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Es roch nach Schweiß und Desinfektionsmittel, als Robert durch die Automatiktür des städtischen Altenheimes trat. Schon nach wenigen Schritten war ihm sämtliche Motivation, aus den Gliedern gewichen: Das erste, das er nach einem kurzen Umschauen erblickte, waren drei trostlos wirkende Senioren, die auf der Bank sitzend, wie in Trance vor sich her starrten. Für sie war er nur ein Schatten, keines Blcikes würdig.

Er blickte auf seine sündhaft teure Uhr. Kurz vor sechs Uhr. Er war zu früh. Ärgerlich verzog er den Mund. Was sollte er hier überhaupt? Er war doch schließlich für den Verkehrsteil der Times zuständig. Seine Fachgebiete waren Massenkarambolagen, umgestürzte Bäume und gelegentlich auch der ein oder andre Geisterfahrer. Doch Geraldine hatte ihm mit Hochdruck vermittelt, einen Artikel über irgendein Jubiläum einer 85- jährigen Frau zu schreiben. Bei dem Gedanken kam Robert schon ins Gähnen, doch das Schlimmste war, dass in diesem Moment sein dieser schleimgesichtige Spinner Vincent Mc Garv mit seinem schmierigen Lächeln die neu ausgebildeten und wahrscheinlich sehr attraktiven Verkehrspolizistinnen interviewte.

Robert verstand es nicht, weshalb ausgerechnet er ausgerechnet er einen Artikel verfassen über diese Frau verfassen musste. Schließlich gab es in New York hunderte über 85-Jährige. Geraldine hatte ihm nur so viel erzählt, dass sie irgendwann mal hier gearbeitet habe und dies ein kleines Dankeschön an ihre Arbeit sein sollte. „Frauen...!“, dachte er und musste dabei sogar ein bisschen lächeln. „Mehr als einen Kurzbericht werde ich aber nicht verfassen!“, dachte er sich wütend, während er in den Fahrstuhl stieg und auf den Knopf 2. Etage hämmerte. Ratternd fuhr der betagte Fahrstuhl nach oben. Unterwegs stieg noch eine übergewichtige Pflegerin ein, die, wie es aussah, ihren Feierabend kaum erwarten konnte. Auf dem Zielgeschoss angekommen steuerte Robert die matte Glasfassade an, hinter der für gewöhnlich immer eine Pflegekraft saß. Mit einem leichtem Klopfen machte er die rothaarige Frau mittleren Alters auf sich aufmerksam. Sie schob die Glastür auf und musterte ihn kurz einem müden Blick. Gelangweilt schaute sie ihm dann in die die Augen, währendem sie unermüdlich den Kaugummi in ihrem Mund bearbeitete. Nach ein paar Sekunden unangenehmen Schweigens setzte Robert sein falsches Lächeln auf und begann übertrieben freundlich: „Wunderschönen Guten Tag, Madam. Mein Name ist Robert Richertson von der New York Times. Meine Chefin Geraldine Rousseau müsste mit ihnen gesprochen haben: Ich bin hier um mit Ms Thurnswell zu sprechen.“ Die Pflegerin, die sich bis jetzt keinen Millimeter bewegt hatte seufzte kurz und antwortete dann mit träger Raucherstimme: „Aha, Sie waren das also! Kommen sie mit, Ms Thurnswell wartet schon den ganzen Tag auf Sie.“ In ihrer Tonlage erkannte Robert etwas Vorwurfsvolles, obwohl er doch sogar früher als geplant erschienen war. Mit versteinerter folgte ihr. 

