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Vor einigen Tagen war ich auf einer großen WG-Party eines Arbeitskollegen eingeladen. Die Feier fand in der Karl-Marx-Allee in Friedrichshain statt. Obwohl ich sehr spät kam, befanden sich noch viele Gäste in der stark verqualmten Bude. Micha begrüßte mich euphorisch und stellte mir jeden einzeln vor. Die Küche war wie immer das lautstarke Zentrum der Wohnung und besonders gut gefüllt. Bald war klar: Ich, der Junge von nebenan, war der einzige ehemalige Ostdeutsche auf der gesamten Party. Unglaublich, denn noch bis vor wenigen Jahren waren dieses Haus, die Straße und der Bezirk ausschließlich von Ossis bewohnt gewesen. In der Badewanne schwammen die letzten, einsamen Becks Gold.

Manchmal kann ich gar nicht glauben, wie sehr sich meine Stadt verändert hat. Ziemlich geschockt öffnete ich mir eins meiner im Sixpack mitgebrachten „Berliner Pilsner“ und sah mich erst mal um. Irgendwie kam mir dieser Wohnungstyp bekannt vor.
- „Können Sie mir kurz ihre persönliche Entwicklung zum Bauleiter der Karl-Marx-Allee schildern?“
- „Als 17 jähriger wurde ich zum Krieg eingezogen und kam im Mai 1945 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Mit 21 war ich dann bereits Bauingenieur in unserem neuen Staat, der DDR.“
„Welche Bedeutung hatte der Bau der Karl-Marx-Allee?“
„Der Bau der damaligen Stalinallee war der Startschuss für das nationale Aufbauwerk der DDR. Hier wurde ein Exempel statuiert, das maßgebend war.“
„Was für Motive hatten die Menschen, dem Aufruf zu folgen?“
„Sie wollten aus den Trümmern heraus, endlich und zum ersten Mal sollten die Arbeiter in die mit eigenen Händen geschaffenen Wohnungen auch einziehen.“

Ich war aber nicht hier, um Erinnerungen nachzuhängen, sondern um eine Party zu feiern. Also ging ich mit meinem Bier in die Küche und lauschte den Gesprächen. Eine große Runde scharte sich um einen im Monolog redenden Typen mit Brille, der sich scheinbar gerne selber zuhörte. Micha hatte ihn mir als Thomas aus Hannover vorgestellt, der in Berlin Politikwissenschaften studierte. Ich stellte mich daneben und hörte staunend zu. Er erklärte uns die Geschichte der Karl-Marx-Allee, erzählte von den Demos, die hier stattgefunden hätten, von den Anfängen und Renovierungen der Häuser.

Leider redete er ausschließlich dummes Zeug. Ich wollte ihn am liebsten anschreien und sagen, dass die hiesigen Häuser nicht erst in den 1960ern gebaut worden waren, dass hier nicht jede Woche Panzer und Raketenwagen vorgefahren waren und dass nicht erst nach der Wende nachträglich Badewannen und Fahrstühle eingebaut worden sind. Doch ich schwieg.
Die monumentale Karl-Marx-Allee, die bis 1961 noch Stalinallee geheißen hatte, war ab 1952 nach den Vorbildern der Prachtboulevards in Moskau, Lenin- und Stalingrad errichtet worden. Sie diente nicht nur für den städtischen Verkehr, sondern sollte Berlins Anspruch als Hauptstadt verkörpern. Außerdem sollten hier Aufmärsche und Paraden stattfinden. Obwohl ab dem Strausberger Platz viele Plattenbauten dazu gekommen sind, bleibt die schnurgerade Karl-Marx-Allee vom Alex bis zum Frankfurter Tor mit ihren Häusern im Zuckerbäckerstil eine der ungewöhnlichsten und vielleicht schönsten Straßen meiner Stadt.

