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Prolog

 

 

Kupferfarben glänzte ihr Haar im Licht der Sonne dieses frostigen Wintertages.

Der Junge und das Mädchen an ihrer Seite drückten sich eng an sie, um so ein wenig Schutz zu finden. Weniger vor der Kälte des Windes und den treibenden Schneeflocken, als vielmehr vor der Menschenmenge, die sich wie eine zähflüssige Masse träge über den vorweihnachtlich geschmückten Markt bewegte.

Ihr Blick war traurig, wie eigentlich fast immer, und schien in die Unendlichkeit gerichtet zu sein. Wenn man sie jedoch genauer beobachtete, merkte man, dass sie direkt in die Sonne sah, die sich durch die Wolken drängte.

Sie träumte mit offenen Augen in den Tag hinein. Alles um sie herum versank in einem tiefen Nebel. Und wie so oft, wenn sie die klare Winterluft gierig in ihre Lungen einsog und an den festlich geschmückten Buden vorbeizog, erinnerte sie sich daran, wie sie selbst und ihre etwas jüngere Schwester vor vielen Jahren über einen ähnlichen Wintermarkt bummelten, Hand in Hand. Sie waren beide selbst noch Kinder und genossen es, durch den Schnee zu laufen, dem Geruch der vielen weihnachtlichen Düfte zu folgen und die Passanten zu ärgern.

Wie so oft hatten sie sich getrennt, und Maria schlenderte gerade an der riesigen Tanne vorbei, als sie ihre kleine Schwester laut rufen hörte: »Mama..., Mama..., Maamaaa...«

Sie wendete ihren Blick und lief sofort in jene Richtung, aus der die Rufe hallten, bis sich Rosa, noch einmal laut »Maamaaa...« schluchzend, in ihre Arme fallen ließ.

Ratlos und auch ein wenig entsetzt schüttelten die Menschen um sie herum ihre Köpfe und murmelten leise, ›Die ist ja selbst noch ein Kind...‹ Ihre Gedanken tauchten noch tiefer in die Vergangenheit ein. Und plötzlich erschien da auch wieder das Bild von Pedro vor ihren Augen, jenem Jungen, mit dem sie vor einigen Jahren geschlafen hatte, obwohl sie bereits mit einem Anderen verbunden war.

Nein!, sie hatten nicht nur einfach so miteinander geschlafen, es war mehr gewesen, vom ersten Augenblick an, als sie sich begegneten. Das hatte sie sofort gespürt. Aber warum hatte sie nicht auf ihr Herz gehört? Sie hätte IHN nicht heiraten müssen, damals, aber sie hatte sich Adrian versprochen.

Wie so oft in den letzten Monaten fragte sie sich, was wohl aus Pedro geworden ist, und ob sie ihn jemals wiedersehen würde...

Seit langem kriselte es schon in ihrer Ehe, aber bisher hatte sie nie den Mut gefunden, einen Schlussstrich zu ziehen, schon aus dem Grund, um ihren Kindern nicht den Vater zu nehmen, an dem sie so hingen.

Eine Träne rann über ihr Gesicht und gefror sogleich. War sie wirklich glücklich?

Langsam kehrten die Erinnerungen zurück, und mit ihnen ein Verlangen nach tiefer, inniger Liebe, tabuloser Hingabe und feucht-warmen Lippen, die zärtlich ihren Körper verwöhnten. Ein leises Seufzen verließ ihren Mund und verschwand in der Anonymität dieses frostigen Wintertages. Ihre Nackenhaare begannen sich aufzurichten und leise, fast flehend, flüsterte sie seinen Namen: »Pedro...«

Doch in genau diesem Augenblick zog Lena kräftig an der Hand ihrer Mutter. »Mama, lass uns Zuckerwatte naschen gehen. Und Karussell fahren will ich auch...!«

Erschrocken, als hätte sie jemand bei ihren Gedanken ertappt, blickte sie um sich und sah in Lenas lachende Augen. ›Ach, Kleines‹, dachte sie, ›wenn ich bei Pedro geblieben wäre, würde es dich nicht geben...‹ Schnell beugte sie sich herab und schloss ihr „Baby“ in die Arme, während sie Lenas Gesicht mit Küssen überhäufte.

»Was ist mit dir, Mama?« fragte Christoph, der die verstörten Blicke seiner Mutter bemerkt hatte.

