Isabelle hatte einen großen Traum. Sie wollte einmal in ihrem Leben das Horn eines Einhorns berühren. Sie liebte es, wenn ihr Vater ihr die Gutenachtgeschichte vom kleinen Einhorn vorlas, das mit anderen Tieren viele Abenteuer in einem verzauberten Wald erlebte. Er beschrieb dieses Fabelwesen so wunderschön und besonders gefiel Isabelle, dass sein Horn in Regenbogenfarben schimmerte. Also fasste sie den Entschluss eines Tages ein Einhorn zu suchen, um herauszufinden, wie sich dessen funkelndes Horn anfühlte. Bei jeder Gelegenheit löcherte sie Mama und Papa mit tausenden Fragen. Doch sie wollten Isabelle einfach nicht verstehen und Isabelle wollte ihre Eltern einfach nicht verstehen, als sie versuchten ihr zu erklären, das Einhörner nur in Märchen vorkommen und das es sie nicht wirklich gibt! Also ging sie zu ihrem Bruder, der ja schon in die Schule ging und da hatte er sicher alles Wissenswerte über Einhörner gelernt und auch wo sie diese besonderen Geschöpfe finden konnte. Zu ihrer großen Enttäuschung meinte der nur: »Du hast doch einen Vogel! Sogar das kleinste Kleinkind weiß, dass es keine Einhöner gibt.« Empört konterte Isabelle ironisch: »Wie kommst du auf die Idee, dass ich einen Vogel habe? Mama und Papa erlauben uns doch keine Haustiere!« Enttäuscht schnaubte sie davon, stampfte laut die Stiege hinauf, damit auch jeder ihre Empörung mitbekommen konnte und verschwand in ihrem Zimmer. Dort malte sie an ihrem Einhornbild weiter, als erstes hatte sie das Horn mit einer speziellen weißen Glitzerfarbe angemalt, die Mama ihr extra kaufen musste. Aber wenn sie nun mit dem Finger über das Horn strich, fühlte es sich gar nicht so an, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sogar ganz im Gegenteil, diese Glitzerfarbe war wie grobes Schleifpapier und das passte in ihren Augen überhaupt nicht zu so einem sanften Wesen. Am folgenden Wochenende besuchten sie die Oma, und da diese Isabelle nicht enttäuschen wollte, sagte sie zu ihr nach langem Hin und Her, sie vermute, dass Einhörner am Amazonas in Südamerika leben. Isabelle bemerkte zwar die strengen Blicke ihrer Eltern, die ihre Oma in Verlegenheit brachten, aber sie ließ sich nicht beirren und forschte weiter. Also wurde wochenlang jeder befragt, wo den genau der Amazonas und Südamerika ist und ob sie Bilder, oder noch besser Bücher davon sehen könne. Irgendwann forderte sie schließlich, dass der nächste Urlaub in den Anden sein müsse, da ihre Nachforschungen ergeben hatten, dass der Amazonas dort seinen Ursprung hat und die Landschaft dort noch nicht vollständig erforscht sei.