Ich war selbst überrascht, wie wütend mich diese selbstverliebte Show eines arroganten Wessis machte. So aggressiv habe ich mich selten erlebt – und meinen Ärger trotzdem einfach für mich behalten. Warum?
Ich hatte schon zu viele sinnlose Kämpfe ausgetragen, zu oft über meine verschwundene Heimat gesprochen, als ob ich sie gedemütigt vor anderen verteidigen müsste. Die Lust auf solche Diskussionen tendierte im Laufe der Jahre immer mehr gegen Null, da sie zu keinem befriedigenden Ergebnis führten. Letztendlich wurde es mir mehr und mehr egal, wie andere die DDR deuteten oder was darüber in den deutschen Geschichtsbüchern stand. Dieser Mensch aus Hannover müsste doch wissen, dass der ehemalige Nationalfeiertag der BRD am 17. Juni aus den Aufständen des Jahres 1953 resultierte. Auf den Baustellen dieser prestigeträchtigen Straße formierte sich der Widerstand. Wieso kam das in seinen gewählten Worten nicht vor?

Ich setzte mich an einen Tisch, schaute aus dem Fenster in die tiefschwarze Nacht und dachte nach. Vielleicht verlange ich aber einfach zu viel. Auch ich hatte erst als junger Student erfahren, was genau hier einst geschehen war. Am 17. Juni kam es in der DDR zu einer Welle von Streiks und Protesten. Es war der erste historisch bedeutende Aufstand in den Staaten des Ostblocks. Der 17. Juni war bis 1990 in der Bundesrepublik ein Feiertag.
Nachdem ich das in der DDR verbotene Buch „5 Tage im Juni“ von Stefan Heym gelesen hatte, war ich sprachlos. Wie hatten sie es geschafft, uns diesen wichtigen Abschnitt der deutschen Geschichte so lange vorzuenthalten? Wie war es möglich, dass ich bis zu meinem 20. Lebensjahr noch nie davon gehört hatte? Warum stand das in keinem unserer Geschichtsbücher?
Plötzlich erinnerte ich mich an eine Begegnung, die ich eigentlich schon längst wieder vergessen hatte.
„Setz Dich doch. Kaffee? Brause? Schokolade?“
„Lieber Herr Schulte ...“
„Dass Herr lassen wir lieber. Ich bin seit 1965 Genosse, wir können uns also duzen.“

