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Der Biber ist auf einem seiner langen Streifzüge, um neues Baumaterial für seinen Riesenbau zu finden. Da trifft er auf einen Maulwurf. „Na. Was bist du den für ein niederes Tier?“ – „Wieso sollte ich ein niederes Tier sein?“ – „Noch nie habe ich dich oder deinen Bau und das, was du der Welt hinterlässt, gesehen. Sieh doch nur zum Beispiel mein Werk: Ich habe Staudämme gebaut, Seen angestaut und eine stolze Wasserburg errichtet. Und was bist du dagegen?“ – „In jedem Fall bin ich nicht so egozentrisch. Ich wirke eher im Verborgenen, Unterirdischen und trotzdem erschaffe ich, heimlich, still und leise, ein Gängesystem, von dessen Ausdehnung du dir gar keine Vorstellung machen kannst. In deiner beschränkten Welt ist kein Platz für das Subtile und auf welchem Untergrund du wandelst, wie die Basis deiner Existenz aussieht, interessiert dich nicht. Aber merke dir: Ohne den Maulwurf ist Alles Nichts.“


„Stella Maris“


Teil 1- Im nebeligen Sumpf

Eins

Als Harry Koenig zu Bewusstsein kam, fand er sich in einem tiefschwarzen, kalten Raum, der vollständig mit einer gallertartigen Masse angefüllt war, wieder. Die schwabbelige, eisige Masse verstopfte ihm die Atemwege, füllte langsam, aber stetig die Bronchien, legte sich um die Membran seiner Alveolen und unterband so den lebensnotwendigen Gasaustausch. Verzweifelt versuchte er dem lebensfeindlichen Element zu entkommen und begann orientierungslos Schwimmbewegungen, nicht nur ohne die Richtung des rettenden Ausweges zu kennen, sondern in völliger Ahnungslosigkeit, ob es diesen gab. In der Dunkelheit gewahrte er plötzlich ein rotes Lämpchen und einen piepsenden Ton. Verzagt steuerte er die Richtung, aus der diese Signale kamen, an. Die Viskosität der umgebenden Materie machte ein Vorwärtskommen nahezu unmöglich und die Atemlosigkeit bewirkte eine zunehmende Erschlaffung seiner hoffnungslosen Bemühungen. Endlich lichtete sich das Dunkel etwas und zunehmend drang Tageslicht in seine Umwelt ein. Mit letzter Kraft durchstieß er die Oberfläche des Todeselixiers und fand sich unvermittelt, völlig schweißgebadet und mit zitternden Händen aufrecht im Bett sitzend. Erschöpft ließ er sich in die Kissen fallen und versuchte seinen Tremor unter Kontrolle zu bringen.

Plötzlich einen Brechreiz verspürend, stürzte er aus dem Bett und rannte ins Bad. Hierbei stolperte er über eine auf dem Boden liegende, halbgeleerte Wodkaflasche und landete der Länge nach in einem Haufen schmutziger Wäsche. Fluchend blieb er liegen und schloss für einen Moment die Augen. Befriedigt konnte er konstatieren, dass der Brechreiz durch den kurzen Adrenalinschub unterdrückt worden war, was er schmunzelnd als ein eindeutiges Omen für einen guten Tag nahm. Nachdem er sich aufgerafft hatte, ging er in die Küche und suchte aus einem Haufen dreckigen Geschirrs ein einigermaßen brauchbares Trinkgefäß. Gierig trank er zwei Gläser Leitungswasser und schaute sich mutlos in seiner Wohnung um. Sagt man nicht, dass die Wohnung ein Spiegel der Seele ist. Aber was sagte diese Wohnung wohl über ihn und sein Leben aus. Chaos, Verfall, Untergang und Agonie waren die einzigen Assoziationen, die ihm dazu einfielen. Aber immerhin könnte es schlimmer sein. Zum Beispiel könnte eine Frau hier Ordnung halten, mit dem Essen auf ihn warten und wenn er heimkommt, ginge die ganze Litanei dann los. Warum kommst du erst so spät, zieh gefälligst deine Schuhe aus, setz dich zum Pissen hin, wasch danach deine Hände und dieses ganze Trara. So ein Museum war vielleicht ganz schön anzuschauen, aber dieses ganze doktrinäre „Bitte nicht berühren“- Getue ging ihm ja schon immer ziemlich auf die Ketten. In einem Tempel konnte man sich nun einmal nicht richtig ausleben. Da war dieser Zigeuner- Rummelplatz schon eindeutig vorzuziehen. Er ging ins Bad und erleichterte seine Blase lächelnd im Stehen und ohne die Brille hochzuklappen. Während er sich mit kaltem Wasser das Gesicht wusch, kam ihm in den Sinn, dass er vorhin ja ziemlich unsanft durch ein Piepsen und eine rote Leuchte aus seinem wohlverdientem, alkoholisiertem Schlummer geweckt worden war. Er ging ins Schlafzimmer und wie er vermutet hatte, war auf dem Anrufbeantworter eine neue Nachricht. Es war Irene von der Zentrale, die ihm mitteilte, dass ein Taxi für acht Uhr in die Mittelstraße bestellt worden war. Angewidert schaute er auf die Uhr und stellte fest, dass es schon sieben war. Was war das nur für ein Scheißjob, den er da hatte. Er war der einzige Taxifahrer in diesem bekackten 10 000- Seelen Ort und wenn irgendjemand von diesen blöden Dorftrotteln auf die Idee kam in der Taxizentrale der Kreisstadt ein Taxi zu bestellen, dann musste er ran. Das hatte zur Folge, dass er tageweise keinen einzigen Fahrgast hatte und dann gab es solche Episoden in denen die ganze Kleinstadt auf den Beinen schien und jeder ein Taxi haben wollte, sodass er gar nicht wusste wo anzufangen und mehrere Schichten nacheinander fahren musste. Er sinnierte kurz über die Mechanismen nach, die eine solche Verdichtung der Taxianforderungen bewirkten und grinste verbissen, weil er, wie schon so oft, feststellte, dass in dieser ländlichen Gegend wohl doch noch die Auswirkungen einer langen Inzestvergangenheit spürbar waren, welche dazu führten, dass zu bestimmten Festivitäten alle Bürger anreisen mussten, da sie ja alle zur gleichen, langweiligen Familie gehörten. Aber für den heutigen Tag war ja zum Glück nur diese eine Fahrt bestellt und er konnte den restlichen Tag am Bahnhof warten, wahrscheinlich ohne allzu oft von Kunden belästigt zu werden. Er betrachtete sich kurz im Spiegel, um zu entscheiden, ob er noch Toilette halten musste bevor er das Haus verließ. Aus dem Spiegel blickte ihn ein Wesen mit geröteten Augen an, welches eine erschreckende Ähnlichkeit mit den Aussteigern und Obdachlosen hatte mit denen er eine Zeit seines Lebens verbracht hatte. Kurze Zeit dachte er daran sich zu rasieren und seine zottelige Mähne zu kämen, verwarf diesen Gedanken aber wieder schnell, da er nicht wusste wozu oder für wen er das tun sollte. Er dachte daran, dass sein Körper wahrscheinlich auch nicht sonderlich angenehm riechen würde. Obwohl er selber nichts von diesem Geruch wahrnahm, malte sich vor seinem geistigen Auge deutlich das Bild eines Iltisses ab. Doch um dieses Problem in den Griff zu bekommen musste eine Truckerdusche reichen und nachdem er sein Deo unter einiger Mühe unter zwei leeren Pizzakartons im Wohnzimmer gefunden hatte, verließ er erfrischt seine Wohnung.


Während er das Taxi durch die, zum Glück um diese Zeit noch nicht stark befahrenen, Straßen der Stadt steuerte, musste er zum wiederholten mal erkennen das man sich vielleicht doch an die Regel „ Don’t drink and drive“ halten sollte, obwohl sein Lebensmotto, wenn er denn überhaupt eines hatte, eher nach Thoreau ging und ihm eine Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat vorschrieb. Nach diesem Gedankengang des absoluten Individualismus und der unbeschränkten Freiheit wäre der Einzelne nicht durch die Mehrheitsentscheidung der Masse gebunden, sondern letztlich nur seinem eigenen Gewissen verpflichtet. Und war es nicht wichtiger sich selber im Spiegel betrachten zu können, als etwas auf die Meinungen und Moralvorstellungen der Massengesellschaft zu geben, selbst wenn diese durch eine so scheinbare Autorität wie ein Gericht oder, noch abstrakter, das Gesetz vertreten werden. Aber wahrscheinlich kann sogar die stupide vor sich hin vegetierende Massengesellschaft zum Teil Regeln und Gesetze hervorbringen, an die man sich besser halten sollte. Vielleicht war nicht alles subjektiv, sondern es gab doch unumstößliche, absolut gültige Regeln und dabei dachte er ausnahmsweise mal nicht nur an die Goldene Regel, sondern auch an solche lächerlichen Kleinigkeiten wie eben: „ Don’t drink and drive“. Wahrscheinlich ging es nicht so sehr darum, Regeln in jedem Fall zu brechen, sondern eher darum, sinnlose Regeln im speziellen Fall zu erkennen und den Mut aufzubringen, diese dann zu umgehen. Ach zum Teufel, in was für schwülstige Gedankengänge komme ich denn jetzt schon am frühen Morgen, dachte er, und schaltete angewidert von sich selbst das Radio an. Da sang gerade eine dieser amerikanischen Hüpfdohlen den üblichen Schmarrn von der Liebe und ihrem glücklichen, jugendlichen Leben, in welchem ihr noch die ganze Welt offen stand. Er hatte den ganzen Hype, der sich um die Popkultur aufgebaut hatte nie verstanden. Warum schienen die meisten Jugendlichen, aber auch die meisten Leute in seinem Alter, sich nur mit dieser Oberflächlichkeit zufrieden zu geben. Für ihn war nie ganz klar gewesen, inwiefern sich die Popmusik eigentlich von der Volksmusik unterschied, über welche man sich ja bei den meisten privaten Radiosendern höchstens belustigt und abwertend äußerte. In beiden Fällen sang man zu eingängigen Melodien über die Schönheit des Lebens und gab sich mit diesen massenkompatiblen Betrachtungen zufrieden. Alle, die Popkultur lebten, meinten wohl sich von ihrer Elterngeneration abzugrenzen ohne eigentlich zu merken wie ähnlich sie ihnen darüber geworden waren. Stets war das Bestreben der Masse nur darauf ausgerichtet gewesen das kleine Glück zu erreichen und sich damit zu bescheiden. Schnell suchte er einen anderen Sender und fand schließlich einen, auf dem Peter Tosh gerade „Get up, Stand up“ schmetterte. Das gab ihm nun endgültig den Rest. Es erinnerte ihn daran, dass es einige lichte Momente in der Entwicklung der Menschheit gegeben hatte in denen Visionäre sehr wohl erkannten, dass die Welt wohl nicht aus Gold war, bloß weil sie so glitzerte. Es bringt nichts auf die Erlösung zu warten, sondern man muss sein Wohlergehen selber in die Hand nehmen. Aber was machten diese Visionäre und vor Allendingen ihre Anhänger aus all den guten Vorsätzen und theoretisch erdachten Auswegen. Anstelle die, zum Teil richtig, erkannten Probleme zu beheben und mögliche Alternativwege einzuschlagen, begnügten sie sich damit Musik zu hören, Drogen zu konsumieren, einfach nur abzuhängen und sich schmarotzend von der mehr oder weniger ausgeprägten Toleranz ihrer jeweiligen Zeit aushalten zu lassen. Von schmerzhafter Selbsterkenntnis getroffen schaltete er das Radio ab.

Als er zehn Minuten vor dem vereinbarten Termin in die Mittelstraße bog, stand sie schon auf dem Trottoir und wartete. Verwundert fragte er sich wie es kam, dass er nicht gleich gewusst hatte wen er hier befördern sollte. Wahrscheinlich hatte Ambrosia die graue Masse in seinem Kopf gestern zu gut umhüllt, sich gleich einem Schutzschild über seinen gemarterten Geist gelegt und ihn so davor bewahrt sich solcher Unwichtigkeiten bewusst zu werden. Seit etwa zwei Monaten brachte er dieses Mädchen in unregelmäßigen Abständen von hier zum Bahnhof und entweder am gleichen Abend oder im Laufe des nächsten Tages zurück. Sie war stets adrett gekleidet und ihrem Äußeren nach zu urteilen geschäftlich unterwegs. Aber es war nun wirklich schnurzpiepegal, weshalb sie ihn so oft zu so früher Zeit aus seiner Ruhe riss. Er hielt vor ihr an, sie setzte sich schüchtern auf den Beifahrersitz und nahm ihre Tasche auf die Knie. „Wie immer zum Bahnhof?“ fragte Harry nach, was sie mit einem nicken bejahte. Er fuhr los und betrachtete sie dabei aus dem Augenwinkel. Während all der Fahrten, die sie miteinander gemacht hatten war ihm nie aufgefallen wie hübsch sie eigentlich war. Aufgrund ihres kindlichen Körperbaues, war ihr Alter sehr schwer zu schätzen und er veranschlagte es auf irgendwas zwischen 16 und 25 Jahren. Doch nicht nur ihr Körper, sondern auch ihr ganzes Verhalten wirkten irgendwie unschuldig, mit dem geheimnisvollen Reiz der Schwäche behaftet und nicht wirklich abgebrüht, sodass er sich aus einem, ihm nicht ganz ersichtlichen, Grund zu fragen begann, was für eine Art von Geschäftsreisen das wohl waren, auf denen sie sich da befand. Das er sich solche Fragen vorlegte irritierte ihn zutiefst. Da stieg also eine weitere, dieser so oft zu findenden Tussis, welche nur Shopping, Parties und ein angenehmes Leben im Kopf haben, in sein Taxi und er dachte wirklich für einen Moment, dass dieses dahinvegetierte Leben ihn irgendetwas anginge oder ihm gar einen positiven Anreiz geben könnte mit dem er was anfangen konnte. Mit einem Griff zum Radio wollte er diesen unseligen Gedankengang auslöschen, zögerte aber im letzten Augenblick. Irgendwas an diesem Mädchen war in der Tat anders und im schönsten Sinn des Wortes unnormal. Sie war nur dezent geschminkt und strahlte auf eine schwer in Worte fassbare Art eine Natürlichkeit und Bodenständigkeit aus, welche schwer zu finden war. Er wusste nicht, ob ihm diese Eigenart heute das erste Mal auffiel oder ob es sich vielmehr um eine Integration verschiedenster, während dieser ganzen Fahrten beobachteten, Details handelte, die sich jetzt zu einem Gesamtbild fügten. Obwohl er kurzzeitig in Erwähnung zog, dass die Ursache nur in seinem besonders starken Alkoholkonsum vom Vortag zu finden war, entschloss er sich, entgegen seiner Gewohnheit, ein Gespräch mit seinem Fahrgast anzuknüpfen. Er kramte kurz in seinem Gedächtnis, wie man am besten ein Gespräch anfing. Da er schon immer eine, beinahe körperliche, Abneigung gegen jede Art von Small Talk verspürt hatte, war diese Suche in seiner Erfahrungswelt nicht sonderlich ergiebig. Endlich rang er sich zu einem eigentlich sehr einfachen Anfang durch, der sich aufgrund seiner Banalität nur stockend in seinem Mund formen wollte und ihn schließlich ohne richtige Betonung und schmeichelnde Klangfarbe verließ: „ Sag mal jetzt habe ich dich schon mehrmals gefahren ohne zu wissen wie du eigentlich heißt“ - „Ottilia“ antwortete sie, sichtlich erstaunt über die Anrede und nach einigem Zögern,. „Soso, Ottilia. Ein ziemlich seltener Name. Wo geht denn die Reise diesmal hin?“ - „Nach Köln“ - „Und was sind das für Reisen, die du da immer unternimmst? Nach deinem Äußeren zu urteilen würde ich sagen du bist geschäftlich unterwegs, aber du machst nicht ganz den Eindruck einer Geschäftsfrau.“ Sie sah ihn erstaunt an. „ Entschuldige bitte, ich bin normalerweise nicht so indiskret. Ich weiß auch nicht was heute mit mir los ist….Du musst nicht antworten, wenn du nicht magst.“ - „Ist schon okay. Ich bin zurzeit auf Jobsuche und werde dann halt ab und zu zu Bewerbungsgesprächen vorgeladen.“ Diese Offenbarung rief in Harry eine ziemlich schmerzhafte Erinnerung wach. Auch er war in jungen Jahren, obgleich er damals schon reifer als Ottilia gewesen war, als Bittsteller verzweifelt vor die verschiedensten Institutionen gerannt und hatte versucht seinen Platz in der Arbeitswelt zu finden, ohne eigentlich genau definieren zu können, welchen Platz er suchte. Die ständige Abweisung und das Desinteresse der potentiellen Arbeitgeber für die Nöte des Suchenden waren frustrierend bis deprimierend gewesen und hatten eine tiefe Narbe hinterlassen. Obgleich er letztendlich eine Anstellung gefunden hatte, mit der er die gefühlte Notwendigkeit die Aufopferung seiner Eltern zu rechtfertigen befriedigen konnte, war dieses Anrennen gegen verschlossene Türen, bei gleichzeitiger Unwissenheit was man hinter diesen Pforten eigentlich erwartete, arg belastend gewesen. Er bemerkte, dass er schon seit einiger Zeit geschwiegen hatte und dass das Gespräch Gefahr lief beendet zu sein, bevor es richtig begonnen hatte. Er wusste aber nach Auffrischung dieser dunklen Erinnerung nichts mehr zu sagen, was in den Ohren eines jungen Mädchens positiv klingen oder ihr gar Mut für den bevorstehenden Gang machen würde und so zog er das bedrückende Schweigen vor. Glücklicherweise erreichten sie bald den Bahnhof, wo Harry den Obolus für seine Fährdienste kassierte und noch etwas wie viel Glück brummelte.

Der restliche Tag verlief wie erwartet sehr friedlich. Er wartete in seinem Taxi am Bahnhof ohne von einem Kunden belästigt zu werden. Am Abend traf Ottilia wieder aus Köln ein. Er fuhr sie in die Mittelstraße zurück ohne sich dazu durchringen zu können sie zu fragen, wie ihr Bewerbungsgespräch gelaufen sei. Während der Fahrt erneuerte er dennoch die Beobachtung, dass sie wirklich sehr anmutig war. Nachdem sie ausgestiegen war, bewog ihn diese Erkenntnis zu dem Entschluss, dass er, wenn er das nächste mal wichste, an sie denken wollte. Da seine Schicht nun beendet war fuhr er nach hause, jedoch nicht ohne vorher an der Tanke zu halten und sich zwei neue Flaschen Wodka zu kaufen. Vor seiner Wohnung angekommen nahm er die beiden Flaschen Wodka vom Beifahrersitz und bemerkte dabei ein weinrotes Notizbuch, welches unter den Sitz gerutscht war. Er schlug es auf und erkannte, dass es eine Art Tagebuch war. Auf der ersten Seite war unter dem Namen Ottilia eine Handynummer, sowie eine Email- Adresse eingetragen. Das Buch musste wohl während einer der Fahrten aus ihrer Tasche gefallen sein. Erfreut über diesen Fund wollte er sofort zu ihr fahren und ihr ihren Privatbesitz, wie ein strahlender Rittersmann, unmittelbar zurück erstatten. Doch im selben Moment fiel sein Blick auf den Wodka in der anderen Hand und er entschied sich um. Er dachte bei sich, was soll’s muss das Kind endlich erwachsen werden und erkennen, dass die Welt ein Scheißhaufen ist in dem dir Fremde nicht dein Zeug nachtragen, wenn du nicht selber drauf aufpasst. Er nahm das Buch, den Alkohol und seinen Zynismus und ging in seine Wohnung. Das Destillat verfehlte auch an diesem Abend nicht seine Wirkung und schon bald senkte sich wohlige Abstumpfung über Harrys Bewusstsein.

Zwei

Da waren sie wieder. Mit der gewohnten Vehemenz und dem allzu vertrauten Gefühl der aussichtslosen Langeweile bedrängten ihn auch heute wieder die öden, leblosen Stunden des Sonntagnachmittages. Er saß in seiner Wohnung, starrte die Wand an ohne etwas mit sich anfangen zu können und ohne sich auch nur ansatzweise vorstellen zu können, welche Beschäftigung ihm Erleichterung bringen könnte. Natürlich könnte er sich wieder in den Schutz einer der vielfältigen bewusstseinserweiterten oder auch – abstumpfenden Substanzen flüchten, welche ein schlauer Weltlenker ihm dafür zur Verfügung gestellt hatte. Doch da war eine, ihm wohlvertraute Stimme, in seinem Kopf, welche aus einer längst vergangenen Epoche in sein bewusstes Erleben drang, und ihn daran hinderte diesen, wohl zu einfachen, Weg zu gehen. Er musste darüber lächeln, dass dieser idealistische Kindskopf anscheinend immer noch eine gewisse Wirkung auf ihn ausübte und ihn doch tatsächlich bewog diesen Stumpfsinn zu ertragen ohne den, schon oft erprobten und stets erfolgreichen, Fluchtweg zu ergreifen. Wieder einmal fand er sich in einer endlosen, letztendlich fruchtlosen und auch unbefriedigenden, Gedankenkette wieder, welche sich um die Frage drehte, wie wohl die Alternative zu diesem Istzustand aussehen könnte, wenn gewisse Dinge in seinem Leben sich anders entwickelt hätten. Die Gedanken des irrenden Suchers drehten sich also um nicht mehr, als die anderen möglichen, von der Gesellschaft goutierten und den Institutionen, aufgrund ihrer Notwendigkeit für das Zusammenleben in kulturellen Dimensionen, gewünschten, Fluchtwege aus der Ödnis der Langeweile. Er könnte an diesem Sonntag zum gefühlt tausendsten Mal mit seiner Frau das Mittagessen bereiten, die Kinder versorgen und sich um die Nachmittagsstunden auf einen dieser tollen Sonntagsausflüge begeben. Vom Wunsche beseelt ein, in dieser Form nie existentes, durch die Allgegenwart fiktionaler Stoffe aber umso realer gefühltes, Hochglanz- Familienidyll zu schaffen, entstehen Hektik, Stress und Aggressionen. Wenn es nicht mehr ausreicht die Mahlzeit aufzutischen, sondern die Tafel lebevoll geschmückt sein muss, wenn es notwendig scheint ein mit Unternehmungen und Ausflügen voll gestopftes Unterhaltungsprogramm zu bieten, werden die erhoffte Besinnlichkeit und Gemeinsamkeit durch die damit verbundene Arbeit erdrückt und das Wollen erreicht genau das Gegenteil vom ursprünglich Beabsichtigten. Rentner und andere Familien laufen im Park rum oder bedrängen einen in einer der vielen Sehenswürdigkeiten. Auf dem Jahrmarkt oder dem Stadtfest wird man endgültig von der bunten, lauten, fröhlichen Masse erdrückt, welche meint ein nutzloses Leben ohne Bedeutung feiern zu müssen. Man geht in ein Cafe, bestellt für jeden einen Eisbecher und genießt einfach dieses tolle Leben. Bei dem Gedanken an solche Annehmlichkeiten hielt er es nicht mehr aus und er holte sich zumindest ein Bier aus der Küche. Doch gab es eigentlich noch weitere Alternativen zu diesem bürgerlichem, bedrängtem und unfreiem Leben. Da wäre natürlich noch der eloquente, Charme heuchelnde Gigolo, der jede Woche eine andere Mieze abschleppt und dann mit ihr in den teuersten Hotels absteigt, um ein abenteuerreiches Wochenende zu verleben. Aber mal davon abgesehen, dass es solche promiskuitiven Biografien im wahren Leben wahrscheinlich nicht gab, war das ja noch tausendmal schlimmer, als ein Leben in einem festen Bekanntenkreis. Glück, sofern dies ein real existierendes Gefühl ist, kann garantiert nicht in der Oberflächlichkeit solcher Bekanntschaften zu finden sein.

Von diesen und ähnlichen Gedanken geleitet war Harry fast so weit die vorsintflutliche Stimme der Vernunft zu überhören. Er wusste, dass es in diesem Moment nur eine Alternative zum Gebrauch von Genussmitteln gab. Und diese Alternative war die Aktivität. Er musste irgendetwas tun, um seine Gedanken abzulenken. Er schaute sich in seiner Wohnung um und stellte fest, dass er, wenn er hier einigermaßen Ordnung schaffen wollte, mehrere Sonntage dem Stumpfsinn die Stirn bieten könnte. Obwohl dies eigentlich eine ziemlich sinnentleerte und nutzlose Tätigkeit war, begann er zumindest den gröbsten Müll zusammenzusuchen. Nachdem er drei Müllsäcke mit leeren Flaschen und Fastfoodverpackungen gefüllt hatte, stellte er einigermaßen befriedigt fest, dass diese düstere Stätte schon viel wohnlicher geworden war. In einer Ecke war noch ein Stapel alter Magazine, welche er in einen weiteren Müllsack stopfte. Dabei fiel ihm erneut das weinrote Tagebuch in die Hände, welches er vor unbestimmbarer Zeit unter dem Beifahrersitz seines Taxis gefunden hatte. Er stopfte es zu den Magazinen in den Sack und stellte diesen zu den anderen in den Flur. Erleichtert darüber, dass ihm das Aufräumen und Saubermachen so leicht von der Hand gegangen waren, setzte er sich erneut zu seinem Bier und fuhr fort die Tapete anzustarren. Da sie nun nicht mehr durch eine Aktivität abgelenkt waren, begannen seine Gedanken wieder in verschiedenste, diffuse Richtungen abzuschweifen. Langsam aber stetig kristallisierte sich aus diesem neblig, verschwommenen Umherirren eine Frage heraus, welche er beim besten Willen nicht beantworten konnte. Er fragte sich, wann genau der Tag war, an welchem ihm das Tagebuch in die Hände gefallen war, wie viel Zeit seitdem verstrichen war und was er in dieser Zeit gemacht und erlebt hatte. Er wusste, dass seit besagtem Tag nichts Erwähnenswertes geschehen war und es schien ihm, dass der Tag des Fundes also höchstwahrscheinlich irgendwann in die letzte Woche fiel. Andererseits konnte er sich vage daran erinnern, dass er Ottilia seit diesem Tag noch mehrmals zum Bahnhof gefahren und wieder abgeholt hatte. Diese Erinnerungen waren jedoch so unscharf, dass er nichts darauf gewettet hätte, dass diese Fahrten tatsächlich nach dem Fund stattgefunden hatten und nicht vielmehr Erinnerungen an vorhergehende Fahrten waren. Mit Gewissheit wusste er jedoch, dass er Ottilia seit Langem nicht mehr gesehen und gefahren hatte, woraus er schloss, dass sie entweder eine Anstellung gefunden hatte oder auch in den Kreis der verlorenen und aufgegebenen Seelen aufgenommen worden war. Alles in allem musste der Tag des Fundes also doch schon eine ganze Weile in der Vergangenheit liegen.

Er ging ins Bad, wo er sich erleichterte und sein Gesicht mit kaltem Wasser wusch. Auf dem Rückweg zu seinem Bier blieb er lange im Flur vor den Müllsäcken stehen und betrachtete diese. Das also ist es, was ich der Welt da draußen zu vermachen habe, mein Beitrag für die Gesellschaft und alles was ich der Menschheit zu geben habe, dachte er düster. Er griff in den Sack mit den Magazinen und holte seinen Fund wieder heraus. Mit diesem in der Hand setzte er sich wieder und starrte nun zur Abwechslung mal ein weinrotes Notizbuch an. Erneut drang an sein Ohr diese längst vergangene Stimme, welche ihn mahnte diesen kostbaren Privatbesitz und diese Stück fremde Persönlichkeit ihrem legitimen Besitzer zurückzubringen. Dazu trat vor sein Auge das Bild eines schon seit Äonen nicht mehr gesehenen Knaben, welcher mit seiner kindlichen Naivität darauf beharrte nicht in diesem Buch zu lesen und sich stattdessen ritterlich und moralisch zu verhalten, wie es die großen Helden seiner Phantasiewelt vorlebten. Tja, dachte Harry zynisch, auch du kleiner Hosenscheißer kannst nicht früh genug lernen, dass die Welt nicht so ist, wie wir sie gerne hätten. Mit Genugtuung öffnete er das Buch und begann darin zu blättern. Unmittelbar erkannte er, dass er es hier nicht mit einem normalen Tagebuch zu tun hatte in dem die Nichtigkeiten eines jeden drögen Tages festgehalten waren. In den Einträgen ging es nicht um den normalen Wahnsinn zwischen Sonnenauf und -untergang. Vielmehr waren die in dieser Kladde gemachten Einträge in unregelmäßigen Abständen abgefasst wurden und enthielten nicht so sehr Handlungen, als vielmehr emotionale Beschreibungen der als wichtig empfundenen Lebensabschnitte der Autorin.

Irritiert legte er das Buch beiseite und dachte daran, dass dieser Fund eine emotional viel höhere Bedeutung für Ottilia haben musste als er sich vorgestellt hatte. Sollte er hier wirklich einen wahren Seelenspiegel und ein tiefgründiges Psychogramm vor sich haben, so waren die Skrupel des Hosenscheißers, die er eben noch so kaltschnäuzig weggewischt zu haben gemeint hatte, vielleicht doch letztendlich angebracht gewesen. Nach diesem ersten Blick war er sich wenigstens sicher, dass es sich hier nicht um eines dieser oberflächlichen Allerwelts Familienalben mit Schnappschüssen der Verwandtschaft, des Klassenausfluges oder gar von ausgiebigen Shoppingtouren mit Freundinnen handelte. Auf jeden Fall bestärkte ihn dieser Eindruck darin, dass er mit diesem Fund wohl doch anders umgehen musste, als er es ursprünglich vorhatte. Zum Zurückgeben war es mittlerweile wahrscheinlich zu spät, aber einfach in den Müll zu seinem ganzen Dreck wollte er dieses erstaunlich subtil anmutende Stück Persönlichkeit dann doch auch nicht schmeißen. Am Ende war es vielleicht sogar lesenswert und er konnte eine positive Erfahrung machen, wenn er sich auf diese andere Persönlichkeit einließ. Bis jetzt hatte er nur wenige Persönlichkeiten getroffen, die es Wert waren sich näher mit ihnen zu beschäftigen und er fragte sich warum er es hier mit einer solchen zu tun haben sollte. Andererseits musste er fairerweise zugeben, dass das Uninteressante Vieler nicht so sehr in ihrer Person begründet lag, sondern oftmals mehr in der Schwierigkeit in ihren Charakter einzutauchen und das Gegenüber zu erschließen. Hier hatte er die Möglichkeit scheu, feige und ohne Umwege direkt in die tiefsten Empfindungen einzutauchen und die triste Phase des Austausches höfflicher Oberflächlichkeiten und Phrasen zu überspringen.

