Wie jeden Morgen sitze ich in der U-Bahn und höre laut Musik. An den Haltestellen sehe ich mir die einsteigenden Menschen an. Interessiert aussehende Gesichter, gelangweilte, genervte, alles mögliche sieht man an Emotionen, wenn man nur hinsieht. Die Menschen verbergen die Emotionen kaum, fast so als wären sie allein in der vollgestopften Bahn. Und wenn sie dann feststellen, dass jemand sie bemerkt hat, schauen sie irritiert. Noch verwirrter werden sie, wenn sie angelächelt werden.
Dann sehe ich ihn, groß, dunkel, markantes Gesicht, dunkle Haare. Desinteressiert sieht er sich um. Dann treffen sich unsere Augen kurz. Ich sehe schnell nach unten, fast ein wenig erschreckt hab ich mich. Hoffentlich hat er nichts davon gemerkt.
Ich schaue auf mein Handy, spule ein Lied vor, Deine Lakaien spielen jetzt „Lass mich“. Lächelnd lehne ich mich nach hinten und sehe ihn plötzlich vor mir stehen. Mein Kopf ist nach oben geneigt, als ich ihn ansehe. Er sieht mich an und lächelt leicht, eine Augenbraue ist ein wenig nach oben gezogen. Ob er das Halsband bemerkt hat? Was denk ich denn da? Das ist doch nicht zu übersehen und außerdem egal. Ich sehe zu seinen Händen. Sie sind groß und kräftig, sehen gepflegt aus aber nicht zu sehr. Ganz kurz stell ich mir vor, wie es wäre, diese Hände an meinem Hals zu spüren. Meine Wangen werden warm und ich schüttle leicht den Kopf. Was denk ich da nur? So ein Unsinn.
Die nächste Haltestelle ist meine. Ich stehe auf, schiebe mich an ihm vorbei, lächle ihn dabei noch einmal an und sehe wieder nach unten. Warum nach unten? Ich muss nach vorn sehen. Egal, ich frage mich das nicht weiter und lasse mich von den anderen mit aus der U-Bahn schieben. Ich werde ihn eh nicht wieder sehen. Kurz frage ich mich, wo er eigentlich eingestiegen ist, aber ich komme nicht drauf. Dann schiebe ich die Gedanken beiseite und fahre mit der nächsten U-Bahn zur Arbeit, wieder viele Gesichter, wieder verschiedenste Emotionen, wieder irritierte Blicke.
Der Tag verläuft nahezu wie jeder andere, genervte, wütende, verwirrte Menschen rufen an, glückliche, zufriedene, manchmal auch entnervte legen wieder auf. Ein paar lustige, tiefgehende, entspannte oder auch oberflächliche Gespräche mit den lieben Kollegen, dann bin ich auf dem Heimweg.
Und wieder die Alltäglichkeit der U-Bahn-Fahrt, viele Gesichter, viele Emotionen und doch wird es nicht langweilig. Nur wenige Stationen und ich muss umsteigen. Kurz kommt mir der Mann von heute morgen in den Kopf. Ob er wohl wieder drin ist? Das wäre schon ein riesiger Zufall. Mit gesenktem Kopf stehe ich am Bahnsteig und lass einfach nur die laute Musik auf mich wirken. Staubkind singt mir gerade „Knie nieder“ ins Ohr., als die Bahn einfährt und eine Tür genau vor mir hält. Ich weiß, es ist albern, aber ich finde es toll, wenn es mal so klappt. Innerlich jubiliere ich, äußerlich lächle ich nur ein wenig. Ich schau mich kurz um und finde einen Sitzplatz. Kaum dass ich sitze, sehe ich ihn. Er sitzt mir gegenüber und lächelt mich an. „Komm zu mir und Knie nieder, offenbar mir deine Nacht...“ Na das passt ja mal. Unwillkürlich muss ich grinsen. Ob er mich wohl erkannt hat? Vermutlich nicht, und wenn ist es auch egal. Nervös spiele ich an meinem Halsband, zupfe am D-Ring und mustere den Fußboden. Er hat schwere Schuhe an, fast wie Springerstiefel, nur eben als Schuhe, darüber eine schwarze Anzugshose. Außerdem sehe ich das untere Ende seines Mantels. Höher möchte ich nicht sehen. Ich möchte nicht, dass er denkt, ich würde ihn mustern. Irgendwann steigt er aus. Ich sehe hoch und sehe ihn grinsen, ein wissendes Grinsen. Er zwinkert mir kurz zu und ist dann weg. Wieder werden meine Wangen warm. Ich schüttle den Kopf, lächle und denke an zu Hause.
