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Nach nur zehn Jahren Wartezeit bekamen wir im Jahr 1981 unseren Trabant geliefert. Zwei Stunden hing ich mit Benny am Fenster und wartete darauf, dass Vater endlich um die Ecke bog. Als die komplette Familie dann auf dem großen, heute sehr leeren Parkplatz vor unserem Neubaublock stand, konnten wir Kinder gar nicht fassen, dass wir von nun an mit diesem tollen Auto in den Garten, in den Urlaub und zum Tierpark fahren würden. Liebevoll und anerkennend strichen wir über den Lack.
Vater lud uns sofort auf eine Probefahrt ein und ich hörte, wie er mit trockener Stimme meiner Mutter von der Übergabe im IFA-Autohaus in der Rummelsburger Straße erzählte: Nachdem er dem Mann mit dem Autoschlüssel die 12.000 Mark in bar in die Hand gedrückt hatte, wurde er schweigend zu seinem neuen Auto geführt. Ringsum auf dem großen Hof standen die schicken Wartburgs und Ladas, die hier auch ausgeliefert wurden. Wir fuhren immer am Friedrichshain entlang und diese Fahrt war genial, denn Vater zog und drückte wirklich alle Hebel, Knöpfe und Schalter einmal zum Testen. Wir fanden, dass nicht nur die Hupe „urst einfetzte“, wie Benny und ich extrem coole Sachen gerade nannten. Schnell wurde das neue Auto mit dem Kennzeichen I-FY-6-38 nur noch "Iffy" gerufen. Unser Vater erklärte uns zahllose Male, dass wir echt Schwein gehabt hätten, da er das Modell Trabant 601 S bekommen hatte. Das "S" für Sonderwunsch konnten wir zwar nicht identifizieren, wahrscheinlich stand es dafür, dass das Ding nicht schon nach einem Jahr komplett auseinander fiel, jedenfalls hatten wir Vaters Meinung nach „S wie Suppe gehabt“ - auch mit der Farbe. Das Sachsenring-Werk in Zwickau hatte uns ein Pappauto in Champagner-Beige gefertigt - ziemlich vornehm hörte sich das an. Da es in unserer Kaufhalle nur eine Sektsorte gab, stellte ich mir den unbekannten, edlen Champagner jahrelang in der Farbe dieser Autolackierung vor - also dunkelgelb.

Nach vier Tagen stolzen Besitzes fuhren wir mit unserem neuen Trabi zum ersten Mal in unsere Datsche nach Karow. Dort redete ich so lange auf meinen Vater ein, bis er es zuließ, dass ich unter Anleitung auch einmal fahren durfte. Hätten wir gewusst, dass ich später zweimal bei der praktischen Führerscheinprüfung durchfallen würde, Vater hätte sicherlich anders entschieden. So nahm er mich auf dem Fahrersitz auf seinen Schoß und wir fuhren wie zwei Bobfahrer los. Meine Aufgabe war es zu lenken und zu bremsen und er bediente das Gas und die Hebel-Gangschaltung. Straßen gab es in der Kleingartenanlage nicht; die einzelnen Gärten waren nur durch schmale Feldwege verbunden. So war eigentlich absehbar, dass unsere Fahrt bereits an der ersten, ernst zu nehmenden Kurve problematisch werden könnte. Irgendwie stimmte die Koordination zwischen uns beiden nicht, denn ich lenkte zu früh ein und Vater gab entschieden zu viel Gas. Wir durchbrachen mit einem Knall den Zaun der Familie Billreimer, und meine erste Autofahrt endete auf deren exakt gestutztem grünen Rasen.
Ich heulte, Vater schimpfte, Mutter schrie aus der Ferne und mein Bruder grinste über den zerborstenen Zaun. Nachdem mein Vater den Trabi irgendwie zurück bugsiert hatte, musste er sofort mit Herrn Billreimer zwei Stunden quatschen und dabei mehrere Biere und Versöhnungsschnäpse trinken. Bald kamen weitere Gartennachbarn, um ihren Diskussions- und Bierbeitrag zu geben. Es entwickelte sich ein großes fröhliches Fest zu Ehren unseres Trabi-Crashs. Am nächsten Morgen waren einige Dinge klar: Alle Erwachsenen hatten einen mörderischen Kater, der Zaun musste auf drei Metern von uns neu gemacht werden und ich bekam ein langes Fahrverbot. Obwohl das champagner-beige Pappvehikel der S-Klasse bis auf ein paar Schrammen und eine kleine Delle an der Stoßstange nichts weiter abbekommen hatte, lenkte ich die restliche Zeit der real existierenden DDR kein Auto mehr.