Von einer plötzlichen undefinierbaren Mischung aus Verlangen und Selbsterniedrigung ergriffen versuchte er seine voyeuristische Ader zu befriedigen und begann einen Eintrag zu suchen, welcher von Ottilias erster Liebeserfahrung handelte. Doch in dem ganzen Gemenge der niedergeschriebenen Gefühle und Empfindungen fand er nicht ansatzweise nackte Haut und Lust. War die durchschnittliche Jugend nicht immer von ihrer Libido getrieben und war die Sexualität nicht einer der wichtigsten Bausteine auf dem Weg zum Erwachsensein? Auch bei ihm gab es eine lange Phase, in welcher der Wunsch nach Körperlichkeit sein Handeln oder genauer gesagt eigentlich fast nur seine Gedanken vollständig bestimmte. Er hatte zu dieser Zeit immer Pariser bei sich getragen, um für alle Eventualitäten gerüstet zu sein, doch in den meisten Fällen ging es nicht über das Vorbereitet sein hinaus. Die Diskrepanz zwischen der, durch die Umwelt und die eigenen Triebe diktionierte, ständigen Verfügbarkeit der Sexualität und dem eigenen Scheitern an ihr, war in seinen jungen Jahren seine vermeintliche Tragödie gewesen. Doch wenn es dann doch einmal zu den Messiastischen Kontakten kam musste er feststellen, dass in ihnen bei weitem nicht die Erlösung lag, welche sie versprachen. Bände hierfür sprach sein Erstes Mal. Er war sechzehn Jahre alt gewesen und hatte das Gefühl der letzte Mensch in seinem Umfeld zu sein der noch keinen Geschlechtsverkehr gehabt hatte. Auf einer Klassenfahrt war es dann endlich passiert. Sie waren für eine Woche in einer Jugendherberge in München gewesen und zum Glück waren dort auch andere, jüngere Klassen. Im Gegensatz zu den Mädchen in seinem Alter schauten die jungen Dinger, zum Leidwesen der jungen Burschen, immer noch mit Bewunderung zu sechzehnjährigen Jungs auf und empfanden ihre vermeintliche Reife per se unglaublich attraktiv. Jan und Matthias übernahmen damals die Führungsrolle in dem Rudel sexuell ausgehungerter Jugendlicher und stellten für die gesamte, im Umgang mit dem anderen Geschlecht zum Teil arg schüchterne, Clique den Kontakt zu den Mädels einer hessischen Klasse her. Mit ihrem Charme und ihrer Offenheit hatten sie die erste Wahl und suchten sich natürlich die beiden begehrtesten Schnitten heraus, sodass der Rest der Jungs zusehen musste was für sie übrig blieb. Harry traf in dieser Klasse auf ein Mädchen, welches in seiner Erinnerung den Namen Tatjana trug. Er verstand sich eigentlich ziemlich gut mit ihr und unter anderen Umständen hätte auf dieser Basis vielleicht sogar Freundschaft erwachsen können. Doch unter dem Druck der Zeit und dem Diktat der Lust drehte sich sein gesamtes Streben nur um den einen, unvermeidlichen Punkt. Während der Tagesausflüge sehnte er sich danach wieder in die Herberge zu kommen und war enttäuscht, wenn die Klasse seines Herzblattes noch nicht wieder da gewesen sein sollte. Die Abende verbrachten sie turtelnd und in oberflächlichen, aber angenehmen Gesprächen auf ihrem Zimmer oder am nahe gelegenen See. Die beiden verstanden sich so gut, dass sie fast die ganze Zeit zusammen verbrachten, einiges an Alkohol zusammen vertilgten und ihre Körper nach und nach erkundeten. Nachdem sie sich zuerst gegen mehr gewehrt hatte, war sie am letzen der vier gemeinsamen Abende doch bereit den letzten Schritt zu gehen. Harry hatte sich unter spöttischen Bemerkungen und begleitet von hämischem Grinsen Kondome von Jan geborgt und fühlte sich gerüstet für den großen Augenblick. Der Zwang der Situation verhinderte jedwede Romantik, die sich Tatjana wünschte und die sich auch Harry, ohne dies zuzugeben, für sein Erstes Mal erträumt hatte. Es war schon schwer genug einen Ort für den Akt zu finden, dann auch noch einen klischeebeladenen Platz zu finden, der allen Ansprüchen genügte, war unmöglich. Die Mehrbettzimmer waren tabu, da keiner der Beiden sich erniedrigen wollte seine Zimmergenossen für ein paar Minuten hinaus zu bitten. In der Jugendherberge selber boten nur die Sanitäreinrichtungen Privatsphäre. Doch die Toilette war selbst für die Verzweifelten ein zu extremer Fleck und in der Dusche hatten sie sich schon sehr intim kennen gelernt und dabei gemerkt, dass ihre Unerfahrenheit dem ersten Akt im Stehen sehr hinderlich war. Eine Weile spielten sie mit dem Gedanken sich ein Hotelzimmer zu mieten, doch hatten sie auch gemeinsam kaum genug Geld und schämten sich für dieses Anliegen vor einem Rezeptionisten gerade zu stehen. So blieb nur die freie Natur. Um nicht gleich bei der Premiere unangenehm überrascht zu werden, hüllten sie sich in den Schutz der Dunkelheit und entfernten sich weitest möglich von der Zivilisation. Mit Decken und Taschenlampen bewaffnet stolperten sie auf ihrer Nachtwanderung über Stock und Stein, um in die Abgeschiedenheit und Intimität zu gelangen. Noch nicht dem Gefühl anheim gefallen in Sicherheit zu sein, aber erschöpft von dem langem Weg ließen sie sich schließlich unter einem Baum inmitten des Waldes nieder. Die Angst vor Entdeckung und die Dunkelheit gestalteten die Ausführung des Anliegens, zu dem sie sich getroffen hatten, als äußerst schwierig. Nach einigen vergeblichen Versuchen sich im Dunkel zurecht zu finden, entschieden sie sich schließlich die Szenerie zu erhellen und mittels der Taschenlampen den Spot auf das im Verborgenen angedachte Schauspiel zu richten. Doch auch das Licht brachte den Initierenden nur unwesentliche Erleichterung in ihrem Tun. Der Waldboden war trotz Decken unbequem, Wurzeln und Äste stachen in die freigelegte Haut, die richtige Verwendung der Gummis war schwierig und das andere Geschlecht noch relativ fremd. Schließlich schafften sie es doch und nach fünf Minuten war der ganze Spaß vorbei und bei weitem nicht so groß gewesen, wie versprochen. Trotz allem waren sie froh es hinter sich zu haben und fühlten sich gleich um einiges reifer. Im Nachhinein musste Harry feststellen, dass sein Erstes Mal nicht einmal außergewöhnlich schlecht gewesen war. Der wachsenden Erfahrung und Ausdauer zum Trotz war Sex zwar etwas Schönes und Befriedigendes, konnte aber nicht als Erfüllung seines Lebens angesehen werden. Die ganze Anstrengung einer uninteressanten Schönheit den Hof zu machen, mit ihr Auszugehen, sie zu beschenken und sich auf sie einzulassen war das bisschen ficken einfach nicht Wert.

Drei

Was war das nur wieder für ein beschissener Tag gewesen. Er hatte zwar insgesamt nur acht Fahrgäste gehabt und die Arbeitsbelastung hatte sich in Grenzen gehalten, aber zumindest zwei von diesen Wesen, welche die Bezeichnung Mensch in seinen Augen nur rein biologisch betrachtet verdient hatten, hatten ihm mal wieder die ganze Absurdität dieses Lebens vor Augen geführt. Morgens hatte er seinen ehemaligen Klassenkameraden Jochen in die Kreisstadt gefahren. Während dieser halbstündigen Fahrt hatte Jochen, welchen er noch nie sonderlich sympathisch fand, das Bedürfnis ihm über sein ach so glücklich verlaufenes Leben zu berichten. Gleich nachdem er in das Taxi gestiegen war und erkannt hatte, dass er es hier mit einem alten Bekannten (wenn Harry sich recht erinnerte benutzte er sogar das seltsame Wort Freund um diese Bekanntschaft näher zu charakterisieren) zu tun hatte, begann er die üblichen, in der individualisierten Gesellschaft sinnentleerten, Wiedersehensfreuden zu zelebrieren. Während der Schulzeit war Jochen immer nur ein mittelmäßiger Schüler gewesen, welchen Harry als geistigen Tiefflieger bezeichnet hätte. Nach befriedigend bestandenem Abitur hatte er eine Lehre als Zahntechniker begonnen und damit schien das Glück in sein Leben Einzug gehalten zu haben. Wie die meisten Menschen beschränkte er die Schilderung seiner Lebensumstände auf rein materielle, oberflächliche Aspekte. Aber was erwartete man auch anderes von jemandem, der mal für ein paar Minuten am eigenen Horizont auftaucht um dann wieder sofort in der hektischen Masse unterzutauchen. Möglicherweise hätte Harry sich genauso verhalten, allerdings konnte er nicht über solche Dinge sprechen, da er sich immer davon angewidert gefühlt und sie folgerichtig erst gar nicht aufgebaut hatte. Jochen erzählte von seinem Neuwagen, der zurzeit in der Werkstatt zur Inspektion sei. Er sagte es sei das Modell so und so und hoffte damit sichtlich, dass Harry als Taxifahrer oder vielleicht auch nur Harry als Mann deshalb sofort eine feuchte Hose bekommen würde. Als er sah, dass die erwünschte Wirkung ausblieb, rapportierte er pflichtschuldig von seinem neuen Flachbildfernseher, welchen er in seinem Schlafzimmer an der Wand befestigt hatte. Auf Harrys Erwiderung, dass das Fernsehprogramm doch relativ wenig biete und nur zum Zeitvertreib in einem ansonsten sinnfreien Leben angesehen werden konnte, folgte ein langes, frostiges Schweigen. Nach einiger Zeit hatte Jochen sich wieder etwas gefasst und fand den wunden Punkt an Harrys Gleichgültigkeit. Nachdem er alles erzählt hatte, was aus seinem Leben berichtenswert erschien, fragte er ihn, wie es ihm ergangen war und was er so alles gemacht hatte. Er dachte, da Harry ein sehr guter Schüler war musste er doch einiges erreicht haben, was diesen mitleidigen Blick auf die Freizeitvergnügungen eines Normalsterblichen rechtfertigte. Harry konnte ihm nicht antworten wie er es sich gewünscht hätte. Auch er hatte nicht die Kraft einen tieferen Blick auf sein Inneres freizugeben und beschränkte sich in seiner Antwort auf die gleiche, verhasste Oberflächlichkeit indem er nur sagte, dass er Taxi fuhr und eine Zweizimmerwohnung im Neubaugebiet ihrer Heimatstadt bewohnte. Er meinte auf Jochens Gesicht einen mitleidigen Ausdruck wahrzunehmen. Und doch war auch etwas wie Genugtuung darin zu lesen. Es war schon immer ein Problem in Harrys Leben gewesen, dass er ziemlich genau wusste was und wie er nicht sein wollte ohne eigentlich definieren zu können wofür und, wichtiger, wie er leben wollte. Nachdem sie sich gegenseitig so in den Sog der Erbärmlichkeit und des Versagens gezogen hatten und die Konversation darüber im Absterben begriffen war, unternahm Harry einen letzten Versuch durch etwas Tiefe die sich ausbreitende Kluft wieder aufzufüllen. Er fragte Jochen wie es ihm denn privat ergangen sei. Da Jochen ihm verwundert antwortete, dass er ihm das doch eben erzählt hatte, musste Harry seine Frage präzisieren und sagte er meinte, wie es familiär bei Jochen aussah. Da dieser nun verstand erzählte er ihm von seiner ersten Frau mit der er ein Haus gebaut und zwei Kinder bekommen hatte. Nach sechs gemeinsamen Jahren hatten sie sich auseinander gelebt und anschließend getrennt. Er sah die Kinder alle zwei Wochen und genoss seine neu gewonnene Freiheit in vollen Zügen. Stolz berichtete er von den vielen Sexualpartnerinnen, die er trotz seines fortgeschrittenen Alters noch bekommen konnte. Bevor er bei seinen sexuellen Abenteuern zu Details übergehen konnte erreichten sie Gott sei Dank den von Jochen zu Beginn der Fahrt angegebenen Bestimmungsort, wo Jochen bezahlte und ausstieg. Sie sagten sich noch, dass es bis zum nächsten Wiedersehen nicht so lange dauern sollte und sie sich mal auf ein Bier treffen könnten. Zwar wussten beide, schon im Moment wo sie es aussprachen, dass es zu diesem Treffen nicht kommen würde und sie wollten es auch gar nicht, doch den gesellschaftlichen Konventionen konnte sich auch Harry Koenig nicht vollständig entziehen.

Nach dieser Fahrt blieb Harry noch eine Weile im Taxi sitzen und dachte über das eben gehörte nach.
Jochen hatte also den üblichen, oft erprobten, sehr oft erfolgreichen, aber eben auch leider oft gescheiterten Weg gewählt und sich schon in jungen Jahren auf Dauer einer Frau verschrieben. Er hatte den Mut gehabt sich zu sagen, dass er mit dieser einen Frau alt werden möchte und eine Familie mit ihr gegründet. Manchmal wünschte sich Harry, dass er auch jemanden getroffen hätte, der ihm soviel bedeutete, dass es ihm möglich gewesen wäre diese Eventualität in Betracht zu ziehen. Ein Teil von ihm wäre unglaublich gern Familienvater geworden und noch bestand ja die Chance dazu, wenn auch die Wahrscheinlichkeit mit zunehmenden Alter und wachsender Verbitterung abnahm. Tief verborgen unter seiner mürrischen Grantelei hatte er das Bewusstsein eigentlich sehr kinderlieb und ein guter Familienvater zu sein. Er wusste sehr gut, dass er, unter den richtigen Umständen, genau das bürgerliche Leben genießen könnte, welches er so oft mit Verachtung strafte. Doch dann traf er immer wieder auf Beispiele, welche seine Angst untermauerten und seine Feigheit bestärkten. In jedem Versuch, egal auf welchem Gebiet, war von Anfang an die Gefahr des Scheiterns implementiert. Nie kannte man seinen Partner so gut, dass man sich sicher sein konnte etwas wahrhaft Dauerhaftes mit ihm zu haben. Selbst wenn man diese Kenntnis zu haben meinte, war das eigene oder das Leben des Gegenübers nicht frei von Wechselfällen und die resultierende Änderung führte zu einer fast unvermeidlichen Entfremdung. Immer wieder aufs Neue musste man sich auf den vermeintlich bekannten Ruhepol in der rasenden Welt einlassen und trotz aller Kompromissbereitschaft war ein Ende des Zusammenlebens nicht ausgeschlossen und in letzter Instanz zum Teil die wahrscheinlich einzig richtige Konsequenz. Doch diese Erkenntnis schmerzte insofern, dass man in ihrem Bewusstsein nie den Mut haben würde, seinen Kindern das Ende der behüteten Strukturen anzutun und die Bindung erst aufzubauen. Die Angst vor dem Scheitern war nicht der einzige und wohl auch nicht der ausschlaggebende Grund für Harrys Bindungsunfähigkeit. In Wahrheit war er ein fanatischer Freiheitsfreund. Wahre, unumschränkte Freiheit kann man nur erlangen, wenn man sich frei von den Bedürfnissen nach Luxus, Bequemlichkeit und sozialen Bindungen macht. Nur wenn man fähig ist seine Existenz mit wenig Geld und ohne Bindungen zu gestalten kann man seine Zelte zu jeder Zeit abbrechen und an anderem Ort von vorne anfangen. Die meisten Menschen waren bereit für Konsumgüter und Beziehungen den vermeintlich kleinen Preis der unbedingten Freiheit zu zahlen, doch Harry meinte es lange Zeit nicht zu sein und nun war es fast zu spät. Mittlerweile hatte er erkannt, dass das Streben nach Freiheit eine der größten Lügen war, die er gelebt hatte. Es war nicht die Freiheit und der Individualismus an sich, die ihn an einer festen Bindung hinderten, sondern der Unwille die Freiheit gegen Gewöhnlichkeit zu tauschen.

Das er noch stehen blieb und seine Gedanken über das von Jochen erfahrene schweifen ließ zählte zu den Müßiggängen, die man schon bald bereute. Nach etwa zehn Minuten brach nämlich die zweite Naturkatastrophe (oder war es nicht viel mehr eine Kulturkatastrophe) dieses Tages über ihn herein. In sein Taxi stieg ein schwabbeliger, schwitzender Tourist, der dummerweise einer dieser Fahrgäste war die einen anquatschen ohne eigentlich etwas zu sagen zu haben. Die zu diesen Leuten gehörenden Münder formen beständig Worte, ohne das sich einem der Sinn dessen entschließt, was sie eigentlich ausdrücken wollen. Das unförmige Etwas schwafelte sofort nach dem einsteigen munter darauf los und erklärte, dass es in seinem wohl verdienten Urlaub war und ein paar angenehme Stunden in der Stadt verbringen wollte. Wie sich Harry gleich dachte bestand die Vorstellung dieses Zellhaufens von einem angenehm verbrachten Urlaubstag darin, zur Shoppingmeile zu fahren und im Konsumterror der Industriegesellschaft mitzumischen. Aus dem Wortschwall, der über ihn hereinbrach hörte Harry die ihm wohlvertraute und dennoch unverständliche Selbstverständlichkeit heraus am Leben, welches nach Ansicht dieses Menschenschlages anscheinend nur in der Befriedigung unnatürlicher, werbungsinduzierter Bedürfnisse bestand, teilzuhaben. Warum halten es solche Typen eigentlich für naturgemäß immer alles zu bekommen, was die Massengesellschaft meint haben zu müssen? Ist es denn wirklich ein Menschenrecht immer das neueste Handy, den schnellsten Computer und die stylischsten Markenkleidung zu haben und obendrein noch genug Geld für den Flug in den Urlaub erübrigen zu können. Mit welchem Beitrag für die Gesellschaft und die menschliche Entwicklung ist eine solche Hybris eigentlich zu rechtfertigen? Harry war der Meinung, dass ein solcher Beitrag in der heutigen Zeit nicht mehr existieren kann. Bei den so genannten einfachen Tätigkeiten arbeitet man letztendlich nur ein vorgegebenes Pensum ab und dank der sozialen Fortschritte des letzten Jahrhunderts passen die verschiedensten Organisationen wie Gewerkschaften und Betriebsrat schon darauf auf, dass es zu keiner Überbeanspruchung oder gar Ausbeutung des Arbeitnehmers kommen kann. Aber auch bei den höheren Tätigkeiten, welche oft mit einem zwölf Stunden Tag und einer immensen Verantwortung verbunden sind, gibt es keine wirklichen Überlebenskämpfe mehr. Alles in allem ist das Leben in unserer wohlbehüteten Gesellschaft wohl doch zu bequem und man hat nicht mehr so leicht die Chance an seine Grenzen und vielleicht auch darüber hinaus zu gehen, um es wieder in seiner ursprünglichen Form in seinen Adern spüren zu können. Doch ohne Entbehrungen und Leid war das Leben vielleicht bequem, angenehm und glücklich, aber es fehlte einfach selbiges um sich diese Phasen der Erholung und des Ausspannens wirklich zu verdienen. In Harrys Augen gab einem nur eine frugale Existenz am Rande des Überlebens die Berechtigung Tage der Erholung und des Genusses zu verleben, an welchen man seine Seele auch nur durch diesen Kontrast wirklich delektieren konnte. Harry hatte große Lust diesem Touristen etwas von seinen Gedanken mitzuteilen, doch auch in dieser Situation hatte er weder die Kraft, noch fühlte er sich autorisiert die Nemesis zu entlasten und ertrug das Geblubber des Fleischberges im Fond seines Wagens unkommentiert. Die Tatsache, die Gesellschaft mit ihren verschiedensten pathologischen Auswüchsen täglich vor Augen zu haben, ohne den Mut aufzubringen etwas dagegen zu tun und wahrscheinlich auch die Erkenntnis nicht der Mann zu sein in diesen Belangen etwas zu unternehmen war die eigentliche Tragödie im Leben des Harald Koenig.

Am Abend dieses katastrophalen, aber leider nicht außergewöhnlichen, Tages saß Harry in seinem Wohnzimmer mal wieder vor einer Flasche Likör. Er freute sich schon auf den Moment, in dem die Wirkung des Alkohols einsetzen würde und sich Vergessen und Dunkelheit über seinen Geist legen würde. Die Droge war doch wirklich ein zu guter Freund in der Not und eine der besten denkbaren Medizinen um Weltschmerz zu stillen. Mit Vorfreude griff er nach der Flasche, doch kurz bevor seine Hand das gekühlte und doch eine wohlige Wärme ausstrahlende Glas berührte, besann er sich anders und holte stattdessen das weinrote Notizbuch Ottilias hervor. In dieser denkwürdigen Stunde begann er tatsächlich darin zu lesen.

Teil 2- Erstrahlt ein Fanal

Vier

Unschlüssig blätterte er in dem Buch und wusste nicht so recht, an welchem Punkt er in das fremde Leben einsteigen sollte. Schließlich entschied er sich dafür nicht chronologisch vorzugehen, sondern wählte zum Einstieg den Lebensabschnitt, in dem sie sich als real existierende Wesen aus Fleisch und Blut begegnet waren. Die Suche nach diesem, als endgültig empfundenen, Platz in der Gesellschaft, auf der sich Ottilia zu dem Zeitpunkt ihres Treffens befand wurde das erste Mal im vorletzten Eintrag seiner Lektüre erwähnt:

„ Endlich ist es geschafft. Das Warten und sich Dahinhangeln von einem Moment zum nächsten ist nun zu guter Letzt vorbei und einigermaßen unbeschadet überstanden. Wenn ich aufrichtig gegen mich selber bin und mir meine Lebenssituationen bis dato nun retrospektiv vor Augen führe, so waren diese Ungewissheit und das ständige Leben für den Augenblick etwas, was mir doch ziemlich zugesetzt hat. Zu jedem bewusst erlebtem Zeitpunkt meiner jetzigen Existenz waren mir die Vergänglichkeit und Schnelllebigkeit der aktuellen Lebensumstände bewusst und hinderten mich wie ein Bleigewicht daran mich in meiner Situation häuslich einzurichten. Sowohl während meiner Schulzeit, als auch während des Studiums wusste ich immer, dass entweder ich oder die Menschen, die während dieser Zeiten mit mir meines Weges gingen, sich nach Beendigung dieses Lebensabschnittes entfernen und eine andere Richtung einschlagen würden. Kann man wirklich eine tiefgründige Beziehung zu einem anderen, atmenden Wesen aufbauen, wenn einem von Anfang an bewusst ist, dass man sehr bald getrennte Wege gehen wird? Ich bin auf jeden Fall weder bereit noch fähig nur oberflächliche Freundschaften zu leben und mir fehlt die Kraft eine tiefe Freundschaft zu jemanden aufzubauen, dessen Silhouette ich schon am Horizont verschwimmen sehe. Bei rechtem Licht besehen ist es doch eine Qual, wenn man sich seines Lebens und des Weges, den man gehen wird allzu bewusst ist. Aber nun ist es ja soweit mein Godot ist nach langem, verzweifeltem Warten letztendlich doch noch gekommen und ich kann zuversichtlich in die Zukunft blicken.

Nun kann ich meinen endgültigen Platz in der Gesellschaft einnehmen. Die Zeit der Transitstadien ist vorbei und ich kann mir einen Job als Anwältin suchen und dort endlich zu leben beginnen. Wenn ich erst einmal einen Beruf habe der mir die finanzielle Sicherheit und die Zukunftsperspektive gibt die ich brauche kann meine Angst vor der Unbeständigkeit und der Vergänglichkeit der Lebenssituation mich nicht länger am Aufbau der sehnlich erwünschten tiefen menschlichen Bindungen hindern.“

Nachdem er diesen Eintrag gelesen hatte, legte Harry das Buch tief bewegt und etwas erstaunt zur Seite. Er konnte den Unwillen und geradezu Ekel vor oberflächlichen menschlichen Beziehungen sehr gut nachvollziehen und kannte die Unmöglichkeit oder zumindest Schwierigkeit eine tiefere Freundschaft in der individualisierten Gesellschaft aufzubauen aus eigener Erfahrung. Trotz dieses Verständnisses und des oftmals ebenso erlebtem Gefühls, Ensemblemitglied eines absurden Theaterstückes zu sein, wunderte er sich jedoch sehr über die Albernheit die in der anachronistischen Annahme steckte, dass jetzt alles anders würde. Die Zeiten in denen man, sobald man einmal eine Anstellung gefunden hatte, den Wohnort oder gar den Arbeitsplatz nicht mehr wechselte waren wohl endgültig vorbei. Und dennoch passte diese Naivität sehr gut zu dem Bild, welches er sich von Ottilia gemacht hatte. Gerade die Lächerlichkeit dieser Vorstellung war es, die bewirkte, dass er seine Verwunderung und sein Unverständnis über Ottilias Sichtweise sehr schnell auf einen anderen Punkt lenkte. Ihr Unwillen alle mit negativen Assoziationen besetzten Gefühle des zwischenmenschlichen Zusammenlebens, wie zum Beispiel Trennungsschmerz und Abschied, in Kauf zu nehmen zeugte von einer leblosen Existenz, die von dem Streben nach Bequemlichkeit und Glück beseelt war und darüber hinaus vergaß, dass zu einem wirklichen Leben auch das Unglück und die Phasen, in denen einem der Blues in den Venen vibriert, zählen. War nicht die Trauer beim Abschied eines Freundes, sei es durch Tod oder auch nur dadurch das man sich auseinander gelebt hatte oder das die individuellen Biografien einfach einen anderen Weg eingeschlagen hatten, das größte und schönste Zeichen der Freundschaft? Harry war sich sicher, dass das wahre Leben alle als unangenehm definierten Empfindungen und Erfahrungen wie Krankheit, Verfall, Leid, Invalidität und Enttäuschung benötigte um großartig zu sein. Nur wo die emotionale Potentialdifferenz groß genug ist kann diese, unsere menschliche, Existenz als lebenswert bezeichnet werden. Diese Potentialdifferenz ist auch der einzige Antrieb den der Mensch hat, um über sich selbst hinauszuwachsen, neue Kräfte zu sammeln und unbekannte Erfahrungen zu machen. Er verspürte ein vitales Interesse herauszufinden, ob die kindlichen Wünsche und Erwartungen, die Ottilia in ihr zukünftiges Leben projiziert hatte, durch die kafkaeske Suche, auf der er ihr den Charon gegeben hatte, enttäuscht worden waren oder ob sie die Kraft und den Idealismus hatte allen Enttäuschungen zu widerstehen. Begierig las er den letzten Eintrag des Buches und fand sich schon bei dem ersten Gedankengang, welchen er dort niedergeschrieben fand, bestätigt:

„ Nun hat mich das Leben wieder mal eiskalt erwischt. Hinterrücks hat sich das Unglück an mich herangeschlichen und meine Wünsche bäuchlings gemeuchelt. Auf das frohe Hoffen noch nicht so weit zurückliegender Tage folgt nun stehenden Fußes die totale Desillusionierung. Wie kann es nur sein, dass ich so naiv war und mich solchen Träumereien hingegeben habe. Wenn ich meinen letzten Eintrag lese, muss ich erkennen, dass die Verblendung, die wir Zuversicht nennen, an dem Tag wo ich das schrieb ihren Höhepunkt erreicht hatte. Natürlich stimmt es im Prinzip schon, dass ich mein Leben bis zum heutigen Tage verpasst habe und stets nur vom Warten und Hoffen auf einen besseren Lebensabschnitt beseelt war. Ich kann allerdings nicht erkennen, warum ich damals geglaubt habe, dass dieses Paradies nun wirklich eintritt. War es nicht bei jedem großen Wechsel meiner äußeren Lebensumstände so das ich von der festen Überzeugung ergriffen war nun trete der Wandel auch in meinem emotionalen Wohlbefinden auf. So langsam meine ich zu erkennen, dass es für mich wohl kein Paradies auf Erden geben kann. Die Ursache dieses neuen Tiefpunktes ist natürlich nur, dass sich die Jobsuche als deutlich schwieriger gestaltet als ich dachte. Niemand macht den Eindruck geradezu auf mich und meine Ideen gewartet zu haben. Aber je mehr Annoncen, mit all den überhöhten Anforderungen und den, nicht nur im Gegensatz dazu, mickrigen Gegenleistungen, ich lese, desto mehr frage ich mich, ob dieser ganze Lebensweg, auf dem ich mich bis jetzt befunden habe, nicht eine einzige Irrfahrt war? Habe ich wirklich jemals darüber nachgedacht, was ich in meinem Leben erreichen und wie ich es gestalten will? Ich kann mir kaum vorstellen, dass mich mein Traumjob, wenn ich ihn denn je bekommen sollte, auch wirklich glücklich machen kann. Um das zu erreichen bin ich wohl meine Karriereplanung viel zu rational angegangen. Ich habe mich zu sehr auf mit dem Verstand greif- und bewertbare Dinge konzentriert und mich zu wenig mit einem, für die glückliche Lebensplanung, wichtigen Aspekt beschäftigt, der Sehnsucht. Der so genannte Traumjob hat in klaren Momenten wirklich bestechende Vorteile: finanzielle Sicherheit, Verantwortung für einen wichtigen Gegenstand, Respekt und Ansehen bei meinen Mitmenschen. Aber er hat doch einen gravierenden Nachteil, welcher mir bis jetzt nicht bewusst geworden ist: Er ist mir nie im Traum erschienen. Aber die großen Fragen bleiben: Was sind die Alternativen? Trage ich noch genug Gefühl in mir, die für mich richtige zu erkennen? Und habe ich den Mut eine andere Richtung einzuschlagen und damit alles wofür ich bis jetzt gelebt habe in Frage zu stellen?

….“

Harry schloss das Buch mit einer Träne im Auge. Natürlich weinte er nicht wirklich. Er war durch seine Erlebnisse und Erfahrungen viel zu hart und zynisch geworden, um diese emotionale Regung noch zeigen zu können. Aber wenn er sich nur etwas von seiner ehedem einmal existierenden kindlichen, empfindsamen, idealistischen und offenherzigen Seele bewahrt gehabt hätte, so wäre diese körperliche Reaktion auf ein solch emotionales Erlebnis an dieser Stelle zweifellos eingetreten. Wie gut konnte er diese schwierige Suche nach einem angemessenen Platz im Leben verstehen. Da er den langen Rest des letzten Eintrages überflogen hatte wusste er, dass sie dort noch einige Betrachtungen über mögliche alternative Lebenswege angestellt und am Ende sogar einen für sich gangbaren Ausweg skizziert hatte. Trotz einer, mit heißer Flamme an seinen Nerven zehrenden, Neugier zu erfahren wie dieser Ausweg aussehen sollte, beschloss Harry diesen Teil des Buches bis zum Schluss aufzubewahren und erst die Persönlichkeit Ottilias näher kennen zu lernen, indem er zuerst die vorherigen Einträge studieren wollte.

Fünf

Er hatte einen herrlich warmen, strahlenden Sommertag ohne nennenswerte Ereignesse hinter sich gebracht, als er am Ende dieses Arbeitstages in seine Wohnung zurückkehrte. Da war nur ein Detail, welches ihn zum Nachdenken angeregt hatte. Er hatte mal wieder die alte Frau aus der Biedermeierstraße zum Arzt gefahren. Aber diesmal hatte sie nicht den Eindruck gemacht angewidert von ihm zu sein. Er wusste nicht, dass sie diesen Eindruck jemals gemacht hatte, aber ein inneres Gefühl sagte ihm das es wohl so war. Heute war sie im Gegenteil äußerst heiter gewesen und hatte erfreut festgestellt, dass er ja unter diesen ganzen Insignien eines Waldschrates ein ganz ansehnlicher Mann war. Und in der Tat hatte er sich am gestrigen Tag, einem spontanen Impuls folgend und für seine Verhältnisse sehr gewissenhaft, seinem Äußeren gewidmet. Er hatte geduscht, sich die Fingernägel geschnitten, seine Haare gekämmt und sich rasiert. Letzteres ging ihm, nach so langer Zeit ohne Übung, nicht ganz unfallfrei von der Hand und sein Gesicht trug heute noch einige Schmisse, welche von seinem heldenhaften Bemühen zeugten.

In der Küche schob er sich eine Pizza in den Ofen, wobei seine Gedanken sich immer weiter verwirrten. Er konnte nicht verstehen, warum er etwas auf die Meinung dieser alten Frau gab und die Zeit verschwendete sich auch nur eine Sekunde über ihre Äußerung aufzuhalten oder sich gar über sie zu freuen. Wenn diese Bemerkung über sein Äußeres von einem jungen, noch knackigen Mädel gekommen wäre und nicht von einem vertrockneten Stück Dörrobst, hätte er sich in der Tat geschmeichelt fühlen können, allerdings, auch in diesem Fall, ohne sich allzu viel davon kaufen zu können. Aber so wie die Sache gelaufen war, hatte nur ein verlebtes Stück Fleisch, welches wahrscheinlich in all den Jahrzehnten, in denen es auf der Erde wandelte, um immer weiter zu zerfallen und vor sich hinzugammeln, immer in bürgerlicher Kleingeisterei gefangen war, zu ihm gesprochen. Und eigentlich hatte es ihm nicht mal ein Kompliment gemacht, sondern ihm lediglich dazu gratuliert jetzt auch ein Teil der bürgerlichen Lebenswelt geworden zu sein. Und diese Aufnahme in die ach so elitäre Clique hatte er also nur durch eine leichte Anpassung seines Äußeren erreicht. Er verspürte große Lust die gemachte Änderung auf der Stelle wieder zu revidieren und dachte kurzzeitig, mit einem Schmunzeln auf den Lippen, daran seine Barthaare vermittels Kleber sofort wieder in üppiger Wildheit sprießen zu lassen. Eine andere Möglichkeit die ersehnte Abgrenzung von der mittelmäßigen Masse erneut zu erreichen war es, sein Odeur wieder an die Zeit vor dieser ausgearteten Körperpflegesession anzupassen. Dummerweise gab es alle möglichen duftig, blumigen
Wohlgerüche zu kaufen, um seinen Körper mit einem olfaktorischen Umhang aus feinstem Gewebe
zu umhüllen. Mit diesem vielfältigen Duftteppich der fröhlichsten und lebhaftesten Sommertage, eingefangen in eine kleine Ampulle und vor dem Ausströmen und Vergehen nur durch einen kleinen Stopfen bewahrt, konnte man eine genauso positiv strahlende, angenehme Innerlichkeit vorspiegeln. Aber Harry wollte ja genau die gegenteilige Assoziation durch sein Erscheinen auslösen. Er brauchte keinen Duft, welcher Einen an Sommer, Blumen und fröhlich, warme Farben denken ließ. Ein Parfüm, welches er zu diesem Zeitpunkt brauchte, sollte weiß und kalt wie der Winter oder schwarz und dunkel wie die Nacht und der Tod sein. Etwas verdutzt fragte er sich, wie er auf einmal darauf kam einen olfaktorischen Reiz mit der visuell erfassten Farbwelt zu vergleichen. Ohne zu einem Ergebnis gekommen zu sein erkannte er, dass die Farben, welche er sich intuitiv selber in der Palette der menschlichen Gesellschaft zugeordnet hatte, gar keine Farben waren. Diese Zustände der Abwesenheit oder, im Gegensatz dazu, der übermäßigen Anwesenheit von Photonen waren etwas völlig singuläres ohne jeden Bezug zum übrigen Farbspektrum. Egal wie unterschiedlich die Farben der menschlichen Existenz auch waren, ob man Komplementärfarben oder warme und kalte Farben nebeneinander stellte, ob man manchmal sogar meinen konnte von einer bestimmten Farbkombination ein Retinoblastom zu bekommen, sie alle waren doch letztendlich Bestandteil des selben Farbkreises und gehörten irgendwie zueinander. Nur Schwarz und Weiß waren keine Bestandteile dieses Gefüges und bildeten eine eigene Kategorie.