Wir wurden erzogen zur „Einsicht in die Notwendigkeit“ – das galt für alle Bereiche des sozialistischen Daseins - ein Leben lang. In der 11. Klasse bestand meine darin, der Arbeitsgemeinschaft „Junge Journalisten“ beizutreten, um bei einer späteren Bewerbung überhaupt eine Chance zu haben, einen der jeweils zwei Volontariats-Plätze beim „Neuen Deutschland“ oder der „Berliner Zeitung“ zu ergattern. Klar halfen Beziehungen auch hier ein wenig, aber vollkommen talentfreie Schreiberlinge stellten auch diese Zeitungen nicht ein. Einsichtig besuchte ich diese AG.
In regelmäßigen Abständen musste ich nach der Schule in die Redaktion des „ND“ fahren und erhielt zusammen mit anderen Altersgenossen erste Aufträge für Berichte, Interviews und Reportagen. In gemeinsamen Diskussionsrunden werteten wir danach das Geschriebene aus. Gleich zu Beginn dieser Kurse konnte ich sogar eine abgedruckte Meldung unter der Überschrift „Schüler tauften Wisentkalb“ unterbringen. Da mein Name darunter stand, schnitt meine Mutter diesen brillanten Miniartikel aus, kopierte ihn zigfach auf Arbeit und schickte ihn an sämtliche Verwandte in die Republik. Auch die Gartennachbarn erfuhren so von diesem weltbewegenden Ereignis.
Wir „Jungen Journalisten“ bekamen vor allem solche Aufträge, bei denen es darum ging, über die Genossen der Volkspolizei oder die der Nationalen Volksarmee zu berichten. Daher meldete ich mich sofort, als es hieß, es sei ein Interview mit dem ehemaligen Bauleiter des Hochhauses an der Weberwiese zu machen. Dieses neunstöckige Gebäude galt 1952 als Leitbau mit Vorbildfunktion für die bevorstehende Planung und Errichtung der unmittelbar benachbarten Stalinallee. Gleichzeitig war es das erste Hochhaus auf dem Boden der DDR.
Obwohl ich mir auch hier nicht viel davon versprach, klang das nicht ganz so dröge und politisch. Außerdem war das Haus in der Marchlewskistraße 25 nur einen Katzensprung von unserer Wohnung entfernt. Als ich klingelte, war mir immer noch nicht richtig klar, aus welchem Anlass ich eigentlich das Interview führen sollte. Ich läutete an der Tür im sechsten Stock. Ein breitschultriger Kerl von Anfang 60 öffnete mir mit einem freundlichen Lächeln: Otto Schulte, Bauleiter der Stalinallee. Noch im Flur sagte er:
„Setz Dich doch. Kaffee? Brause? Schokolade?“
Er deutete auf die Sessel in dem riesigen Wohnzimmer. Bevor ich Platz nahm, schaute ich aus dem Fenster auf die gerade blühenden Bäume der Weberwiese. Seine Frau brachte mir ein Wasser-Sirup-Gemisch, welches nach Orange schmeckte. Ich begann ihn zu befragen.
„Wer war damals besonders aktiv?“
„Hervorheben möchte ich vor allem die Frauen – Trümmerfrauen, die kaum Kleidung und Nahrung hatten. Es gab damals sogar eine Frauenmaurerbrigade.“
„Wie war die Arbeitsproduktivität damals?“
„Es gab zwar kein Schichtsystem, aber der Arbeitswille war enorm hoch!“
„Besser als heute?“
„Das kann ich nicht einschätzen.“ Er lachte.
„Wie wurde der erste Bau an der Weberwiese damals von der Bevölkerung aufgenommen?“
„Erfolgserlebnisse hatten damals einen höheren Stellenwert als heute. Presse, Rundfunk und Fernsehen berichteten täglich vom Aufbauwerk.“ Mein Gegenüber bekam plötzlich leuchtende Augen: „Mit einem großen Feuerwerk feierte die gesamte DDR die Fertigstellung des Weberwiesenhochhauses.“
„Es ist ja bekannt, dass Persönlichkeiten wie Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht auf den Baustellen waren. Hatten Sie selbst eine solche Begegnung?“
Er zeigte mir stolz die Bilder aus dem Fotoalbum. „Der hübsche, schlanke, das bin ich, und hier Pieck und Grotewohl beim Steineklopfen. Pieck musste sogar noch einen Kasten Bier für meine Leute spendieren.“ Bei der Bemerkung schlug er sich lachend aufs Knie.
„Wie kam es, dass Sie als einer der ersten eine Wohnung in diesem Häuserblock bekamen?“
„Wir zogen am 28.5.52 hier ein. Es war eines meiner schönsten Erlebnisse im Leben. Wir waren selbst überrascht, so schnell eine Wohnung zu bekommen. Begründet wurde es damit, dass meine Frau und ich Aktivisten der ersten Stunde waren und mir die Meißner Aufbauplakette in Gold verliehen worden war.“
„ Was war besonders an den neuen Wohnungen?“
„Es waren riesengroße Wohnungen mit Badezimmer und Innentoilette, Küche mit Fenster und natürlich einer Heizung. Übrigens hatten damals nur 20 Prozent aller Wohnungen ein Bad – heute sind es 70 Prozent. Der Quadratmeter kostete wie heute 95 Pfennige und viele Häuser besaßen einen Fahrstuhl. Eine Musterwohnung in diesem Hochhaus haben sich über 90.000 Menschen angeschaut!“
„Wie fühlten Sie sich bei dem Gedanken, dass noch viele Menschen in Trümmern lebten?“
„Würdest Du Deinen Mantel ausziehen, wenn Du frierst? Natürlich habe ich an diese Menschen trotzdem gedacht. Ich wurde ja schließlich Aufbauleiter der Stalinallee und konnte einen großen Beitrag dazu leisten, dass diese bald in Ordnung und Frieden lebten.“
„Was wurde damals beim Bau der Karl-Marx-Allee aus Ihrer Sicht falsch gemacht?“ Nachdenklich rieb er sich das Kinn.
„Falsch gemacht wurde wenig. Kritisiert wurde damals und auch noch heute vor allem der Zuckerbäckerstil.“
„Der was?“
„Wie Du sehen kannst, ist an vielen Häusern die Außenfassade stark angegriffen. Damals wurde nicht bedacht, dass die Kacheln aus Keramik den Druck der Häuser und die alljährlichen Kampfdemonstrationen auf Dauer nicht verkraften. An vielen Häusern kommt immer wieder der Putz herunter.“ Er sagte dies mit trauriger Stimme, so, als ob es seine Schuld wäre.
„Sie waren als Baufachmann nicht nur in der DDR bekannt ...“
„Ich weiß, worauf Du hinaus willst. Ende der 50er Jahre wurde ich von einer Firma aus dem Saarland umworben, doch ich konnte unserem Land nicht wie so viele den Rücken kehren. In der DDR hatte ich von Anfang an die besten Möglichkeiten, mich vorteilhaft zu entwickeln.“ Seine Stimme war deutlich lauter geworden beim letzten Satz.
„Was machen Sie heute?“
„Da ich an Diabetes leide und nach zwei Herzinfarkten frühzeitig in Rente ging, werde ich nur noch ab und zu als Bauberater ehrenamtlich zu Rate gezogen.“
Ich klappte mein kleines Heft zu und legte es auf den Tisch.
„Vielen Dank für das Interview.“
„Willst Du Dir noch die Wohnung anschauen?“ Er marschierte ohne auf die Antwort zu warten los.
„Na logisch!“, rief ich und folgte ihm.