In meiner DDR-Kindheit gab es wenige Statussymbole, mit denen man sich von Anderen abheben konnte, und meist wurden diese dann nicht in unserem Land produziert. Selbst wenn man bestimmte Klamotten oder Spielzeug besaß, waren diese Dinge im Allgemeinen nicht ganz so wichtig wie das seltene Vorhandensein eines Telefonanschlusses oder – ebenfalls selten - eine Neubauwohnung mit Badewanne. Die meisten anderen Kinder mussten noch stundenlang an einer der wenigen Telefonzellen anstehen und sich in Duschkabinen der Marke „Usedom“ reinigen. Unsere Telefonnummer 4373045 weiß ich noch heute auswendig, und fast jedes Mädchen im Ferienlager hatte sie bereits nach wenigen Tagen neben meinem Gedicht in ihrem Poesiealbum stehen. Autos hingegen waren nicht geeignet, um zu protzen, denn in meiner Gegend hatte eigentlich fast jede Familie eines. Die Parkplätze vor unserem Haus waren mit Trabis aus Zwickau oder Wartburgs aus Eisenach belegt. Ins Schwärmen geriet über diesen Besitz kein Mensch. Benny und ich saßen, nachdem sich die erste Freude über Iffy gelegt hatte, oft stundenlang vor dem Fenster unserer 9. Etage und suchten auf der vierspurigen Mollstraße nach den wenigen vorbeifahrenden Skodas, Wolgas, Mosquitschs, Dacias und Ladas. Für einen Westwagen gab es sogar zwei Punkte. Für Trabis und Wartburgs null.

Ungarn wirkte im Gegensatz zu allen anderen Ostblockstaaten wie das Paradies schlechthin. Endlich konnten wir Dinge aus dem Werbefernsehen live sehen, anfassen und sogar kaufen. Levis-Jeans, Camel-Zigaretten, Nike-Turnschuhe, Walkman, Ghettoblaster, Schallplatten, Bravo-Zeitschriften, Glitzersteine und Sticker – einfach alles, was das Herz begehrte. Leider waren die Sachen auch von Ungarischen Forint in DDR-Mark umgerechnet, extrem teuer; zumal jeder Bürger nur eine geringe Menge Geld umtauschen durfte - die Kontrollen waren entsprechend streng. So erkannte man fast jeden DDR-Bürger einfach schon daran, dass er fast während des gesamten Urlaubs die mitgebrachten Stullen aß und Berliner Pilsner, Limo oder rote Brause trank. Doch mein Vater hatte über seine Beziehungen reichlich so genannte Umtauschschecks besorgt. Allein ich tauschte 700 Mark von meinem Ersparten in Forint und war froh, dass ich mein nutzlos herumliegendes Geld endlich einmal sinnvoll einsetzen konnte. Trotzdem schmierte Mutter einen monströsen Stullenberg.
Bevor wir losfuhren, hatten wir früh um 5 Uhr auf unserem Parkplatz allerdings "die Brille auf", wie mein Alter zu sagen pflegte. Er meinte damit einfach: Jetzt haben wir ein Problem! Wir standen vor dem Trabi und sahen, dass kein einziges weiteres Gepäckstück in den kleinen Flitzer passen würde. Im Kofferraum war jeder Zentimeter ausgefüllt und auch auf der Rückbank und Ablage stapelten sich schon mehrere Taschen. Mein Vater war ein 110 Kilo-Mann, meine Mutter eher rundlich, und als sich dann auch noch ihre dicken Kinder dort hinten hineinquetschten, wog die Kiste sicher doppelt so viel wie bei Werksauslieferung in der Rummelsburger Straße.
Als wir uns schließlich doch noch irgendwie auf den Weg in Richtung CSSR machten, ahnten wir noch nicht, dass dies der heißeste Tag des Jahres werden sollte. Zwischen Prag und Brno standen wir im längsten Stau unseres bisherigen Lebens. Da man beim Trabi hinten die Fenster nicht herunterkurbeln kann, bekamen wir bei fast 40 Grad kaum Luft und gierten nach dem von Mutter gemachten, längst lauwarm gewordenen Eistee. Wir träumten von Ungarn und malten uns eine eiskalte Coca Cola an den Ufern der Donau aus, dachten an Budapest mit Hotdog-Ständen an denen Würste in champagnerbeigen Senf gebettet werden.
Doch kurz vor der magischen Grenze begann plötzlich eine der wenigen elektronischen Leuchten im Trabi zu blinken. Vater fuhr sofort hektisch auf einen Rastplatz. Wir kamen an die frische Luft und ich lernte wieder einmal dazu. Statt die Kühlerhaube zu öffnen oder nach dem Wartungshandbuch zu suchen, stieg er aus und ging sofort zu einer Gruppe quatschender Männer. Nur kurze Zeit später standen fünf bedeutungsschwer diskutierende Kerle um unser Auto, schauten auf die Anzeigen, kontrollierten das Kühlwasser, das Öl und vieles mehr. Mein Vater lehnte zuhörend, mit den Händen in den Seiten, an der Fahrertür und spornte die Jungs freundlich an, den Fehler zu finden. Ich weiß heute nicht mehr, was Iffys Problem gewesen war, nur, dass die hilfsbereiten Menschen, obwohl sie es zunächst ablehnten, jeder zehn Mark bekamen und wir weiterfahren konnten. Ich musste zurück in den Backofen und ahnte jetzt, wie man ein Auto repariert.