Eilig wischte sie sich mit einer kurzen Handbewegung die Tränen aus dem Gesicht. »Nichts, mein Großer, mir ist nur etwas ins Auge geflogen...«

Schnell lief sie mit ihren Kindern los, und war augenblicklich in der riesigen Menschenmasse verschwunden.

I.

 

 

Es war ein sonniger Morgen an diesem ersten Juni, als Pedro, ein Anfangs zwanziger, dunkelhaarig und leidenschaftlicher Brillenträger, am Tor der alten Stadtvilla läutete. Als sich die Tür öffnete, sah er in das von der durch zechten Nacht gezeichnete Gesicht seines Kumpels Donaldo.

»Mann, was ist denn mit dir los?« fragte er. »Hast wohl wieder kein Ende gefunden gestern Abend...?«

Donaldo winkte ab und brummelte: »Komm’ rein. Ich brauche jetzt erst mal einen richtig starken Kaffee...«

Nachdem Pedro es sich auf dem Sofa im Gästezimmer bequem gemacht hatte, tauchte Ted, Donaldos Bruder, auf. Gut gelaunt begrüßte er seinen Kumpel: »Na, Alter, alles klar für heute Abend? «

»Klar doch, nur Donaldo sieht nicht so aus, als würde er es bis dahin schaffen aus auszunüchtern...«

»Mach dir um den mal keine Sorgen«, meinte Ted, »der ist zur Zeit in seiner Säuferphase, das gibt sich wieder...«

»Na hoffentlich, schließlich ist der nächste Kindertag erst wieder in einem Jahr...«

›Seltsam‹, dachte er dabei, ›da bist du nun schon fast 21 Jahre alt und freust dich immer noch auf diesen Tag.‹ Aber wer feiern will braucht einen Grund. Da war es egal, was man zum Vorwand nahm.

So machten sich beide in der Küche daran, die Getränke vorzubereiten. Ted wollte ein neues Rezept ausprobieren: Eine Flasche trockenen Rotwein, eine Flasche Korn, eine Flasche Apfelsaft, den Saft von zwei Zitronen, 6 Esslöffel Zucker – und das alles gut miteinander vermischen.

Angewidert verzog Pedro das Gesicht. »Boah eh, und das soll schmecken?«

»Nicht schmecken, dröhnen!« gab Ted ihm zur Antwort. »Außerdem haben wir ja noch Bier und Weißwein, und unseren guten Kognak-Ersatz, die „Hausmarke“.«

»Und wer, bitte schön, soll das ganze trinken?« fragte Donaldo, der nach Kaffee und kalter Dusche wieder erstaunlich frisch aussah.

»Keine Ahnung, mal sehen wer alles kommt. Macht euch nur nicht so viele Gedanken darüber. Seht lieber zu, dass wir hier fertig werden, wir haben noch genug zu tun!«

Gegen Mittag beluden sie ihren geborgten Hand-Zieh-Wagen mit drei Kisten Bier, zwei Kartons Weißwein, etlichen Flaschen „Double-Silver-Look“, so hatte Ted seine Spezialmixtur schließlich genannt, und diversen Flaschen anderer alkoholischer Getränke.

»Auf geht’s!« rief er.

Donaldo schob mit einem kräftigen Ruck den Wagen an.

»Pass auf!« fuhr ihn Ted an, »da ist "Allehol" drin, den brauchen wir noch...!«

Zwanzig Minuten später kamen sie im Wohnheim II der Uni an. Orlando, ein Student aus Schwarzafrika, genauer gesagt aus Angola, erwartete die Drei bereits. Mit ihm und einigen seiner Mitstreiter hatten sie sich in den vergangenen Wochen angefreundet.

»Hallo, kommen ihr rein, ich haben schon auf sie gewartet«, begrüßte er sie in seinem gebrochenen Deutsch. »Ihr viel haben mitbringen.«

»Das ist noch lange nicht alles«, meinte Ted. »Hilf uns lieber beim Hochtragen, wir müssen gleich noch mal los und einkaufen.«

Gemeinsam schleppten sie die Kisten und Kartons die zwei Treppen hoch und betraten erwartungsvoll den TV-Raum.

›Was ist denn das?‹, durchfuhr es Ted. ›Hier ist ja noch nicht einmal umgeräumt.‹ Orlando schien seinen verwirrten Blick richtig zu deuten.

»Alle noch schlafen«, gab er entschuldigend zu verstehen.

»Ja, ja, gestern zu viel Bier getrunken, was?« meinte Pedro.

Orlando nickte.