Das Interview mit der Überschrift: „Ein Vorbild nach unserem Geschmack“ wurde nie veröffentlicht. Neben seiner auffallenden Belanglosigkeit zeichnete es noch etwas anderes aus. Es fehlte darin eine ganz entscheidende Frage: „Herr Schulte. Was ist eigentlich am 17. Juni 1953 passiert?“ Aber ich wusste davon ja noch gar nichts und wenn doch, hätte ich diese Frage überhaupt gestellt?

Die Gruppe um den selbstgefälligen Typen aus Hannover hatte sich ein wenig zerstreut. Momentan war er dabei, seinen sichtlich gelangweilten Zuhörern ausführlich von den Ereignissen, die zum Fall der Berliner Mauer führten, zu berichten. Ich schätzte, dass er in diesem historischen Jahr ungefähr zehn oder elf gewesen sein musste. Urplötzlich überlegte ich es mir anders, konnte diesen geballten Blödsinn nicht mehr ertragen. Ich machte mir ein neues Berliner Pilsner auf, tippte ihm auf die Schultern und fragte: „Hey Du. Was ist am 4. November 1989 passiert?“ Als er darauf keine Antwort wusste, begann ich zu erzählen.

Die Entscheidung traf uns alle sehr hart. Der Schulrat der DDR hatte beschlossen, dass wir ab jetzt auch an Sonnabenden zur Schule mussten. Wir durften in der 12. Klasse ausgerechnet an diesem Tag auch noch zur „nullten Stunde“ antreten – noch so eine fiese Neuerung in unserem Schulalltag Ende der Achtziger Jahre. Doch am ersten Samstag im November 1989 hatte unsere Klasse, ja, die komplette Schule beschlossen, den Unterricht ausfallen zu lassen. In gewohnter Manier trafen wir uns um 9 Uhr an einer zentralen Sammelstelle auf unserem Schulhof. Doch niemand musste sich heute in Zweierreihen aufstellen und zum Fahnenappell aufmarschieren. Wir versammelten uns, um zu demonstrieren, und zum ersten Mal im Leben konnte ich zu so einem Ereignis ausschließlich fröhliche Mitschüler ausmachen. Otto, Bernd und Matze winkten mich aufgeregt hinüber in ihre Ecke und grinsten. Die hatten doch schon wieder etwas ausgeheckt!
Wir waren nicht die einzige Schule in Berlin, die an diesem Tag auf der gewohnten Aufmarschmeile Karl-Marx-Allee in Richtung Alex zog. Alle Schulen taten das, alle Kollektive, Kombinate und Betriebe der Stadt marschierten geschlossen dort entlang. Praktisch die komplette Bevölkerung der Hauptstadt der DDR wollte sich freiwillig auf diese von den Künstlern der Stadt organisierte Demonstration begeben. Mit Bannern, auf denen stand: „Keine Gewalt“ marschierten Zigtausende Menschen in Richtung Alexanderplatz, um ihre geballte Entschlossenheit zu Veränderungen zum Ausdruck zu bringen.
Wir reihten uns ein und meine besten Freunde übernahmen die Spitze unseres Zuges. Als wir kurz hinter dem berühmten Hochhaus an der Weberwiese auf die Straße mit ihren Häusern im Zuckerbäckerstil stießen, ging ein Raunen durch unsere Reihen. Es war ein Samstag, es war kalt und keine Pflicht, hier mitzulaufen, und trotzdem schienen heute mehr Menschen zu marschieren als auf allen verordneten Kundgebungen der Jahrzehnte zuvor. Wir blickten auf einen unüberschaubaren Zug aufgeregter Demonstranten voller neuer Pläne, Ideen und Ideale.
Als wir an der Volkskammer im Palast der Republik und dem Staatsratsgebäude vorbei kamen und wieder und wieder stimmgewaltig „Wir sind das Volk!“ brüllten, war Matze immer noch in vorderster Front. Mit ernster, bedeutungsschwangerer Stimme rief er mir zu: „Heute wird die Mauer zum Einsturz gebracht!“