Einige Minuten später hält die Bahn an meiner Haltestelle und ich steige aus. Ich bin gleich da, bei meinem Mann und den Kindern. Ich korrigiere mich, bei den Kindern. Mein Mann wird wohl noch arbeiten, vermutlich wieder bis mitten in der Nacht. Wieder spüre ich diesen kleinen fiesen Stich, der mir sagt, hoffentlich arbeitet er wirklich. Ich vertraue ihm, aber trotzdem bleibt es nicht aus. Seit Monaten ist er bis spät in der Nacht auf Arbeit. Sicher, er muss zur Zeit für zwei arbeiten, da braucht es halt länger. Und wir telefonieren auch manchmal in den Abendstunden, wenn ich zu Hause bin und da höre ich ihn auch arbeiten, aber trotzdem... Zweifel schleichen sich ein und bleiben hartnäckig da.
Der nächste Morgen, der gewohnte Ablauf. Ich sitze in der U-Bahn, beobachte die Menschen und hoffe insgeheim, dass er wieder einsteigt. Aber heute steigt er nirgendwo zu. Auch die Rückfahrt nach dem selben Tagesablauf ist ähnlich ereignislos. Einige Tage geht das so. Ich habe ihn schon fast vergessen. Dann kommt das Wochenende. Statt Zeit miteinander zu verbringen, haben wir unsere Tage getrennt voneinander verlebt. Er war angeln mit Freunden und ich war zu Hause, hab auf die Kinder aufgepasst und auf ihn gewartet, in der Hoffnung, wenigstens den Abend mit ihm zu haben. Naja, hatte ich auch... fast. Er hat Freunde eingeladen und wir haben bis nachts zusammen gesessen, bis ich müde war und ins Bett gegangen bin. Den nächsten Tag hat er dann bis zum Mittag geschlafen und danach hat er gespielt, mal am PC, mal an der PlayStation, mal auf dem Handy. Ich denke oft an die Zeit, als er seine Hände kaum von mir lassen konnte. Die Zeit ist wohl vorbei. Traurig und wehmütig sehe ich ihn an. Aber er merkt es nicht. Genau so wenig wie er merkt, dass ich mich manchmal nachts in den Schlaf weine.
Montag, ich mag den Montag. Ich sitze wieder in der U-Bahn, sehe andere Gesichter, denke mir manchmal Geschichten zu den Gesichtern aus. Die Bahn hält irgendwo, Leute steigen aus, Leute steigen ein. Ich denke an den Mann von letzter Woche. Ich habe ihn nur zwei mal gesehen, aber dennoch hatte er was an sich, was einen dazu bringt, sich an ihn zu erinnern. Naja, zumindest bringt es mich dazu. Kopfschüttelnd lächle ich kurz und spule ein Lied vor. Terminal Choice gibt gerade „Flesh in Chains“ zum besten. Ich sehe auf und sehe ihn. Wieder passend... oh man. Heute steht er mit dem Rücken zu mir, also kann ich ihn genauer ansehen. Seine Haare sind halblang und zu einen Zopf gebunden. Sie sehen fast schwarz aus. Seine Figur ist kräftig. Der Mann kann zupacken, denke ich und schon malt mein Kopf Bilder dazu, nicht gerade jugendfreie, aber das muss sicher nicht betont werden.
Er sieht sich um, sucht er jemanden? Sieht fast so aus. Einen winzigen Moment hoffe ich, dass er mich suchen könnte, aber das ist zu unwahrscheinlich. Er wird sich nicht mal an mich erinnern. Dann treffen sich unsere Blicke. Er nickt mir leicht zu. Hat er mich doch erkannt? Ich nicke zurück und schaue verschämt lächelnd nach unten. Ein paar Stationen später steige ich wieder um und bin kurz danach auch schon angekommen. Heute freue ich mich besonders auf die Arbeit. Ich bin für den Empfang eingeteilt.
Nach einem wenig abwechslungsreichen Vormittag am Telefon lege ich mein Halsband ab, gehe nach vorne an die Rezeption und lass mir von meiner Kollegin erklären, was heute anliegt. Wir bekommen Besuch von einem möglichen Auftraggeber, drei Gäste. Ich muss also den Konferenzraum vorbereiten und danach die Meeting-Küche in Ordnung bringen. Alles ist fertig, meine Kollegin in ihrer wohlverdienten Pause und ich halte am Empfang die Stellung. Dann kommen zwei Herren auf mich zu und geben sich als der zu erwartende Besuch zu erkennen, der dritte Herr würde gleich nachkommen, er bräuchte noch ein paar Minuten.
