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Prolog




"Seltsam", überlegte Summer. "Wie kommst du hier her?", flüsterte sie dem Fremden zu. Ihr Mund war nur wenige Zentimeter von seinem Ohr entfernt. Ihr blaues Auge musterte ihn durchdringend. "Niemand weiß von diesem Ort", fügte sie leiste hinzu. Sie kniff das Auge zusammen. "Wirklich niemand", zischte sie und wartete auf eine zufriedenstellende und alles erklärende Antwort. "Ich... Ii..ich bin nur zufällig... auf.. auf diesen Ort gestoßen", stotterte er und wich ihrem Blick ängstlich aus. Ja. Sie konnte Angst und Schrecken verbreiten. Kein Wunder. Ihr eines Auge war nur noch eine lange Narbe, die sich von ihrer Augenbraue bis hinunter zu ihrem Kinn zog. Ihr Mund war wie immer zu einem schmaler Strich geformt, der knapp neben der Narbe saß. Die langen, eigentlich lockigen braunen Haare standen in alle Richtungen von ihrem Kopf ab und schimmerten gräulich von den vielen Stunden, die sie in den Nebeln verbracht hatte. Niemand konnte es ihm verübeln, dass er Angst verspürte. Langsam schlich Summer um ihn herum. Sie besah sich jeden Flecken seines Körpers. Beobachtete jeden Wimpernschlag in dem schmalen, zusammengefallenen Gesicht. Von oben bis unten musterte sie den ausgemergelten Körper und stellte fest, dass er gerade mal sechzehn, vielleicht siebzehn Jahre zählen konnte. Ein hässliches Lächeln stahl sich auf ihre Lippen und lies ihr Gesicht noch unheimlicher scheinen. "Ich denke, ich werde etwas mit dir anfangen können", murmelte sie.

Kapitel 1




Die Sonne schien hell auf die feuchte Morgenwiese. Die Tautropfen auf den Grashalmen reflektierten die Strahlen und ließen die Wiese glitzern und schimmern. Hier und da hatten sich Wildblumen niedergelassen und durchzogen das satte Grün mit leuchtenden blau und gelb Tönen. Die Luft war klar und kühl, als Jade sich streckte und seinen hellen Schopf mit den Händen durchkämmte. Einige Schlammklumpen und Blätter rieselten auf den Boden neben ihm. Er gähnte laut und rieb sich die müden Augen. Als er endlich wieder richtig sehen konnte, legte er den Kopf schief und betrachtete die blühende Wiese, die sich vor ihm ausstreckte. Vorsichtig lächelte er und stand auf, indem er sich mit der linken Hand vom Boden abstütze, seinen Wanderstock in die Rechte nahm und dann seine Knie durchdrückte. Einige, immer noch von der morgendlichen Müdigkeit beherrschte Schritte später, berührten seine nackten Füße das nasse Grün. Sachte strich er mit den Zehen über die einzelnen Halme und freute sich wie ein sechsjähriger jedes Mal, wenn sie sich umbogen und seinen Zehen platz machten. Es hatte etwas magisches an sich, wie sich die Halme in alle Richtungen bogen und doch immer wieder in ihre Uhrsprungsform zurück schnellten. Jades Augen leuchteten auf und für einen Moment schien es, als hätte er seine Vergangenheit vergessen. Als wüsste er nicht mehr, warum er jeden Morgen etliche Kilometer lief und die Nächte auf dem Boden verbrachte. Ein Moment des Glücklichseins.
Plötzlich schrie ein Vogel in dem Wimpfel des Baums über ihm. In den wenigen Monaten, die er bereits unterwegs war, hatte er eins gelernt: Wenn ein Vogel schreit, dann lauf! Ein trauriges Seuftzen unterdrückend schaute er noch einmal auf die schimmernde Wiese, versuchte, das Bild in sich auf zu nehmen und rannte dann los. Seine Füße hatten Übung darin, sich auf dem Boden zurecht zu finden. Er rutschte schon lange nicht mehr auf den nassen Blättern aus, die hier, im Wald von Xahnton den Hauptteil des matschigen, braunen Bodens ausmachten. Er schrie auch nicht mehr bei jedem Steinchen oder Zweig, der sich in seine Fußsohle bohrte, vor Schmerz auf. Alles eine Sache der Gewöhnung. Auf keinen Fall durfte er geschnappt werden. Die Todesstrafe drohte ihm. Flucht war mit das größte Verbrechen, was man begehen konnte und er hatte es begangen. Es war deutlich einfacher gewesen, als er gedacht hätte. Ein schneller Griff hier, ein kurzes untertauchen dort und schon war er draußen.
Während er durch den Wald rannte, kam ihm sein neuer Freund Back in den Sinn. Jade blieb stehen und schaute sich entsetzt um. Er hatte ihn vergessen. Das würde dem kleinen Eichhörnchen nicht gefallen. Er überlegte und biss sich dabei auf die Unterlippe. Zurück rennen war zu riskant, doch er wollte Back nicht einfach zurück lassen. Im Wald war es still geworden. Nicht ein Vogel zwitscherte noch. Nervös fuhr er sich durch die Haare, als er ein leises Atmen neben seinem Ohr vernahm. Jade lies seine rechte Hand zu seiner Schulter gleiten und seuftze erleichtert auf. Weiches Fell schmiegte sich an seine schmutzigen, dünnen Finger. Vorsichtig nahm er Back von seiner Schulter und schaute ihm in die Haselnussbraunen Augen. "Na du" , grinste er und in seinen Augen spiegelte sich die Erleichterung. Er stupste mit seiner Nase gegen Backs und drückte das verschlafene Tierchen an sich. "Hab ich mir Sorgen gemacht", brummte er in das Fell. Dann erinnerte er sich wieder an seine Situation und lies seine spitzen Ohren wackeln. Kein Geräusch. Lediglich Backs und sein Atem waren deutlich zu hören. Es war so still, dass er selbst sein Blut in den Ohren rauschen hörte. Diese Stille war noch gefährlicher als der Schrei eines Vogels. In dieser Stille konnte jede Bewegung verräterisch sein, deshalb blieb er regungslos stehen, das Eichhörnchen an seiner Brust, die nackten Füße auf dem nassen Laub, schmutzig und verdreckt, die Haare zerwühlt. Seine Augen schauten nach jeder verdächtigen Bewegung und seine Ohren horchten auf jedes verräterische Geräusch.