Der Zug setzte seinen Marsch fort, immer weiter geradeaus in Richtung Brandenburger Tor. Vor den riesigen, an diesem Tag überraschenderweise nicht verstärkt geschützten Absperrungen begann Matze plötzlich zu brüllen: „Macht die Mauer auf! Macht die Mauer auf! Macht die Mauer auf!“ Doch niemand stimmte mit ein. Unsere Schule, aber auch alle anderen Teilnehmer ringsherum wendeten stattdessen auf die andere Fahrbahnseite und gingen auf der Straße Unter den Linden wieder in Richtung Osten zur Kundgebung auf dem Alex zurück. Matze stand plötzlich allein da. Keiner hörte auf die jetzt fast schon flehenden Worte meines Freundes, doch um Himmels Willen weiter geradeaus, in Richtung Mauer, zu marschieren. Es gab ein unausgesprochenes gemeinschaftliches Gefühl an diesem Tag: Die seit 40 Jahren erste nicht von oben, sondern von unten organisierte Demonstration sollte friedlich und gewaltfrei bleiben. Auf den Fall der Mauer musste Matze wohl noch ein bisschen warten.
Vor dem Haus des Reisens gegenüber vom Alex war mittlerweile eine riesige Bühne aufgebaut. Nach und nach hatte ich alle meine Freunde im Getümmel verloren. In der Hoffnung, sie vor dem Rednerpult wieder zu finden, kämpfte ich mich bis ganz nach vorne. Die ersten Prominenten begannen zu uns zu sprechen und augenblicklich wurde es ungewöhnlich ruhig auf dem größten Platz des Landes. Niemand wollte sich jetzt auch nur einen Satz dieser neu entdeckten Redefreifreiheit entgehen lassen. Tausenden Menschen lief bei besonders zu Herzen gehenden Passagen der Redner gleichzeitig ein kalter Schauer über den Rücken. Besonders die Worte von Stefan Heym sind mir in Erinnerung geblieben, als dieser rief: „Wir haben in diesen letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen. Und das, Freunde, in Deutschland, wo bisher sämtliche Revolutionen daneben gegangen sind und wo die Leute immer gekuscht haben, unter dem Kaiser, unter den Nazis, und später auch.“

Ich redete mich auf der Party in einen regelrechten Rausch, erzählte den Umstehenden von Heyms Buch über die Tage um den 17. Juni 1953, das ich erst nach diesen Ereignissen entdeckt hatte. Ich beschrieb ihnen das Ende unserer Revolution, die nur fünf Tage später am 9. November 1989 in einem in dieser Art nicht für möglich gehaltenen Konsumrausch verloren ging. Wir hatten keinen neuen Sozialismus zum Nutzen von ganz Deutschland geschaffen oder erbaut. Nur kurz lebte ein Traum von einer anderen, neu gestalteten DDR, die auch in menschlicher und demokratischer Hinsicht mit ihrem großen Rivalen hinter der Mauer konkurrieren konnte. Eine gleichberechtigte Nation, in der uns niemand bevormundete oder aus zweiter Hand darüber berichtete, wie es bei uns angeblich zuging.

Als ich mich umsah, bemerkte ich erschreckt, dass sich mittlerweile eine ziemlich große Runde um mich gebildet hatte und mir aufmerksam zuhörte. Der Typ aus Hannover sah mich stumm an, als ich meinen letzten Satz sagte: „Diese Straße, die ehemalige Stalinallee und heutige Karl-Marx-Allee hat wirklich sehr wenig mit euch zu tun. Sorry, aber es ist eine historische DDR-Straße, der Boulevard unser zerbrochenen Träume mit diesen so optimistisch demonstrierenden Menschen von 1953 und 1989.“

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 15.03.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
"Mauergewinner" von Mark Scheppert Jetzt im Buchhandel! ISBN 978-3839106044

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