Ich rufe den Chef an, der geht mit den beiden Herren schon vor und weist mich an, den nachfolgenden zum Konferenzraum führen, sobald er ankommt. Kein Problem, ist ja nicht das erste Mal, bekomme ich hin. Ein paar Minuten vergehen. Der dritte Gast öffnet die Tür und mich trifft der Schlag. Der Mann aus der U-Bahn. Verwundert sehen wir uns kurz an. Es war fast vorhersehbar. Irgendwas geht schief. Muss ja. Egal, Augen zu und durch. Mit mehr als angenehmer Stimme sagt er mir seinen Namen und zu wem er möchte. Ich weiß ja Bescheid, bitte ihn, mir zu folgen und laufe nervös vor ihm her. Es wirkt fast, als würde ich eher vor ihm weg laufen. Am Konferenzraum angekommen öffne ich ihm die Tür und gehe wieder nach vorn. Oh man, hoffentlich ist der Termin erst zu Ende, wenn ich wieder an meinem Platz bin. Ich habe Glück. Meine Kollegin kommt aus der Pause, ich informiere sie kurz und gehe dann wieder meiner Arbeit am Telefon nach.
Womit ich nicht gerechnet habe, ist, dass der Chef den Interessenten das Call Center zeigt. Sie gehen durch die Hauptgänge und bleiben in meiner Nähe stehen, als ich gerade einen besonders schwierigen Kunden dran habe. Wie nicht anders zu erwarten habe ich den Kunden natürlich beruhigt und am Ende hat alles funktioniert. Wir haben sogar miteinander gelacht. Ich drehe mich um, will meine Dokumentation vervollständigen, als mich sein Blick trifft. Schmunzelnd deutet er auf seinen Hals. Ja, ich habe mein Halsband wieder um. Ich werde rot und senke den Blick. Meine Kollegin fragt mich, wer das war. Ich kläre sie kurz auf, lasse aber weg, dass ich ihn schon vorher in der U-Bahn gesehen habe. Naja, sie grinst und meint, der Typ wäre schon n Schnittchen.
Der Rest der Woche verläuft ereignislos, keine U-Bahn-Fahrt mit ihm, keine weitere Begegnung mit ihm. Naja, warum auch? Er ist nicht von Belang, ein wenig Aufregung, ein wenig Anregung, aber kein wirkliches Interesse. Mein Interesse gilt meinem Mann, noch immer. Auch wenn er im Moment keine Zeit für mich hat. Wieder ist das Wochenende da und mit ihm ein wenig Hoffnung auf gemeinsame Zeit. Die Kinder spielen, ich bereite das Frühstück vor und er... er schläft. Es ist gestern Nacht sehr spät geworden. Nach Mitternacht kam er erst nach Hause. Ich bin wach geworden, als er sich neben mich gelegt hat, so weit weg wie es das Bett zulässt. Mit Tränen in den Augen bin ich wieder eingeschlafen.
Das Frühstück ist fertig, ich gehe zu ihm, will ihn wecken. Er murrt nur und sagt, er will weiter schlafen. Den Hinweis auf das Frühstück ignoriert er. Die Kinder und ich essen allein. Am frühen Nachmittag steht er dann auf und setzt sich an seinen PC. Während er spielt, verspricht er mir, dass wir heute Abend ein wenig Zeit miteinander haben werden. Ich freue mich drauf, kümmere mich in der Zwischenzeit um die Kinder, den Haushalt und bereite das Abendessen vor. Kurz nach dem Essen klingelt das Telefon, er geht ran. Ich höre nur, wie er sagt, dass es gar kein Problem ist und dass der Gesprächspartner ruhig vorbeikommen könne, wir wären zu Hause und hätten nichts weiter vor. Er steht mit dem Rücken zu mir und sieht nicht, wie mir die Tränen in die Augen treten. Ich gehe, bevor er etwas bemerkt und setze mich nun selbst vor meinen Laptop. Kopf aus, Trauer aus, einfach irgendwas tun, nur nicht drüber nachdenken. Der Besuch bleibt bis mitten in der Nacht, ich gehe wieder früher schlafen, er selbst kommt irgendwann am frühen Morgen ins Bett und schläft bis zum Nachmittag. So geht auch dieses Wochenende vorbei.