Das Zimmer von Ms Thurnswell sah trostlos aus. Die terrakottafarbende Wand hatte ihre Ausstrahlung wahrscheinlich schon vor 5 Jahren verloren, die sperrige Schrankwand sah aus war reif für den Sperrmüll und das Bett war solch ein Krankenbett, in denen die meisten Leute Unruhezustände bekommen. Der nostalgische Charme dieses Raumes wurde noch von den furchtbar kitschigen Trockenblumen, einigen Fotografien an der Wand und den selbst gehäkelten Tischdeckchen unterstrichen. Man merkte gleich nach dem Betreten, dass der technische Fortschritt einen weiten Bogen um dieses Zimmer gemacht hatten. Und mitten in dieser tristen Atmosphäre saß eine kleine, gebückte Frau mit weißem Haar am Fenster und hatte ihren Blick gedankenverloren auf die Straße gerichtet. Ihre Hände streichelten zitternd eine Kreuzkette, die sie um den Hals trug und unter ihrem blauen Polyesterrock schaute ein Stück Verband hervor. „Knieoperation!“, schoss es Robert sofort in den Kopf. Als er gerade auf sie zugehen wollte, nickte sie nachdenklich und hauchte in sich gekehrt: „Ja, ja ich habe auf dich gewartet, meine Kleine! Es ist schön, geliebte Gesichter wiederzusehen!“ Sie drehte sich zu ihm um und musste verwundert lächeln. „Schade, ich dachte Sie wären Geraldine. Ich hoffe ihr geht es gut?“

Einen Moment lang verlor sich Robert in ihrem Gesicht. Es strahlte vollkommene Ruhe aus. In den tiefen blauen Augen spiegelten sich Berge von Lebenserfahrung und die zierliche Nase war mit dem zarten Mund durch zwei leichte Furchen verbunden. Zwischen all diesen porzellanhaften Wunderwerken hatte das Leben seine Spuren eingeprägt. Die Falten machten sie nicht hässlich, sondern nur noch interessant aussehender. Robert zwinkerte kurz, um wieder klar denken zu können. „Wunderbar, prächtig... Sie hat jetzt die Chefposition in der Times.“ Zufrieden lächelte die Frau und blickte verträumt in den Raum. Eine unangenehme Minute lang wartete Robert schweigend, dann strich er sich durch das schüttere Haar und ließ sich auf den stellenweise geflickten Sessel nieder. Konzentriert holte er seinen blauen Notizblock hervor. In diesem Moment meldete sich seine Migräne zurück, die sich wie ein kleiner Bohrer durch seinen Kopf arbeite und sämtliche Schmerzrezeptoren auf Hochtouren laufen ließ. Genervt rieb er sich seine schmerzende Schläfe. Er ließ seinen Kugelschreiber dreimal klicken und schrieb das heutige Datum, den Namen des Altenheimes und die Zimmernummer auf das kleine karierte Papier. Währendem er schrieb, seufzte er kurz und fragte die alte Frau etwas abwesend: „Also Ms Thurnswell, sie heißen mir Vornamen Miranda und sind am 25. Mai 1925 in Jacksonville, Georgia geboren. Ist das korrekt?“

Die weißhaarige Frau hatte sich in seine Richtung gedreht und sah ihm nun gedankenvoll in die Augen. „Ihren Namen...“ „Was?“, entgegnete er ihr ein wenig verwirrt. „Ihren Namen... Sie haben mir ihren Namen noch nicht gesagt.“ Ein wenig verärgert, dass sie nicht gleich richtig geantwortet hatte murmelte er ein mürrisches: „ Robert Richertson.“ entgegen. Die zarte Frau ignorierte seine unwirsche Reaktion und flötete ihm mit beruhigender Stimme zu, dass sie zwar in Jacksonville gelebt hatte, jedoch schon 2 Jahre früher in einem irländischen Krankenhaus geboren worden sei. Ihre Mutter war, da ihr Vater sie als Kind nicht anerkannt hatte, nach Amerika ausgewandert und hatte dort ein neues Leben begonnen. „Das Geld reichte zwar oft nur geradeso...“ , sagte siel mit einem sanften Lächeln auf den Lippen, „aber ich habe mich nie beschwert.“

Robert notierte alles mit seiner schwungvollen Schrift und den gängigen Abkürzungen, die alle Journalisten benutzten, die nicht im Besitz eines Diktiergerätes waren, auf dem karierten Papier auf. Im Laufe seiner Karriere hatte er schon Dutzende solcher 10 cm großen „Wunderhilfen“ beschrieben, die, bei eventueller Benötigung, in dem 3. Fach seines Schreibtisches lagerten. „Ein wenig konservativ...“, dachte er, doch sie hatten schon einige Male seine Artikel vor dem „Austrocknen“ bewahrt. Die strikte Ordnung und die akribische Formalität, die seine Notizen aufwiesen, hatte seine Denkstützen nutzvoller als jede Datenbank gemacht. Vielleicht war dies auch sein Geheimnis, weshalb er es soweit geschafft hatte. "Von einer Lokal- zu einer weltberühmten Tageszeitung hochzuarbeiten bedarf schon eines gewissen Talents."