* * * *

Es knisterte leise. Ein Knochen fiel hinab, landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden. Oben im Baum hockte Summer. In ihren knochigen Händen hielt sie ein Stück totes Fleisch. Genüsslich grub sie ihre Zähne in das zarte Rose und riss es in Fetzen. Wie ein Vogel hielt sie sich auf dem dünnen Ast. Ihre Füße hatten sich an der Rinde festgekrallt Mit geschlossenen Augen fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen, schlang den Rest des Tieres hinunter und leckte sie die schmutzigen Finger ab, bevor sie sich mit diesen durch ihr wirres Haar fuhr. Es war Wochen her, dass sie sich gewaschen hatte. Doch sie interessierte sich nicht dafür. Ebenso interessierte es sie nicht, dass sich unter ihren Nägeln der Dreck staute. Die Fettspuren glänzten in den wenigen Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach brachen. Summer verharrte noch einige Augenblicke auf dem Ast und starrte hinab. Dann sprang sie leichtfüßig auf den Waldboden und lief gebückt in Richtung Fluss. Der Nebel war heute nicht so schlimm. Wenigstens konnte man fünf Meter weit sehen und so fiel es ihr nicht sonderlich schwer, sich zu Recht zu finden. Der Wald mit seinen Bäumen war bereits seit mehreren Jahren ihr zuhause. Auch bei schlimmem Nebel fand sie einen Weg, um an ihr Ziel zu gelangen. Doch sie war auch nicht mehr die Jüngste. Ihre Augen wurden durch das trübe Licht immer schlechter.
Das plätschernde Blau schimmerte leicht in der Sonne. Klar wie ein Gebirgsbach schlängelte es sich durch den Wald und floss am Ende in einen großen Teich. Die Quelle, die den Fluss speiste, entsprang hoch oben in den Bergen. An dem Ort, den Summer sich ausgesucht hatte, um ihren Durst zu stillen, waren die Bäume kahl und vertrocknet. Eine tiefe Schlucht schnitt sie von dem überlebenswichtigen Wasser ab. Für Summer war es ein leichtes, den Hang hinabzusteigen. Während sich ihre Füße haltsuchend über die Geröllsteine tasteten, sich ihre Hände an den scharfen Kanten mühelos festkrallten, rauschte das Wasser unter ihr in hoher Geschwindigkeit dahin. Etwa zwei Meter über dem Fluss ließ Summer den Felsen los und tauchte in das Wasser ein. Einen Moment war sie wie vom Erdboden verschluckt, bis sie wieder an die Oberfläche kam und gegen den Strom an das andere Ufer schwamm.
Dort blühte alles. Die Bäume trugen farbenfrohe, grüne Blätter, der Boden war voll mit wunderschönen Blumen und Vögel zwitscherten in den Baumwipfeln. Ein großer Stein befand sich auf einer kleinen Lichtung am Wasser. Summer ließ sich auf ihm nieder, zog sich das nasse, triefende Gewand jedoch nicht aus. Sie bemerkte nicht einmal, wie es an ihrem ausgemergelten Körper klebte. Wenn man sie dort so sitzen sah, konnte man kaum glauben, wie sie einmal ausgehen hatte. Früher, als alles noch anders war. Sie erinnerte sich nicht gerne zurück, denn ihre Vergangenheit war mit vielen Schmerzen verbunden gewesen. Aber das interessierte hier niemanden mehr. Hier war sie endlich frei. Ein glucksen stahl sich ihre Kehle hinauf, bahnte sich einen Weg an die Luft und endete in einem rauen, gehässigen kichern.