Um seine Gedanken abzulenken und sich nicht vollends an die einsetzende Depression zu verschwenden, begann er erneut in die Persönlichkeit Ottilias einzutauchen und öffnete ihr Notizbuch auf der ersten Seite. Doch an diesem Tag gab ihm auch diese Kleinigkeit einiges zu denken. Er schloss seine Lektüre wieder und wunderte sich über die Veränderung, die mit ihm vor sich ging. Im Normalfall hätte er zum Branntwein gegriffen, um sich vor dem Lärm seiner Gedanken und dem Unsinn der Welt zu schützen. Er wusste zwar schon seit langer Zeit, dass der Alkohol keine endgültige Lösung bieten konnte und eigentlich nicht mehr als eine feige Flucht war, aber bis zu diesem Zeitpunkt hatte ihm der kurzzeitige Trost und die Rettung für den Augenblick immer vollends genügt. Bis auf eine kurze Phase seiner Kindheit, die wohl alle Knaben einmal durchleben, hatte er sich schließlich nie als strahlenden Held empfunden, welcher den Gefahren offenen Auges ins Gesicht lacht. Solche überstilisierten Fantasiefiguren konnten einfach in der realen Welt nicht existieren. Mit einem Gefühl der Untreue gegenüber seinem Helfer in so vielen schweren Stunden, öffnete er das Buch dennoch erneut. Der erste Eintrag war vor etwa acht Jahren verfasst wurden und Harry begann ihn wissbegierig zu studieren:

„ Die Leere breitet sich immer weiter aus. Das Nichts greift um sich und vertilgt sämtliche Materie und Energie aus meinem Leben, ohne das etwas zurückbleibt. Wie kann es sein, dass da wo einmal etwas war oder sein sollte alles verschwunden ist und keine Spur seiner ehemaligen Existenz und kein Metabolit des Wandlungsprozesses zurückbleibt. Wo ist es nur hin das Glück und warum lässt es diesen kleinen Wurm hier so einsam zurück. Ja Einsamkeit ist es was mich wirklich quält. Ich bin doch nun wahrlich noch in einer Lebensphase, in der niemand einsam sein sollte. Und wenn ich mich in meiner Klasse umschaue ist da auch niemand einsam. Jede noch so seltsam anmutende Type findet eine Clique zu der sie sich zugehörig fühlen kann. Doch wo gehöre ich dazu. Welche Gemeinschaft ist nur geschaffen um dieses Vakuum zu füllen? Vom rein Äußeren betrachtet sollte ich mich wohl den als cool geltenden Mädels anschließen. Doch die Gespräche, die ich des Öfteren mit diesen durchaus netten Mädchen führe sind nicht annährend geeignet meine Leere aufzufüllen oder meine Einsamkeit zu mildern. Und auch wenn ich dazu übergehen würde meine Bekanntschaft mit Ihnen zu wirklicher Freundschaft zu vertiefen können mir die neueste Musik, die schärfsten Jungs aus der Oberstufe und die stylischte Mode nicht die Waffe sein, die ich im Kampf gegen die Leere brauche. Um mich in andere Cliquen zu integrieren fehlen mir schon die äußeren Attribute. Natürlich wäre das etwas, was sich einfach ändern ließe, aber es bleibt die Frage, ob es sich lohnt sein Selbst zu verleugnen für das, was man im Gegenzug dazu bekommen kann?

Wenn ich lese was ich eben geschrieben habe und mir meine augenblickliche Gemütslage vor Augen führe frage ich mich, warum ich mich nicht schon längst den beiden Grufties angeschlossen habe, die in meiner Parallelklasse zombigleich ihr Dasein fristen. Es ist schon wahr, dass auch ich immer einen Hang zu abseitigen Themen, wie Tod und Vergänglichkeit, hatte und die Stille und Besinnlichkeit im Großen und Ganzen der Hektik und Aufgeregtheit unserer Zeit vorziehe. Aber nichts desto trotz kann ich mit der andauernden Resignation und Todessehnsucht nichts anfangen. Verdammt noch mal ich bin nun mal ein Mensch mit mehreren Facetten und ich will weder mein Lachen noch mein Hoffen und mein Streben nach Verbesserung aufgeben, um mich ewiger Trübsal zu überlassen. Wenn ich mir vorstelle wie es wäre mich dieser Subkultur anzupassen und dann zwischen meinen Freunden zu sitzen und immer nur die Sinnlosigkeit des Seins zu diskutieren ohne der Freude ihr Recht auf Auslebung zuzugestehen wird mir ganz flau im Magen. Obendrein fürchte ich, dass meine Eltern sehr wenig Verständnis für diese neue Ottilia aufbringen würden und ich habe weder einen Grund noch den Wunsch sie zu enttäuschen. Ich kann beim besten Willen nicht verstehen, warum so viele in meinem Alter es darauf anlegen ihre Familie zu brüskieren. Ich bin nun wahrlich in einem behüteten Umfeld aufgewachsen, in welchem es mir an nichts gefehlt hat, und es gibt keinen Grund dieses Lebensmodell in Frage zu stellen. Ich denke, wenn alle ein bisschen mehr wie meine Familie wären, könnte die Welt ein besserer Ort sein. Revolutionäre Gedanken haben vielleicht eine Berechtigung und es gibt sogar eine gewisse Verpflichtung zu ihnen in totalitären, unfreien Gesellschaften, aber ich habe nun wirklich nichts erlebt gegen das ich rebellieren müsste.

Im rechten Licht betrachtet trifft ein Zitat von Klaus Kinski vielleicht auch auf mein Leben zu: ‚Ich will nicht einsam sein und sehne mich nach Einsamkeit, sobald ich nicht alleine bin’. Keine Gesellschaft ist in der Lage mir die Geborgenheit und Diskussionsthemen zu bieten, die ich suche. Aber wahrscheinlich ist diese Aussage nichts anderes, als der verzweifelte Versuch eine ausweglose Situation und ein Leben als Ausgestoßene zu rechtfertigen. In der heutigen Jugendkultur scheint es selbstverständlich zu sein einen riesigen Freundeskreis zu haben. Die Adressbücher in den Handys Aller sind voller Kontakte mit Leuten, die man seine Freunde nennt, oft ohne einmal ihren Nachnamen zu kennen. Doch wenn man dann mal wirklich jemanden braucht sind seltsamerweise die meisten Anschlüsse besetzt.

Was gibt es denn für mich nun noch für Optionen, die ich in mein Handy eintragen könnte. Da gibt es noch ein paar Jungs, die sich für Sport oder Autos und Technik interessieren, was mich allerdings gar nicht bewegt und abgesehen davon wollen diese Typen bestimmt auch nichts mit einer grauen Maus wie mir zu tun haben. Und letztendlich sind da noch die Nerds. Ich denke, dass die meisten diesen Menschenschlag heillos unterschätzen. Während die coolen Sportlertypen der Schulzeit später mal Versicherungsvertreter werden, werden die Nerds diejenigen sein, welche die wirklich guten Jobs bekommen und dafür sorgen, dass die ganze auf Technik angewiesene Weltmaschine am brummen gehalten wird. Aber dennoch gehöre ich auch bestimmt nicht zu diesen Sonderlingen. Ein bisschen Sympathie und Verständnis kann ja wohl keine Basis für eine Freundschaft sein. Jetzt habe ich doch glatt noch die ganzen Junkies vergessen. Es ist schon erstaunlich wie viele Jugendliche sich dem Alkohol, Marihuana und den ganzen Partydrogen hingeben, um eine kurze Freude in ihr Leben zu bringen. Doch letztendlich zerstören sie nur ihren Körper für einen kurzen Ausflug in ein Land der vermeintlichen Glückseligkeit. Wenn man das Glück nur mit der Hilfe chemischer Substanzen finden kann, möchte ich es gar nicht kennen lernen.“

Mit dem Gefühl eben in einen Spiegel geschaut zu haben legte er das Buch beiseite. War nicht das Gefühl der Unzugehörigkeit etwas, was er auch schon immer als bedrückend und dennoch umso realer wahrgenommen hatte? Noch beim heimkommen hatte er ja darüber nachgedacht, wie er die Abgrenzung von der als langweilig und trist empfundenen Durchschnittsgesellschaft wieder herstellen konnte. Genau in dem Punkt lag aber vielleicht auch ein Unterschied zu Ottilia. Er wollte nicht dazugehören und sie hatte den Wunsch und die Hoffnung nach Anschluss noch nicht aufgegeben. Sie hatte die Einsamkeit und das Alleinsein als das quälende Problem ihres Lebens beschrieben und natürlich war auch Harry einsam und allein. Doch diese Worte, welche ja ursprünglich nur eine Lebenssituation beschreiben und erst in den Augen der Menschen eine Wertung erfahren, waren für ihn nur kalte Fakten ohne negativen Beigeschmack.

Aber wann genau war in ihm die Erkenntnis gereift nicht dazugehören zu wollen? Wenn er sich recht besann gab es auch bei ihm eine Zeit, in der er noch einen Wunsch nach Anschluss in sich verspürt hatte. Ohne sich im Detail daran erinnern zu können, hatte er das Gefühl, dass er sich während seiner Schulzeit und eine Weile darüber hinaus auf genau der gleichen Suche befand, auf welcher er Ottilia eben begleitet hatte. Natürlich war ihre Charakterisierung der möglichen Freundeskreise stark Klischeebeladen gewesen. Aber im Prinzip hatte sie doch Recht. Auch in seiner Jugend war keine Subkultur in der Lage gewesen die kompletten Facetten seiner Persönlichkeit abzubilden und seinen Wunsch nach Verständnis vollständig zu befriedigen. Die ganze Gothic- Kultur war zur damaligen Zeit noch nicht aufgekommen und obwohl er ihr eine gewisse Sympathie entgegenbrachte, empfand auch er ihre ausschließliche Fokussierung auf düstere Themen als zu einseitig. Zwar war der Mainstream, insbesondere zu Zeiten der Love Parade, mit seiner doktrinären Betonung von Spaß und Party bei weitem schlimmer, aber eine adäquate Antwort auf eine als zu engstirnig empfundene Einstellung konnte kaum durch eine neue Einseitigkeit erfolgen. Aber tat er der Gothic- Kultur mit dieser vorschnellen Feststellung nicht Unrecht, da er sich nie wirklich mit ihr auseinandergesetzt hatte. Hatte er sich gerade dabei ertappt oberflächlich zu urteilen und sich damit einer der menschlichen Schwächen, die er am meisten verachtete, hingegeben? Er nahm sich vor mehr über die Weltanschauung und Gedankengänge der Goths in Erfahrung zu bringen. Aber auch wenn er hier ein Lebensmodell für sich gefunden haben sollte, war für ihn die Möglichkeit zum Einstieg wohl schon längst abgelaufen.

Im Prinzip schien sein Leben bis zur Untersekunda Ottilias Leben sehr zu gleichen. Er war in einem Haushalt der soliden Mittelschicht aufgewachsen und hatte alles bekommen, was sich ein Kind nur wünschen kann. Seine Eltern waren von den 68ern stark beeinflusst gewesen ohne zum harten Kern der Flower- Power- Generation zu gehören. Trotzdem waren sie allen Lebensmodellen gegenüber im Prinzip tolerant eingestellt und hatten ihm in seiner persönlichen Entwicklung viele Freiräume gelassen. Gleichwohl oder gerade wegen dieser undogmatischen Erziehung, war in ihm das Bestreben sich vom Elternhaus durch eine provokative Lebenseinstellung abzunabeln sehr groß gewesen. Wahrscheinlich ist die Enttäuschung der elterlichen Erwartungen eine notwendige Vorraussetzung für das flügge werden eines Menschenkindes. Er überlegte, ob die Ursache für den noch sehr infantilen und unverdorbenen Eindruck, den Ottilia auf ihn gemacht hatte, in dem geäußerten Wunsch lag, sich nicht zu weit von ihren Erzeugern zu entfernen, aber er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Sie dieses in einer so frühen Adoleszenzphase gefasste Vorhaben bis zum heutigen Tag durchgehalten hatte. Für Jugendliche, die sich zu seiner Zeit von der konsumorientierten und in veralteten Wertesystemen gefangenen Massengesellschaft abheben wollten, gab es im Großen und Ganzen nur die Subkultur des Punk als Zufluchtsstätte. Er hatte in ziemlich ausgiebigem Kontakt mit den Punks aus seinem ehemaligen Bekanntenkreis gestanden und hatte durch sie auch viele wichtige Erfahrungen gemacht. Mit Freude dachte er daran zurück, wie seine Eltern reagiert hatten. als er mit zerrissenen und Matsch verschmierten Klamotten aus dem Haus gehen wollte. Das ganze nonkonformistische Verhalten der Punkszene hatte ihm doch viele fröhliche Stunden bereitet. Die Ablehnung aller bestehenden Wertsysteme und geradezu Verpflichtung alle Erwartungen zu enttäuschen und die Gesellschaft zu brüskieren hatte eine sehr befreiende Wirkung auf ihn ausgeübt. Auch sein erster Kontakt mit Alkohol fiel in diese, für ihn sehr wichtige Zeit. In dem Bestreben der Vernichtung alles Bestehenden, inklusive seiner Selbst, gerecht zu werden, hatte er so manchen Exzess erlebt und nicht nur seine Verwandten damit geschockt. Das Auffallen durch Umfallen war für Heranwachsende schon immer eine sehr wirksame Methode gewesen, um die benötigte Aufmerksamkeit zu erheischen. Neben diesen emotionalen Erlebnissen war die Verneinung alles Etablierten etwas, was ihm viel Stoff zum Nachdenken gegeben hatte. Besonders die Bezugspunkte der Punkbewegung zum Dadaismus hatten ihn sehr interessiert. Der Zweifel an allem was Ist und die Überwindung des festgefahrenen Zustandes der Welt durch einen unbedingten Individualismus und die konsequente Missachtung aller Normen und Werte hatten ihm sehr zugesagt. Und war es nicht geradezu eine Menschenpflicht nach dem Ersten Weltkrieg diesen Weg zu gehen? Man hatte doch gerade nur zu gut gesehen wohin diese konventionelle Lebensweise, konsequent zu Ende gedacht, führt. Die bürgerliche Gesellschaft hatte ihre Chance gehabt und hatte die Welt in absolute Zerstörung, Tod, Dreck und Elend geführt. Nachdem die Dadaisten sich nicht endgültig durchsetzen konnten, bekam sie noch ihre zweite und dritte Chance und zu seiner Jugendzeit stand die Gesellschaft wieder vor einer ähnlichen Katastrophe. Die drohende atomare Vernichtung schaffte eine beklemmende Endzeitstimmung, die Industriegesellschaft war nicht überwunden, die Natur wurde weiter geschändet und die konservativen Werte, welche Ursache für soviel verabscheuungswürdiges waren, erlebten eine Renaissance. Das alles hatten die Punks in seinen Augen sehr richtig erkannt und dennoch begnügten sie sich damit „No Future“ zu brüllen, den Dilletantismus zu zelebrieren und sich illusionslos der Langeweile hinzugeben. Obendrein waren die meisten Punks, die er kennen gelernt hatte, Heuchler, welche die Klassengesellschaft brandmarkten und ihre eigene Chancenlosigkeit geißelten, obwohl sie selber aus der Mittelschicht stammten und ihnen, dank ihres Elternhauses, alle Türen offen standen. Zu gern wollte er wissen, was diese ehemaligen Kameraden wohl heute machten. Er konnte sich gut vorstellen, dass die meisten von Ihnen heute genau das bürgerliche Leben führten, welches sie ehemals angeprangert hatten. Nur er hatte irgendwie den Absprung nicht geschafft und lebte immer noch am Rande der Gesellschaft. Und dabei war doch auch er es, dem das bloße Erkennen ohne eine Konsequenz und Eigeninitiative daraus abzuleiten ehedem nicht ausgereicht hatte, und zu seiner Entfremdung mit der Punkszene geführt hatte. Er dachte daran zurück, wie er nach glänzend bestandenem Abitur (seine Lehrer waren damals sehr verwundert wie so eine, in ihren Augen gescheiterte, Existenz eine so gute schulische Leistung abliefern konnte) durch einige deutsche Großstädte getingelt war und eine Gemeinschaft von Aussteigern gesucht hatte, die bereit war etwas zu tun und nicht nur vor den Bahnhöfen abzugammeln, zu betteln und über den Zustand der Welt zu meckern. Aber genau da lag nun mal eines der Probleme, welches er mit dieser Subkultur gehabt hatte und weshalb er auch zu ihr nie wirklich gehört hatte. Er war nicht bereit gewesen zu resignieren und sich mit Dilletantismus abzufinden, sondern er empfand das Streben nach einem Ausweg und die aktive Veränderung der erkannten Missstände als essentiell. Anstelle Resignation zu empfinden und Armut zu heucheln, war es richtiger ein ehrliches Elend zu leben und seine Visionen zu kultivieren. Der Verfall des Äußeren sollte durch aufrichtigen Verschleiß der normalen Kleidung erzielt werden und nicht durch zur Schaustellung einer designten Jämmerlichkeit. Zum Transport der gefühlten Zerstörung und des Leides durften nicht Scheren und Farben dienen, sondern die Zeit und harte Arbeit sollten ihre tiefen Spuren, nicht nur im Geist, sondern auch an der Garderobe hinterlassen.

Als er so auf der Couch saß und den jungen Idealisten betrachtete, der da auf seiner Netzhaut herumtollte, fragte er sich, was in seinem Leben eigentlich schief gelaufen war. Jetzt, zwanzig Jahre später, war er genau das geworden was er damals nicht sein konnte. Lebte er nicht seit ein paar Jahren genau die Idealvorstellung des Punk aus. Er enttäuschte mit beharrlicher Stetigkeit alle Erwartungen der Gesellschaft an sein Äußeres und seine Lebensumstände. Seine ungesunde Lebensweise und sein Alkoholmissbrauch zerstörten nach und nach seine inneren Organe und er wusste ziemlich genau, dass die Welt, nicht nur die makroskopische, sondern auch seine eigene, in Trümmern lag. Doch im Gegensatz zu seinem Selbst in Jugendjahren hatte er nicht mehr die Lust und den Willen dagegen anzukämpfen, sondern er gab sich ganz der Lethargie und Apathie hin, welche ihm damals gefehlt hatte um wenigstens Bestandteil der Punkbewegung zu sein.

Sechs

Zum Glück war der nächste Tag ein Sonntag und Harry hatte frei. Gleich nach dem Aufstehen ging er in den Kellerverschlag, der zu seiner Wohnung gehörte, und kramte eine alte, seit Jahr und Tag nicht mehr beachtete, Kiste hervor. Er schleppte die, mit Büchern und Heftern voll gestopfte, Kiste in seine Wohnung, wo er sie öffnete und ihren Inhalt sortierte. Während einer unruhig verbrachten Nacht hatte er sich vorgenommen herauszufinden, was mit ihm passiert war und ob es vielleicht noch einen Ausweg aus dem Schlamassel gab, in welchen er da reingeraten war. Konkret war er auf der Suche nach einem Zitat aus seiner Dada- inspirierten Punkzeit, welches ihm damals viel bedeutet hatte, an das er sich aber einfach nicht mehr im Wortlaut erinnern konnte. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass diese Aussage nicht nur für den vergangenen Harry wichtig war, sondern auch für seinen zukünftigen Lebensweg einige Bedeutung haben könnte. Er fand den Aphorismus ziemlich schnell als zentrales Element auf einer großformatigen Collage. Er war von Francis Picabia und lautete:

„ Unser Kopf ist rund, damit das Denken seine Richtung ändern kann.“

Schlagartig erinnerte er sich, was er damals mit diesem Spruch verbunden hatte. Es ging ihm darum alte Denkmuster aufzubrechen und die Gedanken seiner Mitmenschen in neue Geleise zu führen. Und dann kam der Zeitpunkt in seinem Leben, ab welchem sein eigenes Denken nicht mehr die Richtung änderte. Es verharrte einfach auf dem eingeschlagenen Weg, um dann kurze Zeit später ganz zum Stehen zu kommen. Noch wusste er nicht, was diese Abstumpfung in ihm bewirkt hatte, aber er war fest entschlossen es herauszufinden. Er ging ins Bad, um sich im Spiegel zu betrachten. Befriedigt konnte er konstatierten, dass sein Kopf immer noch ziemlich rund war und es zumindest kein anatomisches Hindernis gab die Gedanken wieder frei kreisen zu lassen.

Die schwerste Aufgabe bei der Suche nach dem Bruch in seinem Leben stand gleich zu Beginn und war die Frage, an welchem Punkt er ansetzen sollte. Etwas ließ ihm keine Ruhe. Obwohl er am Vortag eine gravierende Selbsterkenntnis hatte, lag die Schuld für die nächtliche Unruhe nicht nur bei seinem eigenem Problem. Die ganze Zeit ließ ihn auch der Gedanke an Ottilia nicht los. Einerseits war das konsequent, da sie mit der Niederschrift ihrer Probleme den Stein des Anstoßes gegeben hatte und seinem Denken gleichsam den notwendigen Impuls, um wieder einzusetzen. Andererseits sagte ihm sein Herz, und er konnte sich weiß Gott nicht daran erinnern, dass dieses Körperteil jemals zu ihm gesprochen hatte, dass Ottilias Buch ihm auch bei seiner eigenen weiteren Suche helfen könnte. Wenn er ihre Lebensstationen abklapperte, erkannte er vielleicht den Halt in seinem eigenen Leben wieder, ab welchem alles in die Brüche gegangen war. Schon in dem gestern gelesenen Eintrag steckte noch etwas mehr, was ihm bis jetzt nur unbewusst haften geblieben war. Er las den Eintrag erneut und stolperte dabei über ein paar weitere Gedanken, welche am Vortag noch in der emotionalen Fülle des gelesenen untergegangen waren. Zuerst war da dieses Zitat von Klaus Kinski. Er hatte es bis jetzt nicht gekannt und doch konnte er sein eigenes Lebensgefühl kaum präziser auf den Punkt bringen als mit diesem einen Satz. Wann immer er die Gemeinschaft mit Freunden erlebt hatte, war trotz aller Albernheiten und Freuden, die diese bereitete, doch das Gefühl der Leere nie gewichen. Sollte es möglich sein, dass er sich sein Lebtag lang unverstanden gefühlt und nun durch einen Tagebucheintrag gleich zwei Seelenverwandte auf einmal getroffen hatte? Okay der eine war aufgrund seiner Stellung als Star unnahbar und, was noch erschwerend hinzukam, mittlerweile tot. Aber Ottilia war eine real existierende Person und zwar eine, der er eine solche Gefühlswelt nie zugetraut hatte. Wieder einmal ertappte er sich dabei eine Person vorschnell und oberflächlich abgeurteilt zu haben und sich damit selber die Chance auf eine Bereicherung seines eigenen Lebens verbaut zu haben. Über die ganze Zeit, welche er sie gefahren hatte, war sie für ihn nichts weiter als eine dumme Tussi und gehörte wie selbstverständlich in die Kategorie der „als cool geltenden Mädels“, zu denen sie anscheinend doch in Wirklichkeit so gar keinen Bezug hatte. Nicht nur das ihre Gefühlswelt etwas komplexer war, als erwartet und mehr bot als die erste Liebe, den ersten Kuss und so weiter, schien sie auch noch ziemlich intelligent zu sein. Woher zum Beispiel kannte sie Klaus Kinski. Harry selber wusste nicht sonderlich viel über diesen Charakterdarsteller, der in den Rollen des Psychopathen durch zur Schaustellung Allerlei Manierismen brillierte, und Harry mit so manchem Interview erfreut hatte. Aber das jemand aus Ottilias Generation etwas mit diesem Namen anfangen konnte fand er doch ziemlich erstaunlich, da das Kinoprogramm der letzten Jahre, so wie er es erlebt hatte, doch hauptsächlich aus Blockbustern mit vielen Special effects und ohne Tiefgang bestand. Überhaupt war der Genuss eines Filmes im Kino durch das dort anwesende popcornmampfende, colaschlürfende und mit Schokoladenpapier knisternde Volk sehr erschwert.

Zu guter Letzt hatte sie sich noch sehr abwertend, geradezu mit Abscheu, über Drogen geäußert und alle Konsumenten als „Junkies“ pauschalisiert. Aus einem natürlichen Reflex des Eigenschutzes und einem notwendigen Selbsterhaltungstrieb, fand Harry diesen Gedanken sehr abwegig und war erstaunt, dass er sich nicht schon beim ersten lesen des Eintrages darüber echauffiert hatte. Natürlich zerstörten alle Drogen auf Dauer den Körper dessen, der sich ihrer bediente um seine Schmerzen zu stillen oder auch nur eine kurze Phase des Glückes zu empfinden. Doch diese banale wissenschaftliche Erkenntnis war einfach zu nüchtern um die Wahrheit, so es denn so etwas wie eine Wahrheit gab, abbilden zu können. Bewusstseinserweiterung war etwas, was die Kreativität und den geistigen Horizont erheblich erweitern konnte. Die ganze abendländische Kultur sähe, nach Harrys Verständnis, sehr viel anders aus, wenn die Wirkung bestimmter, einfacher chemischer Verbindungen nie erkannt worden wäre. Wie viele großartige Bilder, ergreifende Schriften und bewegende Songs wären ohne Drogen nie entstanden. Und auch das Vergessen und Abstumpfen eines überwachen Geistes waren sehr wohltuende Wirkungen. Erst nachdem man vom Lethe genossen hatte, bekam man schließlich die Chance ins Elysium einzugehen. Was nützte das längste Leben in einem durchtrainierten, rundum gesunden Körper, wenn man nie den Genuss eines animalischen Höhenfluges mit nachfolgendem Fall in das Tiefste aller vorstellbaren Löcher erlebt und seinen evolutionären Rückschritt erkannt hatte. Und dennoch gab es, wie bei allen schönen Dingen, auch bei den Drogen eine zweite Seite. Man beschritt einen schmalen, glitschigen Steg und lief sehr leicht Gefahr zu rutschen und in den Abgrund zu stürzen. Diese Gefahr korrelierte natürlich mit dem Zustand des Rausches. Jeder weiß, dass man umso leichter stolpert, je mehr man getrunken, geraucht, geschnupft, geleckt oder gespritzt hat. Sobald man einmal aus dem Tritt gekommen ist und sich nicht mehr auf dem Steg halten kann, plumpst man sehr schnell in das dunkle Moor ‚Abusus’, welches einen sofort fest umschlingt und in das man rasant immer weiter versinkt, bis es einen ganz umfangen hat und nicht mehr loslässt. Es war fast unmöglich sich aus diesem Moor ohne fremde Hilfe herauszuarbeiten. Harry war fasziniert von der soeben gemachten Assoziation des Abusus mit einem Moor. Schon so lange er denken konnte war er geradezu ein Freiheitsfanatiker gewesen. Das ging soweit, dass er meinte sich nicht einmal durch die menschlichen Bedürfnisse nach Luxus, Bequemlichkeit oder soziale Kontakte binden lassen zu wollen. Es war klar das er, der diese allzu natürlichen Abhängigkeiten ablehnte, eine geradezu panische Angst vor der Knechtschaft durch kleine organische Verbindungen haben musste. Und doch erinnerte er sich daran, in letzter Zeit des Öfteren noch delirierend in einem kalten, lebensfeindlichen Morast erwacht worden zu sein. Er stand auf, ging in die Küche und betrachtete die dort bergeweise hinterlegten, leeren Schnaps-, Wein- und Bierflaschen. Zu seinem Beschämen fand er in den Tiefen dieses Silicatgebirges sogar einige Flaschen Eierlikör. Jetzt, da er sich vorgenommen hatte seine Gedanken wieder frei kreisen zu lassen, musste er ihnen auch den notwendigen Freiraum dazu schaffen. Um dies zu erreichen nahm er sich vor seinen Geist und dessen Hülle von der beschämenden Abhängigkeit von einer lächerlich einfachen Verbindung, deren Struktur schon ein Untertertianer kannte, zu befreien. Er fragte sich, wie tief er schon im Morast steckte und ob es ihm so ohne weiteres gelingen würde wieder festen Boden unter seine Füße zu bekommen. Die Ablenkung, die sich durch die ihm gestellte Aufgabe, in seinem Leben aufzuräumen, bot, war sicher hilfreich. Stück für Stück begann er das Glasmassiv abzutragen und verteilte die schwerwiegenden Brocken als Mahnmale in seiner Wohnung. Nach dieser Pionierarbeit bezog er wieder Stellung auf dem Sofa und nahm sein weinrotes Buch zur Hand. Am Vorabend glaubte er noch einen Spiegel in der Hand zu halten. Nun erkannte er, dass er hier etwas vielleicht noch wertvolleres gefunden hatte. Was er da in seinen zittrigen Händen hielt war kein trivialer Reflektor, vielmehr schien es etwas zu sein, was ihm ein Zerrbild seiner Selbst zeigte. Er empfand genug Parallelen zu Ottilia, um sich selber in seiner Jugend wieder zu erkennen und dennoch gab es auch Unterschiede en masse. Diese alternativen Sichtweisen waren sicherlich noch wichtiger, um sich seiner selbst und der Entscheidungen, die er in seinem Leben getroffen hatte, bewusst zu werden und sie Punkt für Punkt zu beurteilen.

Sieben

Am nächsten Tag passierte etwas Ungewöhnliches. Harry hatte wieder einen Arbeitstag und fuhr etwa drei Handvoll Leute von A nach B. Obwohl unter ihnen auch ein Seniorenpaar war, welches einen Ausflug mit seinen Enkelkindern machte, und noch einige andere Gestalten die zum Normalsten und Alltäglichsten gehörten was dieses Leben uns zu bieten hat, hatte Harry zu keiner Sekunde das Bedürfnis, seinem Frust über den Haufen Scheiße, in dem er waten musste, Luft zu machen. Und immerhin war es eine Neunstunden- Schicht die er an diesem Tag fuhr. Das machte sage und schreibe 540 Minuten und unglaubliche 32 400 Sekunden. Doch während dieser ganzen, elendig langen Zeitspanne kostete es ihm nicht mal sonderlich viel Mühe an sich zu halten. Er akzeptierte einfach die Situation und freute sich darauf nach Hause zu kommen. Noch nie hatte er sich auf seine Wohnung gefreut und diesmal war es nicht einmal die Aussicht auf einen Schluck vom köstlichen Wasser des Vergessens, welche ihn beflügelte. Zu hause angekommen nahm er sofort Ottilias Notizbuch zur Hand und begann den zweiten Eintrag zu lesen. Die Notiz von der im Folgenden die Rede sein soll war etwa 18 Monate nach der ersten geschrieben und las sich folgendermaßen:

„Ich nehme einen Besuch im BIZ, dem Berufsinformationszentrum, in das wir vorige Woche mit der Klasse gefahren sind zum Anlass, wieder etwas über meine Gedanken niederzuschreiben, über die ich zu niemandem sprechen kann. Die Berufswahl ist wohl eine schwerwiegende, einmalige Entscheidung im Leben eines jungen Menschen. Von dem Weg, auf welchen ich mich mit der getroffenen Entscheidung begeben werde, gibt es kein zurück mehr und auch die Wahl der Alternativrouten wird mit zunehmendem Fortschritt auf diesem Weg wohl immer schwieriger. Wenn man einmal auf der Karriereleiter eine kritische Höhe erreicht hat, gibt es einfach keine andere sichere Richtung mehr als immer weiter nach oben. Dieser Besuch, der dazu angedacht war uns neue Perspektiven zu eröffnen und uns eine Vorstellung über unseren möglichen Lebensweg zu eröffnen, hat mich eher enttäuscht, als das er mich motivieren konnte. Ich bin einfach überfordert angesichts der schier endlos scheinenden Auswahlmöglichkeiten, die sich mir bieten. Viele Tagträumer und Spinner meiner Klasse wurden durch den Ausflug auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, da uns als erstes die schlichte Tatsache vermittelt wurde, dass man etwas nicht nur Wollen sondern auch Können muss.

Doch diese Einschränkungsmöglichkeit bietet mir keinen Halt in dem reizüberfluteten Strudel der Möglichkeiten. Ich bin eine gute Schülerin und zwar in wirklich jedem Fach. Sicher fallen mir bestimmte Fächer, wie zum Beispiel Deutsch, Sozialkunde und Ethik leichter, als zum Beispiel die Naturwissenschaften und die musischen Fächer. Aber dennoch verspüre ich den Ehrgeiz in allen Fächern hervorragende Leistungen zu erzielen, schließlich möchte ich mir nicht durch Schludrigkeit während meiner Jugend meinen kompletten späteren Lebensweg verbauen und mir meine Perspektiven verstellen. Und es ist ja nun auch keine große Kunst dabei ein paar Fakten, welche einem nicht aus heiterem Himmel zufallen, auswendig zu lernen und während einer Klausur zu reproduzieren. Allen die sagen, dass man für bestimmte Fächer Talent braucht kann ich nur entgegen halten, dass das einzige Talent, welches man für die Schule benötigt, im Reproduzieren von Daten besteht. Um diese Feststellung etwas deutlicher zu machen, will ich zum Beispiel mal die Mathematik näher betrachten, also ein Fach bei denen viele kläglich versagen und es sich leicht machen mit der Ausrede keinen Faible für den Umgang mit Zahlen zu haben. Auch ich bin weit davon entfernt den Sinn von Stochastik oder Infinitesimal- und Vektorrechnung zu verstehen oder zu begreifen wie man Beweise führt oder neue Formeln herleitet. Aber für die bewerteten Aufgaben genügt es Lösungsalgorithmen zu pauken und sie auf den richtigen Typ von Aufgabe anschließend stur nach Schema F anzuwenden. Das gleiche Leistungsprinzip lässt sich auch auf alle anderen Fächer anwenden, in denen von der Allgemeinheit Talent vorausgesetzt wird. Man kann sowohl seinen Gesang schulen, als auch seine Ausdauer und seine Fähigkeit Bilder im Stile verschiedener Epochen zu malen. Alles was man dazu benötigt ist der unbedingte Wille Erfolg zu haben und man darf seine Zeit nicht vertrödeln, sondern muss sich auf den Hosenboden setzen und an seinen Zielen arbeiten. So habe ich es geschafft in allen Fächern glänzend dazustehen und mir alle Wege offen zu halten, während viele meiner Klassenkameraden auf einmal merken, dass Sie unvermittelt vor einer Wand stehen. Wie viele Jungs verbringen ihre ganze Freizeit damit, an ihren Mofas zu schrauben und schon ihr erstes Auto zu pimpen und dachten die ganze Zeit später einmal Ingenieure zu werden, und erkennen auf einmal, dass ein Ausreichend in Mathematik sie daran hindert das passende Studium aufzunehmen. Und wie viele Mädels träumten die ganze Zeit von einer Gesangskarriere und hatten während ihrer Freizeit nur Jungs und Mode im Kopf, um jetzt bitter enttäuscht aufzuwachen und zu sehen, dass sie mal lieber Gesangsunterricht genommen oder wenigstens ein Instrument gelernt hätten, anstelle sich bei einer Castingshow zu bewerben und vor der gesamten Nation den Mario zu geben.