Er schaute auf und bemerkte, dass Ms Thurnswell in der Zeit, in der er gedankenverloren an den Fensterrahmen gestarrt und gegen Schwerthiebe in seinem Kopf gekämpft hatte, bereits ihre halbe Lebensgeschichte vorbeiziehen ließ. Er versuchte sich auf ihre Worte zu konzentrieren, doch die Müdigkeit und seine Migräne machten ihm es ihm unmöglich irgentetwas Interessantes aus ihren Worten herauszufiltern. Ein paar Informationen hatte er während seiner geistigen Abwesenheit zum Schein aufgeschrieben, doch im Prinzip saß er jetzt zu Hause vor seinem Computer, um seine E-Mails durchzuchecken und danach den Abend mit einem Kognak und einigen multimedialen, leicht bekleideten Damen zu verbringen.

„Entschuldigung...“ , sagte Ms Thurnswell und berührte ihn leicht an der Schulter, „hören sie mir überhaupt zu?“ Robert zuckte zusammen und blickte in ihre Augen. In ihnen war keine Wut zu sehen, so wie er es erwartet hatte. Sie beäugten ihn eher etwas traurig. „ Es tut mir leid, mir geht es heute nicht so gut.“, er tippte auf seinen Kopf, „Migräne, verstehen sie?“ Die Mundwinkel der alten Frau zuckten kurz und sie seufzte kurz, dann ging sie auf die alte Schrankwand zu und holte eine zerknickte Fotografie heraus und streichelte sie. Nach einer Weile bedrückender Ruhe antwortete sie zitternd: „Wir können das Gespräch auch auf später vertagen. Ich verstehe ihre Trägheit heute sehr gut verstehen...“ Es schien als wäre sie in der Mitte dieser Wörter in eine andere Welt hinübergeglitten. Robert wollte es sofort verneinen, doch als ein weiteres Erdbeben seine Synapsen erschütterte, nickte er vorsichtig. Er stand auf, zog sich seinen braunen Designermantel über und wollte sich verabschieden. Ms Thurnswell stand nun mit dem Rücken zu ihm und streichelte immer noch das Foto mit ihrem Daumen. „Ich hoffe sie wissen nun alles, was sie über mich wissen sollten...“ murmelte sie etwas melancholisch. „Ich, ich denke mit dem. was ich habe kann ich etwas anfangen..“, brummte er auf Plötzlich drehte sie sich ruckartig um und drückte ihm das Foto in die Hand. Sie berührte seinen arm mit mit schwachem Griff und hauchte ihm ins Ohr: „Ich wünsche ihnen viel Glück für ihren Artikel.“ Dann ließ sie los und kehrte zurück zur Fensterbank, um dort wieder mit der tristen Sphäre des Zimmers eins zu werden.
 "Seltsame Frau!" Robert schloss verwirrt die Tür und steckte, das Foto, ohne es anzusehen in seine Aktentasche. „Heute war ein mieser Tag!“ In seinem Kopf drehte sich alles: der Streit mit Geraldine, die Migräne und jetzt auch noch diese vollkommen verwirrte Frau, die nun wegen seinem Desinteresse in einer Depression versinkt. Er strich sich durch das Haar, verließ schleunigst das Altersheim und fuhr im Eiltempo in sein Appartement zurück. Erschöpft schälte er sich aus seinen Kleidern und ließ sich aufs Sofa fallen. Sollte ihm seine Chefin doch den Kopf abreißen, den Artikel würde er heute trotzdem nicht mehr fertig stellen. Mit diesen Gedanken ließ er seine Lider fallen und begab sich in einen unruhigen Schlaf voller mysteriöser Träume.