Kapitel 2



Laut knackte ein Ast und durchbrach die Stille. Wenige Sekunden später wurde es laut im Wald. Männer schrien wild durcheinander. Füße trampelten lautstark über den Boden und bewegten sich auf Jade zu. Dieser überlegte nicht lange. So schnell seine Füße ihn trugen jagte Jade durch den Wald. An seinen Bauch drückte er immer noch seinen kleinen Freund Back, der leicht verschlafen durch die Gegend blickte. Jade versuchte verzweifelt, dem Trupp Soldaten zu entkommen, den sie auf ihn losgehätzt hatten. Immer wieder wich er Bäumen und Steinen aus, die sich ihm in den Weg stellten, kletterte kleine Hügel hinauf und auf der anderen Seite wieder hinab. Mittlerweile brannten seine Fußsohlen wie Feuer. Die Bäume um ihn herum wurden immer weniger. Er schaute in den Himmel und seine Ängste wurden bestätigt. Hoch oben schwebte eines der neuen Flugobjekte. Keine zwei Sekunden später feuerten sie bereits die erste Bombe auf ihn ab. Augenblicklich duckte Jade sich weg und quetschte dabei Back zwischen seinem Bauch und den Knien ein. Die nächste Bombe flog bereits durch die Luft, als Jade verschreckt durch den kläglichen schrei des Eichhörnchens, zur Seite sprang und so haarscharf dem Tödlichen Geschoss entkam. Er rannte wieder los und ließ die Krater, die die Bomben in den Boden gerissen hatten, hinter sich. Lange würde er nicht mehr durchalten. Da, plötzlich, spürte er keinen Boden mehr unter seinen Füßen. Seine Augen wandten sich nach unten. Seine schmutzigen, gebräunten Hände umschlossen Back noch enger, als er hinab stürzte, sich mehr mals überschlug und dann schwer Atmend im Geröll der Schlucht liegen blieb. Der Schmerz in seinem Kopf ließ ihn wieder zu sich kommen. Langsam versuchte er die Augen zu öffnen, sah aber immer wieder nur Schwarz. Sein erster Gedanke galt Back, den er immer noch beschützend an sich drückte. Liebevoll schaute er hinab in die schwarzen Augen des Eichhörnchens. Dieser fiepte vergnügt und munter, so dass Jade seine verkrampften Finger vorsichtig löste und ihn sich auf die Schulter setzte. Erst jetzt widmete er sich seiner Umgebung. Die Schlucht hatte nichts mit dem Wald gemein, in dem er zuvor gewesen war. Einzelne Grasflecken gaben dem matschigen Untergrund wenigstens einen Hauch von Farbe. Vereinzelte, kahle Bäume boten keinen wirklichen Schutz vor Regen oder Sonne. Der Ort sah wirklich nicht einladen aus und zum verstecken war er ungünstig. Jade schaute nach Oben zu der Stelle, wo er noch vor wenigen Augenblicken den Boden unter seinen Füßen verloren hatte. Noch immer hörte man das rascheln von mehreren Trupps, die den Wald durchsuchten. Ein leises Brummen kam von dem Flugobjekt. Es konnte nicht weit entfernt sein, was bedeutete, dass er schnell weiter musste, um sich ein Versteck zu suchen. Wieder hoch zu klettern würde ihn geradewegs in die Arme der Sucher führen und so entschied er sich, weiter in das Unbekannte Gebiet vorzustoßen. Back und er brauchten außerdem unbedingt etwas zu trinken und zu essen.