Zum Glück war ich mir meiner Selbst immer zu bewusst, um mich freiwillig solchen Einschränkungen hinzugeben. Aber nun sitze ich hier und weiß trotzdem noch nicht was ich werden will und was ich mit all den Möglichkeiten anfangen soll. Ich wälze die Kataloge der Berufsbilder und kann mir vieles vorstellen ohne bei etwas ein echtes, brennendes Verlangen in mir zu spüren. Aber wahrscheinlich sollte ich mir nicht auf einmal selbst untreu werden und mich bei dieser Entscheidung einem Bauchgefühl hingeben. Neben der Passion gibt es schließlich noch andere Kriterien für eine Jobwahl, welche ihre Wichtigkeit sicher erst im Laufe der Jahre zeigen werden. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt, die Bezahlung, die zeitlichen Anforderungen und die Perspektiven in anderen Bereichen als Quereinsteiger aufgenommen zu werden sind sicher wichtigere Momente der Entscheidungsfindung als Buntheit und der Geschmack. In der aktuellen Situation sollte ich unter Beachtung dieser Punkte entweder Jura oder BWL studieren. Anwälte und Wirtschaftslenker werden schließlich zu jeder Zeit benötigt und gehören zu den angesehendsten Personen im gesellschaftlichen Leben.

Bevor ich mein Studium antrete sollte ich vielleicht noch über einen Auslandsaufenthalt nachdenken. So was macht sich immer gut im Lebenslauf und ein kleiner Urlaub zwischen Abitur und Studium kann mir ja auch nicht schaden.“

Harry legte das Buch mit Widerwillen zur Seite. Die nüchterne, karrierefixierte Person, welche ihm eben ins Auge geblickt hatte, hatte ihm, durch ihre Offenbarung und nur mit der Macht ihrer Gedanken, fast körperliche Schmerzen bereitet. Die Heftigkeit seiner Reaktion war allerdings eher von einem Gefühl des Mitleides mit Ottilia, als von echter Abscheu geprägt. Selbst in diesem kalt berechnendem Blickwinkel meinte er eine Spur seiner Selbst aus einer sehr frühen Epoche zu spüren. Auch er war einmal ein sehr strebsamer Schüler gewesen und konnte sich einfach nicht damit abfinden bestimmte Dinge nicht zu können. Doch das Streben nach Bildung und Perfektion war an und für sich noch eine lobenswerte Eigenschaft. Das Problem setzte erst ab dem Punkt ein, an dem man versuchte beginnende Leidenschaften und Vorlieben zu unterdrücken und ein falsch verstandenes Ideal eines Menschen ohne Feuer und Begeisterung für eine bestimmte Thematik aufrecht zu halten. Nicht nur das einem ohne eine Passion ein wichtiger Teil, welcher das Leben erst lebenswert machte und ihm vielleicht sogar erst einen Sinn gab, fehlte. Mit der diffusen Ausbreitung seines Geistes auf zu viele Bildungsgebiete lief man sehr leicht Gefahr am Ende als jemand mit einem guten Abschluss im Leben zu stehen, der eigentlich von nichts eine Ahnung hatte. Ihr Beispiel von den Ingenieuren war ja schon ganz gut gewählt. Natürlich musste ein Ingenieur auch die höhere Mathematik begreifen, aber was war das andererseits für ein Techniker, welcher noch nie mit ölverschmierten Fingern eine Bypass- Operation am laufenden Motor vorgenommen hatte? Diese Ambivalenz in den Zielen der Bildung hatte schon zu oft dazugeführt, dass wir auf der einen Seite Erwachsene hatten, welche Nichts über Alles wussten und dem gegenüber Andere, welche sich mit ihrem Allwissen über Nichts brüsteten.

Erneut empfand Harry seine Punkzeit als einen befreienden Punkt, ab dem sich seine Biografie von Ottilias Gefühlswelt entfernte. Ab diesem Zeitpunkt bildete sich seine Unabhängigkeit von den gesellschaftlichen Zwängen heraus und er hatte das Gefühl, dass sein Leben erst ab diesem Moment richtig begann. Dieses Empfindung bestärkte ihn nur in seinem Mitleid gegenüber Ottilia. Die, in dieser Konsequenz selten gesehene, fehlende Abnabelung von den vorgelebten Erwartungen der Elterngeneration und den Vorstellungen der Kinderwelt, bewirkten ein starkes, ungewohntes Trauergefühl. Harry hatte nicht sonderlich viel Empathie und eine solche Gefühlsregung konnte er sich nur durch Selbsterkenntnis erklären. Wie ähnlich sie sich doch eigentlich waren. Harry hatte ebenfalls einmal das Bedürfnis gehabt, ob naturgemäß oder durch sein Elternhaus und sein soziales Umfeld vermittelt sei dahingestellt, sich mit guten Noten alle Türen offen zu halten. Er war Mitglied im Schwimmverein, sammelte Briefmarken, spielte Trompete, lernte für jede Prüfung und gab sich auch in Kunsterziehung jede erdenkliche Mühe. Wie viele Nachmittage hatte er damit zugebracht Bilder möglichst perfekt zu malen, um eine annehmbare Note, und annehmbar war für seinen kranken Ehrgeiz höchstens eine zwei, zu bekommen. Doch er wusste, dass diese ganzen Aktivitäten seiner Kindheit nie aus einer anderen Überzeugung als der Notwendigkeit und dem Bestreben sich keine Chancen zu verbauen genährt worden waren. Das gehörte halt einfach zum Leben dazu. Und wie viel schlimmer musste es bei Ottilia sein. Sein Antrieb war wohl eher in einer persönlichen Eigenart zu suchen gewesen, doch Ottilia wuchs in einer Zeit auf, in welcher das Leben immer karrierefixierter wurde. Schon die Schulzeit wurde als ein erster Schritt auf der Leiter des Erfolges betrachtet und die Kreativität, Freiheit und Albernheit der Kindheit und Jugend wurde durch eine zunehmende Anpassung an ein immer durchökonomisierteres Lebensmodell immer weiter eingeschränkt. Die Gesellschaft lebte ihren kranken olympischen Gedanken des Höher, Schneller, Weiter immer stärker aus und nahm damit schon ihrer Zukunft die Luft zum atmen und beraubte sie der Chance neue, eigene Wege zu gehen. Dazu passte auch der, anscheinend weit verbreitete, Gedanke einen Auslandaufenthalt für die Karriere einzulegen. Überhaupt war dieses ganze Fernweh und der Wunsch im Ausland eine neue Existenz aufzubauen etwas, dem Harry immer suspekt gegenübergestanden hatte. Wieso glaubten Leute, die ihr Leben anscheinend nicht im Griff hatten, durch die Änderung äußerer Umstände etwas verändern oder gar verbessern zu können? War es nicht eine feige, aussichtslose Flucht, vor den Trümmern seiner Seele einfach eine andere Bühnenkulisse aufzustellen und sich davon Besserung zu erwarten. Unser wahres Leben spielt sich doch in uns selbst und bestenfalls in den Kontakten, die wir pflegen, ab und nicht in der Landschaft in der unsere Hülle wandelt. Für echte Sinnsucher und Aussteiger empfand Harry noch eine gewisse Sympathie obwohl er wusste, dass für den Erfolg dieser Reise der Flug zum richtigen inneren Ziel und nicht in das passende Land gebucht werden musste. Aber alle, die beim einchecken schon das Rückflugticket in der Tasche verwahren und eine genaue Vorstellung davon haben, wie sich diese „Sprachreise“ in ihren Lebenslauf einpasst, waren letztendlich nur Touristen, welche sich einen sehr ausgedehnten Urlaub gönnten.

Wenn der ehrgeizige Junge geahnt hätte, in welcher Situation er fast dreißig Jahre später wieder aus einem langen Dämmerschlaf erwachen würde, wäre er sicher schon sehr viel früher am Leben verzweifelt. Die ersten, damals noch befreienden, Brüche mit dem Strebertum waren aufgetreten, nachdem er erlebt hatte, wie frei und unabhängig es machen konnte Erwartungen zu enttäuschen. Was war das für ein tolles Gefühl gewesen, sich im verhassten Kunstunterricht keine Mühe mehr zu geben und auch mal genau solche Kritzeleien zur Benotung abzugeben, welche sich wie von selbst ergeben, wenn ein untalentierter Schüler seine Nachmittagsstunden nicht mehr mit Hausaufgaben verbringt und auch den Grossteil der Schulstunden lieber zum lesen unterrichtsferner Lektüre und zum Musik hören nutzt. Auch seine Deutschnoten waren eingebrochen, nachdem er entdeckt hatte, dass man Worte der Alltagssprache wie Scheiße, ficken und Schwanzlutscher auch prima in einem Aufsatz platzieren konnte. Und dennoch half ihm sein Mutterwitz in anderen Fächern seine Leistungen zu halten und mit zunehmendem Anforderungsniveau sogar noch zu steigern. In den Naturwissenschaften, in denen man eben nicht nur über das Pauken von Fakten Erfolg haben konnte, sondern auch über das Verstehen von Zusammenhängen einiges, und sicher einiges mehr, erreichen konnte, war dies der Fall. Auch in Sozialkunde war er ein nicht nur guter, sondern sogar außerordentlich engagierter Schüler gewesen. Er liebte die Wortgefechte mit seinem Lehrer in denen es um das wirtschaftliche System, die Ausbeutung des Individuums im Kapitalismus und die Diktatur des Proletariats ging. Wie oft hatten sie Duelle ausgetragen, bei denen seine Mitschüler nur mit offenen Mündern dasaßen und ihren Kopf durchlüfteten. Im Großen und Ganzen empfand er ja das ganze System der freiheitlichen Demokratien der westlichen Welt als das kleinere Übel und hielt es da ganz mit Winston Churchill: „Demokratie ist eine schlechte Staatsform - aber es gibt keine bessere.“ Und sogar das bestehende Regelsystem akzeptierte er, da er in seinem Inneren überzeugt war, dass eine Gemeinschaft Normen und Wertesysteme brauchte, um das Zusammenleben in verträglichen Dimensionen zu organisieren. Sein Lehrer hatte das sehr wohl erkannt und förderte sein Engagement ohne auf die kleineren und größeren Provokationen einzugehen, welche von dem aufmüpfigem Schüler ausgingen. Wie sollte auch ein so junger Mensch den wichtigen zwischenmenschlichen Respekt, auch im Umgang mit konträren Meinungen, verinnerlicht haben, wo doch viele Erwachsene nicht einmal wussten, wie Respekt buchstabiert wird. Die Unflätigkeit und das Heben der Stimme untermauerten letztendlich nur die schwache argumentative Basis des Aggressors.

Trotz dieser beginnenden Herausstreichung von Vorlieben und dem Abschwächen seiner Leistung in anderen Fächern, war der Schüler Harald Koenig weiterhin bestrebt einen guten Abschluss ohne allzu großen Aufwand zu erzielen, was ihm im Endeffekt auch gelang. Ungeachtet seiner linken Attitüde hatte er seinen ersten Lebensabschnitt durch konsequente Anwendung dieses ökonomischen Minimierungsprinzips erfolgreich hinter sich gebracht. Damit war auch er letztendlich nur ein weiterer heuchelnder Punk, der die Chancen- und Ausweglosigkeit seiner Existenz geißelte und auslebte, und trotzdem für sich darauf bedacht war seine Perspektiven zu wahren. Mit dieser Aussage konfrontiert, hätte der jugendliche Harry zu seiner Verteidigung vorgetragen, dass er sich nie als Punk im eigentlichen Sinne gesehen hatte. Er genoss das Gefühl des Ausgestoßenseins und die damit einhergehende Freiheit, konnte aber mit der Langeweile und Passivität, in der die Punks ihre Freizeit verbrachten, nichts anfangen. Der Mensch hebt sich vom Tier nicht nur durch sein Bewusstsein ab, sondern auch durch den Drang und den Willen etwas zu bewegen und die Welt zu verändern. Um dieses Ziel zu erreichen war nun einmal ein Mindestmaß an Bildung notwendig.

Acht

Nachdem Harry die Schule beendet hatte, befand er sich an dem gleichen Punkt, an welchem er Ottilia im eben gelesenen Tagebuch- Eintrag vorgefunden hatte. Nach einem Leben in geregelten Kategorien und der, durch die festgeschriebenen Einteilung seines Tagesablaufes, erfahrenen Sicherheit und Behütetheit der Kindheit, fand er sich nun auf sturmumtoster, aufgewühlter, von barbarischen Winden gepeitschter, rauer See und versuchte den richtigen Kurs zu finden, um sein stolzes Schiff sicher zu den neuen, so sehnlich erträumten, Gefilden manövrieren zu können, in welchen seine erschöpfte Mannschaft endlich die Erlösung von ihren Leiden zu finden glaubte. Doch die Irrfahrt der unverstandenen, ausgestoßenen und ausgemergelten Geschöpfe war nicht nur durch fehlende Navigationsmittel erschwert. Die aus ihrem sicheren Heimathafen zu neuen Ufern aufbrechenden, willensstarken und strebsamen Idealisten hatten nur eine unklare Vorstellung davon, wie ihr Paradies aussehen sollte und konnten die Destination ihres Abenteuers beim besten Willen nicht mit einem Namen benennen. Vielmehr hatten sie allenfalls einen abstrakten Anhaltspunkt davon, wohin die Reise gehen sollte und einigen von ihnen fehlte sogar dieser. Die unterschiedlichen Vorstellungen und Meinungen dieses wild zusammengewürfelten Haufens Individualisten erschwerten die Aufgabe des Kapitäns zusätzlich. Er musste alle Facetten des menschlichen Lebens an Bord seines Schiffes unter einen Hut bringen und es schaffen die Willensäußerungen der einzelnen, zum Teil einander widerstrebenden, Gedankengänge und Ansichten auf einen Nenner zu bringen. An Bord befanden sich die unterschiedlichsten Charaktere, die man sich nur vorstellen konnte. Da waren die üblichen, raubeinigen, gesetzlosen und an einfaches Leben gewohnten Seemänner, verweichlichte und an Luxus gewöhnte Knaben aus reichem Haus und zartfühlende, schöngeistige, naturverbundene Burschen, welche auf dieser Reise Naturforschungen anstellen wollten und kein Interesse an rumlastigen Gelagen hatten. Und es war die schwere Aufgabe des jungen, unerfahrenen Kapitäns diese unterschiedlichen Persönlichkeiten zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammen zu schmieden, Raufhändel der Einzelgruppen untereinander zu unterbinden und jede Meuterei gegen seine Autorität im Keim zu ersticken. Dazu war viel Diplomatie von Nöten. Er konnte die piratenartigen Wesen durch das großzügige Verteilen von Rumrationen und weiblichem Fleisch befrieden und musste gleichzeitig aufpassen, dass ihre alkoholinduzierten Übergriffe auf die Abstinenzler keine zu extremen Formen annahmen. Auch den Wissbegierigen musste er eine Labsal für ihren Durst geben, indem er in regelmäßigen Abständen Pausen für das Studium neuer Naturphänomene und fremder Kulturen einräumte. Doch wenn er diese Pausen zu lange gewährte, waren da wieder die verweichlichten Landratten, welche genug vom harten, entbehrungsreichen Leben auf See hatten und endlich einen Zielhafen ansteuern wollten, in welchem sie wieder festen Boden unter den Füssen hatten und eine bekanntere Lebenssituation vorfinden würden. Neben diesen Aufgaben als Kindergärtner scheinbar erwachsener Männer, fand Harry kaum noch Zeit sich über den Kurs seines Schiffes klar zu werden und etwas über die neue Welt, welche er anzusteuern versprochen hatte, in Erfahrung zu bringen.

Auch nach seiner Schulzeit hatte Harry erst einmal alleine ausgiebige Ferien verbracht. Doch er hatte keine Reiseprospekte gewälzt und sich überlegt, in welches Land er mit dem Schiff, dem Flugzeug oder dem Auto reisen sollte, sondern seinen Rucksack gepackt, etwas Geld eingesteckt und seinen Eltern Lebewohl gesagt. Diese waren geradezu entsetzt als sie erfuhren, dass er nicht wusste wohin er wollte und ihnen auch nicht sagen konnte, wie sie ihn erreichen konnten. Zum Glück hatte es damals noch keine Handys gegeben und sie waren darauf angewiesen sich auf sein Versprechen, in regelmäßigen, nicht näher definierten, Abständen von ihm zu hören, zu verlassen. Er hatte sich an die Hauptstraße gestellt, den Daumen hochgehalten und da er nicht in eine bestimmte Richtung wollte hatte er sehr schnell jemanden gefunden, der bereit war ihn mitzunehmen. In den folgenden Monaten verloren alle Bezugspunkte und Orientierungsmarken, die uns helfen unseren Alltag zu gliedern und in geordneten Bahnen zu verleben, sehr schnell jede Bedeutung für ihn. Die scharf umgrenzten Begriffe Raum und Zeit begannen zu verschwimmen, verloren ihre Konturen immer mehr, um schließlich, bar jeder Bedeutung, gleichsam als leere Worthülsen, ihren Platz in Harrys Geist einzunehmen. Die Erfahrungen und Eindrücke, die er während dieser, als Urlaub begonnenen, Reise gesammelt hatte, hätten ein ganzes Leben füllen können. Doch ob es sich bei diesem Leben um das einer Schildkröte oder einer Eintagsfliege handelte war unmöglich zu sagen. Die Auflösung des Zeitgefühls war so vollständig, dass Harry nicht sagen konnte wie lange er auf dieser Reise war. Er hatte das Gefühl ganz Deutschland bereist zu haben. Da sich das Leben als mittelloser Nomade in urbanen Räumen wesentlich komplikationsfreier gestaltete, als in ländlichen Gegenden hatte er den weitaus größeren Teil der im Nichts dahinfliessenden Unendlichkeit in größeren Städten verbracht. Über seine kynische Lebensweise mit ihnen verbunden, hatte er hier die Bekanntschaft vieler Penner, Aussteiger und Sozialarbeiter gemacht und so eine Menschenschicht kennen gelernt, welche ihm durchaus großherziger und ehrlicher anmutete als der durchschnittliche Normalbürger. Er philosophierte mit ihnen über die Vorteile der Freiheit von sozialen Zwängen und Konventionen, gab sich voller Lust dem Rausch hin und spürte, bei der Suche nach einem Platz für die Nacht und der Freude über ein altes Stück Brot nach zwei Tagen Hunger, das Leben in sich mit nie gekannter Intensität. Doch auf Dauer war diese Existenz nicht für ihn und wohl auch für keinen anderen geschaffen. Sobald die Nächte kühler wurden verwandelte sich die Freude am Leben in eine schier unbegreifliche Angst um das Überleben. Nicht nur der sich nach Geborgenheit, Wärme und Entspannung sehnende Harry litt an den Umständen dieser Perioden seines Urlaubes. Auch der Geist in ihm darbte angesichts des Übergewichts der animalischen Notwendigkeiten. Er hatte zwar die Chance viele historische Innenstädte, Kirchen und menschliche Lebensweisen zu studieren, doch um ihm einen größeren Teil vom Buffet der Bildung zu ermöglichen fehlten sowohl das nötige Kleingeld, als auch das erforderliche Erscheinungsbild, um am Ober passieren zu können.

Um diesen Bedürfnissen gerecht zu werden verbrachte er nicht die gesamte Spanne seines Trips als Vagabund. Immer wieder nahm er Jobs als Tagelöhner und Hilfsarbeiter an, um seine Reisekasse aufzubessern und seinem geschundenen Körper Erholung von den Strapazen des Leben im freien zu ermöglichen. Wenn es ihn in ein ländliches Umfeld verschlagen hatte, konnte er sich nicht weiter mit Betteln durchschlagen und er musste sein Leben als Landstreicher zwangsläufig aufgeben. Die dadurch gewonnene Unabhängigkeit von der Hilfe und dem Mitleid Anderer war hierbei durchaus als positiver Nebeneffekt anzusehen. In diesen Phasen nahm er sich ein Zimmer in einer billigen Absteige und verbrachte seine Freizeit damit Bücher zu lesen, Wanderungen zu unternehmen und über sein zukünftiges Leben nachzudenken. Er hatte nie vorgehabt ein solches Leben als Clochard auf Dauer zu führen und seine Erfahrungen auf dieser Reise hatten ihn darin bestätigt. Was ihn allerdings in staunen versetzte, war die Tatsache, dass es keine materiellen Dinge waren, welche ihm fehlten. Ein heißes Bad, ein Dach über dem Kopf und einen nahrhaften Bissen konnte man sich durch einen Gelegenheitsjob genauso leicht verdienen wie ein warmes Bett und ein wenig Zwirn um seine Blöße zu bedecken. Und mit diesen Dingen hatte man doch auch schon alles zusammen, was man brauchte, um ein anständiges Dasein zu führen. Geld und Ansehen boten ihm also keine Motivation, um etwas Anständiges aus seinem Leben zu machen, wie es sich seine Eltern immer vorgestellt hatten. Und dennoch gab es den Wunsch in ihm, mehr aus sich zu machen, zu lernen und etwas zu bewirken. Zum wiederholten male musste er erkennen, dass die Ursache dieses Wunsches in seiner Ablehnung von Passivität und Abstumpfung lag. Was ihn schon bei den Punks gestört hatte war es auch, was ihm an seinem Leben als Aussteiger und Vagabund missfiel. Er fühlte zuviel Energie und Neugier in sich, um sein Leben nur an die Langeweile und das Herumlungern zu verschwenden. Das Nichtstun war schon immer eine Qual gewesen. Er erinnerte sich an sonntägliche Familienausflüge, bei denen ihm der Teil der Wanderung immer zugesagt hatte, aber sobald es an ein Picknick oder eine Rast ging konnte er keinen Moment still sitzen. Auch hatte er nie verstanden, warum so viele Leute nach dem Essen immer noch gerne eine Weile am Tisch sitzen bleiben. Und diese Abneigung hatte nicht einmal etwas mit der jeweiligen Gesellschaft zu tun. Auch wenn Freunde ihn überredet hatten an den Strand zu gehen oder die Sonne im Park zu genießen, hatte er das Daliegen oder Rumsitzen und die aufkommenden Alltagsgespräche als belastend empfunden. Das Leben war einfach zu kurz, um seine Zeit ausschließlich vor sich hinoxidierend auszusitzen. Er musste etwas tun und wenn die Aktivität auch noch so sinnlos erschien. Aber vielleicht fand er ja einen Weg, seine ihm gegebene Lebenszeit sinnvoll zu nutzen und seine Lebensenergie auf ein angemessenes Ziel zu lenken. Die Erkenntnis etwas bewegen zu müssen, um dem Leben einen Sinn zu geben, ging ihm zu diesem Zeitpunkt noch sehr leicht von der Hand. Doch die Frage, auf was er seine Gedanken und sein Streben richten sollte, war schon sehr viel schwieriger zu beantworten. Er stand vor der Aufgabe den Katalysator zu finden, welcher seine Lebensgeister auf ein Problem, zu dessen Lösung er beizutragen die Kraft in sich spürte, fokussieren würde. Eine lange Zeit trug er sich mit dem Gedanken Chemiker zu werden. Er hatte schon immer ein gutes Verhältnis zu den Naturwissenschaften gehabt und die Chemie interessierte ihn besonders. Das Experimentieren mit den Auswirkungen bestimmter Substanzen, auch am eigenen Körper, hatte ihm schließlich schon einige vergnügliche Stunden bereitet. Doch obwohl er auch sehr gute Noten in Chemie gehabt hatte, brandete bei dem Gedanken an diesen Werdegang keine wirkliche Sehnsucht in ihm auf. Die rasante Entwicklung der Technik und Naturwissenschaft im vergangenen Jahrhundert hatte doch im Großen und Ganzen das Leben der Menschen nicht verändert. Der Mensch konnte jetzt fliegen, Elektrizität war selbstverständlich, das Fernsehen hatte die Möglichkeiten der Informationsbeschaffung potenziert und die Medizin hatte rasante Fortschritte gemacht. Viele Krankheiten waren auf einmal heilbar und die Pocken galten sogar als ausgerottet. Die Natur- und Ingenieurwissenschaften hatten geholfen die Existenz angenehmer, leichter und bequemer zu gestalten und dennoch war Harry der Meinung, dass diese ganzen Innovationen und Fortschritte keine wirkliche Besserung im menschlichen Dasein gezeitigt hatten. Die Möglichkeiten, welche die neuen Transport- und Kommunikationsmittel eröffnet hatten, wurden zu einer reinen Beschleunigung des Lebens genutzt und die Hektik des Alltages nahm jeden Raum für Besinnungen und Reflektionen. Das Fernsehen kam seiner Rolle als Informationsträger nicht befriedigend nach und führte eher zu einer um sich greifenden Abstumpfung, Verblödung und Vereinsamung des Konsumenten. Und selbst in der Medizin waren die Neuerungen doch eher fragwürdig. Was nutzte das längste Leben, wenn die Fragen nach seinem Sinn und seiner Wertigkeit immer noch nicht geklärt waren und durch die zunehmende Technisierung sogar immer weiter in den Hintergrund gedrängt wurden. Das zunehmende Wissen um das Wesen einer Krankheit führte zu einem immer sterileren, unmenschlicheren Umgang mit ihr. Mit dieser Einstellung konnte man nun wahrlich kein Forscher werden. Um auf diesem Gebiet etwas mit Überzeugung zu bewegen und vorwärts zu treiben war ein Mindestmaß an Fortschrittsgläubigkeit notwendig, welches Harry völlig abging.

So über seine Gedanken inkubierend, erkannte Harry, was ihn immer bewegt hatte und Ursache vieler geistig reger Momente war. Oft hatte er über den Sinn des Lebens, die menschliche Existenz und die bestmögliche Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens nachgedacht. Diese Erkenntnis bewog ihn zu seiner Entscheidung ein Politologie- Studium aufzunehmen.

Neun

Im Bewusstsein dieser Entscheidung begann die eben noch klar vor sich gesehene Realität zu verschwimmen, ihre Konturen verwischten sich und die zuvor gut ausgeleuchtete Szene verschwand allmählich im Dunkel. Abrupt wurde das Licht im Zuschauerraum wieder angeschaltet und Harry fand sich unvermittelt in seiner Wohnung wieder. Der erste Akt des Schauspiels war vorüber und die Pause war an einer dramaturgischen wohl gewählten Stelle, des sich aufbauenden Spannungsbogens platziert. Der interessierte Zuschauer konnte für eine Stärkung den Saal verlassen und hatte Zeit das eben Gesehene zu diskutieren und zu verarbeiten. Der Protagonist des aufgeführten Stückes war also ein strebsamer Idealist, der nach einigen Irrwegen herausgefunden hatte, dass er dafür geboren schien Großes zu bewegen und die Welt zu verändern. Es blieb die Frage, wann der entscheidende Bruch eintrat, ab dem die neuerliche Irrfahrt ansetzte, denn das es diese gab konnte man dem Programmheft ohne weiteres entnehmen. Seit einigen Jahren befand sich unser Held wieder in einem tiefen, stumpfen, ausweglos scheinenden Loch, in welchem er nur das Getier des Erdreiches als Gesellschaft hatte und sich von Moosen, Brackwasser und den Ausdünstungen des, auf der Erdoberfläche stattfindenden, Lebens ernährte. Die Erkenntnis dieser Situation stellte gleichermaßen den seit langer Zeit ersten Lichtstrahl dar, welcher durch den Glaskörper auf die Stäbchen traf und dort einen ungewohnten elektrischen Impuls induzierte. Noch war die Gewöhnung an die Dunkelheit zu stark, um sagen zu können, ob der empfangene Reiz einen Hinweis auf einen Ausweg aus der Höhle aufzeigte oder nur falsche Illusionen schürte. In seiner Einsamkeit meinte Harry als Quelle des diffusen Glanzes Ottilias geistige Anregung zu erkennen. Mit einem Gefühl der Dankbarkeit kroch er sich vorwärts tastend zu seiner Schlafstelle und wickelte sich in dieser, unter den gegebenen Umständen bestmöglich vor Feuchtigkeit und Kälte geschützten, Gruft in seine klammen Lacken.

Am nächsten Morgen erwachte er eine Stunde bevor sein Wecker klingelte. Ein, für diese frühen Morgenstunden erstaunlich warmer, Sonnenstrahl ruhte auf seinem Gesicht und durch das offene Fenster hörte er Spatzen zwitschern. Er stand auf duschte und rasierte sich, kämmte sein Haar und versuchte einige Kniebeugen und Liegestütze, musste aber feststellen, dass er ihrer nicht mehr als zehn schaffte und auch diese bescheidene Zahl gelang ihm nur mit äußerster Kraftanstrengung. Von dieser morgendlichen Aktivität ein Hungergefühl verspürend, beschloss er zu frühstücken. In seiner Küche fand sich allerdings nicht das dazu erforderliche Equipment. Er hatte keine Brötchen eingekauft, es wäre euphemistisch gewesen das vorhandene Brot als altbacken zu bezeichnen, Marmelade und Honig fanden sich auch nirgends und die Milch, auf welche er in der hinteren Ecke seines Vorratsschrankes stieß, war sauer, obwohl ein vollmundiges Werbeversprechen sie als „haltbar“ ausgab. Auf die Uhr schauend bemerkte er, dass er noch genug Zeit hatte zum Bäcker zu gehen bevor seine Schicht begann. Er kleidete sich an, wobei er bemerkte, dass er dringend mal wieder in den Waschsalon gehen musste, und verließ seine Wohnung. Die Bäckereifachverkäuferin lächelte ihn heute sogar an, als er sich seine zwei Croissants und den Kaffee holte. Auf einer Bank im Park sein Mahl verzehrend fragte er sich, ob es möglich war diese positive Reaktion ausschließlich damit verdient zu haben das Geschäft ausnahmsweise strahlend und einen guten Morgen wünschend betreten zu haben. Konnte es sein, dass das gemeine Volk so unfähig war eigene Gefühle und Stimmungslagen zu entwickeln und sich nur damit begnügte das Auftreten des Gegenübers in seinen Handlungen zu reflektieren. Wie dem auch sei, hatte das ihm gegoltene Strahlen seinen Tag nicht verdorben und er hatte weiterhin das Gefühl, dass er den heutige Tag auch an seinem Abend noch als einen guten empfinden würde. Und in der Tat entwickelte sich der Tag zu einer außerordentlich wohlschmeckenden, aus unaromatischen Alltagserlebnissen komponierten, Melange und einem duftenden Potpourri voller müffelnder Belanglosigkeiten. Unter Mittag regnete es stark und er fand sich in seinem Taxiunterstand am Bahnhof unversehens in der Gesellschaft einiger Personen, welche Schutz vor dem lebensspendendem Element suchten. Durch das sich ihnen bietende triste Schauspiel in melancholische Stimmung versetzt führten sie ein Gespräch über das Wetter, von welchem sich Harry nicht ausnahm. Es wurden die üblichen Plattitüden über die Notwendigkeit des Regens für die Landwirtschaft einerseits und die Schädlichkeit desselben Phänomens für den Sitz der Frisur andererseits ausgetauscht. Am Nachmittag gab er den Stadtführer für ein älteres, fußlahmes Paar, welches für ein Wochenende in der Stadt war. Der Mann war in der Stadt geboren worden und wollte seiner Freundin die Stätten seiner Kindheit zeigen. Harry fuhr sie zu den wenigen Sehenswürdigkeiten, die es gab, und kramte aus den Tiefen seines Gedächtnisses alles heraus, was er von seinem Großvater aus der Geschichte dieses Dorfes erfahren hatte. Es bereitete ihm sogar Vergnügen mit dem Zeitreisenden die Veränderungen im Stadtbild zu besprechen, welche seit seiner Kindheit zwangsläufig eingetreten waren. Nach dem Ende seiner Schicht erledigte er ein paar Einkäufe und entdeckte dabei ihm bisher verborgene Bereiche des Supermarktes. Normalerweise steuerte er in diesen Konsumtempeln immer sehr zielstrebig auf die Tiefkühlabteilung mit den Fertiggerichten und Konserven zu, schaufelte dort seinen Wagen voll und sprintete anschließend zur Kasse ohne in den Schluchten der Regale besondere Rücksicht auf Vorfahrtsregeln zu nehmen. Doch heute nahm er sich Zeit und erkundete den Abenteuerspielplatz der Verführungen ausgiebig. Nachdem er sich in Ruhe umgeschaut hatte und mit Verwunderung erkannte, was man sich alles kaufen konnte, so man das nötige Kleingeld hatte und einem der Sinn danach stand, musste er zu seiner Bestürzung feststellen, dass er sich im Labyrinth der Möglichkeiten hoffnungslos verlaufen hatte. Eine Verkäuferin zeigte ihm schließlich lachend den Weg zur Kasse. Zu hause angekommen packte er seine Einkäufe aus, raffte seine schmutzige Wäsche zusammen und brach sogleich wieder in den Waschsalon auf. Hier machte er die wohl denkwürdigste Begegnung des ganzen Tages. Er suchte sich die größte Maschine aus, um die ganze Wäsche auf einmal vom Schmutz befreien zu können. Ein junges Mädchen beobachtete ihn kopfschüttelnd, wie er die Maschine befüllte. Sie trat an ihn heran und fragte ihn, ob sich seine Frau gerade erst von ihm getrennt habe. Durch die Ansprache total aus der Fassung gebracht starrte er sie nur der Worte beraubt an, was sie wohl als ein ja missdeutete. Sie erklärte ihm, dass man Bunt- von Weißwäsche und Koch- von Normalwäsche trennen musste. Dann gab es da für jede Maschine noch ein spezielles Programm und sogar das Waschmittel musste man nach einem, ihm nicht ganz klar gewordenen, Prinzip an die Art der Wäsche anpassen. Und um die Konfusion zu komplettieren reichte es in einigen denkwürdigen Fällen nicht aus Waschpulver zu nehmen, sondern man gab in ein verstecktes, extra dafür vorgesehenes Fach noch Weichspüler hinzu. Es war ein durchaus angenehmes Gefühl gewesen, auf diese Art mit jemandem ins Gespräch zu kommen, auch wenn es sich so gut wie ausschließlich um schmutzige Wäsche drehte. Wieder in seinen vier Wänden hatte Harry das Bewusstsein, sich sein Feierabendbier am heutigen Tag redlich verdient zu haben, doch gerade heute hatte er nichts zu trinken im Haus. Und dabei war die Arbeitszeit am heutigen Tag noch der entspanntere Teil gewesen. In der Zeit, welche seiner Erholung dienen sollte, hatte er sich schließlich verlaufen, war hilflos umhergeirrt und sein Geist war unglaublich vielen neuen Reizen und Eindrücken ausgesetzt gewesen. Dennoch fiel sein Resümee vom heutigen Tag ausgesprochen positiv aus. Und das, obwohl lauter Banalitäten ihm seinen Stempel aufgedrückt hatten und Harry nichts gelernt hatte, was er brauchen konnte und als wichtig empfand. Schließlich hatte er seine Wäsche auch nach seiner Methode immer sauber aus der Maschine wiederbekommen, was ihm nach dem eben geführten Gespräch fast wie Zauberei anmutete. Wahrscheinlich hatte er, sowie bestimmte Menschen einen grünen Daumen haben, einen Körperteil des weißen Riesen als naturgegebenes Talent in seine Wiege gelegt bekommen.