 „Sie hat überraschend ruhig reagiert.“, dachte er, währendem er Geraldine anmutigen Gang in ihr Büro nachblickte. Kein Geschrei oder Vorwürfe! Nur ein Hinweis darauf, dass er doch den Artikel noch fertig stellen solle. Robert strich brunftig über sein Kinn, nachdem ihr erstklassiges Gesäß hinter der Tür verschwunden war. Sie war eine sehr attraktive Frau, mit langem braunen Haar und französischer Leidenschaft in den Augen. Sie liebte kurze Röcke, trug ihren Busen meist sehr hochgeschnallt. Vielleicht war dies auch der Grund, weshalb sie die vielen Bürohengste der Konkurrenz so leicht um den Finger wickeln konnte... Trozdem war ihm bewusst, innerlich war sie wie alle Chefs ein kaltes Stück Eisen. Die Art, wie sie heute mit ihm umging verwunderte ihn. Dennoch setzte er sich sofort an seinen Artikel. Er kam schnell voran, schließlich waren ja auch nicht allzu viele Informationen zu verarbeiten. Innerhalb einer dreiviertel Stunde war der geübte Schreiber fertig. Er wollte sich noch etwas notieren und kramte in seiner Tasche nach dem Kugelschreiber, da fiel die Fotografie heraus, die ihm Ms Thurnswell gegeben hatte. Er hob sie auf und betrachtete sie. Es war ein schwarz-weiß Bild, auf dem ein ein junger kurzgeschorener Mann mit einer zärtlichen Frau im Arm (in der Robert Ms Thurnswell erkannte) verliebt in die Kamera starrte und ihr dabei die Haare küsste. Er drehte das Foto um und las eine handgeschriebene Zeile: Für dich Miranda! Joshua Whinston 25. Mai. 1977

Hastig drehte er das Bild wieder und betrachtete hektisch den jungen Mann. Ja er war es! Niemand sonst mit diesem Namen hatte die gleiche Narbe auf der Stirn. Robert ließ sich in den Stuhl zurückfallen. Wie hatte er diese Frau nur so falsch einschätzen können! Hals über Kopf sprang er von seinem Schreibtisch auf, schnappte sich Mantel und Aktentasche und sprintete zu seinem Sportwagen, um so schnell wie möglich das städtische Altersheim zu erreichen.
Es hatte, so wie es aussah, in der Nacht zuvor wie aus Kannen gegossen, denn als Robert seinen linken ARMANI-Schuh auf die Straße setzte, spürte er wie sich seine Sportsocken mit Wasser vollsogen. Egal! Fixiert auf die Automatiktür steuerte er das Altenheim an, währendem er durch einen kleinen Knopfdruck sein Auto zum Aufblinken brachte. Er beachtete weder die skulpturhaften Senioren, noch die Pflegerin hinter der Glasscheibe, die kurz aufblickte und sich dann wieder ihrem Kaffee und ihrer antimaskulinen Zeitschrift widmete. Hastig marschierte er auf Zimmer 203 zu und riss die Tür auf.

Eine anscheinend pakististanische Putzkraft sah ihn erschrockenen in die Augen. „Wo... wo ist Ms Thurnswell?“, fragte er vollkommen überrumpelt Die junge Frau blieb noch einen Moment in ihrer erstarrten Pose, dann antwortete sie mit langsamer, akzentgeprägter Stimme: „Enschuldigen Sie, ich kenne keine Ms Thurnswell. Sie war doch nicht ewa , die tote Frau dieses Zimmers?"