»Na gut«, sagte Ted. »Du wirst mit Donaldo den Raum umräumen, zu mehr ist der noch nicht zu gebrauchen. Und wir zwei werden den Rest an Getränken besorgen.«

Gesagt, getan. Pedro setzte sich in den Hand-Zieh-Wagen und los ging es zum „Konsum“, Cola und Salzstangen kaufen. Auf dem Rückweg luden sie dann gleich noch die Musikanlage ein, die aus zwei Radio-Kassetten-Recordern, einem Plattenspieler, einem Mikrofon sowie einem Paar Kopfhörer und einem Mischpult, beides Marke Eigenbau, bestand. Dazu kamen noch etliche selbst aufgenommene Musikkassetten und auf dem Schwarzmarkt erstandene Schallplatten.

Inzwischen war es 18:00 Uhr. Langsam bekam Pedro Lampenfieber. Zum wiederholten Mal nahm er das Mikrofon, und drückte auf die „Play-Taste“ des Recorders. Aus den Boxen erklang sogleich die vorbereitete Aufnahme.

»Hallo, hallo«, rief er in das Mikro, »herzlich willkommen zu unserer heutigen Kindertagsfeier. Ich freue mich, dass ihr...«

»Hallo, hallo«, kam es vom Band, »herzlich willkommen...«

»Was ist denn das?« schickte Pedro durch das Mikrofon dazwischen, »welcher Dussel mischt sich da in mein Gequatsche?«

 

Alles funktionierte wie geplant. Mit einer Ausnahme: Es erschienen keine Gäste. Donaldo schien das jedoch nicht zu stören, er hing bereits an seinem dritten Bier und löschte seinen Nachdurst. Dazu meinte er nur: »Voll geil, Alter...«

Es war bereits nach 20:00 Uhr, als die ersten ihrer Freunde aus Schwarzafrika erschienen. Sie kamen, nahmen sich Bier, setzten sich in eine Ecke und tranken und quatschten, quatschten und tranken...

Pedro begann in Panik zu verfallen. Was war denn das für eine Fete? Für wen hatten sie die ganzen Getränke besorgt? Gerade als er die Musik abschalten wollte, betraten noch einige Studentinnen und Studenten den Raum. Es schien ihnen zu gefallen, denn sie begannen sofort zu tanzen. Erleichtert atmete er auf, gab sich jetzt noch mehr Mühe bei der Musikauswahl.

Ted begab sich auf Außen-Rundgang. »Mal sehen, was noch so rumläuft und Lust hat...«, meinte er. Erst nach einer guten Stunde kam er zurück. Aber wen hatte er da mitgebracht?

Pedro fiel augenblicklich das kupferfarben glänzende Haar auf. Wie gebannt starrte er auf dieses göttlich wirkende Wesen. »Das ist Maria«, stellte Ted sie vor.

Pedro wagte nicht, sie anzusehen, seine angeborene Schüchternheit hatte ihn ganz im Griff. Irgendetwas verriet ihm jedoch, dass sie noch eine bedeutende Rolle in seinem Leben spielen sollte. Doch noch erahnte er nicht, dass dieser Engel sein gesamtes Leben auf den Kopf stellen sollte.

Maria nahm sich ein Glas Weißwein und setzte sich zu ihnen. Irgendwie gelang es ihr sogar, Pedro in das Gespräch zu verwickeln, aber noch immer blickte er an ihr vorbei, wenn er sie ansprach.

Die Zeit verging wie im Flug, und so war es schon gegen Mitternacht, als sie ihre Musikanlage einpackten. Von den Gästen fehlte jede Spur, nur Maria war noch da. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg und begleiteten die junge Studentin in ihr Wohnheim. Dort angekommen, machten sie es sich in der Raucherecke bequem. Maria erzählte von ihrem aufregenden Studentenleben, von ihrem Bruder und der Schwester, die zu Hause, in der Hauptstadt, noch auf die Schule gingen.

Gierig lauschte Pedro ihren Worten, der Stimme, die so warm und zärtlich klang, und ihn immer mehr verwirrte. Als es Zeit war, sich zu trennen, nahm er all seinen Mut zusammen und fragte sie: »Können wir uns mal wiedersehen?«

»Na klar!« lachte sie. »In 14 Tagen beginnen die Semesterferien, danach muss ich zwei Wochen ins ZV-Lager, und mittendrin werde ich Adrian heiraten... Ab Anfang Oktober bin ich dann wieder hier.«

Er schluckte laut, sein Herz begann zu rasen, als Maria einen Zettel hervor kramte und darauf Namen und Zimmernummer schrieb. Als sie sich verabschiedeten, zwinkerte sie Pedro zu.