Wieder ist Montag, diesmal sehe ich nichts und niemanden. Ich sehe aus dem Fenster in die Dunkelheit, merke nicht, dass mir eine Träne das Gesicht herunter läuft, bis sie auf meine Hand tropft. Schnell nehme ich ein Taschentuch und wische die Spur weg. Hoffentlich ist nichts verschmiert. Ich stehe heute den ganzen Tag am Empfang. Da darf mir so etwas nicht passieren. Als ich aufsehe, sitzt er mir gegenüber und sieht mich mit einem undeutbaren Blick an. Ich lächle kurz, sage nichts und sehe wieder aus dem Fenster. Terminal Choice singt „I kissed her“, ein wenig Melancholie macht sich breit. Fast hätte ich die Station zum Umsteigen verpasst. Verwirrt stelle ich fest, dass er auch aufsteht. Egal, ich hab keine Zeit, mich zu wundern. Als er dann auch noch in die andere U-Bahn steigt, sehe ich ihn fragend an. Er lächelt nur und zuckt mit den Schultern. Der Weg von der U-Bahn zur Arbeit ist seltsam. Er läuft neben mir her, wir reden aber nicht. Ich höre weiter Musik. Es ist nicht unangenehm, nur ungewohnt... ungewohnt und seltsam.
Auf Arbeit angekommen begrüße ich meine Kollegin, bereite mich und meinen Arbeitsplatz vor, nehme das Halsband ab und lege es in mein Fach. Er hat währenddessen mit meiner Kollegin gesprochen und wird kurz darauf vom Chef in Empfang genommen. Der ruft mich auch schon zu sich und trägt mir auf, ein Kaffeegedeck für zwei Personen in sein Büro zu bringen. Übliche Tätigkeit unter ungewöhnlichen Umständen. Eigentlich möchte ich ihm eher aus dem Weg gehen. Egal, Dienst ist Dienst, wie es so schön heißt. Ich werde das schon überstehen. Und siehe da, der Tag ist irgendwann geschafft, der seltsame Gast ist gegen Mittag wieder gefahren, zusammen mit dem Chef. Es gäbe noch einiges zu besprechen, heißt es nur. Den Chef habe ich bis zum Feierabend nicht mehr gesehen, den Gast auch nicht.
Die nächsten Tage verlaufen wieder nahezu ereignislos, was nicht bedeuten soll, dass sie langweilig wären oder dass es nichts zu tun gäbe, nur sind eben keine unvorhergesehenen Besucher aufgetaucht oder Mitfahrer in der U-Bahn gewesen. Das Wochenende verläuft wie alle Wochenenden zuvor, Versprochene Zeit aber keine tatsächliche, ungesehene Tränen und seltsame, unangenehme Träume.
Wieder ist Montag. Diesmal weiß ich, dass er wieder einen Termin mit dem Chef hat. Ich habe gehört, er möchte ein eigenes Büro bei uns haben. Das ist ungewöhnlich für einen Partner, aber der Chef sagt, wenn es genug Geld einbringt, dann bekommt auch ein Partner ein eigenes Büro in unserem Gebäude. Die U-Bahn-Fahrt verläuft wie die Woche zuvor. Ich sehe aus dem Fenster in die Dunkelheit, er sitzt mir gegenüber, wir laufen nebeneinander schweigend. Gerade will ich über die Straße, als er mich am Arm festhält. Dann fährt plötzlich ein Auto vor mir vorbei. Ich habe es nicht gesehen, erschrecke mich. Ich sehe ihn an, bedanke mich, werde rot und sehe zu Boden. Das hat langsam Tradition. Ansehen, rot werden, runter sehen. Dabei will ich gar nichts von ihm, nichts, was tiefer geht als geschäftlicher Kontakt. Ich wende mich ab und gehe weiter zur Arbeit. Er ist immer noch neben mir, auch wenn ich ihn nicht sehe, so nehme ich ihn doch wahr.
Der Tag verläuft wie schon einmal gelebt. Kaffeegedeck für zwei ins Büro vom Chef, anschließend verschwinden beide wieder zum Mittag und kommen nicht wieder. Die Heimfahrt ist diesmal etwas anders. Ich möchte meinen Mann überraschen, fahre zu einem Sushi-Imbiss und stelle ihm eine Kleinigkeit zusammen. Bei ihm angekommen öffne ich seine Tür und bleibe stehen. Vor mir sehe ich den Grund, warum er bis Nachts arbeitet. Und dieser Grund ist blond, kniet gerade vor ihm und hat sein bestes Stück im Mund, während er mit geschlossenen Augen genießt. Ich merke kurz an, dass ich wohl eher Essen für zwei hätte holen sollen und stelle ihm das Sushi auf den Schreibtisch. Er sieht mich geschockt an und stottert, dass es nicht so ist, wie es aussieht. Ja, sicher, ihm ist was heißes drüber gelaufen und sie hat nur gepustet?