Es war wie ein Faustschlag in Robert Magengrube, der ihm kurzzeitig die Luft nahm und sämtliche Gedankengänge abreißen ließ. Die gestrige Frau, die er als so verwirrt und seltsam eingestuft hatte, die Frau, von der er herausgefunden hatte, dass sie mit einem der größten Menschenrechtler, dem Präsidenten Joshua Whinston verlobt gewesen war, die Frau, welche seine größte Story hätte werden können, diese Frau sollte nun tot sein? Bestürzt rieb er sich das Kinn. Sie hatte gestern so traurig ausgesehen, hatte mit ihm so gedankenverloren gesprochen und war insgesamt in einer vollkommen anderen Welt gewesen. Man sagt, dass Menschen es spüren, wenn der Tod nahe ist. Wieso hatte er es nicht bemerkt? Wieso hatte er keine Schwester darauf aufmerksam gemacht? Weshalb hatte er einen so erstaunlichen Menschen unter der Last der Kraftlosigkeit fallen und somit seinem Schicksal überlassen?
Die nächsten Tage schleppten sich für Robert schwerer hin, wie die durchsiechte Kleidung, die man nach einem Sturz ins Wasser noch minutenlang tragen muss. Seine Artikel nahmen an Inhalt und Qualität immer weiter ab und seine Gesicht wirkte nach jeder seiner unruhigen Schlafphasen eingefallener. Seine freien Abende verbrachte er nur noch mit der Recherche über Miranda Thurnswell und Joshua Whinston. Doch keine der dutzenden Suchmaschinen spuckte mehr über Whinstons Vergangenheit aus. In Atlanta geboren. In einer Baptistengemeinde aufgewachsen und an Havarduniversität Juristik studiert hatte. Frustriert hatte sich Robert dann auf sein Sofa geworfen und ließ es sich nicht nehmen die jeweilige Kognakflasche auf dem Tisch zu leeren. Wenn er dann am nächsten Morgen mit dröhnenden Kopf zur Arbeit fuhr, war es kein Wunder, dass immer mehr Beschwerden über den Verkehrsteil in der New York Times eingingen. Eine Woche hatte es gedauert, ehe Geraldine an seinen Schreibtisch kam.

„Robert, wir müssen reden...“ „Jaa..?“, antwortete er mit halboffen Augen auf den Bildschirm fixiert. Sie legte ihre kühle Hand auf seinen Arm, doch Robert zog ihn sofort weg. „Ich weiß wie sehr dich die Sache mit Miranda beschäftigt. Mir tut es doch auch weh. Ich habe gedacht ich gebe dir ein paar Tage frei, damit du dich etwas auskurrierst.“ „Mir geht es gut.“, murmelte er, obwohl ihm diese Lüge selbst wehtat. „ Es ist nur zu deinem Besten. Vincent übernimmt deine Arbeit!“ Mit diesen Worten packte sie seinen Arm und brachte ihn auf die Beine. „Ich wünsche dir gute Genesung!“, sagte sie, als Robert schließlich vor der Türe stand. Dann ließ sie, sie ins Schloss fallen. Robert begann nun im strömenden Regen durch das menschenleere New York zu stapfen, um sich auf der nächstbesten Bank niederzulassen. Ausgelaugt strich er sich durch sein nasses Haar. „Wenn du jetzt nicht irgentetwas unternimmst, dann fällst du in eine mächtige Depression!“ Plötzlich sah Robert auf: „Das war es!“ Er musste handeln. Er musste irgentetwas unternehmen, um das Erbe von Miranda Thurnswell nicht verglimmen zu lassen. Er spürte, wie in seine schlappen Glieder wieder Leben zurückkehrte . Mit ein paar Schritten saß er in seinem Wagen und nach einer ewig scheinenden Autofahrt konnte er endlich das Schild: „Willkommen in Jacksonville!“ erkennen.

Das Whinston-Anwesen war riesig. In dem parkähnlichen Vorgarten war ein ovaler Swimmingpool in den Boden eingelassen, der mit einem Zugang zu einem zusätzlichen Whirlpool versehen war. Der schwarze Marmor ließ das Wasser im frühabendlichen Sonnenspiel romantisch wirken. Hier verbrachte wohl der pensionierte Präsident und seine Frau ihre gemeinsamen Liebkosungen. Außerdem war noch ein riesiger Gartenpavillion und ein übertrieben prächtiger Schuppen. Der penibel angelegte Weg zum Haus wurde von einem Meer aus gelben Chrysanthemen abgrenzt. Das Domizil selbst erinnerte stark an die Bauweise des weißen Hauses, nur in einer etwas kleineren Form ohne Säulen. Robert stieg die Stufen zur Terrasse hinauf und klingelte an der Haustür.  Nach einer halben Minute wurde die Tür von einem betagten Butler geöffnet. Mit geschürtzten Lippen betrachtete er ihn zunächst von Kopf bis Fuß, dann begrüßte er ihn mit einem schroffen: „Sie wünschen?“. Robert setzte wieder sein falsches Lächeln auf und begann enthusiastisch: „ Schönen Guten Tag. Mein Name ist Robert Richterson. Ich arbeite für die New York Times und muss unbedingt mit Mr Whinston sprechen!“ Wenig beeindruckt von Roberts überschwänglichen Art antwortete der Butler: „Mister Whinston ist im Moment sehr beschäftigt, ich fürchte er wird keine Zeit für sie haben!“ Irritiert wedelte er in der Luft herum: „Es ist von größter Bedeutung. Seine Freundin Ms...“