Im Frühjahr 1989 verkauften meine Eltern unser geliebtes Gefährt, um den neuen vollkommen gesichtslosen, papyrusweißen Trabi bezahlen zu können. Der junge LKW-Schlosser Kai aus Friedrichsfelde hatte sicher einige Monate später nach dem Mauerfall „die Brille auf“ als er feststellte, dass unser Trabi total durchgerostet war, einige Stellen mit Beton gekittet waren und vor allem, dass er meinem Vater schlappe 11.000 Mark dafür in die Hand gedrückt hatte. Bereits 1991 fuhr mein Vater einen weißen, gebrauchten VW-Polo. Der Trabant war verschwunden, doch die Erinnerungen blieben. Er hatte uns nicht nur nach Budapest gebracht. In der CSSR luden wir ihn mit Glitschi-Tieren voll. Diese Nachbildungen aus Gummi fanden wir genial und sogar Vater lächelte, wenn wir die Gummi-Schlange während der Fahrt von hinten über Mutters Hals legten und sie wie am Spieß schrie. Im selben Urlaub rasten wir in Zelesny Brod mit ihr zum dortigen Zahnarzt, da sie einen Zahn verloren hatte und nun aussah wie die Hexe Babajaga aus den russischen Filmen. In Prag mussten wir eine hohe Strafe bezahlen, da wir genau vor dem Hradschin auf den Parkplätzen der tschechoslowakischen Staatsregierung geparkt hatten. Bis meine Eltern diese Reisetabletten entdeckten, erbrach ich bei jeder Fahrt in den Wagen. Es stank jedes Mal extrem nach Kinderkotze und wurde nur noch getoppt vom Urin unseres Meerschweins Otto, das Benny einmal auf den Rücksitzen hatte laufen lassen.
Der kleine Trabi hatte körbeweise Maronen und Steinpilze aus brandenburgischen Wäldern, unseren ersten Farbfernseher, den großen Kühlschrank und die schwere Waschmaschine transportiert. Ohne größere Pannen oder Unfälle war er unser Steuermann durch eine bald endende DDR gewesen.

Vor Kurzem holte mich Göte, einer meiner besten Freunde und ebenso ehemaliger armer Ostschlucker, mit einem dunkelblauen Porsche Cabrio vor meiner Wohnung in Friedrichshain ab. Ich zeigte dem Angeber einen Vogel, doch schon nach den ersten rasanten Metern auf der Karl-Marx-Allee brüllte ich in den nächtlichen Abendhimmel: „Iffy, wo immer du jetzt bist, du fehlst mir überhaupt nicht. Aber falls du in einer vollkommen anderen Karosserie wiedergeboren werden solltest, mit gemütlichen Sitzen, Klimaautomatik, elektrischen Fensterhebern und diesem Motor, komm vorbei und wir fahren zusammen nach Budapest, Prag oder Zelesny Brod. Ich kotze dich dann auch nicht voll. Versprochen.“

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 25.06.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
"Mauergewinner" von Mark Scheppert Jetzt im Buchhandel! ISBN 978-3839106044

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