*** *** ***



Ein Ruck ging durch Summers Körper. Sie spürte die Vibration des Bodens unter ihren Füßen. Irgendetwas ging hier vor. Sie spitzte ihre Ohren und legte den Kopf leicht schief, um besser hören zu können. Leises Fußgetrampel, ein Ast, der unter seiner Last nachgab und durchbrach, raschelnde Blätter auf dem trockenen Waldboden und dann Stimmen. Fast unhörbar, aber noch an der Grenze des Wahrnehmbaren, hörte Summer Stimmen näher kommen. Ihre Augen weiteten sich. Was hatte das zu bedeuten? Es war über acht Jahre her, als sie das letzte Mal eine menschliche Stimme vernommen hatte. Der Wald war vollkommen unbevölkert. Hier gab es nichts, was Menschen anziehen könnte. Summer sprang von ihrem Felsen und richtete sich auf, so gut es ihr durch die Jahre im Wald gekrümmter Rücken zuließ. Dann rannte sie los, so weit wie möglich von diesen Lauten, die nichts Gutes heißen konnten, weg. Es erinnerte sie alles an die Zeit, die sie so lange versucht hatte, zu verdrängen. Vor acht Jahren hatte ihr Vater sie hier ausgesetzt. Sie war gerade zur Sommernachtskönigin gekrönt worden und ihr langes, weißgoldenes Kleid mit den aufgestickten Blumenranken leuchtete im Scheinwerferlicht, als alles ausgeflogen war. Ihrem Vater war nichts anderes übrig geblieben, als sie hier her zu verbannen, sofern er sie am Leben lassen wollte. Obwohl ihr zum Weinen zu Mute gewesen war, hatte sie die Tränen runtergeschluckt, sich erhobenen Hauptes der Verbannung und diesem neuen Ort gestellt und war zu der geworden, die sie heute war.


Kapitel 3


Jade stampfte durch den Schlamm. Jedes Mal, wenn er seinen Fuß hob, schmatzte der Untergrund leise. Es war angenehm, durch den kühlen, weichen Schlamm zu laufen und Jade hätte es mit Sicherheit noch um einiges mehr genossen, wenn ihm nicht dieser Trupp Soldaten auf den Fersen wäre. Nach einiger Zeit teilte sich vor ihm die sonst leere Fläche in zwei Wege. Der eine führte durch zwei schmale Felswände, der andere war breiter und an seinem Ende konnte Jade einen Fluss ausmachen. Er überlegte nicht lange und rannte auf den Fluss zu, schlidderte die letzten Meter außer Atem auf das kühle Wasser zu und blieb nur wenige Millimeter vor dem Ufer stehe. „Schau mal Back, Wasser“, keuchte er und ließ sich in die Hocke sinken, streckte seine Finger nach dem Fluss aus und wusch sich die Hände. Dann schöpfte er Wasser in seine Feldflasche und hielt Beck seine hohle Hand hin. Das kleine Eichhörnchen sprang hinab und schleckte die Tropfen, die an den Fingern hinunter liefen wie flüssiger Kristall, ab.


_____________ Fortsetzung folgt...

Impressum

Texte: ©leona schwanenberg
Bildmaterialien: ©schwanenberg und http://www.geo.de/GEOlino/natur/67350.html?t=img&p=1
Tag der Veröffentlichung: 24.04.2012

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