So über die Ereignisse dieses ereignislosen Tages reflektierend erkannte Harry, dass die Lösung für sein Problem nicht darin bestehen konnte, seine ganzen noch kommenden Tage auf diese oder die alte Weise zu verleben. Bis gestern hätten ihn die Banalitäten des heute erlebten noch an den Rande der Verzweiflung und des Wahnsinnes gebracht, doch der Beleuchter des Weltschauspieles schien über Nacht seinen Standpunkt gewechselt zu haben und in dem neuen Licht empfand Harry die Szenerie nicht mehr als zu melancholisch und bedrückend. Düstere Ecken und tiefe Abgründe der Oberflächlichkeit worden besser ausgeleuchtet und offenbarten auf einmal eine ihnen innewohnende Schönheit. Die neuen Perspektiven konnten ihn wohl für eine gewisse Zeit zum Betrachten und Verweilen einladen und ihm einige neu erlebte Vergnügungen bereiten, aber im Grunde waren die sich ihm hier aufgetanen Aussichten, wie alle Schönheiten, vergänglich und auf Dauer uninteressant. Harry war sich bewusst, dass er seinem neuen Blick auf das Leben weitere Schichten abringen musste, um sich nicht wieder mit der Zeit gelangweilt und unbefriedigt abzuwenden. Er musste beginnen an der Oberflächlichkeit zu kratzen und zu verifizieren inwiefern der sich ihm bietende Sinnesgenuss von einem stabilen, dauerhaften, geistigen Fundament gestützt wurde. Mit der Notwendigkeit und Ungeheuerlichkeit dieser Aufgabe konfrontiert, bekam er es mit der Angst zu tun. Ein zu tiefes eindringen in die Basis des alltäglichen Lebensumfeldes konnte sehr leicht etwas zu tage fördern, was ihm missfiel. Und wenn das Fundament des Kartenhauses, in welchem er gerade erst begonnen hatte sich heimisch einzurichten und wohlzufühlen, so wackelig war, wie er befürchtete, konnte seine gesamte, heiter besonnte Welt schneller wieder in miserabel ausgeleuchteten Trümmern liegen, als ihm lieb war. Die Angst vor dem unvermeidlich scheinenden, katastrophalen Ausgangs seines Strebens bewog ihn kurzzeitig seinen Wunsch nach Mehr zu unterdrücken und sich mit dem zufrieden zu geben was er hatte. Die Biografien so vieler seiner Mitmenschen zeigten doch, dass man auch in einem Strohhaus den Unbill der Naturgewalten lange Zeiten trotzen konnte. Falls das Leben dann doch einmal zuschlug und ein Sturm oder Unwetter die Wohnstätte vernichtete und vom Erdboden vertilgte, baute man einfach an anderer Stelle eine neue Hütte aus Stroh oder allenfalls Holz auf. Und Harry hatte gegenüber den meisten dieser anderen Biografien den Vorteil des Bewusstseins und der Erkenntnis. Gleich einem vitalen Menschen, der durch einen Unfall seinen Arm verloren hatte, haderte er erst mit seinem Schicksal, um anschließend den Wert auch des behinderten Lebens zu erkennen. Sobald seine Mitmenschen in ihrem Alter an körperlichen Gebrechen zu leiden begannen, hatte er ihnen das Wissen um den Umgang mit der neuen Lebenssituation voraus und konnte zufrieden, aus seiner Position der Erfahrung, auf ihr Bestreben blicken mit der neuen Lage zurecht zu kommen. Er musste nur noch den einschneidenden Schritt tun und seine neue Lebenssituation als Amputierter akzeptieren und seinen Charakter an ihr wachsen lassen. Doch er erkannte in dieser Deduktion einen kleinen, aber umso gravierenderen Fehler. Die körperliche Einschränkung, welche Voraussetzung für seine Aufnahme in die Gemeinschaft des heute besichtigten Slums schien, bestand nicht in einer Amputation des Armes, sondern des Geistes. Bei einem Unfall eine seiner Körperfunktionen zu verlieren hätte, ihn nicht sonderlich gestört und er war sich sicher mit den daraus resultierenden Anforderungen sehr schnell fertig zu werden und den neuen Zustand ohne Murren annehmen zu können. Aber eine geistige Invalidität war nichts, was einfach so passierte. Um den nötigen Zustand der Umnachtung zu erreichen war für Harry ein langer, steiniger Weg nötig. Obendrein war er nicht bereit diesen Weg zu gehen, schließlich war sein Verstand der einzige Punkt, der ihn noch von einer animalischen Existenz trennte. Doch auch diese Überlegung konnte seiner positiven Stimmung keinen Abbruch tun. Er sah zwar immer noch nicht das Ziel seiner Reise aus der Unterwelt, aber er hatte am heutigen Tag einen ersten Schritt getan und hatte das Gefühl, dass es ein Schritt in die richtige Richtung war. Da der Etappenplan der Tour noch nicht ausgearbeitet war und er weder Karte noch Kompass hatte, würde er viele Schritte in die falsche Richtung gehen und die daraus resultierenden Umwege würden seine Kräfte unter Umständen übermäßig strapazieren. Er wusste nichts über die Geländegegebenheit, die ihn erwartete, ob er lieber eine Badehose oder Klettergerät einstecken sollte, ob eine lange Durststrecke durch eine Wüste bevorstand und er sein Handgepäck mit Wasservorräten zu füllen hatte oder ob er auf einen Weg in das ewige Eis war und lieber Brennspiritus mitnehmen sollte. Dennoch war es wichtig diese Tour anzutreten. Gerade die Irrwege waren wichtig und die Leiden auf der Tour entscheidender als das eigentliche Ziel. Bei so einem langwierigen, komplizierten Projekt waren die Phasen der Reflexion über die erzielten Fortschritte und die gegangenen Einzeletappen essentiell, um den Gesamtzusammenhang zu erkennen und das Endziel nach und nach konkretisieren zu können.

Zehn

Die folgenden Wochen mäanderten sich im gleichen alltäglichen Trübsal ohne nennenswerte Ereignisse dahin. Nachdem Harry anfangs noch seine gesamte Konzentration darauf richten musste Ordnung in seinem Umfeld zu schaffen und seine Wohnung, sowie sein Auftreten wieder volksnäheren Formen anzugleichen, verloren diese Aktivitäten nach und nach ihre Dringlichkeit. Auch das größte Chaos lichtet sich bei ernst gemeinter Bemühung langsam aber stetig und nachdem der Müll entsorgt, die Lebensmittelvorräte aufgefrischt, der Boden gewienert und die Wände neu gestischen waren, hatte er wieder Zeit frei seine Bemühungen in eine neue Richtung zu lenken und das nächste Etappenziel in Angriff zu nehmen. Er nutzte seine neuen Freiräume, um sein altes Interesse an Politik wieder aufleben zu lassen. Er kaufte Tageszeitungen und verfolgte gespannt die Nachrichten im Radio. Nach anfänglichen Schwierigkeiten sich im aktuellen Weltgeschehen zurechtzufinden und die momentan handelnden Personen auf der großen Bühne der Politik richtig zuzuordnen, hatte er relativ schnell seine alte Sicherheit und sein vertrautes Interesse an den heiß diskutierten Fragen des Zeitgeschehens wieder gefunden. Zum wiederholten male legte er sich die Frage vor, was nur geschehen war, dass dieser Wissensdurst für einige dunkele Jahre ganz versumpft war. Er musste sich doch sehr über das pubertäre Gebaren wundern, welches er damit an den Tag gelegt hatte. Wieso hatte er nur als Erwachsener, der von sich meinte etwas im Kopf zu haben, was vielleicht nicht außergewöhnlich war, sich aber doch vom Durchschnitt abhob, gedacht mit einer unkonventionellen Lebensweise und einem provokanten Auftreten etwas bewegen und einen Missstand beheben zu können. Noch dazu gab es niemanden, den er mit diesem Auftritt hätte reizen können. Die Kontakte zu seiner Verwandtschaft beschränkten sich schon seit langem auf ein Mindestmaß und eine eigene Familie hatte er nie gehabt. Jetzt darüber nachdenkend erkannte er, dass es genau einen Menschen gab, den er mit seinem Verhalten hätte erreichen können. Doch diese Person erfuhr erst in demselben Moment von der Provokation. Allerdings bewirkte der sich über einen langen Zeitraum erstreckende Eklat im Moment der Erkenntnis genau die Reaktion, welche jede pubertäre Rebellion erreichen will. Harry begegnete seiner Selbst mit Sorge um seine Aussichten und begann die Notwendigkeit seiner Reflexion über die eigene Zukunft einzusehen. Er erkannte, in dem Benehmen der letzten Jahre, die Kampfansage an sein vorheriges Leben. Harry hoffte nun wach und gereift genug zu sein, um nicht nur die Probleme seines Vorlebens zu erkennen und sich gegen sie aufzulehnen, sondern eine Alternative artikulieren zu können. Jetzt schien er sogar schon so wach und energiegeladen zu sein, dass er den zweiten Schritt vor dem ersten gemacht hatte. Noch war er ja mit der Beurteilung seines Lebensweg nicht zu einem Ende gelangt. Die Erkenntnis war erst so weit gereift, dass etwas Gravierendes nicht mit rechten Dingen zugegangen war und den Absturz verursacht hatte. Nun wachte er am Fuß der von ihm auserkorenen Wand auf, betastete seinen Körper, konstatierte, dass der tiefe Sturz, wie durch ein Wunder, anscheinend keine ernsthaften Verletzungen und Brüche verursacht hatte und er noch einmal mit einigen Schürfwunden, Blessuren und einem gehörigen Schrecken davongekommen zu sein schien. Noch war sein Kopf vom Sturz zu benebelt, um klären zu können, an welcher Stelle seiner Kletterpartie er abgestürzt war und ob die Ursache in einem lockeren Griff oder einem rutschigen Tritt lag oder ob er sich eine, für seinen damaligen Trainingszustand, zu schwere Route ausgesucht hatte. Auch war noch völlig offen, ob er aufgeben oder sein Training wieder aufnehmen und seine Schicksalsroute noch mal in Angriff nehmen sollte. Das vorschnelle Aufgeben und die Aussage etwas nicht zu verstehen, zu wissen oder zu können, waren für Harry immer faule Ausflüchte gewesen. Dieser Wesenszug bewirkte das erste Mal, dass sein strebsamer Geist mit dem Gedanken spielte sein altes Leben einfach wieder aufzunehmen. Mit seinem neu geweckten Verlangen nach Teilnahme am Zeitgeschehen hatte er das Training unbewusst bereits wieder aufgenommen und das kraxeln im Klettergarten der Politik bereitete ihm, trotz des Traumas, immer noch große Freude. Natürlich erkannte er auch jetzt wieder, dass Interesse allein nicht reicht, um etwas zu ändern und dem Sein einen Sinn zu verleihen. Die Beschäftigung mit Politik, Kultur und gesellschaftlich relevanten Themen war allein bestenfalls abendfüllend und dennoch bot sie dem Geist einige Beschäftigung und war allemal lohnender, als das stumpfe dahinvegetieren in seiner Höhle des Desinteresses. Doch zu leicht durfte er es sich auch nicht machen. Einfach das Klettern wieder als zentralen Punkt seines Lebens aufzunehmen, wäre eine vorschnelle Entscheidung gewesen. Fatalistisch anzunehmen, dass an seinem Absturz schlichtweg ein Missgeschick oder Zufall ursächlich gewesen war, hätte bedeutet nichts aus seinen Fehlern gelernt und die gemachten Erfahrungen nicht richtig verarbeitet zu haben. In seinem Kopf schwirrte ein ganzer Bienenschwarm dieser und ähnlicher Gedanken und Harry schaffte es einfach nicht ein System in diesem Gewimmel zu finden. Aber er war mittlerweile erfahren genug und nicht mehr so stark von seiner jugendlichen Ruhelosigkeit und Ungeduld geprägt, um zu wissen, dass die Zeit und das konzentrierte Studium dieser scheinbaren Unordnung ihm schon die Muster und Bedeutung des Bienentanzes offenbaren würden.

In den folgenden Tagen kraxelte er nach Arbeitsschluss weiter ein wenig in den Nachrichtenbergen, achtete darauf, dass er die alltäglichen, selbstverständlich scheinenden, Besorgungen und den Haushalt nicht erneut aus den Augen verlor und begann sein Augenmerk wieder verstärkt der Kultur zuzuwenden. Aus alten Umzugskartons holte er betagte Bücher und Jazzplatten und verlor sich neuerdings in ihren Genuss. Da er wusste, dass das zu einem so frühen Zeitpunkt unfruchtbar sein würde, war er bestrebt seinen Gedanken keinen Augenblick zum schwirren zu geben. Noch war er nicht erholt genug, um den nächsten Schritt zu gehen und Karl von Frischs Leistung zu reproduzieren. Er hatte Angst, dass die Bienen sich auf ihn stürzen und ihn zerstechen würden, wenn er ihnen zu prompt und unvorbereitet gegenübertrat. Und selbst wenn sie ihn nicht körperlich zerschinden würden, wäre ihr Gewusel nur bei hellwachem Verstand, in Kenntnis der Grundbegriffe der Verhaltensforschung, zu ertragen ohne dem Wahnsinn zu verfallen. Die größte Gefahr bestand für ihn darin, sich zu früh dem Gewimmel auszusetzen und, um sich aus dem wilden, unterschätzten Haufen wieder zu befreien, keinen anderen Ausweg zu wissen, als das Insektenspray, gefüllt mit der chemischen Keule Ethanol, auszupacken. Seine neu gewählten Lebensbedingungen waren der Regeneration seiner Kraft sehr dienlich und so fühlte er schon nach einigen weiteren Tagen wieder genügend Energie, um sich ans Werk zu machen. Er begann seine ethologischen Forschungen, indem er das Verhalten des untersuchten Schwarmes aus der sicheren Distanz durch ein Fernglas beobachtete. Als dieses optische Instrument, welches seinen Blick auf die Welt erweiterte und ihm gleichsam eine neue Perspektive erlaubte, kam ihm Ottilias Tagebuch sehr gelegen. Noch immer wusste er nicht recht, wie dieses Instrument, mit welchem er seine Forschungen betrieb, genau funktionierte und im Detail aufgebaut war. So war das nun mal in der arbeitsteiligen Gesellschaft. Die Einen bauen ein Instrument ohne zu wissen, wer es für welche Zwecke nutzen wird und Andere nutzen die Technik wie selbstverständlich, ohne etwas über ihre Funktionsweise zu wissen oder sie gar im Notfall reparieren zu können. Nur über diese Spezialisierung konnte die Menschheit so viel Wissen anhäufen. Und doch stichelte es Harrys Perfektionismus und Selbstanspruch, wenn er etwas, was er unbedingt für sein Leben benötigte, nicht selber reparieren oder um eine Funktion erweitern konnte. Wie oft hatte er schon im Taxi gesessen und war schier darüber verzweifelt nicht zu wissen, was unter der Motorhaube vor sich ging. In seinen idealistischen Jahren hätte er sich zweifellos darüber belesen oder hätte gar ein Praktikum in einer Werkstatt angetreten, aber in der dunklen Zeit, in welcher er mit dieser Frage konfrontiert war, hatte es diesen Ausweg nicht gegeben. Anstelle der aktiven Bildung als Ausweg aus der unangenehmen Unwissenheit, hatte es da nur Verzagtheit, Passivität und Resignation gegeben. Und nun war er an einem anderen Punkt seiner Existenz angekommen, an welchem er es wieder mit einem Instrumentarium zu tun hatte, dessen Funktionsweise er nicht ansatzweise verstand. Er hatte eine dunkle Ahnung davon, dass die Wichtigkeit von Ottilias Buch darin begründet lag, dass es das Denken, die Erkenntnis und die Aktivität wieder in sein Leben gebracht hatte. Aber warum dieses Fanal so hell leuchtete, dass es sogar bis in seine Höhle drang war doch sehr mysteriös. Mit Sicherheit war das Buch auch nicht alleiniger Impulsgeber der Wandlung, aber zweifelsohne war es der entscheidende Stein des Anstoßes gewesen. Jetzt saß er da und war bereit alles zu unternehmen, um sein Werkzeug zu verstehen, aber dieses mal gab es kein Lehrbuch und keine Anleitung, in welcher die Funktionsweise erklärt war, und auch eine Koryphäe auf dem Gebiet: „Die Bedeutung Ottilias Tagebuch für Harry Koenigs Leben“ zu finden war wohl ausgeschlossen. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig als Pionierarbeit zu leisten, sein Instrumentarium Stück für Stück auseinander zu nehmen und über die Einzelteile auf die Funktionsweise des Ganzen zu schließen. Da er sich nicht sicher war, ob er in der Lage sein würde das einmal auseinander genommene Werk wieder korrekt zusammenzubauen, und die Funktionalität des Apparates schlichtweg zu wichtig für seine Forschungen war, beschränkte er sich fürs erste auf die stupide Anwendung. Er öffnete den nächsten Eintrag, führte das Instrument vor Augen und begann die Bewegungen der Apis mellifera zu verfolgen.

Elf

„Jetzt ist es soweit. Ein weiterer Lebensabschnitt ist unspektakulär ausgeklungen und nun harre ich der Dinge, die die Zukunft für mich bereithält. Wie erwartet war ich die Jahrgangsbeste und habe einen glänzenden Abi- Schnitt hingelegt. Alle haben sie gefeiert und ich frage mich, was eigentlich. Am letzten Schultag bin ich auf so viele besoffene Menschen getroffen, wie noch nie in meinem Leben. Meine Mitschüler haben sich rotzfrech zu den verschiedensten Lehrern zum Kaffee eingeladen und auf dem Abiball war die Stimmung dann so richtig zum überkochen. Nicht das ich traurig wäre, dass die Schulzeit nun vorbei ist. Es gibt sicher nichts, was mir fehlen wird. Der Stoff hat mir nicht wirkliche geistige Anregung bieten können und meine Mitschüler werde ich auch nicht vermissen. Da gibt es noch ein oder zwei, die man in den ersten Jahren zum Geburtstag anrufen wird, aber nach und nach wird sich auch das verleben. Und bei Licht betrachtet ist es ja auch kein großer Verlust. Was ist das für eine Beziehung, in der man nur zum Geburtstag voneinander hört. Von menschlichem Interesse zeugt das nun wirklich nicht. Trotz des fehlenden Abschiedsschmerzes weiß ich einfach nicht was Großartiges passiert sein soll, dass eine solche Feierstimmung rechtfertigen würde. Das ich Abitur gemacht habe und es gut bestanden habe ist viel zu selbstverständlich, als das ich einen Grund hätte zu feiern. Letztendlich blicke ich also weder mit einem lachenden, noch mit einem weinenden Auge zurück auf meine nun abgeschlossene Schulzeit, sondern mit einem aufgeräumtem, staubtrockenem Gesicht.

Und was hält die Zukunft nun für mich bereit. Ein Studium, was mir hoffentlich endlich die geistigen Impulse gibt, die ich brauche. Ein Campus- Milieu, in welchem wahrscheinlich weniger Oberflächliche, Stumpfsinnige herumlaufen, als in meinem jetzigen Umfeld, sodass ich endlich die Chance habe jemanden zu treffen, mit dem ich mich wirklich verstehe. Ich habe mich nun endgültig für ein Jura- Studium entschieden.

……….“

An dieser Stelle brach Harry das Studium des Eintrages ab. Da war wieder die Masche, bei welcher ihm das letzte Mal der rote Faden von der Nadel gerutscht war. Diese einmal wieder gefunden konnte er sein Gedankengewebe erneut zur Hand nehmen und es weiter in Form bringen.

Er war im Laufe seines Entscheidungsprozeßes zu dem Schluss gekommen, dass er das wild in ihm brennende Feuer nutzen und es, Prometheus gleich, für den Fortschritt der menschlichen Gesellschaft einsetzen wollte. Er bewarb sich bei verschiedenen Fakultäten und nahm schließlich sein Studium der Politikwissenschaften auf. Voller Elan und Gestaltungswillen hatte er sich in den neuen Lebensabschnitt gestürzt, um sich relativ abrupt in der Realität wieder zu finden. Er hatte keine Schwierigkeiten gehabt die Anforderungen in Lehrgebieten wie „Politisches System“, „vergleichende Politikwissenschaften“, „politische Theorie“ und „Internationale Beziehungen“ zu erfüllen. Sowohl sein seit langer Zeit vorhandenes Interesse an diesen Fragen, wie auch seine gute Auffassungsgabe bewirkten, dass er alle Scheine mit glänzenden Leistungen absolvierte. Und dennoch war das Studium bei weitem nicht das, was er sich davon erhofft hatte. Die moderne Politologie verstand sich selber als eine rein deskriptive Wissenschaft, in der es keinen Platz für Visionen, Utopien und neue Lebensmodelle gab. Auch von seinen Kommilitonen erhielt er nicht die erhofften Impulse für einen neuen Ansatz im gesellschaftlichen Zusammenleben. Die schöne Zeit, in der Studenten noch soziale Probleme thematisieren wollten und von dem Bestreben, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, geleitet waren, war vorbei. In ihrer Karrierefixiertheit waren die meisten seiner Mitstudenten absolut zufrieden mit der Aussicht, sich in einer zu minimierenden Studienzeit zu Generalisten ausbilden zu lassen, ein Verständnis für die Interaktion der Akteure, wie Gewerkschaften, Verbände, Medien, Parteien und Unternehmen, im staatlichen System zu entwickeln und den Prozess zu begreifen, durch welchen sich Entscheidungsprozeße vollzogen und Machtverhältnisse konstituierten. Und diese so gegossenen, auf den Mikrometer präzise gefeilten Zahnräder passten sich anschließend nahtlos in die hoch diffizile Maschinerie des aktuellen Systems ein, drehten sich dort ein paar Jahre in Organisationen und Verwaltungen, und wurden nach Verschleiß durch neue Bauteile ersetzt. Fairerweise musste er zugeben, dass seine Kommilitonen in den meisten Fällen ziemlich genau wussten, auf was sie sich da eingelassen hatten. Sie waren nicht so blauäugig wie er an ihr Studium herangegangen, sondern hatten sich vorher genau darüber informiert und erwarteten von ihrer Fakultät und den dort ihrem Lehrauftrag nachgehenden Feinwerktechnikern keine normative Prägung, sondern genau den Schliff und die Ausrichtung, die nötig war, um das nächste Ersatzteil im Weltmotor darstellen zu könne. Die Verwissenschaftlichung und Ernüchterung des Studiums war zum Glück noch nicht vollständig abgelaufen. Noch gab es Lehrgebiete wie „Politische Philosophie“ und „Politische Ideengeschichte“, in denen die normativen Fragen im Mittelpunkt standen und in denen ein junger Mensch seine Energie und seinen Idealismus noch nutzen konnte, um in langen, nächtlichen Jamsessions an der Mechanik des Gerätes zu schrauben, stets von dem Willen beseelt ein neues Bauteil zu finden und eine Verbesserung der Leistung oder Stabilität des Motors zu erreichen. Der Wunsch, ein neues Bauteil zu sein, zu einer Verbesserung der Funktionalität beizutragen und nicht nur ein Ersatzteil darzustellen, wuchs sich in diesem Stadium seines Lebens geradezu zu einer Obsession aus. Mit zunehmender Reife und dem Wissen um die Alternativen hatte er erkannt, dass die Gesetzmäßigkeiten der Physik vorschrieben, dass ein Antrieb im Prinzip so aufgebaut sein musste, wie er zur Zeit aufgebaut war, um zu funktionieren. Und dennoch war der Antrieb noch lange nicht perfekt. Der Wirkungsgrad konnte optimiert, die Leistung erhöht, die Laufzeit maximiert, die Intervalle zwischen den Wartungen verlängert und der Verbrauch minimiert werden. Er fand in dem sterilen Umfeld, das ihm die Fakultät bot, aber einfach nicht das passende Werkzeug, um eine entscheidende Inspiration für eine Neuerung zu haben. Es fehlten der Benzingeruch, die ölverschmierten Blaumänner und die fluchenden, kettenrauchenden, biertrinkenden Mechaniker. Stattdessen traf er nur auf leblose Ingenieure, welche durch makellos weiß getünchte Räume schwebten, auf Reißbrettern Explosionszeichnungen der Maschinerie studierten und mit ausgeklügelten Computerprogrammen Details von den Verbrennungsvorgängen in den Zylindern des Motors simulierten.

Resignierend beschloss er, die Gegebenheiten erst einmal hinzunehmen, die Grundlagen zu lernen und sich die Veränderungen und den Willen zur Neugestaltung für später zu bewahren. Er schloss sein Studium mit einem sehr guten Diplom ab und alle Türen standen dem, mittlerweile nicht mehr ganz jungem, Mann offen. Da stand er nun auf einem langen Korridor und rechts und links gingen Türen ab, in welche er herein spähte ohne etwas zu sehen, was ihn einlud näher zu treten. Die akademische Laufbahn schien ihm nicht passend für sein Bestreben, da er nicht gewillt war sich damit zu begnügen, die Welt zu erklären und zu beschreiben. Er suchte einen Weg in die Köpfe der Menschen einzudringen, sie auf Probleme aufmerksam zu machen und ihnen somit das Nachdenken über einen Ausweg aufzuzwingen. Viele seiner Kommilitonen träumten davon in den Medienbereich zu gehen und in diesem Bereich konnte man die Menschen wahrscheinlich wirklich erreichen und etwas in ihrem Denken verändern, aber er wusste, dass er keine mitreißenden Texte schreiben konnte, die die Herrschaften an den Zeitungskiosken zu Lustkäufen animieren würden und für ein Auftritt vor der Kamera fehlte ihm schlichtweg das Charisma. Obendrein litten die Massenmedien an der allzu gegenwärtigen Oberflächlichkeit der Problemthematisierung. Er schritt den Korridor Tür für Tür ab, verweilte vor einigen Einblicken länger, um schließlich doch seinen Marsch wieder aufzunehmen. Nachdem er eine Ewigkeit so gegangen war und schon den Anfang der Zimmerflucht nicht mehr erkennen konnte, sah er die Notwendigkeit ein sich so langsam für einen Raum zu entscheiden. Die gewählte Unterkunft musste ja nicht auf Dauer bezogen werden, aber seine Wanderung auf diesem Flur hatte schon so lange gedauert, dass es langsam an der Zeit war sich ein Zimmer für die Nacht zu nehmen. Nach Regeneration seiner Leistungsfähigkeit konnte er ja anschließend den Marsch, auf der Suche nach einer heimisch anmutenden Stube, vorsetzen. Am Ende seiner Kräfte, bezog er sein Quartier im Gesundheitsministerium und stellte zufrieden fest, dass sich diese Absteige näher betrachtet gar nicht so schlecht ausnahm, wie er noch aus der Ferne geglaubt hatte.

Zwölf

Wie viele Praktikanten hatte auch Harry bei seinem Berufsstart anfänglich mit vielen Problemen zu kämpfen. Seine vermeintliche Abhängigkeit von dieser Anstellung wurde von den Deltas der Hackordnung hemmungslos ausgenutzt, um sich selber auf Kosten des neuen Omega zu profilieren. Sie waren verpflichtet die einfachen Tools, die zur Ausführung ihres Tuns notwendig waren, an die Neulinge weiterzugeben und maßen ihnen zur Selbstbestätigung einen viel höheren Stellenwert bei, als sie eigentlich hatten. Die Eingesessenen versuchten, durch Überbetonung des Anspruches und Sticheleien gegen die zwangsläufige Unbeholfenheit des Debütanten, ihre Stellung zu wahren und dem Aufstrebenden jeden Raum zur Entfaltung zu nehmen. Doch das arrogante Greenhorn erkannte sehr wohl die Einfachheit ihrer Arbeitsfelder und amüsierte sich im Stillen über die angebliche Wichtigkeit der Details des Kleingeistigen. Da er diese äffischen Atavismen, welche bei einem Großteil der verunsicherten Bürgergesellschaft immer wieder durchbrachen, zur Genüge kannte, störte er sich nicht weiter daran. Ohne Murren ließ er sich zeigen wie man ein Telefon bedient, einen Gesetzestext mit wichtiger Miene zu lesen hatte und einen Bleistift anspitzt. Er kochte Kaffee, bereitete die belegten Brötchen für das Frühstück vor und ließ am Fotokopierer ganze Wälder, voller Bäumen mit weißen, Toner besprenkelten Blättern, entstehen. Nebenher verschaffte er sich, durch gute Leistungen und seinen Scharfsinn, die notwendige Aufmerksamkeit bei den Gammas und Betas der Hierarchie und schaffte es so seine Welpenphase schnell hinter sich zu bringen. Nach nur einem halben Jahr hatte er es geschafft eine Festanstellung zu bekommen und im Rudel akzeptiert zu werden. Aber nun sollte der Leidensweg erst richtig beginnen, da er erkennen musste, dass er nicht ansatzweise etwas bewegen konnte. Er war zu einer langen Wanderschaft bis an die Grenzen der bekannten Verstandeswelt ausgezogen und nun steckte er schon fünfzig Meter hinter der Haustür in einem Sumpf aus Manipulation, Lobbyismus, Rücksichtnahme und Beamtenmikado fest. Aber er war zäh, ausdauernd und hatte zuviel trainiert um akzeptieren zu können oder wollen, dass dieses Abenteuer schon zu Ende sein sollte. Er kämpfte sich Meter um Meter vorwärts, schaffte es einige Schlingpflanzen, welche sich um seine Beine gewunden hatten, wie alte Zöpfe zu rasieren und bewerkstelligte es dank seiner Aktivität wenigstens dem versinken im Morast zu entkommen. Aber nach einigen Jahren des Kampfes und Watens in diesem Moor der Gepflogenheit musste er erkennen, dass seine Kraft als Einzelmensch nicht ausreichte. Er war in der Lage kleine Fortschritte zu machen, aber die schier unendliche Ausdehnung des Sumpfes und die Gewöhnung seiner Mitreisenden an diese Umwelt war schier zum Haare raufen. Er konnte den Pfuhl partiell trocken legen und ihn so ein Stück weit gangbar machen, aber um das Moor in seiner gesamten Ausdehnung zu verlanden brauchte er Hilfe. Er unternahm einige Versuche, um die mit ihm im Schlick Gefangenen zu einem Ausbruch und einem Weiterkommen zu bewegen, aber die Versuche waren zum Scheitern verurteilt. Irrwische nahmen ihn an der Hand und führten ihn zu Wesen in Menschengestalt, welche die Worte und Energien aus ihm saugten ohne nur annährend den Willen zu zeigen, etwas zu unternehmen. Diese Zombies waren zu gewöhnt an das versumpfte Leben im Schlick, um sich eine andere Welt und ein Fortkommen aus dieser noch vorstellen zu können. Natürlich gab es bei seinem kraftzehrendem Schlammwaten auch lichte Momente, in denen er auf echte Menschen traf, die noch Visionen hatten und ihn, auf der Suche nach einem Weg durch die unwirtliche Gegend in freundlichere Distrikte, unterstützen wollten. Doch diese Leidgenossen steckten selber schon mindestens bis zur Hüfte im Schlamm fest und konnten ihm nur aufbauende Worte zukommen lassen, aber keine tatkräftige Hilfe. Um nicht ebenso in den Konventionen und Abhängigkeiten gefangen zu werden, blieb ihm schließlich keine andere Option mehr als der Rückzug. Beschämt und am Ende seiner Kräfte kroch er nach langem Mühsal an die Schwelle zurück, von der aus er vor einigen Jahren ausgezogen war. Die Zurückgebliebenen überschütteten den Heimkehrer mit Spot und Häme, welche er ertrug und ihnen auch noch innerlich zustimmte. Übermütig war er zu seinem großen Abenteuer ausgezogen, um eine neue Welt zu entdecken, und hatte die zurückbleibenden Dorfseelen allenfalls mit einem Gefühl des Mitleides bedacht. Und nun war er wieder da und konnte auf die Frage, was er denn erlebt hätte, nur antworten, dass er im gleich hinter der Gemeinde beginnenden Sumpf umhergeirrt war und einen Weg gesucht hatte. Er hatte seine besten Jahre und viel seiner ehedem vorhandenen Kraft an den Sumpf verschwendet ohne einen Gedanken an eine eigene Familie oder seine Integration in die Dorfgemeinschaft zu erübrigen und stand jetzt allein und ohne Rückhalt im sozialen Gefüge der Gemeinde.