Traurig sehe ich ihn an, schüttle nur den Kopf und sage ihm, dass er nicht mehr nach Hause zu kommen braucht. Ich kann ihn gerade nicht ertragen. Die Blondine ist gelebtes Klischee, weiß aber offenbar, dass sie gerade fehl am Platz ist und verzieht sich wortlos. Er versucht auf mich einzuwirken, ich solle es mir noch einmal überlegen, schließlich wären wir schon so lange zusammen, und ich solle doch an die Kinder denken, das könne ich ihnen nicht antun und ihm auch nicht, schließlich würde er mich ja lieben und könne ohne mich nicht leben. Ich sehe ihn nur an, gebe ihm meinen Ehering und gehe.
Die Tage danach verlebe ich wie in Trance. Zu Hause funktioniere ich, kümmere mich um die Kinder. Auf Arbeit geht es besser, hier gibt es nichts, was mich an ihn erinnert. Ich habe ihn seit dem nicht mehr gesehen, habe alles abgeblockt. Freunde versuchen, auf mich einzuwirken, ich solle ihm noch eine Chance geben. Sie verstehen nicht, dass er mein Herz schon lange vorher gebrochen hat, dass er mich schon vor langer Zeit verlassen hat.
Einige Wochen sind ins Land gegangen. Er hat es verstanden. Seine Sachen sind weg. Er ist in eine kleine Zwei-Raum-Wohnung gezogen. Laut der gemeinsamen Freunde hat er zu der Blondine keinen Kontakt und hofft immer noch, dass ich ihm verzeihe. Es ist schwer, die vielen Jahre kann ich nicht einfach weg schieben. Aber dennoch bleibe ich stark. Die Arbeit hat mich abgelenkt. Es gab in der Zwischenzeit keine gemeinsamen U-Bahn-Fahrten mehr, keine Termine beim Chef, aber ich weiß, dass nächste Woche das neue Projekt startet und ein paar Tage vorher das Büro für den externen Partner zur Verfügung gestellt wird.
Heute ist Freitag. Die Kinder sind bei ihrem Vater für das Wochenende, es wartet also niemand auf mich. Ich habe Angst, nach Hause zu fahren. Die große leere Wohnung, die Erinnerungen, werde ich schwach? Verzeihe ich ihm, nur weil ich nicht allein sein will? Ich zögere die Heimfahrt so lange es geht hinaus. Dann steht er vor mir und fragt, ob ich nicht langsam Feierabend machen möchte. Ich sehe mich um, finde aber keinen Grund, noch länger zu bleiben. Resigniert nicke ich, ziehe meine Jacke über und nehme meinen Rucksack.
Gemeinsam gehen wir schweigend in Richtung U-Bahn, aber dann nimmt er meinen Arm und führt mich zum Park. Ein wenig wundere ich mich, heiße aber willkommen, dass ich später zu Haus bin. Wir setzen uns auf eine Bank, immer noch schweigend. Fast zucke ich zusammen, als ich seine tiefe Stimme höre. Er fragt, was passiert sei. Warum, weiß ich nicht, aber ich erzähle und er hört zu. Keine Träne verlässt meine Augen, sie sind bereits geweint, ein ums andere Mal. Es ist befreiend, tut mir gut zu reden, dennoch bleibt ein seltsames Gefühl. Er ist ein Geschäftspartner. Was ändert das jetzt? Ändert es überhaupt etwas?
Wir reden noch eine ganze Weile. Er duzt mich, während ich ihn weiterhin sieze. Es ist richtig, muss so sein, habe ich das Gefühl. Er versucht auch nicht, das zu korrigieren, lässt es so. Dann steht er auf und hält mir die Hand hin. Ich nehme sie an und folge ihm. Wohin er mich führt? Ich weiß nicht, aber wenn ich nicht folge, werde ich es nie erfahren...
Tag der Veröffentlichung: 03.04.2015
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Die Geschichte ist nur teilweise biografisch, weder gibt es den Mann aus der U-Bahn noch die Blondine... hoffen wir, dass es so bleibt...