„Was ist hier los, Winfried?“ Eine ältere Frau, mit breitem Gesicht und perfekt sitzender Frisur, war an die Tür getreten und schaute ihn fragend an. Bevor der Butler auch nur einatmen konnte, streckte Robert ihr seine Hand entgegen und wiederholte: „Schönen Guten Tag. Mein Name ist Robert Richterson. Ich arbeite für die New York Times und muss unbedingt mit ihrem Mann sprechen!“ Die Frau verzog ihren Mund zu einem überdimensionalen Lächeln und sagte mit weicher Stimme. „Nun ja, Joshua ist zurzeit sehr beschäftigt, aber vielleicht kann ich helfen?“ Eifrig nickte er und wurde ins Haus geleitet. Winfried, der Diener, durchsuchte ihn nach eventuellen Waffen und setzte er sich mit einem Glas Champagner auf die Präsidentencoach und begann: „Ich habe mich in letzter Zeit viel mit der Vergangenheit ihres Mannes auseinandergesetzt und habe herausgefunden, dass er vor ihnen, schon einmal verlobt gewesen war.“ Aus dem honigsüßen Lächeln der Präsidentengattin verwandelte sich ein eisiger Gesichtsausdruck. „Jaa, was ist mit ihr?“ Ein wenig verwundert sprach er weiter: „Ja, seine Verlobte Miranda Thurnswell ist vor einer Woche gestorben. Ich wollte ihn davon in Kenntnis setzen und ihn zur Beerdigung einladen."

Offensichtlich hatte sich die Ex- First Lady einen Moment nicht im Griff und zerbrach das Champagnergals in ihrer Hand. „Dieses nymphomane Weibsbild hat mir fast meine Ehe zerstört. Ich will nichts davon hören und Joshua auch nicht.“, sie strich sich zornig die Haare. „Raus... raus hier. Kein Wort mehr will ich hören!“ Von der aggressiven Reaktion der Frau so überwältigt hastete Robert in Richtung Ausgang. Winfried packte ihn fester an, als er es von einem alten Mann, wie ihm, erwartet hätte und zog ihn unsanft zur Tür. „Was ist hier los?“, fragte auf einmal eine feste Männerstimme. Ex-Präsident Whinston selbst stand nun am Absatz der Treppe und blickte ernst auf die Beiden. „Präsident Whinston... Miranda Thurnswell...tot. Sie müssen am nächsten Dienstag zu ihrer Beerdigung kommen!“ Das waren die Letzten Worte, die er ihm zubrüllen konnte, dann wurde von kräftigen Diener hinausgeschoben und die Tür flog zu. Er hatte noch den erstaunten Ausdruck auf Whinstons Gesicht sehen könne. Drinnen hörte er nun erst eine leise Unterhaltung,die sich aber schließlich in ein Geschrei verwandelte. Nach einigen Minuten steckte Der Präsident seinen kahlen Kopf aus der Tür sagte finster: „Kommen sie nie wieder hier her!“ Dann knallte die weiße Eichenholztür zu. 

Niemand war zu ihrer Beerdigung gekommen. Robert war zwar eine Stunde zu früh gekommen, aber er vermutete keine weiteren Angehörigen. Wütend biss er sich auf die Lippe. Diese Rosalynn hatte etwas zu verbergen. Er hatte den Schmerz in seinem Gesicht gesehen, als er ihm diese schreckliche Nachricht an den Kopf geworfen hatte. Es musste etwas dahinter stecken. Ms Thurnswell lag noch vor ihm aufgebahrt und sah so aus, als würde sie schlafen. Ihre Arme hatte sie überkreuzt und die braune Kreuzkette strahlte über ihrer weißen Bluse hervor.

Sie sah so friedlich aus, fast konnte Robert ihr sanftes Lächeln erkennen, doch immer wenn er an sie herantrat, merkte er wie kalt es um sie herum wurde. Sie war nur noch eine dünne Hülle, die jetzt nun nur kurzweilig ihre Unvergleichbarkeit repräsentierte. Diese Frau sollte eine Hure sein? Er konnte es sich einfach nicht vorstellen. Mit hängenden Schultern wandte er sich von ihr ab. Er würde nicht bis zur Beisetzung warten. Zu groß waren seine Gewissensbisse.