Damit hatte er den Bruch in seinem Leben wohl endgültig erkannt. Es handelte sich nicht um ein abrupt eingetretenes Einzelereignis, sondern war vielmehr ein Erkenntnisprozess an dessen Ende das Bewusstsein stand die falschen Entscheidungen getroffen und die verkehrten Prioritäten gesetzt zu haben. Unzufriedenheit und eine elitäre Arroganz waren Schuld, dass er angestrebt hatte mehr zu erreichen, als seine Umwelt ihm vorgelebt hatte. Er wollte kein Insasse im Gefängnis der Alltagsverpflichtungen sein und träumte von einem besseren Leben in Freiheit, wagte den Ausbruch, erkannte auf der Flucht die Schattenseiten der Freiheit, wurde schließlich von den Häschern des zivilen Universums wieder eingefangen und saß nun als Aussätziger erneut im Karzer, diesmal in Isolationshaft. Aber so langsam erwirkte er ja durch seine gute Führung einen immer ausgedehnteren Freigang aus seiner Einzelzelle und erkannte, durch den Kontrast zum Vegetieren in Einsamkeit, Abgeschiedenheit und Dunkelheit, zum ersten Mal bewusst die Vorteile des Lebens im bürgerlichen Käfig. Die regelmäßige Teilnahme an der Mittagsspeisung, die Eingliederung seiner Arbeitskraft in Wäscherei und Gefängnisküche und die Teilnahme am Hofgang bewirkten, dass seine Mitgefangenen ihn nach und nach nicht mehr als verrückten Außenseiter betrachteten, sondern ihn akzeptierten und ihm das Gefühl gaben mit der Zeit vielleicht so etwas unerhörtes wie Freundschaften aufbauen zu können. Die Anpassung und die Vermeidung des kraftraubendem Autoritätsmessens mit den Wächtern des Althergebrachten erlaubten ihm so etwas wie Frieden zu empfinden. In der Tat waren die letzten Wochen, in denen er seinen Alltag durch solche Banalitäten, wie das pünktliche Aufstehen, die Pflege seiner Selbst, seiner Kleidung und seiner Wohnung, regelmäßige, als gesund definierte, Mahlzeiten und die Verfolgung der Nachrichten und aller Meldungen, die seine Mitbürger als diskussionswert betrachteten, gliederte, ziemlich gut verlaufen. Diese Feststellung bewog ihn dazu seine alten Einstellungen zu überholen. Es war ziemlich unwahrscheinlich, dass so viele Leute zu allen Zeiten sich irren konnten. Viel eher schien es möglich seine Lebensfreude aus den einfachen Dingen zu beziehen, die Arbeitswelt in ihrer ganzen Absurdität anzunehmen, seine Freizeit angenehm zu gestalten und die Gemeinschaft mit Freunden und Verwandten zu genießen. Er beschloss diesen Weg bis auf weiteres zu beschreiten.

Teil 3 – Welches sich als Irrlicht entlarvt

Dreizehn

Es war ein behaglicher, warmer Herbsttag und Harry König unternahm einen Sonntagsausflug zur Eckertalsperre. Er hatte sich vorgenommen, die nach diesem verregneten Sommer unerwartet eingetretenen schönen Tage des Altweibersommers zu nutzen, um einer seiner Leidenschaften zu frönen und einen langen Spaziergang zu unternehmen. Spazierengehen war eigentlich ein viel zu negativ besetztes Wort für solch ein besonderes Erlebnis. Fußlahme Senioren und individualverkehrgeschädigte Yuppies gingen spazieren, aber Harry war jemand der wanderte. Doch in diesem Fall, der Rundweg um die Talsperre war nur fünfzehn Kilometer lang, war Wanderung auch nicht der angebrachte Terminus. Aber wie man die Tätigkeit, welcher er nachging, auch immer benennen wollte, sie war vor allem eins: Befriedigend. Im durch eine sanfte Brise bewegten Wasser spiegelte sich der azurblaue Himmel und die Erhebungen des Harzes boten dem Auge des Betrachters am jenseitigen Ufer eine Abwechslung zur ebenen Oberfläche des Sees. Die Bäume warfen ihr gold, rotbraun gesprenkeltes Laub mit unhektischen Bewegungen ab und bedeckten den Weg mit einem weichen Untergrund, über welchen die Füße des Wanderers raschelnd dahinstapften. In diesem romantischem, fast schon klischeehaftem, Idyll fehlten nur noch die Hasen und Rehe, um das Bouquet des Erlebnisses vollmundig abzurunden. Doch Fauna schien an diesem Tag ebenso frei zu haben, wie der Ausflügler. Von Zeit zu Zeit gönnte er sich eine Pause, nahm das Fernglas aus seinem Rucksack und suchte das gegenüberliegende, ungestörte Ufer nach Zeichen der Anwesenheit einer tierischen Existenz ab. Er konnte verschiedene Vögel sehen und aufgrund ihres Gesanges auch identifizieren, Myriaden von Insekten schwirrten über dem See und einige Hechte und Barsche waren unter der Oberfläche des klaren Wassers zu sehen, aber von undomestizierten Säugetieren fand er an diesem Tag keine Spur. Natürlich begegneten ihm andere Ausflügler, welche gleich ihm die schönen Stunden für Erholung in der Natur genutzt hatten, und einige von ihnen hatten Hunde dabei. Diese Begegnungen weckten in ihm die altbekannte Sehnsucht, auch einen so treuen Gefährten zu haben. Er war schon immer ein ausgesprochener Hundemensch gewesen. Obwohl ihm das Denken in Schubladen, trotz der Allgegenwart des digitalen Zeitalters, sehr missfiel, fand er doch, dass man seine Mitbürger ohne stereotyp zu sein in Hunde- und Katzenmenschen einteilen konnte. Je nachdem, welchem Typ man angehörte, tendierte man ganz klar zu einem der beiden Haustiere und schloss das andere für sich vollkommen aus. Dieser Ausschluss war so vollkommen, dass Harry nicht verstand, was einen dazu bewegen konnte sich eine Katze zu kaufen. Ein Hund stand für Freiheit, Treue und körperliche Aktivität, demgegenüber war eine Katze in seinen Augen nur ein faules, unmotiviertes, egoistisches Wollknäuel, mit dem man nichts erleben konnte. Nicht umsonst war die Katze als Symbol des Satans bekannt und wurde wohl nur von Hexen und schwarzen Magiern als Haustier gehalten.

Als er seinen Rundweg fast beendet hatte kam ihm ein junger Labrador entgegen, der, mit der Sicherheit des animalischen Instinktes, Harrys Wesen sofort erkannte und um seine Beine zu scharwenzeln begann. Und der im ergrauen begriffene Mann entblödete sich tatsächlich nicht auf die Knie zu gehen, das Tier zu kraulen und mit ihm zu spielen. Er nahm einen am Wegrand liegenden Stock und animierte den Hund zum apportieren, was dieser anfangs nicht begriff nach einigem Zureden aber zumindest versuchte. Lachend näherte sich sein Herrchen und rief schon aus einiger Entfernung: „Sie können aber sehr gut mit Hunden umgehen. Ich habe ihn jetzt schon seit drei Monaten und habe bis jetzt erfolglos versucht ihn zu solchen Kunststücken zu bringen.“ - „Na ja. Bis jetzt hat er den Stock ja nur ins Maul genommen, bis er ihn zurückbringt muss man wohl noch einige Mühe aufwenden.“ – „Aber immerhin ein Anfang ist gemacht, das ist schon beeindruckend zu sehen. Haben sie Erfahrungen in der Erziehung von Hunden?“ – „Nein, leider nicht. Ich wollte schon immer einen Hund haben, aber bis jetzt hat es sich einfach nicht ergeben.“ – Mit einem Lächeln erwiderte das Herrchen: „ Was heißt denn bitte ‚Es hat sich nicht ergeben?’ Ein Hund fällt doch nicht einfach so vom Himmel. Wenn Sie einen wollen, müssen sie sich einen kaufen und fertig.“ – „Ja da haben Sie natürlich recht. Es ist eigentlich immer das gleiche. Wir beschweren uns, dass wir etwas nicht erreicht oder bekommen haben und geben einem abstrakten Schicksal die Schuld daran. Dabei sollten wir die Ursachen bei uns selber, in unserer Faulheit und der Unaufrichtigkeit des Wunsches suchen.“ Der erstaunte Gesichtsausdruck, den das Herrchen hierauf zeigte, gewahrte den Wanderer wohl ein Stück weit zu allgemein geantwortet zu haben. „Was ich eigentlich sagen wollte war, dass die Verantwortung für einen Hund doch einen immensen Zeitaufwand impliziert, ähem also mit sich bringt, und ich einem Hund aufgrund meiner Arbeit nicht die Aufmerksamkeit widmen kann, die er verdient. Außerdem wohne ich in einer Zweizimmerwohnung und kann dort keinen echten Hund halten, höchstens so eine Teppichhupe.“ – „Ja das verstehe ich gut, ich habe zum Glück ein Haus mit Garten und kann mir einen großen Hund halten. Mit diesen ganzen Zwergpekinesen, die getragen werden wollen und nicht einmal für einen ordentlichen Spaziergang taugen, könnte ich auch nichts anfangen.“ Die beiden ließen dem Kind im Manne noch eine Weile Freilauf und spielten mit dem Labrador, der auf den Namen Hugo getauft war, jedoch nicht auf ihn hörte. Nach zwanzig Minuten nahmen sie ihren Ausflug in entgegengesetzte Richtungen wieder auf. Der Wanderer komplettierte den Rundweg und nahm den Pfad durch die hügeligen Ausläufer des nördlichen Harzes nach Bad Harzburg. Hier angekommen stellte Harry nach einem Blick auf die Uhr fest, dass er noch eine gute dreiviertel Stunde Zeit hatte, bis sein Zug kommen würde. Er nutzte die verbleibenden, in spitzem Winkel die Haut wärmenden, Sonnenstrahlen und nahm an einem der unzähligen Tische in der Aussengastronomie eines italienischen Eiscafes in der Herzog- Willhelm- Straße, nahe dem Bahnhof, Platz. Da mehrere seiner Mitbürger die gleiche Sehnsucht verspürten, vor der schon an der Tür klopfenden Kalten Jahreszeit die Reserven ihres Wärmehaushaltes aufzutanken und ihren Calciol- Speicher für die Dunklen Monate zu rüsten, musste er eine Weile warten bis die junge Kellnerin an seinen Tisch trat. Er blinzelte gerade in den Himmel und interpretierte das Fantasiebild der Zirruswolken, welches eine kreative Hand für ihn auf die azurne Leinwand gepinselt hatte, als sie an seinen Tisch trat: „Was darf ich Ihnen bringen?“ - „Ich nehme erst einmal die Karte“ – Verwundert über so wenig praktischen Lebenssinn antwortete die Kellnerin – „Entschuldigung, das hier ist ein Cafe. Unsere Auswahl an Getränken und Süßspeisen finden sie auf den Karten auf ihrem Tisch. Eine extra Speisekarte haben wir nicht.“ In der Tat hatte Harry schon beim setzen bemerkt, dass auf dem Tisch zwei Aufsteller mit Getränke-, Eis- und Kuchenempfehlungen standen ohne daran zu denken, dass diese das komplette Angebot repräsentieren könnten. Er nahm die Getränkekarte zur Hand und überflog die angebotenen warmen Getränke:

Espresso 1,5 ¤

Cappuccino
Mit Sahne 2,5 ¤
Mit Milchschaum 2,0 ¤

Latte Macchiato 2,5 ¤
Mit Zimt-, Hasselnuss-, Karamell- oder Vanillearoma 3,0 ¤
Caffe Shakerato 2,5 ¤
Mit einem Schuss Grappa oder Zitrone 3,0 ¤

Café frappé 2,5 ¤

Wiener Melange 2,5 ¤

Durch, von den Nachbartischen ausgehende, zurückhaltende Gestik in spürbare Unruhe versetzt machte die Kellnerin Anstallten, ihm noch eine Bedenkzeit einzuräumen, doch da Harry einen Zug bekommen musste, war er zu Spontaneität verurteilt. „…Haben sie vielleicht auch einen normalen Kaffee?“ – „Also ein Kännchen Kaffee?“ – „Genau. Und dazu nehme ich noch ein Stück Kuchen. Haben sie da ein Tagesangebot …. oder, noch besser, ich verlasse mich auf die Wahl die Sie für mich treffen werden.“ – „Alles klar.“ Sie notierte die Bestellung und schwirrte unverzüglich zum nächsten Tisch, an welchem ein Familienoberhaupt die Rechnung begleichen wollte. Harry blieb allein im Dschungel der koffeinhaltigen Heißgetränke zurück und machte sich einen Spaß daraus, zu versuchen herauszufinden hinter welcher der vielzähligen Chiffren sich wohl das Kännchen Kaffee verbergen mochte. Nach zehn Minuten brachte Sie ihm den Kaffee und ein Stück gedeckten Apfelkuchen. Da die Zeit ihm mittlerweile doch noch knapp geworden war, zahlte er unmittelbar und konnte durch diesen Kniff ohne allzu große Hektik sein Mahl genießen.

Am Bahnhof musste er nicht mehr lange auf den Zug warten. Er bestieg das mittlere Abteil und suchte sich im halbgefüllten Wagen einen Platz. Er entschied sich für einen Stuhl an einer Vierergruppe von Sitzen mit Tischchen in der Mitte. Über die Motive dieser Wahl war sich auch Harry selber nicht ganz klar. Lag es an dem Tischchen oder an der attraktiven Mittdreißigerin, welche ihm gegenübersaß. Nachdem er auf die höffliche Nachfrage, ob der Platz noch frei war, einen positiven Bescheid erhalten hatte, stellte er den Rucksack auf den freien Platz neben sich und hängte seine Jacke auf. Die erste viertel Stunde der Heimfahrt begnügte er sich damit, aus dem Fernster zu schauen und die hügelige, seenreiche Landschaft des Harzes zu betrachten. Trotz der idyllischen Aussicht bot diese Beschäftigung seinem Geist jedoch auf Dauer nicht genug Beruhigung, und so griff er schließlich nach seinem Buch und begann zu lesen. Da er bemerkte, dass seine Gegenüber versuchte zu erfahren, für welche Lektüre ein alleinreisender Mann in den besten Jahren sich begeisterte, präsentierte er ihr lächelnd das Cover und bemerkte, erfreut über diesen mühelosen Einstieg in eine hoffentlich fruchtbare Konversation, lapidar: „ Och ich lese hier gerade nichts was eine Frau spannend finden dürfte. Es ist mehr so eine Art Einstieg in die Details der KFZ- Mechanik.“ – „ Ja, da haben Sie recht. Für so was Technisches kann ich mich in der Tat nicht begeistern….. Aber ich bin auch etwas verwundert warum sich jemand in ihrem Alter….ach entschuldigen Sie bitte. Manchmal plappere ich einfach darauf los ohne………“ – „ Nein das ist schon okay. …Es ist ja kein Geheimnis, dass ich nicht mehr der jüngste bin. Und ich bin auch weit davon entfernt mich dafür zu schämen oder mich deshalb zu grämen. Mit Alter habe ich schon immer mehr solche Dinge wie Abgeklärtheit, Weisheit, Sicherheit und ……. so weiter verbunden. … Also bitte, nur heraus damit. Warum sind Sie verwundert, dass Gammelfleisch wie ich so was liest?“ – „Also bitte, keine falsche Bescheidenheit. Sie sind zwar vielleicht ergraut, aber noch ziemlich weit davon entfernt Grünspan anzusetzen. Und nebenbei bemerkt, die allerjüngste bin ich ja auch nicht mehr. In unserer, vom Jugendwahn geprägten, Zeit gelte auch ich wahrscheinlich schon als alt. … Worauf ich eigentlich hinaus wollte ist, dass man solche Lektüre doch wohl nur in der Ausbildung liest und in der dürften sie doch wohl nicht mehr stecken.“ – „Also alt sind sie bestimmt noch nicht. Optisch machen sie noch ganz schön was her und ihre Lebenserfahrung macht sie doch viel interessanter, als irgend so ein junger Hüpfer es je sein könnte. Also ein Ausbildungsinhalt ist dieses Fachgebiet wirklich nicht…. Aber ich verstehe nicht so ganz warum man nur dann Wissensdurst zeigen sollte, wenn eine positive Sanktion, also in diesem Fall ein Job, als Belohnung winkt. Ist es denn so unvorstellbar, dass mich das Thema interessiert oder …“ – „ Nein, das ist natürlich nicht unvorstellbar. Viele Männer interessieren sich ja für Autos, aber diese Leidenschaft wird doch meist schon in jungen Jahren geweckt und das ein älterer Herr, entschuldigen Sie noch mal, sich für einen Einstieg in das Gebiet interessiert, finde ich doch sonderbar. Noch dazu fahren Sie ja gerade mit der Bahn, was sich irgendwie nicht mit einem Auto- Narr in Einklang bringen lässt.“ – „ Na gut, da haben Sie mich also erwischt… In der Tat bin ich kein großer Fan des Individualverkehrs, aber ich habe beruflich mit Autos zu tun, ich bin nämlich Taxifahrer müssen Sie wissen, und es wurmt mich einfach nichts über die Funktionsweise meines Arbeitsplatzes zu wissen. Um die Wahrheit zu sagen, trage ich in mir so einen Wissensdurst oder sagen wir … Perfektionismus, der mich antreibt die unmöglichsten Dinge wissen zu wollen. Ich gehe in ein Kaufhaus, kaufe ein T- Shirt und will wissen wie es hergestellt wird. Und damit meine ich das komplette Programm von der Schafzucht, über die Schur und die Spinnerei, bis zu den Kinderhänden, die es unter katastrophalen Bedingungen, zusammennähen müssen.“ – „Das ist interessant. So einen nutzlosen, Pardon, nutzlos scheinenden, Wissensdurst, wie Sie es glaube ich formuliert haben, trifft man in der Tat selten…. Aber sind Sie erst seit kurzem Taxifahrer oder wie kommt es, dass sie sich erst so spät für das nahe liegendste zu interessieren begonnen haben.“ Ohne den Gefäßen seines Gesichtes die physiologisch zu erwartende Relaxation zu gestatten, belog Harry seine Zugbekanntschaft: „Ja es ist so…. ich habe immer so uneigennützig Wissen akkumuliert, dass ich nicht dazu gekommen bin etwas Anständiges zu lernen. Oder besser gesagt, ich habe nicht den Grund eingesehen, mein Wissen prüfen zu lassen und das zu erlernen was andere mir vorschreiben… Und, um mich über Wasser zu halten, habe ich nun, nach vielen anderen, eben diesen Job annehmen müssen.... Aber das klingt alles wieder viel zu negativ. Der dauernde Jobwechsel hat mir eine Vielzahl Einblicke in die verschiedensten Bereiche unserer Gesellschaft gegeben und man glaubt gar nicht, welche Erfahrungen und Erkenntnisse man noch aus der stupide scheinendsten Beschäftigung ziehen kann, wenn man ein bisschen Interesse zeigt.“ – „ Aha… Das klingt interessant… Geben Sie mir doch mal ein Beispiel, was Sie als Taxifahrer lernen können, außer den technischen Fertigkeiten einen PKW reparieren zu können natürlich.“ – „ Nun da sind zum einen die Fahrgäste. Wenn man sich auf Sie und ihre Geschichte einlässt, kann man viel über soziale Mechanismen und Psychologie erfahren… Sicher nicht aus rein wissenschaftlicher Sicht, aber doch, wenn Sie so wollen, in der freien Wildbahn und durch das Studium am Objekt…. Und dann können da noch allgemeine Betrachtungen über die Bedeutung der Mobilität in unserer modernen Gesellschaft angestoßen werden. …. Ich meine das ganze Konzept des Individualverkehrs aus dem die vorherigen und auch, in begrenztem Maße, die aktuellen Generationen ihre Bestätigung und ihre Statusbefriedigung gezogen haben…. Schon allein wegen dem zur Neige gehenden Treibstoff ist dieses Konzept zum scheitern verurteilt und die Gesellschaft muss sich eine Alternative überlegen. Das bringt völlig neue Konzepte der Stadtplanung mit sich. Die Wege müssen kürzer werden und das Auto wird zwangsläufig aus dem Fokus rücken und dem Menschen seinen rechtmäßigen Platz, als Mittelpunkt der Straße, wieder freimachen… Sie müssen sich überlegen, dass der Mensch in den letzten Jahren durch diese Blechhaufen immer weiter an den Rand der Verkehrsadern unserer Städte gedrängt wurde und diesen Zustand als selbstverständlich akzeptiert hat. Wie oft haben sich meine Mitbürger aufgeregt, wenn es irgendwo nicht mehr hieß ‚Freie Fahrt für freie Bürger’ und man eine verkehrsberuhigte Zone eingerichtet hat. Im Gegensatz dazu war es selbstverständlich, wenn irgendwo ein Park einer neuen Schnellstraße weichen musste...“ – „ Aber können Sie sich denn wirklich eine Welt ohne Autos vorstellen. Wäre das nicht ein Rückschritt ins Mittelalter.“ – „Aber warum denn. Natürlich muss diese Welt anders aussehen als die aktuelle. Wie schon gesagt: die Wege müssen kürzer und die Möglichkeiten des öffentlichen Personenverkehrs ausgebaut werden… Wir fahren ja auch gerade Bahn und fühlen uns ganz gut dabei… Und ganz ohne Autos wird es wohl nicht gehen. Lieferverkehr ist natürlich unumgänglich und wird wahrscheinlich im privaten Bereich noch an Bedeutung gewinnen, denn wie bekommt man seinen Wocheneinkauf ohne Auto nach hause? …. Und auch etwas wie Taxis wird es für besondere Anforderungen weiterhin geben… So gesehen bin ich vielleicht sogar die Avantgarde der neuen Zeit… Das klang jetzt aber ganz schön überheblich und ich habe es bis jetzt auch noch gar nicht von diesem Standpunkt betrachtet….“ – „ Okay, Okay. Ein Leben in einer Stadt ohne Auto kann ich mir auch vorstellen, sofern die Infrastruktur bestimmten Mindestanforderung genügt. Aber einen Ausweg für Fernreisen können Sie mir bestimmt nicht aufzeigen.“ – „Doch. Und die Antwort darauf ist noch viel einfacher, als die auf die Frage, wie der Nahverkehr aussehen könnte: Fernreisen sind schlichtweg überflüssig.“ – „ Jetzt wollen Sie mich aber veralbern.“ – „Nein keineswegs. Ich würde mich nie trauen eine so schöne Frau auf den Arm zu nehmen…. Aber mal im Ernst. Die ganze Sehnsucht nach anderen Ländern und das Fernweh ist etwas was ich nie verstanden habe… Wir haben ja alles was wir brauchen vor der Haustür und es ist doch ziemlich oberflächlich in die Ferne zu schweifen, solange wir nicht einmal annährend das erkundet haben, was uns unsere Heimat bieten kann. Zum greifen nah haben wir doch fantastische Kultur- und Naturlandschaften, in die wir eintauchen können. Der Genuss von Musik, Theater, meinetwegen auch Kino, architektonischen Meisterleistungen und so weiter ist nur einen Wimpernschlag entfernt und wir meinen um die halbe Welt fliegen zu müssen, um etwas von der Welt zu sehen. Wie viele waren schon auf allen fünf Kontinenten, haben überall ein paar oberflächliche Eindrücke mitgenommen, die sich auf einem zweidimensionalen Stück Papier oder, noch moderner, durch eine Folge Einsen und Nullen darstellen lassen, und haben doch eigentlich noch gar nichts gesehen. Diese Leute haben meist keine Ahnung von den Naturschauspielen um die Ecke und dabei gibt es dort doch soviel zu erleben und entdecken. Ich denke nicht, dass der menschliche Geist in der Lage ist die Gesamtheit der Fauna und Flora auch nur eines Habitates im Detail und in ihrer vollen Schönheit zu erfassen. Und falls es dann einem Genius doch mal möglich sein sollte, diese Aufgabe zu erfüllen, geben wir ihm noch die Mineralogie als Beschäftigungsfeld obendrein und er hat eine neue Spielwiese um etwas echtes, tiefgehendes zu erleben. Und das ganze wird noch besser, da sich im Wechsel der Jahreszeiten das Bild komplett wandelt und es nie langweilig wird…. Wenn ich jeden Tag einen Spaziergang durch das gleiche Stück Wald machen würde, ist das etwas, was belanglos und trist erscheint. Doch wenn ich diesen Spaziergang, oder besser diese Wanderung, mit offenen Augen unternehme, kann mir nicht langweilig werden. Im Gegenteil kann dann keine echte Erholung einsetzen, da die Wahrnehmung jedes Mal mit neuen Eindrücken geradezu überflutet wird…. Die Bäume wechseln mit den Jahreszeiten ihr Blattwerk. Knospend und blühend im Frühjahr, in voller grüner Pracht während des Sommers, das lebensspendende Chlorophyll wieder zurückgewinnend und das dadurch bunt getüpfelte Laub im Herbst abwerfend und schließlich kahl während der Wintermonate. Im Unterholz sind im Laufe der Jahreszeiten die verschiedensten Pflanzen zu studieren und in ihrem Werden und Vergehen zu besichtigen….. Doch jetzt mache ich schon den gleichen Fehler und denke in zu großen Kategorien. Haben sie schon mal beobachtet, wie unterschiedlich eine Landschaft in verschiedenen Witterungen wirken kann? Natürlich kann man solche Details nur dann beobachten, wenn man meint ein Stück Natur gut zu kennen und nicht wenn man das erste Mal zu Besuch ist. Mysteriös und unheimlich dringen Nebelschwaden aus dem dampfendem Untergrund, am nächsten Tag strahlt der selbe Platz im Sonnenschein heitere Freude aus und am übernächsten ruft ein Nieselregen eine melancholische Stimmung hervor. Je nach Lichteinfall kann die gleiche weiße Winterlandschaft entweder an frohe Rodelerlebnisse erinnern oder ein beklemmendes Gefühl der Einsamkeit und Abweisung hervorrufen. Und nicht nur die Witterung ist entscheidend, sondern auch die Tageszeit des Besuches. Nur in der Dämmerung des frühen Morgens oder Abends hat man die Chance die meisten Säugetiere, wie Rehe und Füchse, zu beobachten und ausschließlich Nachts kann man Fledermäuse und Wildkatzen in ihrem natürlichen Habitat erforschen……Falls diese Flut von Entdeckungen einer, durch schnelle Schnitte und actiongeladene Effekte, verkümmerten Fantasie nicht ausreichen sollte, gibt es ja noch ein paar andere Sinne, die bemüht werden können. Die Oberflächentextur einer Borke haptisch zu erfassen kann einem alleine schon sehr viel über die Baumart, sein Alter und seine Lebensgeschichte erzählen. Und jetzt befühlen Sie die selbe Rinde einmal trocken, nass oder mit einer dünnen Eisglasur überzogen…. Oh, und dann erst, jetzt hätte ich ihn fast selber vergessen, der Gehörsinn. Der Klangteppich, der sich dem Ohr in einer unberührten Natur entfaltet und sich wie eine beschützende, wärmende Kuscheldecke über das von der Alltagskakophonie gestresste Organ legt, ist eine wahre Symphonie der Freude. Und, ob man es glaubt oder nicht, die tagesaktuellen, atmosphärischen Bedingungen haben einen enormen Einfluss auf die Art und Weise, wie sich die Schalwellen ausbreiten und das Klangerlebnis an unsere Ohrmuschel dringt…. Das klang jetzt aber ganz schön technisch. Ich will mal versuchen das, was ich ausdrücken wollte, etwas blumiger und epischer zu umschreiben. ..
Ach du meine Güte, jetzt habe ich über die angeregte Diskussion fast meine Haltestelle übersehen.“ Der Zug war gerade in den Bahnhof eingefahren und Harry raffte eilig seine Sachen zusammen. „ Ich danke ihnen sehr für das angenehme Gespräch. Es war ziemlich interessant und ich hatte selten die Ehre, eine Zugreise so kurzweilig zu verbringen. Ich wünsche Ihnen noch eine gute Weiterreise und einen schönen Restsonntag.“ – „Danke. Es hat mich auch gefreut.“ Sie gaben sich zum Abschied die Hand und Harry eilte zum Ausgang.

Vierzehn

Durch ein selbstbewusst forderndes Klopfen wurde Harry unsanft aus seinen mittäglichen Träumen gerissen. Langsam hob er die Augenlieder und wurde jäh durch das Licht der im Zenit stehenden Sonne geblendet. Er war verwirrt und fand sich erst in der aktuellen Lage zurecht, als seine Pupillen sich auf die abrupt geänderten Lichtverhältnisse eingestellt hatten. Ein Opa hatte an die Scheibe der Beifahrertür geklopft und begehrte Zutritt zur Mobilität, die ihm sein Körper versagte. Widerwillig öffnete Harry ihm die Tür: „ Na junger Mann wo soll es denn hingehen?“ – „Ihre Ironie können Sie sich sparen. Ich muss in die Feldstraße.“ – „Na dann, immer herein mit Ihnen.“ – „Was sind Sie doch für ein Schnösel. Zuerst schlafen Sie während der Arbeitszeit und dann dieser flapsige Ton. Wollen Sie nicht wenigstens meine Tasche in den Kofferraum packen.“ – „Stets zu Diensten der Herr.“ antwortete Harry belustigt, stieg aus und verstaute das Handgepäck unnötigerweise im Kofferraum des Taxis. Anschließend ging er um den Wagen herum, öffnete die hintere Tür und machte einen einladenden Kratzfuß gegen den Senior. Dieser nahm die Einladung mangels Alternativen missmutig an und stieg in den Fond des Wagens. Harry setzte sich wieder hinters Steuer, startete den Wagen und blickte beim Losfahren in den Rückspiegel: „ Aber auch königliche Hoheit werden sich anschnallen müssen.“ Der Fahrgast zeigte eine Farbreaktion und Vitalität, die man dem gehobenen Alter nicht zugetraut hätte: „ Also es ist wirklich unglaublich, was man sich in Deutschland wieder bieten lassen muss. Ich habe mein Lebtag hart gearbeitet und meine Kunden immer höflich behandelt und dann muss ich mir an meinem wohl verdienten Lebensabend so etwas bieten lassen? Da erlebt man mal wieder die Servicewüste am eigenen Leibe. Ich werde mich über Sie beschweren. Ihren Namen und die Telefonnummer ihres Arbeitgebers bitte.“ – Er suchte offensichtlich nach etwas zum schreiben – „Na bitte, da haben Sie gleich noch was zum meckern: ‚ Dieser unflätige, bärtige Unhold hat mir mein Handgepäck entrissen und mir so die Möglichkeit genommen seine Daten zu notieren.’ Aber die Genugtuung will ich Ihnen nicht geben. Wir haben speziell für solche Fälle Visitenkarten bekommen.“ – Er kramte im Handschuhfach, fand schließlich den Stapel und gab eine handvoll Karten nach hinten- „ Da haben Sie gleich mehrere, falls sie mal eine verlegen sollten. Und den Rest können Sie in Verbindung mit einer eindringlichen Warnung auf dem Friedhof verteilen. …Noch eine Bemerkung zur Thematik Servicewüste. Mein Arbeitgeber hat nichts gegen ein Powernapping und es ist wissenschaftlich erwiesen, dass der Arbeitnehmer danach mit frischer Energie an seine Arbeit geht, effizienter ist und die Kunden viel erfolgreicher und zuvorkommender bedienen kann.“ – „ Na das schlägt ja wohl dem Fass den Boden aus. Als ob wenn Sie mich höflich behandeln würden. Und mit ihrem ganzen Denglisch können Sie mich auch nicht beeindrucken. Damit geben Sie nur ein weiteres Beispiel für die Verkümmerung unserer herrlichen Muttersprache ab. Wo soll das nur alles enden. Die Jugend von heute hat einfach keinen Anstand mehr und verblödet zusehends.“ – „ Wo soll die Intelligenz auch herkommen, wenn man sich den ganzen Tag mit Gewaltspielen, Drogen und barbarischer Musik um die Ohren schlägt.“ – „ Nicht zu vergessen: fehlenden Respekt vor dem Alter, wofür Sie ja wirklich ein Musterbeispiel sind.“ – „ Ach, jetzt hören Sie schon auf. Ich werde ja noch ganz rot. Ich kann mich nicht erinnern, wann man mir das letzte mal so ein Kompliment gemacht hat.“ – „Bitte?“ – „Als ‚Jugend’ hat man mich schon lange nicht mehr kategorisiert, aber wie sagt man doch so schön: ‚ Alles ist relativ’… Aber jetzt mal ganz ohne Sarkasmus: Das kann doch nicht ihr Ernst sein.
Wissen sie eigentlich, dass Archäologen schon Tonscheiben aus dem antiken Griechenland gefunden haben, auf denen man sich über die Verderbtheit der Jugend echauffiert hat. Jede Generation hat, mit ihren neuen Vorstellungen und Idealen, Ängste bei der vorhergehenden ausgelöst und dennoch ist in den meisten Fällen die Welt nicht untergegangen und etwas Positives hat sich entwickelt. Die Verklärung der Vergangenheit, also einer Zeit, zu der man noch Leben in den eigenen Knochen spürte, ist ein allzu menschlicher Mechanismus. Sehen Sie es mal von dem Standpunkt, dass das, was Sie als Werteverfall brandmarken, lediglich ein Wertewandel ist, der nicht zwangsläufig in der Katastrophe enden muss. Und was die Verwendung von Anglizismen angeht, kann ich mir vorstellen, dass das einfache Volk schon immer gegen die Latinisierung und Frankisierung der Sprache gewettert hat. Letztendlich ist die Vermischung der Sprachen doch nur ein Zeichen ihrer Weiterentwicklung….So, da sind wir in der Feldstraße. Wo müssen Sie denn genau hin?“ – „Nummer 53“. Harry fuhr im Schritttempo die Häuser ab, schließlich fanden sie die 53 und er parkte in zweiter Reihe. Er stieg aus, öffnete dem Großvater die Tür und reichte ihm sein Gepäck. „Etwas in mir weigert sich zwar, diese Fahrt zu bezahlen, aber ich möchte mich nicht auf ihre Stufe stellen. Wie viel bekommen Sie denn?“ Harry prüfte das Taxameter. „Das macht 12 Euro 30…. Ich meine natürlich 12 Mark und dreißig Pfennig.“ Der Rentner öffnete seine Börse, entnahm ihr einen 10 Euroschein und begann, sichtlich bemüht den passenden Betrag zu finden, im Kleingeldfach zu wühlen. „Falls Sie es nicht passend haben, macht das nichts. Sie können mir auch gerne ein Trinkgeld geben.“ – „Werden Sie nicht unverschämt. Sie können froh sein, dass ich gewillt bin Sie für diese Leistung überhaupt zu entlohnen.“ – „Was haben Sie nur. Ich finde ich habe mir ein Trinkgeld verdient. Nicht nur das ich Sie schnell und auf dem kürzesten Weg transportiert habe. Zusätzlich habe ich Ihnen die Augen über die ach so verdorbene Jugend geöffnet und Ihnen lebenswichtigen Gesprächsstoff geboten. Was würden Sie wohl ohne diese Fahrt beim nächsten Verwandtenbesuch zu berichten haben?“ Endlich hatten die altersbefleckten, faltigen und zittrigen Hände den Betrag passend abgezählt, übergaben das Geld an Harry und der Opa betrat ohne Verabschiedung das Haus.