Dann gingen die drei Nichtstudenten in die sternenklare Nacht hinaus.

›...und mittendrin werde ich Adrian heiraten...‹, diese Worte gingen Pedro in dieser und den folgenden Nächten nicht mehr aus dem Kopf. Ständig sah er ihr Bild vor sich, ihr süßes Lächeln, den etwas traurigen, verträumten Blick, ihr kupferfarben glänzendes Haar, das ihr Gesicht sanft umfing.

Es gab keinen Zweifel: Er hatte sich in Maria verliebt...

Es war das erste Mal in seinem Leben, dass so etwas passierte. Und irgendwie hatte er Angst vor dem, was in den folgenden Wochen und Monaten geschehen könnte. Wie sollte er diesem göttlichen Wesen seine Liebe gestehen. Durfte er ihr überhaupt von seinen Gefühlen für sie etwas sagen? Schließlich hatte sie sich bereits einem anderen versprochen, und wollte bald dessen Frau werden, in guten wie in schlechten Tagen, bis ans Ende ihres Lebens.

 

An manchen Tagen fragt er sich heute, warum sie ihm bereits bei ihrem Kennenlernen erzählte, dass sie heiraten wird?

War es ein Hilferuf, eine Bitte, sie davon abzuhalten, weil sie ahnte, dass es ein Fehler ist?

Aber wie hätte er es verhindern sollen? Er hatte nicht das Recht, sich zwischen sie zu stellen, und ihre Liebe zu zerstören, und all das, was sie sich bereits aufgebaut hatten und noch zusammen aufbauen wollten. Und doch hatte er es einige Monate später getan...

 

Wenn er in den folgenden Tagen morgens aufwachte, sah er Marias Gesicht vor sich auftauchen, hörte sie zärtlich seinen Namen rufen und war betört vom Duft ihrer Haut und Haare.

Er wusste nicht, wie es weiter gehen sollte.

Am Tage hatte er Mühe, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, nachts konnte er nicht richtig schlafen, und an den Wochenenden, wenn er mit Ted und Donaldo durch die Kneipen zog, verspürte er plötzlich keine Lust, sich wie bisher zu bedröhnen.

Eines Abends fragte ihn Ted, was denn los sei mit ihm. »Ist es wegen Maria?«

»Ja«, gestand Pedro ihm. »Es hat mich voll erwischt. Ich habe mich das erste Mal richtig verliebt.«

»Oh, oh...«, meinte dieser, »das klingt nicht gut!«

»Wieso denn das?« fragte Pedro verwundert.

»Hast du es denn schon vergessen? Sie wird heiraten in den nächsten Wochen.«

›Ja, und...?‹, wollte Pedro erwidern, doch plötzlich wurde ihm bewusst, in welchem Schlamassel er sich befand. Er musste sich zwingen, sie zu vergessen. Aber wie sollte er das schaffen?

 

Doch die Zeit heilt, wenn auch nicht alle, so doch viele Wunden. Auch der Liebeskummer, der Pedro zu zerfressen drohte, wich dem Alltagsstress. Je mehr Zeit sich zwischen ihn und Maria drängte, um so mehr bemerkte er nicht, dass er dabei war, sie zu vergessen. Eigentlich ein Erfolg, für sein nicht vorhandenes Ego. Pedro begann wieder glücklich zu sein, ohne sie, bis zu jenem Tag, an dem alles noch viel schlimmer kommen sollte, als er es sich jemals hätte erahnen können.

II.

 

 

Es war Anfang Oktober, als sich eine Stimme aus Pedros Unterbewusstsein meldete. Doch noch verstand er nicht, was sie ihm sagen wollte, zu undeutlich drangen die Worte an sein Ohr, zu schemenhaft waren die Bilder, die vor seinen Augen auftauchten. Und warum sollte er sich Gedanken darüber machen. Er war ja glücklich, so wie sein Leben zur Zeit verlief. Erst als er einige Tage später, nach langer Zeit, zusammen mit Ted und Donaldo wieder seine Freunde aus Schwarzafrika in der Uni besuchte, wurde ihm plötzlich klar, worum es ging.

Seit Wochen hatte er

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Maximilian Tubé
Bildmaterialien: Maximilian Tubé
Cover: Maximilian Tubé
Tag der Veröffentlichung: 21.06.2019
ISBN: 978-3-7487-0785-1

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