Was war das? Hinter ihm war die Tür zur Leichenhalle aufgemacht worden und sich jemand näherte sich schlurfend näherte. Hoffnungsvoll drehte sich Robert um und erblickte zu seiner Erleichterung den Mann, den er so sehnsüchtig erwartet hatte. Hastig lief er auf ihn zu und schüttelte ihm ehrfürchtig die Hand. Doch der untersetzte, kahlköpfige Mann schien ihn gar nicht wahrzunehmen. Leicht stolpernd schritt er auf den Sarg zu und bohrte seine Finger in das weiß lackierte Kiefernholz.

„Mr President?“ fragte Robert vorsichtig und erschrak, als er auf dem sonst so zielstrebigen Gesicht des Demokraten Tränen entdeckte, die sich wie ein Quellbach durch seine Gesichtsfurchen bahnten. „Ich habe sie geliebt.“, sagte er wütend und umklammerte noch fester den Sarg, „Sie war mein Ein und Alles.“ Robert schwieg betroffen. „Wir wollten heiraten! Dafür hatte ich sogar schon einen Ring gekauft!“ Er blickte ihn einen Moment lang mit trüben Augen an, fast so als wollte er prüfen, ob Robert vertrauenswürdig sei. Im gleichen Augenblick schien ihm aber wieder eingefallen zu sein, dass der Mann, der ihm gegenüberstand ein Reporter war, der keine gute Story fallen ließ. Trotzdem fuhr er zitternd fort: „Es war im Mai 1977... Ich und Miranda hatten nach 11 Jahren Partnerschaft endlich den Mut gefasst zu heiraten. Ich war damals Spitzenkandidat der Demokraten. Etwa zwei Monate vor unserer Leiirung stand vor meiner Tür ein Beauftragter des weißen Hauses. Was er mir befahl schockiert mich noch heute.“ Whinston wandte sich nun ebenfalls von Ms Thurnswell ab und sprach, währendem er nervös auf und ab ging weiter: „Ich sollte die geplante Eheschließung annullieren, andererseits würde ein Anderer für die Wahlen antreten. Stattdessen sollte ich eine Blitzhochzeit mit der Talkshowmoderatorin und Psychologin Rosalynn Anderson durchführen. Ich stand in einem Zwiespalt. Die eine Seite bot mir einen guten Job, viel Geld und Rosalynn war eine attraktive Frau gewesen. Und auf der anderen Seite stand Miranda und wollte Kinder mit mir haben. Ich habe mich damals eindeutig falsch entschieden...“ „Sie können nichts dafür, sie...“ Whinston unterbrach ihn mit einer verächtlichen Handbewegung. „Natürlich bin ich Schuld! Ich hätte mich anders entscheiden können. Aber was wissen sie schon darüber, sie, der den ganzen Tag Lügen und Hirngespinste verbreiten.“ Robert schwieg.

War es nicht wirklich so? Pflanzte seine Zeitung nicht wirklich durch jeden kleinen Fehltritt eine Woge aus Abneigung in die Herzen der Leser? Er blickte wieder auf und traute seinen Augen nicht. Der sonst so ernste Joshua Whinston hatte sich über die Leiche gebeugt und küsste sie zitternd. In seinen Augen tobte ein Erdbeben aus Sehnsucht und Verzweiflung. Instinktiv schnellte Roberts Hand an die Kamera, welche an seinem Hals baumelte. Was sollte er nun tun? Die Story seines Lebens schreiben? Er hob die Kamera an, ließ sie aber schon nach wenigen Sekunden wieder los. Er würde es nicht tun. Whinston hatte sich wieder erhoben und lächelte ihm zu. An diesem Tag hatte er eines gelernt. Einen Weg zu beschreiten, der nur aus Erwartungen der Gesellschaft gepflastert ist führt zwangsläufig in ein Jammertal.

Schweigend hatten die beiden Männer noch der Beisetzung beigewohnt. 


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Tag der Veröffentlichung: 11.10.2010

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