Leicht beschämt steuerte Harry seinen Wagen aus der Seitenstraße zurück zum belebten Bahnhofsplatz, an welchem sich mehr Möglichkeiten boten neuen Fahrgästen seine Dienste angedeihen zu lassen. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass er heute noch eine gute Tat vollbringen musste, um die soeben zynisch erbrachte Dienstleistung zu sühnen. Zynismus war in der Tat die treibende Kraft in seiner Auseinandersetzung mit dem älteren Fahrgast gewesen. Solange er sich nur auf die Verwendung von Sarkasmen zur Entlarvung der, zugegebenermaßen eindimensionalen und arroganten, Ansichten des Opas beschränkt hätte, wäre seine gute Tat für den Tag schon vollbracht gewesen. Aber der seinen Charakter zunehmend deformierende Zynismus hatte sich in dieser Alltagsepisode in voller Pracht gezeigt und die durch ihn bewirkte Selbsterkenntnis war nur ein positives Abfallprodukt der zutiefst verderbten Reaktion, welches in Anbetracht des eigentlichen, ungeheuerlichen Prozesses als nebensächlich und irrelevant zu betrachten war. An diesem Tag bot sich ihm nicht mehr die pfadfindermäßig erforderliche Chance, einen Fahrgast zuvorkommend und höfflich zu befördern. Aufgrund der fehlenden Beschäftigung hatte er aber Zeit, über seine Einstellung zum Alter nachzudenken. Er war in einem Umfeld aufgewachsen, in welchem der Respekt vor dem Alter und andere, heute als konservativ verschriene, Werte hoch gehalten wurden. Und Harry hatte lange Zeit versucht diesem, nicht nur von der Familie, sondern auch von allen strahlenden Helden seiner Kinderfantasie vorgelebtem, Anspruch gerecht zu werden. Unter Umständen war es sein Fehler gewesen diesen Respekt in einer zu extremen und falsch verstandenen Form mit Leben zu füllen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er, sobald er einem durch das Alter gebrechlich wirkendem Menschen begegnete, mit Mitleid reagierte, anstelle die angebrachte Achtung vor dem Erreichten zu zeigen. Lange Jahre wollte er nicht wahrhaben, dass die Seneszenz und ihre finale Konsequenz, der Tod, ein integraler Bestandteil eines erfüllten Lebens waren. Die Verknüpfung des Glückes mit der ewigen Jugend musste zwangsläufig ins Unglück führen. Die Erklärung für dieses scheinbare Paradoxon lag nicht ausschließlich in der biologischen Unmöglichkeit die Jugend dauerhaft zu erhalten. Auch wenn die molekulare Medizin weitere Erfolge feierte und die Unsterblichkeit in naher oder ferner Zukunft greibar war, wenn es die Schönheitschirurgie eines hässlichen Tages erlauben sollte, den letzten Atem aus einer juvenilen Hülle zu hauchen, war die Chance auf ein glückliches Leben dadurch sicher nicht erhöht. Im Gegenteil, mit dem körperlichen Verfall war auch eine geistige und emotionale Entwicklung in gegenseitiger Richtung verknüpft, welche ihm notwendige, wenn auch nicht hinreichende, Bedingung für ein lebenswertes Leben schien. Der Wandel und die Notwendigkeit sich auf neue Situationen, Erfordernisse und Gebrechen einzustellen, waren essentielle Anstöße, um über die alten Lebensmuster und Verhaltensweisen zu reflektieren, neue Wege einzuschlagen und sich zu entwickeln. Und die Entwicklung, das Streben und Werden waren die Bedingungen des Menschseins. Über diese abstrakten Gedankengänge musste Harry an seine Großeltern denken. Bis in seine späte Jugend hatte er viel Zeit bei ihnen verbracht und sie hatten ihm vorgelebt, wie man sein Alter mit Anstand gestalten kann. Da seine Eltern beide berufstätig waren, hatte er viele Nachmittage bei ihnen verbracht. Seine Oma hatte gekocht und ihm eine gute Mahlzeit bereitet, wenn er aus der Schule kam. Stets waren sie besorgt, dass er seine Hausaufgaben gut erledigte, hatten ihn in seinen ersten Schuljahren tatkräftig dabei unterstützt, hatten aufgepasst, dass er ordentlich lernte und den Wunsch entwickelte etwas aus sich zu machen. Viele Ferien hatte er komplett bei ihnen verbracht. Sie hatten Ausflüge unternommen, zusammen gebadet, Plätzchen und Kuchen gebacken und wenn er morgens in der fremden Umgebung aufgewacht war kitzelte der Duft von frischen Bötchen sehr schnell die anfängliche Furcht und Orientierungslosigkeit aus seinem Bewusstsein und er konnte sich behaglich noch eine Weile in das dicke Daunenbett kuscheln. Das Zusammenleben mit dieser älteren Generation hatte ihm ein nie wieder erlebtes Gefühl der Wärme und Geborgenheit vermittelt. Harry beschloss ihnen einen Besuch abzustatten und über diese Erinnerungsarbeit eine weitere Entwicklung des vom Zynismus verdorbenen Charakters zu erzwingen. Doch die heile Welt seiner Kindheit und Jugend gab es in der gekannten und geliebten Form nicht mehr. Die lebenswichtige Entwicklung hatte auch vor seinen Großeltern nicht Halt gemacht. Opa war schon seit etwa zwei Jahrzehnten tot und von seiner Mutter wusste er, dass seine Oma seit einiger Zeit im Altersheim lebte. Für einen Besuch war es heute schon zu spät, aber er beschloss sich am kommenden Wochenende einen ganzen Nachmittag Zeit für sie zu nehmen.

Am Samstag begann er seine Reise in die Vergangenheit mit einem üppigen Fünfsternefrühstück. Er tafelte mit Kuchen, Brötchen, guter Butter, Aufschnitt, Käse, Marmelade, Honig, Kaffee und entblödete sich nicht extra für diesen Zweck frischen Orangensaft zu pressen. Um das Erlebnis perfekt zu machen, stellte er am Radio einen Oldiesender ein und ließ ihn während des ganzen Vormittages laufen. Kurzzeitig spielte er mit dem Gedanken nach dem Frühstück einfach aufzustehen, das Abräumen und Aufwaschen Anderen zu überlassen und sich ein Buch zu nehmen oder Modellflugzeuge zu basteln, entschied aber, dass dies eindeutig zu weit gehen würde und vermied die endgültige Flucht in infantile Verhaltensmuster. Stattdessen erledigte er die angefallenen häuslichen Verpflichtungen, zog sich ein sauberes Hemd an und verließ am frühen Nachmittag seine Wohnung. Er suchte einen Blumenladen um die Ecke auf und schaute sich unschlüssig zwischen den ausgestellten Sträußen, Stöckchen und Topfpflanzen um. Seine ursprüngliche Intention war es, nur schnell einen Strauß zu kaufen, um für den anstehenden Besuch einen unkomplizierten Einstieg zu haben, doch als er sich so zwischen dem farbenfrohem, atmendem Zierrat umsah, stellte er fest, dass auch seine Wohnung durch einige Grüntupfer, die der Hege und Aufmerksamkeit bedurften, aufgewertet werden würde. Nach längerem Hadern entschied er sich die Deckung des Eigenbedarfes auf einen späteren Zeitpunkt zu verlegen und sich nicht dem Impuls dieser Übersprungshandlung zu beugen. Er suchte einen gefällig aus Dahlien, Margeriten und Glockenblumen komponierten Strauß der mittleren Preisklasse aus, bezahlte und machte sich so ausstaffiert auf den Weg zu seiner Großmutter. Der Perpetua Seniorenstift lag abseits des Stadtzentrums im Grünen und so hatte er einen kleinen Fußweg zu bewältigen, der ihm half sich auf das Kommende einzustimmen. Um Viertel nach zwei kam er am Tor der großzügig umzäunten Jugendstilvilla an und fragte in der Pförtnerloge nach seiner Großmutter. Der Pförtner nannte ihm die Zimmernummer und beschrieb den Weg zu ihrem Appartement im ersten Stock. Er stieg die kiesige Auffahrt hinauf, trat in die Empfangshalle und nahm die breite Haupttreppe in den ersten Stock. Dort angekommen wandte er sich nach rechts, passierte eine verglaste Zwischentür und suchte auf dem dahinter liegendem, hellem Gang die Zimmertür mit der bezeichneten Nummer. Die eichenen Zimmereingänge befanden sich auf der rechten Seite des weiß getünchten, mit Bildern und Topfpflanzen geschmückten und mit roter Auslegeware ausstaffierten Ganges. Ihnen Gegenüber eröffneten Panoramafenster einen Ausblick auf einen weiträumigen Park, in welchem vereinzelt Sitzgruppen und Bänke aufgestellt waren. Verschiedene Heimbewohner, zum Teil unter sich, zum Teil mit Angehörigen die frische Luft genießend, spazierten über den Rasen, hatten sich auf die Bänke gesetzt oder saßen an den Tischen und spielten Karten, Schach oder Mühle. Vor der Eingangstür, auf welcher in Augenhöhe zentriert, groß und golden die Nummer 137 prangte, blieb er stehen, holte tief Luft, straffte seine Körperhaltung, hob den linken Arm mit dem Blumenstrauß auf Brusthöhe, streckte den rechten Arm vor und klopfte an. Angespanntes Warten. Nichts passierte. Nach einer Minute wiederholte er seinen Versuch Aufmerksamkeit zu wecken. Wieder nichts. Nachdem er ein drittes mal erfolglos geklopft hatte, schaute er sich unschlüssig auf dem Gang um. Wahrscheinlich nutzte Oma das gute Wetter und war im Garten. Sie hatte der Tätigkeit im Freien, sei es in Form des Spazierengehens, Gärtelns oder Sonnens, ja schon immer den Vorzug vor der Beschäftigung unter, durch Decken, beschränktem Horizont gegeben. Er rekapitulierte den eben beschrittenen Weg in reverser Richtung bis in die Eingangshalle. Dort lenkte er seine Schritte zum Hinterausgang und fand sich auf einer ebenerdigen Terrasse wieder, auf der eine Vielzahl von Sitzgruppen aufgestellt war, an welchen ein ganzes Rudel von Alten mit Kaffeetrinken beschäftigt war. Zwischen den Tischen wuselten Bedienungen in weißen Blusen, schwarzen Röcken und Servierschürzen und waren bemüht den finanzkräftigen Ruheständlern einen angenehmen Nachmittag zu bereiten. Beschämt stellte Harry fest, dass er wohl nicht in der Lage war seine Oma in dem ganzen grauen, faltigen Einerlei zu identifizieren. Er sprach ein Serviermädchen an und fragte Sie nach Gerda Koenig. Diese führte ihn an einen Tisch am linken Rand des gepflasterten Karrees, an welchem vier in Würde ergraute Damen ihren Kaffeeklatsch abhielten, und stellte ihm seine Oma vor: „Frau Koenig hier ist Besuch für Sie.“ Befriedigenderweise benötigte auch ihr zwei Generationen älterer Verstand einen Anschub, um den Prozess des Erkennens in Gang zu setzen. Zunächst betrachtete sie den jüngeren Mann verwundert und befremdet. Dieser war erfreut ob der sich daraus bietenden Möglichkeit die Initiative ergreifen zu können. „Hallo Oma, ich bin’s, Harry. Ich wollte dich mal besuchen und schauen was du so machst.“ Sichtlich gerührt erhob sie sich, nahm seinen Blumenstrauß entgegen und zwang ihm eine Umarmung auf. „Mensch mein Junge. Das du mich auch mal besuchen kommst… Darf ich dir meine Freundinnen vorstellen.“ Nachdem die Familienmitglieder sich kennen gelernt hatten, war es nun an Oma den Damen ihren Enkel bekannt zu machen. Anschließend verabschiedete sich von ihnen und zog sich mit ihm an einen freien Tisch in der Mitte der Terrasse zurück. Hier setzten sich und bestellten Kaffee und Erdbeertorte. „Du hast dir ja echt ein ganz tolles Plätzchen hier ausgesucht und du selber machst ja auch noch einen erstaunlich fitten Eindruck.“ – „ Ja ja, aber lass dich mal nicht durch die Äußerlichkeiten täuschen. Das Alter ist nicht spurlos an mir vorübergegangen und man hat schon so seine Zipperlein, aber das dürfte dich wohl kaum interessieren.“ – „Bitte, wie kommst du denn darauf.“ – „Na ja, all die Jahre hast du dich nicht um mich gekümmert und jetzt wenn es dem Ende zugeht und das Erbe in greifbare Nähe rückt, kommst du auf einmal an und heuchelst Interesse für mein Wohlergehen.“ – „Ach Oma, da hast du natürlich Recht. Aber die Ursache für die jahrelange Entfremdung solltest du auf keinen Fall bei dir suchen. Ich habe in den letzten Jahrzehnten tatsächlich eine Art Odyssee hinter mir, die es mir unmöglich gemacht hat dich zu besuchen, den Kontakt aufrecht zu halten oder auch nur an dich zu denken.“ – „Was soll das denn heißen? Du warst doch weder entführt noch auf einem anderen Planeten.“ – „Ja,… nein das sicher nicht.“ – „ Also sag doch nicht, dass du nicht konntest. Du wolltest einfach nichts mehr mit einer alten Frau, wie mir, zu tun haben und das kann ich sogar verstehen. Und jetzt siehst du auf einmal die Möglichkeit mit mir ein bisschen schnelles Geld zu verdienen und auf einmal bin ich wieder interessant.“ – „Ach Oma, ich dachte eigentlich, dass du mich so gut kennst, um zu wissen, dass Geld mir nie etwas bedeutet hat.“ – „Papperlapapp. Hast du das ganze Gesülze deiner linken Lebenslüge immer noch nicht aufgegeben. Ich dachte eigentlich, dass das nur eine normale Phase der Jugendzeit ist. Natürlich bedeutet Geld jedem Menschen etwas.“ – „Mir aber nicht, auch wenn das implizieren sollte, das ich kein normaler Mensch bin.“ – „Na gut ich will mich mal für einen Moment bereit erklären diesen Blödsinn zu glauben, aber dann erklär du mir bitte, was dich daran gehindert hat den Kontakt zu mir aufrecht zu halten oder wenigstens zu Opas Beerdigung zu kommen. Wir haben doch immer alles für dich getan und ich dachte eigentlich, dass du dich wohl bei uns gefühlt hast.“ – „Ja das ist etwas schwieriger zu erklären.“ – „Versuche es nur Junge. So ganz auf den Kopf gefallen, wie du immer denkst, bin ich schließlich auch nicht.“ – „Dass es schwer zu erklären ist, hat nicht unbedingt etwas mit der Komplexität zu tun, was aber sicher auch zum Teil der Fall ist. Das Hauptproblem ist, dass ich selber noch nicht genau weiß, was mit mir passiert ist und wie ich diesen Prozess in Worte fassen kann. Aber ich will es gerne versuchen und ich denke, dass mir das auch selber weiterhelfen wird. Also, …. als erstes möchte ich mal festhalten, dass du Recht hast. Ihr habt euch in der Tat immer aufopferungsvoll um mich gekümmert und mir alles gegeben was ein Kinderherz sich nur wünschen kann. Erst neulich habe ich wieder festgestellt, dass die Wärme und Geborgenheit, die ihr mir vermittelt habt, einzigartige Erlebnisse waren…. Aber irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem eine zu hohe Erwartungshaltung gegenüber mir selber und meiner Umwelt alles kaputt gemacht hat… Ich habe dann die zwangsläufig eingetretene Enttäuschung der Erwartungen auf alle etablierten Institutionen und Lebensmodelle generalisiert und das musste notwendigerweise in Desillusionierung, Resignation, Verzweiflung, ….Scheiße, Dreck, Eiter, Blut und Ekel führen…. Entschuldige bitte. Solche Ausdrücke sollte man vor einer Dame nicht gebrauchen.“ – „Nein mein Junge, die sollte man gar nicht verwenden… Ja, das habe ich schon immer zu Opa gesagt: ‚Der Junge hat zu hohe Ansprüche, so kann der nicht glücklich werden.“ – „Ja Mütter und Großmütter haben einfach immer Recht und wissen am allerbesten, was gut für die Kinder ist.“ Die Kellnerin brachte das Bestellte und beide Generationen waren froh über diesen unvermittelten Bruch des Dialoges. So bot sich die Möglichkeit eine Pause zu machen, tief durchzuatmen, die Gedanken zu ordnen und anschließend das Gespräch mit einer weniger beklemmenden, oberflächlicheren Thematik wieder aufzunehmen. Sie tranken den Kaffee, schauten ins Grüne und genossen die Erdbeertorte. „Mensch Junge, nimmst du denn gar keine Sahne auf deine Torte? Das schmeckt doch so trocken gar nicht.“ – „Wieso trocken? Das ist doch ein Obstkuchen und ich will die Fruchtigkeit nicht mit Rahmgeschmack überdecken.“ Platsch, klatschte eine mit zittrigen Händen der Sahneschüssel entnommene Schaufel weißen Wohlstandsbreis auf seine Torte. „ Du musst ordentlich essen. Du siehst wahnsinnig mager aus…. Du solltest froh sein, dass du in einer Zeit lebst in der dir die ganze Palette der Leibesgenüsse zur Verfügung steht. Als ich in deinem Alter war, wären wir froh gewesen, wenn Sahne so selbstverständlich gewesen wäre.“ – „Hast du schon mal daran gedacht, dass genau darin das Problem liegen könnte. Du hast viele schwere Zeiten der Entbehrung durchgemacht und kannst aus diesem Grund die Labsale wirklich genießen. Mir hat es, auch dank deines Bemühens, nie an etwas gefehlt, aber das hat mich daran gehindert das Erlebnis des Genusses zu erfahren. Eine mit Liebe bereitete Mahlzeit hat mir aufgrund ihrer Selbstverständlichkeit eigentlich nie etwas bedeutet.“ – „Soll das jetzt ein Vorwurf werden.“ – „Nein, eigentlich mehr eine Feststellung. Ich weiß ja, dass du es immer gut gemeint hast und nur wolltest das etwas anständiges aus mir wird.“ – „Apropos etwas anständiges aus dir werden. Was machst du eigentlich so.“ – „Ich bin zur Zeit Taxifahrer.“ – „Aha, Taxifahrer…. Wie kommt das. Du warst doch immer ein so intelligenter Junge. Warum hast du nichts aus dir gemacht, wir hatten so viele Hoffnungen in dich gesetzt?“ – „Findest du, dass ich mich nicht anständig entwickelt habe.“ – „Na ja …. schon… das heißt eigentlich weiß ich ja nichts über dich und dein Leben. Aber einen vernünftigen Beruf hätte ich dir schon zugetraut. Du hast doch dein Abitur nicht umsonst gemacht.“ – „Ist denn Taxifahrer kein sinnvoller Beruf?… Aber vielleicht sollten wir das lassen. Wollen wir einen Spaziergang machen?“ – „Das wäre schön, aber meine Beine wollen nicht mehr so wie ich.“ Sie beendeten ihre Mahlzeit und unterhielten sich noch eine halbe Stunde über das Wohlergehen der Verwandtschaft, von dem die Großmutter deutlich mehr zu berichten wusste als der Enkel. „Wir müssen die Blumen ins Wasser stellen. Bei der Gelegenheit kannst du mir ja dein Zimmer zeigen.“ Seine Großmutter hakte sich bei Harry unter und gemeinsam gingen sie in die Eingangshalle des Seniorenstiftes. Hier nahmen sie einen, versteckt in der linken Seite der 100 Jahre alten Bausubstanz integrierten, Aufzug und fuhren in den ersten Stock. Oma öffnete das Appartement 137 und bat Harry einzutreten. Die Wohnung bestand aus einem Bad, einem Schlafzimmer und einem Wohnbereich. Harry erkannte verschiedene Möbel, Bilder und Erinnerungsstücke aus dem alten Haus der Großeltern wieder und betrachtete diese, in Erinnerungen schwelgend, näher. Unterdessen hatte seine Großmutter den Blumenstrauß in einer Vase auf dem Tischchen drapiert. Eine Weile tauschten sie noch Floskeln über die Einrichtung der Wohnung, die Lebensqualität und den Tagesablauf im Stift aus und verabschiedeten sich schließlich voneinander. Beim Abschied versprach Harry, von nun an öfter zu kommen, was seine Großmutter mit, aus Angst vor Enttäuschung, zurückhaltender Freude begrüßte.

Fünfzehn

Es war Freitag und Harry war, wie an jedem Freitag, zur Nachtschicht eingeteilt. Dieser Tag war der einzige in der ewig andauernden Reprise des Wochenrhythmus, an welchem die Nachfrage nach individualisierten Mobilitätsdienstleistungen in der Unbefangenheit der Dunkelheit größer war, als in der Klarheit des Tages. Die mit dem Sinken der Sonne von ihren Alltagsverpflichtungen entbundene Menschheit feierte das beginnende Wochenende und benötigte hierzu oftmals ein Taxi. Insbesondere Jugendliche wollten zu Diskotheken, Clubs und Bars gefahren und wieder abgeholt werden. Aus den Kneipen der Stadt galt es viele Männer seines Alters abzuholen, die das Leistungsvermögen ihrer Leber überschätzt hatten. Die einsichtigen, unverbesserlichen Trinker unter ihnen ließen das eigene Auto freiwillig stehen und bestellten sich ein Taxi, Uneinsichtige wurden oftmals von verantwortungsvollen Hausmeistermentalitäten genötigt nicht mehr selber zu fahren. Obwohl er an diesem Tag immer sehr viele Fahrten hatte und der Umgang mit Besoffenen anstrengend war, solange man selber zuviel Wasser im Blut hatte, freute er sich meistens auf den Freitag. Er konnte das Tageslicht in Freiheit genießen und nutzte die hellen Stunden, um Besorgungen zu erledigen und Ausstellungen und Museen zu besuchen. Am Nachmittag dieses Freitages ging er vier Stunden vor Schichtbeginn in den Waschsalon, um seine Kleidung vom Schmutz des Alltäglichen zu befreien. Schon beim Eintreten bemerkte er das junge Mädchen, welches ihn in die Geheimnisse des Wäschewaschens eingeführt hatte. Sie mochte etwa 25 Jahre zählen, war blond, sportlich gebaut und extrem attraktiv. Um ihr zu imponieren und seine Entwicklungsfähigkeit zu demonstrieren, versuchte er alles so zu machen wie sie es ihm gezeigt hatte. Da er seit dem ehedem abgehaltenen Schnellkurs wieder ausschließlich seine alte, aus seiner Sicht erfolgreiche, Waschtechnik verwendet hatte, war er nicht mehr in der Lage alle Details des Kunsthandwerkes zu Memorisieren. Er wusste noch, dass man die Wäsche nach Farbe und Waschtemperatur trennen musste, aber welches Waschmittel für welchen der Haufen verwendet werden musste war ihm entfallen und eigentlich auch egal. Die Trennung nach Farben bereitete ihm keine Probleme. Bei der Trennung nach Schon- und Kochwäsche hatte er jedoch das Prinzip nie verstanden und verließ sich ganz auf sein Bauchgefühl. Nachdem er so die Haufen präpariert hatte nahm er vier Maschinen in Beschlag, ärgerte sich für einen Augenblick über die unnütze Ressourcenverschwendung, kaufte an der Theke dennoch Chips für drei Maschinen nach und startete die Dreckentfernungskampagne zu der er eingezogen war. Er nahm das ‚Lexikon der Gothic- Subkultur’ zur Hand und begann die Dauer der Vorwäsche-, Hauptwäsche- und Schleuderoperation lesend zu überwachen. Es fiel ihm schwer sich auf den Inhalt des Buches zu konzentrieren. Die Buchstaben veitstanzten vor seinen Augen, die Wörter schlugen Saltos, veränderten dabei ihre Positionen innerhalb eines Satzes und am Ende einer Seite wusste er nicht mehr zu sagen, was er eben eigentlich gelesen hatte. Der Grund dieser Abschweifung war ganz klar seine Waschmeisterin, zu welcher er immer wieder über den Buchrand hinweg lunzte und gleichsam aus der Düsternis des Weltschmerzes ins Licht der Freude blickte. Die schnellen Hell- Dunkel- Wechsel waren zu viel für seine Augen und er musste die Lektüre zur Seite legen. Der Lehrling stand auf, näherte sich seiner Meisterin und sprach sie demütig an: „Hallo. Ich weiß nicht, ob du dich an mich erinnern kannst. Vor etwa einem halben Jahr hast du mir gezeigt wie man Wäsche wäscht und ….“ – „Oh, na klar. Das erlebt man ja nicht alle Tage, dass man als junger Hüpfer einem gestandenen Mannsbild so etwas beibringen kann.“ – „Ja genau. Ich wollte mich eigentlich nur bedanken, du hast mir sehr geholfen… ich wüsste gar nicht, in welchem Zustand ich heute ohne dich rumlaufen würde und da ….“ – „Ach quatsch doch nicht, so schlimm wäre es ja schon nicht gekommen.“ – „Na ja, da wäre ich mir nicht so sicher. Auf jeden Fall wollte ich mich bedanken und…“ – „Ach, dafür brauchst du dich nicht zu bedanken“ – „Doch genau dafür. Allein die Geste der Hilfsbereitschaft hat mir viel bedeutet und deswegen…“ – „Da magst du Recht haben. Die Tat allein war nicht so spektakulär, aber die Geste war schon großherzig. Aber so bin ich nun mal. Ich helfe den Menschen die Hilfe brauchen sehr gerne. Das ist einfach so in mir drin. Viele halten das ja für schlecht und sagen man muss kalt und berechnend sein, um in der heutigen Welt etwas zu erreichen. Aber ich kann einfach nicht über meinen Schatten springen … ha ha….Neulich erst habe ich einem Penner in der Fußgängerzone zwei Euro gegeben und meine Freundin hat mich für bescheuert erklärt und gesagt, dass der das doch gleich wieder versäuft.“ – „Es ist schön das es noch soviel Idealismus gibt. Wenn alle ein Stück altruistischer wären, hätten wir sicher eine bessere Welt. Was ich eigentlich….“ – „Oh danke das ist lieb. Wie schon gesagt ich treffe selten jemanden, der meine Barmherzigkeit gut findet. Aber was hat das mit alten Russen zu tun? Waren die Russen früher für ihre Mildtätigkeit bekannt, wie die Deutschen für ihre Pünktlichkeit, Ordentlichkeit, ihren Fleiß und so?“ – „Wer hat denn was von alten Russen gesagt?“ – „Na du hast doch gerade gesagt wir sollten alle ein Stück altrussischer werden.“ – „Oh, ähem, hm, nein. Ich habe gesagt altruistischer. Das ist, kurz gesagt, das Gegenteil von egoistisch.“ – „Ah ja. Das ist toll. Das trifft es genau, das muss ich mir merken. Da kann ich gut glänzen, wenn meine Freundin mich das nächste Mal schilt. Wie war das altruitischer?“ - „Altruistischer. Lass mich den Begriff des Altruismus noch etwas näher ausführen, damit du verstehst was er wirklich bedeutet. Also ursprünglich ist er definiert als ein Verhalten, welches…“ – „Ach nein, ist schon gut. So genau muss ich das nicht wissen. Meine Freundinnen werden allein schon durch das Wort beeindruckt sein. Und das mit deiner Wäsche klappt gut?“ – „Genau meine Wäsche, deshalb wollte ich dir ja danken und dich…“ – „Aber dein Shirt ist ziemlich verknittert. Das du dich so ungebügelt aus dem Haus traust.“ – „Bügeln hast du mir ja noch nicht beigebracht. Aber fürs erste wollte ich dir…“ – „Also das mit dem Bügeln ist eigentlich ganz einfach. Es sei denn natürlich du hast ein Hemd, dann gehört da schon eine gewisse Übung dazu, aber das traue ich dir auch zu. Wir könnten doch mal….“ – „Entschuldige, dass ich dir jetzt einfach so ins Wort falle. Aber du plapperst doch ziemlich viel und…“ – „Oh ja, da hast du Recht, dass haben schon viele über mich gesagt. Aber ich bin einfach so voller Ideen und Gedanken und die müssen halt raus. Und es wäre doch schade, wenn ich die nicht mitteilen würde. Ich glaube ich kann viel in meinen Mitmenschen in Bewegung setzen, aber dazu muss ich mich eben mitteilen. Du bist doch das beste Beispiel. Wenn ich dir nicht geholfen hätte, sondern mein Wissen für mich behalten hätte, wüsstest du heute noch nicht wie man Wäsche wäscht.“ – „Ja es wäre wirklich ein Jammer, wenn du nicht so extrovertiert wärst und der Welt deine Gedanken vorenthalten würdest. Ein echter Verlust für die kulturelle und wissenschaftliche Entwicklung der Menschheit. Aber was ich…“ – „Oh, das hast du jetzt aber schön gesagt. Du kennst so viele geile Wörter. Wie war das jetzt? Extrapertiert?“ – „Nein! EXTROVERTIERT. Das ist eine Persönlichkeitseigenschaft und bedeutet soviel wie nach außen gewandt, gesprächig und energisch. Die gegenteilige Haltung, also das zurückgezogene, in sich ruhende, schüchterne bezeichnet man als introvertiert.“ – „Toll. Das bezeichnet mich ja wirklich mit einem einzigen Wort.“ – „Ich hoffe für dich, dass man dich nicht mit einem Wort charakterisieren kann und das deine Persönlichkeit noch mehrere Facetten hat.“ – „Ja ja, natürlich bin ich eigentlich sehr vielseitig. Ich mag zum Beispiel alle Arten von Sport, Partys, gehe mit Freunden ins Kino……“ – „Entschuldige das ich dich schon wieder unterbreche, aber lass mich jetzt bitte mal ausreden und dich fragen was ich die ganze Zeit schon fragen wollte….“ – „Aber natürlich lasse ich dich ausreden. Was denkst du eigentlich von mir. Ich bin doch keine….“ – „ÄHEM. Also ich wollte fragen, ob ich dir zum Dank für deine Hilfsbereitschaft einen Drink spendieren kann?“ – „Wie schon gesagt, ich habe das gerne getan und erwarte keine Gegenleistung. Ich bin nun mal so, dass ich einfach so und ohne….“ – „ALSO, wie wäre es mit einem Getränk?“ – „Oh, ja gerne. Warum nicht?“ Sie gingen zur Theke, wo der Lehrling sich ein Wasser und der Meisterin, auf ihre Bitte und nach langem Exkurs über die Vor- und Nachteile der verschiedenen Cocktails, eine Pina Colada bestellte. „Wie kommt es, dass du Wasser trinkst? So einem adretten Herren hätte ich schon ein Bier oder noch eher Rotwein zugetraut.“ – „Ich muss nachher noch Auto fahren.“ – „Oh, das ist löblich. Viele halten sich ja so gar nicht daran Alkohol und Auto fahren streng zu trennen. Besonders wenn die Herren der Schöpfung mit einem hübschen Mädchen ausgehen, und das bin ich ja wohl…“ – „Oh ja, sogar ein außerordentlich attraktives“ – „Danke. Also besonders in dem Fall meinen die meisten Typen etwas trinken zu müssen und das Mädchen durch ihr Stehvermögen beeindrucken zu müssen. Dabei ist doch das Stehvermögen zu späterer Stunde viel entscheidender oder etwa nicht? Aber nicht nur die jungen Männer weigern sich die Trennung von Alkohol und der Teilnahme am Straßenverkehr so streng zu befolgen, wie sie sollten. Mein Vater zum Beispiel sagt immer, dass drei Bier am Abend kein Problem seien. Neulich erst waren wir auf einer Familienfete, Oma hatte 75. Geburtstag und da hat er bestimmt sechs Bier getrunken. Und als wir dann …“ Der Barkeeper servierte die Getränke. „Also, als wir dann aufbrechen wollten, meinte er fahren zu müssen und meine Mutter musste lange mit ihm diskutieren bis er ihr den Schlüssel gab. Nicht das du jetzt eine falsche Vorstellung von unseren Familienverhältnissen bekommst. Im Normalfall ist mein Vater ein wahnsinnig verantwortungsvoller Mensch. Einmal hat er zum Beispiel….“ – „Entschuldige nochmals, wollen wir nicht anstoßen.“ – „Aber bitte, mit Wasser kann man doch nicht anstoßen.“ – „Das ist jetzt aber inkonsequent. Du kannst nicht auf der einen Seite die Ablehnung von Alkohol bei anstehender Teilnahme am Straßenverkehr goutieren und andererseits mein Verhalten durch deine Weigerung sanktionieren.“ – „Es ist wirklich zu drollig wie du redest. Es stimmt schon, dass ältere Männer durch ihre Altersweisheit durchaus an Attraktivität gewinnen.“ – „Aber Weisheit ist etwas was nicht zwangsläufig mit dem Alter eintritt oder gar mit ihm korreliert.“ – „Was?“ – „Das heißt: ‚Wie bitte?’“ – „Ja, ich weiß schon, aber die Jugend hat nun mal ihre eigene Sprache. Neben der Weisheit und der Lebenserfahrung gibt es aber noch mehr was ich an älteren Männern durchaus attraktiv finde. Graue Haare finde ich zum Beispiel anziehend. Also natürlich nicht komplett grau und auch nur bei Männern. Eine Frau, die sich ihre Grau werdenden Haare nicht färbt, ist für mich einfach nur eine frustrierte Emanze. Siehst du ich kenne auch tolle Wörter. Meine Freundin sagt ja immer, dass sie einen jungen, straffen Körper zum ficken braucht. Entschuldige bitte, aber so sagt sie nun mal. Nicht alle jungen Dinger können sich so gewählt ausdrücken wie ich. Aber ich finde das die Sicherheit, Geborgenheit und Ruhe, die einem ein älterer Mann vermitteln kann durchaus vorzuziehen sind. Was nutzt mir ein geiler Fick, wenn ich nachher….“ – „Ächz. Wollen wir jetzt anstoßen oder nicht?“ – „Ach so. Na gut weil du es bist.“ – „Ich bin übrigens der Harry.“ – „Ja ist es denn möglich. Jetzt unterhalten wir uns schon so lange und haben uns in der Tat noch nicht vorgestellt. Ich bin die Stefanie. Du darfst Steffi sagen. Das erlaube ich nur guten Freunden.“ – „ Na da bin ich ja froh, dass wir schon gute Freunde sind. Was machst du eigentlich beruflich?“ – „ Ich bin noch Studentin. Ich studiere Sport und Kunsterziehung auf Lehramt und absolviere gerade mein Referendariat in der Erich-Kästner-Grundschule. Weißt du das kommt meiner mildtätigen Ader sehr entgegen. Kinder zu erziehen und auf den richtigen Weg zu bringen ist doch auch eine gute Tat…“ Das Gespräch zog sich noch knappe zwei Stunde auf gleichem Niveau hin und Harry spendierte Steffi ein weiteres Paar Cocktails. Seine Maschinen waren unterdessen fertig geworden, er hatte sie frei geräumt, die Wäsche verstaut und war aufbruchsbereit. „Entschuldige bitte vielmals. Ich muss jetzt los. Meine Schicht beginnt gleich.“ – „Oh, du arbeitest in Schichten. Als was denn.“ – „Ich bin Oberarzt im Städtischen Klinikum.“ – „Das habe ich gleich gewusst. So ein intelligenter Mann wie du hat bestimmt Karriere gemacht. So ein Doktortitel schmückt einen Mann natürlich ungemein. Da kann sich die Frau an deiner Seite stolz fühlen. Gibt es denn da jemanden.“ – „Nein. Du hast mich ja kennen gelernt, als meine Frau sich gerade von mir getrennt hat und mir über die anfänglichen Schwierigkeiten bei der Haushaltsführung hinweggeholfen. Ich bin auch noch nicht dazu gekommen meine neue Wohnung adäquat einzurichten, weshalb ich mit meiner Wäsche noch immer hierher kommen muss. Aber eigentlich ist das ja ein Glücksfall, da ich dich so wieder getroffen habe.“ – „Ja ein Glücksfall war es tatsächlich. Es war ein ganz toller Nachmittag. Wir sollten unbedingt in Kontakt bleiben. Warte ich gebe dir meine Nummer.“ Sie ging an die Theke, schrieb ihre Nummer auf einen Bierdeckel, setzte dazu ihren Namen und schmückte das Ganze mit ein paar Herzchen. Er nahm den Bierdeckel an sich, sie drückten sich zum Abschied und Harry beeilte sich den Waschsalon zu verlassen, bevor Steffi ihre Wäsche verpackt hatte und auf die Idee kam ihn ein Stück zu begleiten. Auf dem Heimweg schmiss er den Bierdeckel in den nächstbesten Abfalleimer und ärgerte sich über die Notwendigkeit, jetzt endlich eine eigene Waschmaschine kaufen zu müssen, da der einzige Waschsalon der Stadt ab sofort tabu war.

