macht nicht den Eindruck als würde er es mir geben, aber ich versuche mein Bestes zu geben. Klar, ich meld' mich. Du brauchst nicht immer anzurufen, Pete.« Sie wusste, dass sie nicht mit unvollendeter Hausarbeit nach Hause zurück kehren konnte, doch es war auch zu wenig Zeit ein neues Thema anzufangen. Sie musste also aus dieser Situation machen was möglich war und schleunigst versuchen all das Wissen von Blake und Nico für sich verwenden zu können. Zudem interessierte sie diese ganze Rote Ritter-Sache ein wenig und sie würde gerne mehr über diese bevorstehende Apokalypse erfahren. Schließlich würde das auch das Ende ihrere Existenz sein. Doch für's Erste wollte sie nur essen und schlafen, also verabschiedete sie sich von Pete und legte auf. Sie machte mit Rosemarie ab, dass sie noch kurz auf ihr Zimmer ging und die Wirtin kurz anrief, wenn das Essen fertig war. Der Vorteil als einziger Gast in der Pension zu sein: alles und jeder konnte sich nach Einem richten.

Nach etwa einer Viertelstunde klingelte Noras Zimmertelefon und kurz darauf saß Nora mit leerem Magen im Speisesaal vor einem großen Teller gefüllt mit Salat, Nudeln und einem saftigen Steak und einem sprudelnden Glas Wasser.

Nora hatte den Inhalt des großen Tellers schon bald weggeputzt und ging dann wieder auf ihr Zimmer. Sie wollte noch ein wenig an ihrer Hausarbeit tippen; die Einleitung hatte sie schon und nun würde das Vorgeplänkel für all die Infos kommen, für die sie das Buch brauchen würde. Immerhin soweit würde sie schon tippen können, also ließ sie sich auf dem gemütlichen Bett nieder, setzte sich in den Schneidersitz, legte den Laptop vor sich und öffnete das Textdokument. Sie begann zu tippen und schon bald gähnte sie vor sich hin. Irgendwann begann sie sich müde zu fühlen und döste langsam weg, während der Laptop schon langsam in den Stand-By-Modus schaltete. Die Dunkelhaarige wusste gar nicht, dass sie so müde war. Da war sicher das Essen schuld, für dessen Verdauung ihr Körper nun die Kraft brauchte, die ihr zum Arbeiten fehlte. Vielleicht sollte sie kurz ein Nickerchen machen...

Sie schob mit einem Bein den Laptop zur Seite und legte sich seitlich zwischen die gemütlichen Kissen und Decken. Dann fiel sie in einen dösigen Schlaf und blendete ihre Umgebung aus. Als sie aufwachte bemerkte sie zuerst wie ein kühles Lüftchen auf ihrer Haut landete. Sie bewegte ihre Zehen und spürte etwas Kaltes daran. Ihre Füße waren nackt und berührten kalten Stein. Sie spürte außerdem, dass sie sich in einer aufrechten Position befand, als säße sie auf einem Stuhl. Langsam öffnete sie die Augen und sah, dass sie nichts sah. Vor ihren Augen sah sie nur ein Muster von Gewebe, als hätte sie einen Sack über dem Kopf. Moment mal...

»Sie ist wach«, sagte eine dunkle Stimme und kurz darauf wurde Nora der Sack vom Kopf gezogen. Gleißend helles Licht bahnte sich einen Weg zu ihren Augen, die sie daraufhin zusammenkniff, weil das Licht so schmerzte. Als sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten sah sie sich um und auch jetzt sah sie nichts außer der Lampe, die auf sie gerichtet war. Der Rest um sie herum war düster, wie die Nacht. Erfolglos bewegte sie ihre Hände, die mit einem Seil zusammengebunden zu sein schienen. Nora warf einen Blick nach unten und stellte geschockt fest, dass sie keine Kleidung außer ihrer Unterwäsche trug. Was zur Hölle ging hier ab? Wo war sie gelandet?

»Sehr schön. Das wird auch Zeit«, meldete sich nun eine zweite, männliche Stimme.

»Was sollen wir nun mit ihr machen?« Wieder sprach die erste Stimme, irgendwo in der Dunkelheit, und hallte durch den Raum.

»Das, was wir mit allen machen. Braxton, sie gehört dir«, sagte die zweite Stimme und kurz darauf trat ein junger Mann mit dunklem, kurzen Haar in den Lichtkegel der Lampe. Er lächelte schelmisch und rieb sich die Hände, während er langsam näher an Nora herantrat.

»Wie Sie wünschen, Roter Ritter.«

Nachwort

 Ich danke allen Leuten, die mich über fünf Jahre hinweg für's Schreiben motiviert haben. 

Ich danke den Bookrix Voldebienen Models für ihre endlose Aufmerksamkeit, bei Problemen oder langweiligem Gelaber meinerseits. Ich danke JYA Design unter der Leitung von Selia Ascrala für das wundervolle Cover und Sinya Ambar für all die Minuten, die sie in Gegenlesen der Kapitel inverstiert hat. 

Ich danke den Mitgliedern der Gemeinsamen Schreibnächte, die mit Rat und Tat zur Seite stehen und immer wieder neue Motivationsschübe abgeben. Danke auch an meine Kommilitonen Anna & Marcel, die ersten Personen meines "Real Life" & Studentenleben die von meinem Geschreibsel wissen - auch wenn sie noch wenig bis gar nichts davon lesen durften ;). Danke an all die TV-Serien-Produzenten/Sender/Autoren, deren Werke als inspiration dienten (s.u.). Danke auch an meine Brainstorming-Ma, die sich mehr Fragen über dies und das über sich ergehen lassen muss als ihr lieb ist. 

Danke auch an all die Literaturwissenschaftsdozenten der UdS, die mich mit ihren Seminaren motiviert und inspieriert haben auch mal Neues zu wagen (Jetzt nicht unbedingt hier, aber allgemein :D)

Und danke an die Bookrix-Community.

Und vorallem, Danke an DICH, lieber Leser, dafür, dass du dieses Buch soweit gelesen hast. Ich freue mich von dir zu hören :)

 

* * *

ECC 

Impressum

Texte: (c) Elise C. Cartrose
Bildmaterialien: Cover deisgned by JYA Coverdesign
Tag der Veröffentlichung: 24.12.2014

Alle Rechte vorbehalten

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