Isabelle blieb ihrem Wunsch so hartnäckig treu, dass sie es nach einigen Jahren tatsächlich schaffte, ihre Eltern von ihrem Reiseziel zu überzeugen. Mittlerweile ging sie selber schon in die Schule, konnte lesen und hatte sich ein dickes Einhornbuch zusammengestellt, mit allen wichtigen Informationen, die sie brauchte, um das Einhorn zu finden. Ihre Eltern buchten extra eine Peru-Rundreise, in der Hoffnung, dass Isabelle genug zu sehen bekam, um einzusehen, dass es ihr Fabelwesen nur im Märchen gab. Doch Isabelle gefiel diese Idee leider nicht so gut, denn sie befürchtete, dass sich das Einhorn nicht blicken lassen würde, bei dem Lärm den die große Reisegruppe machte. Obwohl sie zugeben musste, dass sie die wunderschöne und unbekannte Landschaft schon sehr beeindruckte. Ihre Eltern fanden es amüsant, ihre beiden Kinder mit vor Staunen weit offenen Mündern, vor Landschaften zu fotografieren, die sie alle nur aus Dokumentarfilmen kannten. Es war eine fantastische Reise mit wunderbaren Eindrücken und sie bereuten es nicht, das Isabelle sie dazu überredet hatte. Als sie Machu Picchu, eine große Ruinenstadt der Inkas besichtigten, schlich sich die kleine Einhornforscherin dann jedoch heimlich in den angrenzenden Wald. Was nicht lange unbemerkt blieb und für große Aufregung bei ihren Begleitern sorgte. Sie hörte zwar, wie alle ihren Namen riefen, aber dass ihre Mama fürchterlich weinte, bekam sie nicht mit, sonst wäre sie sicher umgekehrt. Schließlich kam sie an eine kleine Lichtung, mit einem im Sonnenlicht schimmernden Wasserfall, die so bezaubernd aussah, dass Isabelle sich ganz sicher war, dass hier ein Einhorn wohnen musste. So setzte sie sich hin, wartete und beobachtete genau die Umgebung. Anfangs war es noch sehr interessant an diesem mystischen Ort, sogar ein großer, bunter Schmetterling setzte sich auf ihre Hand. Da es jedoch nach einiger Zeit schon anfing zu dämmern und kein Einhorn in Sicht war, wurde sie sehr traurig. Und als dann auch noch der Ärger über die vielen sinnlos verschwendeten Stunden dazu kam und dass sie ihre geliebten Eltern so enttäuscht hatte, fing sie bitterlich an zu weinen. Dicke Tränen kullerten über ihre Wangen und tropften auf eine kleine rosa Blume, die vor ihr am Boden vorsichtig zwischen den Grashalmen hervor ragte. Auf einmal umhüllte sie etwas sehr Vertrautes, also schaute sie mit Tränen in den Augen auf und sah verschwommen eine weiße Gestalt vor sich. Schnell wischte sie mit dem Ärmel die Tränen weg und da stand es, ihr Einhorn. Sie strahlte über beide Ohren und ganz selbstverständlich und ohne zu zögern umarmte sie es, bevor sie genauestens sein schimmerndes Horn betrachtete. Isabelle konnte es nicht fassen, als das Einhorn auch noch begann mit ihr zu sprechen und ihr anbot, sein strahlendes Horn zu berühren. Sie versuchte zu beschreiben, was sie fühlte, doch ihr fielen nur die Wörter Wärme, Geborgenheit, Kraft und Liebe ein. Das magische Wesen bot ihr nun an, dass sie sich etwas wünschen dürfe. Isabelle schaute das Einhorn an umarmte es und sagte ihm, dass sie endlich alles gefunden hatte, was sie sich immer wünschte, jedoch wirklich fröhlich stimmte sie das nicht. Sie wäre jetzt so gerne bei ihrer Familie, bei der sie sich so geborgen fühlte und die sie so liebte. Mit diesen Worten schlief sie erschöpft ein und wachte am nächsten Morgen zuhause in ihrem Bett auf. Verwundert rieb sie sich die Augen und fragte sich, ob ihre Reise nur ein Traum war oder ihr neuer Wunsch erfüllt wurde? Glücklich und vor allem zufrieden sprang sie auf, rannte in das Schlafzimmer ihrer Eltern und kuschelte sich schnell zu ihnen unter die Decke. Ihr Bruder hatte das bemerkt und kam sofort hinterher gelaufen, um auch dazu zu krabbeln. Isabelle schaute grinsend in die Runde und sagte: »Wisst ihr was? Ich weiß jetzt, wie sich ein Einhorn Horn anfühl.« Sie drehte sich auf den Rücken, breitete die Arme aus, damit sich Mama, Papa und ihr Bruder an sie schmiegen konnten und sagte genüsslich: »Genau so fühlt es sich an.« Sie lagen noch lange so da und genossen das familiäre Beisammensein, welches sie Wärme, Geborgenheit, Kraft und Liebe spüren ließ. Von dem Tag an unternahmen sie viel mehr gemeinsam und gelegentlich erinnerte Mama sie mit einem Lächeln: »Haben wir ein Glück, dass es Einhörner gibt.«
Texte: © 2012 Maximilian Ackermann
Tag der Veröffentlichung: 12.03.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meine Tochter Isabelle