Auf Arbeit erwartete ihn der gewohnte Wahnsinn der von allem sozialkompatiblem Verhalten Enthemmten. Gegen vier übergab sich ein etwa Sechzehnjähriger im Fonds und alle Versuche ihn zum aufwischen des Erbrochenen zu bringen schlugen fehl. Auch seine Saufkumpane waren entweder nicht mehr in der Lage oder sahen den Grund nicht ein, warum ausgerechnet sie hinter dem Kotzer herfeudeln sollten. So blieb Harry nichts anderes übrig, als das Gespeite selber zu entfernen, nachdem er den wilden Haufen zurück in die Nestwärme ihrer elterlichen Wohlstandshäuser gebracht hatte. Danach fuhr er noch einige übernächtigte Gestalten, von denen nicht zu sagen war, ob sie noch lebten oder, ob man Erste- Hilfe- Maßnahmen einleiten sollte. Nachdem er diese Vierfachschicht als Taxifahrer, Krankenpfleger, Ordnungshüter und Putzkraft absolviert hatte, fuhr Harry, durch die Belastungen entmenscht und seinen Fahrgästen nicht unähnlich, wieder nach Hause. Hier zog sich das entkräftete Tier unverzüglich in seinen Orangenhain zurück, bettete sein müdes Haupt auf die üppigen Kissen des dort einladend wartenden Himmelbettes, schlummerte alsbald ein und die erneute
Phylogenese, hin zur Krone der Schöpfung, setzte im Zeitraffer ein.

Sechzehn

Einmal im Quartal musste Harry in der Taxizentrale vorstellig werden, die neuesten Dienstanweisungen abholen und den Schein der Kollegialität waren. Heute war es wieder soweit. Gegen neun Uhr fuhr er in die Kreisstadt, genoss die halbstündige Fahrt über die Landstraßen, verfluchte den Trubel der Stadt und die andauernden Fahrtunterbrechungen, welche ihm durch die Farbe Rot aufgenötigt wurden und fuhr schließlich auf den Hof des Unternehmens, auf welchem die Individualität seines hellelfenbeinen Gefährtes sofort in der eierschalenen Masse unterging. Er parkte im cremeweißen Meer, entstieg der beigen Brandung und betrat die Zentrale. Am Tresen saß wie immer die aus allen Poren triefende, dicke, gutmütige Irene. „Hallo schöne Frau. Ich dachte eigentlich an einem so beschissenen Tag kann ich mich mal wieder bei euch vorstellen und die neuesten Ergüsse vom Boss über mich ergehen lassen. Und jetzt komme ich hier herein, mir wird auf einen Schlag ganz anders und der Tag scheint gerettet zu sein. Auf einmal scheint die Sonne, ich hab ein wohliges Kribbeln im Bauch und am liebsten würde ich auf der Stelle wieder umkehren, um mir das Bevorstehende zu ersparen. Aber dann überkommt mich die Angst, dass, wenn ich jetzt auf dem Absatz kehrt mache, die Sonne so plötzlich wieder von Gewitterwolken verdeckt wird, wie sie eben hervorgebrochen ist. Woran das nur liegen könnte?“ – „Wer sind Sie denn bitte? Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken hier unser Sorgenkind, den Harry, vor mir zu haben. Die äußere Ähnlichkeit ist wirklich verblüffend. Aber unser Harry ist eher ein ungepflegter, mürrischer und zutiefst unsympathischer Zeitgenosse.“ – „Ach ja, den kenne ich auch…. Der Harry, dass ist mein böser Zwilling, sozusagen das schwarze Schaf der Familie. Und da er zur Zeit mal wieder total versumpft und nicht ansprechbar ist, hat er mich gebeten für ihn einzuspringen, damit er nicht noch den letzten Kontakt zur menschlichen Zivilisation verliert. Wissen sie mein Honigbienchen, der Harry ist wie ein durstender Verirrter in der Wüste. Die ganze Zeit drehen sich seine Gedanken ausschließlich um Wasser und Linderung seiner Qual. Und wenn er dann die sehnlich erhoffte Erfrischung zum Greifen nah hat, ist er, aufgrund seiner praktischen Lebensunfähigkeit oder was auch immer, (so ganz verstehe ich ihn auch nicht, obwohl er mein Zwilling ist), nicht in der Lage sie zu genießen… So gesehen ist er ein moderner Tantalus. Allerdings mit dem Unterschied, dass seine Verbannung in den Tartaros selbst gewählt ist und keine fremdbestimmte Gottesstrafe… Wie auch immer. So ein smartes Prachtexemplar von Frau, das mit beiden Beinen im Leben steht, versteht bestimmt auch ohne viele Worte was ich ausdrücken will.“ – „Ähem… Ja…. Wenn sie also sein Zwilling sind, wie heißen sie denn?“ – „Ach,.. wie unhöfflich von mir, mich nicht vorzustellen. Ich bin der….Oliver. Sie können mich gerne Olli nennen. Und unter welchem Namen darf ich die Göttin, von der ich schon den Frevel hatte mir ein Bild zu machen, in meinem Herzen speichern.“ – „Jetzt hör schon auf und übertreib es nicht gleich. Ich wollte ja nur sagen, dass du gut aussiehst.“ – „Ja, ich fühle mich auch ziemlich gut.“ – „Es ist schon erstaunlich was für ein schöner Schwan aus einem hässlichen Entlein hervorkommen kann, wenn es ein bisschen Wert auf sein Erscheinungsbild legt. Darf man erfahren, was die Wandlung bewirkt hat. Hast du endlich jemanden kennen gelernt, der ein bisschen auf dich Acht gibt?“ – „Ja… nein eigentlich nicht. Wie wäre es, wollen wir einen Kaffee in der Kantine trinken?“ – „Es ist wirklich erstaunlich, wie…aber klar. Gerne. Ich denke die Arbeit hier läuft mir schon nicht davon und der Alte ist zur Zeit sowieso nicht da.“ Sie verschwanden zusammen in der Kantine und der Verwandelte bot der gestandenen Frau noch eine Vielzahl Gesprächsstoff über die unerwarteten Metamorphosemöglichkeiten des Menschen. Nach zwanzig Minuten tauchten sie wieder auf und gingen zum geschäftlichen Teil des Vormittages über. „Hier ist das Briefing mit den aktuell zu beachtenden Neuerungen.“ Sie übergab ihm einen Umschlag mit Unterlagen. „Es gab ein paar Änderungen in der BOKraft. Alles nicht wirklich wichtig und mehr zur Kenntnisnahme gedacht. Der Alte überlegt die Taxameter mit Sitzkontakten zu koppeln. Noch ist nichts spruchreif, aber er hat euch ein paar technische Details und die Vorteile beigelegt. Unter den Kollegen wird diese Entwicklung skeptisch betrachtet, aber von den Nachteilen steht natürlich nichts in den Unterlagen“ – „Natürlich.“ – „Dann gab es, wie du sicher mitbekommen hast, in letzter Zeit wieder ein paar tätliche Übergriffe und Raubüberfälle auf Taxifahrer. Dir ist ja klar, dass du dich davor nie hundertprozentig schützen kannst, aber ein paar Vorsichtsmaßnahmen kann man schon ergreifen. Es liegt ein Faltblatt mit Tipps zur Entschärfung von Konfliktsituationen bei. Und dann musst du noch zum TÜV. Deine Plakette läuft in zwei Monaten ab.“ – „Kannst du da mal bitte gleich anrufen, ob die einen Termin frei haben. Wenn ich schon mal in der Stadt bin, kann ich das am besten gleich erledigen. Mein böser Zwilling wird das bestimmt wieder vergessen.“ Sie lachte. „Das ist wahr. Von dem hätte ich jetzt wieder einen trübsinnigen Monolog über die Nutzlosigkeit des TÜV und meine Stumpfsinnigkeit, mich diesem sinnlosen Regelwerk bedingungslos zu unterwerfen, gehört. Da bin ich wirklich froh, dass du heute gekommen bist.“ Sie telefonierte und brachte in Erfahrung, dass gleich noch ein Termin frei war. Die neuen Freunde verabschiedeten sich und Irene brachte ihre Hoffnung zum Ausdruck, dass Harrys Änderung von Dauer sein werde. Sie sagte noch etwas in der Richtung, dass sie das Gefühl habe, dass auch er mit seinem neuen Ich glücklicher und zufriedener sein werde. Harry wollte gerade in den Wagen steigen, als sie ihm nachgelaufen kam. „Ach Harry, eine Sache noch.“ – „Na, du kannst wohl gar nicht genug vom neuen Harry bekommen?“ – „Nein, es geht um etwas ernstes. Der neue Harry hat mich so sehr geblendet, dass ich das ganz vergessen habe …. Sagt dir der Name Böttcher etwas?“ - „Ein Böttcher ist eine alte Berufsbezeichnung für einen Fassbinder.“ – „Nein du Heini…“ – „Harry, nicht Heini“ – „Es geht um eine ziemlich gravierende Beschwerde von einem älteren Herren. Es ist schon eine Weile her und du hast Glück, dass der Alte zu der Zeit andere Sorgen hatte und das Ganze deswegen etwas im Sande verlaufen ist. Du musst diesen Fahrgast wirklich mehr als pampig behandelt haben. Natürlich gibt es immer zwei Seiten. Aber wenn nur ein Bruchteil der Vorwürfe stimmt, war das ein ziemlich starkes Stück. Solche Fehltritte solltest du dir nicht mehr erlauben, sonst schmeißen sie dich ganz schnell hier raus…..Das ist wohl die Schattenseite des neuen Harry.“ – „……. Wer sagt dir, dass hier nicht noch der alte Harry am Werk war?“ – „Der alte Harry war ein zynisches, verbittertes Arschloch, aber es gab kaum Beschwerden über ihn. Zumindest nichts Gravierendes. Allenfalls, dass er so unkommunikativ ist. Der alte Harry hätte Herrn Böttcher im schlimmsten Fall ignoriert, wenn ihm etwas nicht an ihm gepasst hätte, und er hatte eigentlich an jedem was zu nörgeln.“ – „Tja, wenn es nicht die Raupe war, wollen wir mal hoffen, dass die fiese Fratze zur Puppe gehörte und nicht zum Schmetterling.“ - „ Wie bitte?“ – „Ach schon gut. Danke für die Warnung. Auf Wiedersehen, Irene.“

Am Abend dieses Arbeitstages hatte Harry noch einige Einkäufe zu erledigen. Im Supermarkt verirrte er sich seit langer Zeit zum ersten Mal wieder in einer Abteilung, welche während einer düsteren Epoche auf allen seinen Wegen gelegen hatte. Lange Minuten stand er vor dem Spirituosen- Regal. Es wäre gelogen zu behaupten, er kämpfte mit sich selbst. Er stand einfach da. Schließlich packte er eine Flasche Korn in den Einkaufswagen. Dies geschah erstaunlicherweise nicht aus Resignation, sondern aus Kampfeswillen. Wieder in seiner Wohnung wollte er sich die Optionen offen halten und die Ursachen des Sieges über den Fatalismus nicht einzig in der fehlenden Rückzugsmöglichkeit begründet finden. Bevor das Geplänkel begann schlich sich der Akteur noch eine Weile feige um den Schauplatz des Kampfes. Er kam nach Hause, haute sich ein Schnitzel in die Pfanne, bereitete einen halben Eisbergsalat mit French- Dressing aus der Flasche, las während des Abendbrotes die Tageszeitung, erledigte den Aufwasch, bohnerte die Diele, putzte das Bad und endlich hatte er sich ein Herz gefasst, war konzentriert und eingestimmt auf das Kommende, nahm die Buddel Korn, stellte sie vor sich auf den Tisch und setzte sich davor. Es war höchste Zeit für eine neue Reflexion über seinen Lebensweg und die Frage, ob sein jetziges Dasein den Gipfel des ihm Erreichbaren darstellte. Der Überfluss des nassen Elementes hatte ihn in falscher Sicherheit gewiegt und ihm das Gefühl gegeben, den quälenden Durst nie mehr spüren zu müssen. Doch die Frage, ob er in der Oase auf Dauer bleiben konnte und wollte oder ob er wieder in die Ödnis ziehen musste, war nur aufgeschoben und nicht abschließend geklärt. Irene hatte in mehreren Punkten Recht gehabt. Er war nicht nur auf der saftigen Insel des beschränkten Überflusses gelandet, sondern er hatte sich eingelebt und begonnen sich glücklich zu fühlen. Doch dieses Glück starrte voller Untiefen, in denen sein Drang nach Freiheit und seine Erwartungen zu versinken drohten. Nur wenn er seine Sehnsucht, sein Verlangen und sein Streben an der Kandare der Ignoranz hielt, bestand die Möglichkeit sich vor dem Ertrinken im Nichtschwimmerbereich des Normalen zu retten. Ein Beispiel par excellence für die notwendige Beherrschung und die Gefahr der Verbreiung seiner einst zelebrierten Unnormalität hatte die heutige Begebenheit bei der DEKRA geboten.

Harry startete den Wagen, fuhr aus der Uniformität der Taxizentrale und spürte, wie des anständigen Deutschen liebstes Kind unmittelbar wieder einen eigenen Charakter bekam. Irene hatte ihm die Adresse einer DEKRA- Werkstatt gegeben, zu welcher er sich durch die verstopften, arteriosklerotischen Adern der ehemals vitalen Stadt zwängte. Er fuhr auf den Hinterhof und meldete sich und seinen Schatz in der Werkstatt an. Man teilte ihm mit, dass die Inspektion wohl eine halbe Stunde Zeit in Anspruch nehmen würde und aus Mangel an Alternativen gesellte er sich zu einem Twen, der sichtlich um die Abnahme seines mit zahlreichen Umbauten aufgemotzten Lieblings zitterte. Der Stress und die Sorge um das Wohlergehen seines Herzblattes verleiteten ihn, eine Zigarette nach der anderen anzuzünden. Da Harry nichts anderes zu tun wusste sprach er ihn an: „Entschuldige, kannst du mir eine Zigarette leihen. Meine sind alle.“ – „Aber klar doch. Ich wüsste auch nicht, wie ich die Warterei ohne Kippen aushalten sollte.“ Er klappte die nicht zur Ruhe kommende Schachtel auf und gab dem Nichtraucher eine Zigarette, auf das wenigstens der Mensch seine Muße finden würde. „Ähm, Feuer bräuchte ich bitte auch noch.“ Das noch warme Feuerzeug tat ohne Murren seinen Dienst und eine blaugelbe Flamme erstand vor Harrys Gesicht, tanzte im Luftzug und erstarb erst, nachdem seine Zigarette in roter Glut qualmend erklommen war. „Man dieser blöde TÜV. Nie hat man seine Ruhe. Selbst bei seinen Hobbys wird man gegängelt wo es nur geht.“ – „Bei welchen Hobbys?“ – „Na beim tunen von meinem Baby selbstverständlich.“ – „Bitte? ich verstehe immer noch nicht.“ – „Na mein Auto, Mann.“ – „ Ach so, ich dachte schon wir reden hier von plastischer Chirurgie.“ – „Lachend Na das ist gar nicht soweit davon entfernt. Eine geile Kiste wird schließlich durch das passende Blondchen auf dem Beifahrersitz noch erheblich aufgewertet.“ – „ Und steht es denn mit deinem fahrbaren Untersatz so schlecht, dass du Angst um deine Plakette haben musst.“ – „Von wegen schlecht. Was ich da alles an Geld und Zeit reingesteckt habe. Tiefer gelegt ist er, das ist ja ganz klar, ein sportlicher Heckspoiler, Neonscheinwerfer, die original Kotflügel habe ich gegen breitere ausgetauscht, die Alufelgen haben fast einen Monatslohn verschlungen und du müsstest erstmal die Musikanlage in Action erleben. Die Bässe ziehen einem glatt die Hose aus.“ – „Na das ist ja ein Ding. Man glaubt es kaum… Und warum zitterst du dann so, wenn er so gut gepflegt ist.“ – „Sag mal von welchem Planeten bist du eigentlich? Hast du noch nicht mitbekommen, dass die TÜV- Typen gar nicht auf solche Extratouren stehen?“ – „Nein… ich hatte höchstens Probleme, weil ich mich zu wenig für mein Auto interessiert und nichts gewartet habe.“ – „ Zu wenig interessiert…. Was bist du eigentlich für ein Typ? Du hast doch hoffentlich zwei Eier in der Hose, oder?“ – „Also heute morgen waren sie noch da… Definierst du denn Männlichkeit allein über das Interesse für Technik… Oder, nein, das ist nicht ganz richtig. Es ist ja mehr eine Spielerei und kein wirkliches technisches Verständnis.“ – „Na hör mal. Was Autos angeht macht mir so schnell niemand was vor. Und außer seinem Auto, ist es ja nur noch die Anzahl an Bräuten, die einen Mann ausmacht.“ – „Womit der Kreis dann wieder geschlossen wäre.“ – „Was?“ – „Ich meine, damit sind wir wieder bei der Schönheitschirurgie, denn ich gehe mal davon aus, dass eine echte Braut auch ordentlich aufgemotzt gehört.“ – „Da hast du es genau erfasst.“ – „Von so etwas wie Charakter hältst du wohl nicht sonderlich viel? Ein klappriges Gefährt, an dem nicht alles hochglanzpoliert ist, erzählt doch eine Geschichte und atmet Leben.“ – „Ja genau. Und dann kommst du noch mit dem Spruch: ‚Wahre Schönheit kommt von innen.’ Und da kann ich dir nur sagen, dass man das seltsamerweise immer nur zu den hässlichen Schlampen sagt, die keinen abbekommen.“ – „Man sagt aber auch, dass der Kult um das Automobil letztendlich nur ein Phallusersatz für Männer mit Minderwertigkeitskomplexen ist.“ – „Haha du Arsch, mit diesem Quatsch von wegen kleinem Schwanz brauchst du mir nicht zu kommen. Ich wette meiner ist länger und auf jeden Fall habe ich nicht so eine verdörrte, alte Nudel, die nur noch zum pissen taugt.“ – „Da magst du recht haben… Trotz allem verstehe ich nicht, wieso du dann dein ganzes Geld in dieses so genannte Hobby steckst. Um Aufzufallen und gegen die Regulierungswut des Staates zu protestieren, kann man sein Auto auch verlodern lassen und muss es nicht aufmotzen…“ – „Das ist so typisch für euch alte Säcke. Erst mal wird gegen alles neue, was ihr nicht versteht, gezetert und gemeckert... ‚Früher hätte es das aber nicht gegeben. Früher war sowieso alles besser.’“ – „…Das ist schon seltsam, dass du das sagst. Weißt du ich habe das vor kurzem in einem ähnlichen Wortlaut aus einem mir viel vertrauteren Mund vernommen…. Wahrscheinlich ist das nicht so sehr eine Generationsfrage, sondern eher eine Charakterfrage. Oder dreht sich etwa bei allen Jugendlichen von heute alles um das Auto und möglichst massenkompatibel aussehende Puppen?“ – „Bei allen Normalen schon.“ – „Also gibt es noch Unnormale?“ – „Ja, Freaks gibt es natürlich zu Hauf und ich glaube nicht, dass die jemals aussterben. “ – „Das ist schön. Solange es auch in der jungen Generation noch Unnormale, Spinner, Verrückte und durchgeknallte Psychos gibt, muss ich nicht ganz so verzweifelt sein.“ Der oberflächlich Normale wurde glücklicherweise vom KFZ- Meister aus seiner zunehmenden Beklemmung befreit. Dieser teilte ihm mit, dass sein Wagen die Hauptuntersuchung bestanden habe und er fahren dürfe. Der zurückbleibende Freak hörte die im Weggehen begriffenen eine Mängelliste besprechen und den KFZ- Meister seine Hochachtung, über einige fachlich ausgeführte Umbauten, zum Ausdruck bringen. Kurz darauf war auch sein Wagen fertig, es gab nichts zu beanstanden und er fuhr zurück in seine Heimatstadt. Hier angekommen stellte er fest, dass es Zeit war mal wieder zu tanken und er steuerte den ihm unnahbaren Blechhaufen zur Tankstelle. Er öffnete den Tankdeckel, stieg aus, entnahm die Zapfpistole, führte den Rüssel in den Tank und flickte die Nabelschnur wieder zusammen. Die aus der Natur geformte und ihr dennoch entfremdete Technik saugte die Nährstoffe aus der Plazenta der Erde. Während dieses Aktes der Undankbarkeit, befand er sich in der Mittäterschaft eines Handwerkers. „Die Preise sind echt der Hammer, oder? Wir können froh sein, dass wir hier nur beruflich tanken. Privat kann man sich diesen Irrsinn ja fast nicht mehr leisten.“ – „Ach, ich kann mich eigentlich nicht beklagen.“ – „ Man dann habe ich wohl den falschen Beruf gewählt. Verdient man als Taxifahrer denn so gut, dass man noch guten Gewissens tanken kann?….. Es sind ja nicht nur die Benzinpreise. Die ganzen Lebenshaltungskosten werden ja immer teurer und man muss heutzutage überall sparen, um über die Runden zu kommen.“ – „Wie gesagt, ich kann mich nicht beklagen. Ich denke, die wenigsten in unserer westlichen Zivilisation haben einen Grund zur Klage. Zu keiner Zeit und an keinem Ort gab es so einen hohen durchschnittlichen Lebensstandard, wie wir ihn genießen dürfen. Was das angeht, sollten wir etwas mehr Demut und Bescheidenheit zeigen und uns mit dem zufrieden geben, was wir haben.“ Sichtlich enttäuscht, nicht den erwarteten Resonanzkörper für seinen Paukenschlägel gefunden zu haben, brach der Klempner das Gespräch ab.

Siebzehn

Und jetzt saß Harry auf seiner Couch und reflektierte diese heutige und andere Begebenheit der jüngeren Vergangenheit. In den letzten sieben Monaten hatte er ein Leben geführt, auf welches er in seinem Mittelalter im günstigsten Fall mildtätig lächelnd herabgesehen hätte. In der antiken Lebensphase hatte er noch nicht begonnen gehabt, sich Gedanken darüber zu machen, was er mit seinem Leben anfangen und wie er es gestalten wollte, sondern sich ausschließlich damit begnügt, sich in der vorgelebten Umwelt umzutun. Dann kam die Phase, in der er als erbarmungsloser Großinquisitor allen völkischen Aberglauben verfolgt und sich mit dieser Unbedingtheit total isoliert hatte. Und nun war er gleichsam in einer Renaissance begriffen und entdeckte die antiken Werte des Lebens in Gemeinschaft wieder. Doch noch fehlten ihm eine Mission und eine Philosophie, mit der er die neue Zeit bestreiten wollte. Der totale, zynische Nihilismus war kein Ansatz, der einem wachen, optimistischem Geist auf Dauer ein erfülltes Leben bieten konnte. Soviel hatte er erkannt. Aber auch die Ignoranz aller gesellschaftlichen Entwicklungen bot keinen befriedigenden Ansatz. Er war zu unruhig, seine Mutter hätte gesagt: der Junge hat zu viele Hummeln im Hintern, um alle Auswüchse des Alltäglichen zu akzeptieren und über sich ergehen zu lassen. Das Sakrileg, welches er heute begangen hatte, als er die Glorifizierung des praktischen Blechhaufen nicht mitgemacht hatte, kam ihm wie ein Befreiungsschlag vor. Aber dennoch war es auch ein Rückschritt gewesen. Wieder hatte er einen, dem Selbstherrlichen unpassend scheinenden, Kult definiert und sich daran gemacht im Namen einer höheren Weisheit den Götzendienst zu sühnen. Durch diesen Gedankengang ermattet, suchte die unterbewusst gesteuerte Hand die Rettung im Destillat. Im letzten Moment wurde sie vom Bewusstsein zurück gehalten. Diesen vermeintlichen Rettungsweg hatte unser Antiheld schon einmal beschritten, und nach dem grausamen Mittelalter, war das nun eine wirklich dunkle Epoche gewesen. Es bestand die zwingende Notwendigkeit einen neuen Weg zu versuchen und die Geschichte sich nicht wiederholen zu lassen. Der Traumtänzer vollführte endlose Pirouetten, von denen nicht nur dem Zuschauer schwindelte, und kam einfach nicht von der Stelle. Wenn im ekstatisch zuckenden Tanz schon kein Vorwärtskommen möglich war, sollte er vielleicht eine Figur wiederholen, die er erst einmal vollführt und noch nicht in allen Variationen durch hatte. Retrospektiv schien ihm die Phase seiner bürgerlichen Karriere nicht die schlechteste gewesen zu sein. Er hatte eine Aufgabe gehabt, bei der sein voller Einsatz gefordert war, Zeit für Depressionen hatte es nicht gegeben. Andererseits hatte ihm diese Aufgabe kein klares Ziel gegeben oder ein Vorwärtskommen ermöglicht. Die nächsten Sprossen auf der Karriereleiter hatten ihn zwar einladend aus luftiger Höhe angeblickt, aber das war nicht die Art Evolution, um die es ihm ging. Aber auch wenn die vermeintliche Macht sich als Ohnmacht heraus gestellt hatte, war es vielleicht ein Fehler gewesen sie gegen das Schicksal zu tauschen. Er beschloss einem Referenten aus dem Gesundheitsministerium, mit dem er sich immer gut verstanden hatte und der ihm ein Lehrmeister bei den ersten Gehversuchen in der Erwachsenenwelt gewesen war, einen Besuch abzustatten, seine Freundschaft zu ihm zu erneuern und für sich einen neuen Gehversuch auf ernsthaftem, anspruchsvollem Terrain anzustreben.

Die herausragende Insel David Claudius Lehmann in der blauen, unendlichen Weite der Masse wieder zu finden, gestaltete sich für Harry zu einer anspruchsvollen Aufgabe, die seine volle Konzentration und Aktivität für zwei Wochen forderte. Er hatte keine Karte mehr, auf der der Weg zurück zu diesem Gestade verzeichnet war. Den Schein zu wahren und eine Bekanntschaft zu pflegen, an der er kein Interesse mehr gehabt zu haben glaubte, war eine Heuchelei, die er abgelehnt hatte und so hatte er sich auf seine Fahrt begeben ohne den Rückweg zu markieren. In Bonn suchte er im Umfeld des Gesundheitsministeriums nach Herrn Lehmann, telefonierte mit der Auskunft und durchstöberte die Internetpräsenz des Ministeriums nach seinem ersehnten Ansprechpartner. Er begann schon zu zweifeln, ob David noch an den ehemaligen Koordinaten zu finden war, oder ob es sich nicht vielmehr um ein Traumeiland gehandelt hatte, welches nach Verlassen im Nebel des aufziehenden Unwetters verschwunden war und seinen Ort an eine unerreichbare, neue Position verlagert hatte. Auch war er nicht sicher, ob Davids spezielle Konstitution nicht dazu geführt hatte, dass er mittlerweile gar nicht mehr zu finden war und diese Möglichkeit der Erlösung für ihn auf Ewigkeit verbaut war. Schließlich verfiel er auf den Gedanken, am zweiten Dienstsitz des Ministeriums in Berlin zu suchen. Die Bundeshauptstadt war ein Platz, an dem sich der Gescheiterte erstaunlich wenig auskannte. Obwohl er in der Politik aktiv gewesen war, hatte er Berlin nie besucht. Auch während seiner Walz nach Schulausbildung, lag diese pulsierende Stadt nicht auf seinen Wegen und Harry wunderte sich, wie es dazu gekommen war. Die Verlassenheit und Isolierung dieses Archipels der westdeutschen Gesellschaft hatte dazu geführt, dass sich in Westberlin eine ganz besondere Stimmung der Resignation und Einrichtung im Verzicht ausgebildet hatte. Die apokalyptische Bedrohung des Weltinfernos war wohl an keinem Ort so deutlich zu spüren, wie in dieser Frontstadt. Die daraus resultierende, fatalistische Kreativität war eine Inspiration, von der man annehmen konnte, dass sie Harrys Habitus entgegengekommen wäre, aber die schlichte Tatsache, dass man sich bemühen musste, um auf dieses Archipel zu kommen und die historischen Strömungsverhältnisse ein Landen durch einfaches sich Treiben lassen verhinderten, war Ursache dafür, dass er sich nie in dieser Stadt wieder gefunden hatte. Sich in diesem fremdem Umfeld zu bewegen fiel dem, der Notwendigkeit der Beziehungen und der Hilfe anderer zum Fortkommen skeptisch gegenüber Stehendem, schwer und es brauchte einige wackelige Gehversuche, bis er sich zurechtfand. Auch hier stöberte er nicht den Herr Lehmann auf, den er suchte. Schon im Aufgeben begriffen, half ihm ein Zufall doch noch zum Ziel zu kommen. In einer Liste der Angestellten am Dienstsitz Berlin, fand er den Namen Lehmann- Meier, David C. Erst überlesen, in der Kolonne von falschen Namen untergegangen und die Liste resignierend verworfen, überkam ihm im Traum die Inspiration, dass David ja geheiratet haben könnte und nun einen Doppelnamen führte. Er versuchte sein Glück und fand tatsächlich den Gesuchten wieder. Da David ihn besser kannte als alle anderen, erwuchsen Harry keine Vorwürfe aus der Erkaltung der Freundschaft. Vielmehr war er erfreut wieder etwas von ihm zu hören und lud ihn zu sich nach Berlin ein.

An einem Wochenende, drei Wochen nachdem er diese Einladung erhalten hatte, fuhr Harry nach Berlin. David war wirklich ein besonderer Mann. Mit dem Marfan- Syndrom geschlagen, begegnete er seiner Umwelt leptosom, stelzig gebückt staksend, reichte einem die spinnenfingrige Hand und glubschte den Gegenüber aus kurzsichtigen Augen an. Auch mit der Wahl seiner Kleidung zeigte er keine sonderliche Treffsicherheit dieses vermeintliche Manko zu kaschieren. Harry hatte nie einen uniformierten Oberschichtler gesehen, der so unvorteilhafte Anzüge trug. Die Blässe seiner Haut harmonierte in keinem Lichteinfall mit den zumeist hellen Stoffen, der Schnitt der Anzüge war selten auf die abweichende Länge der Gliedmaßen angepasst und Hochwasser war an der Tagesordnung. Und dennoch hatte David es geschafft, der Aussichtslosigkeit dieses Gebrechens zu entkommen und mit einem überragendem Verstand und der scharf geführten Klinge des Wortes eine Karriere zu erreichen, von der so viele, vom Leben besser beglückte, nur träumten. Harry kam am Bahnhof an, hatte bis zu seiner Verabredung noch einen halben Tag Zeit und nutzte diesen, um die Hauptstadt endlich einmal persönlich kennen zu lernen. Die schöne Zeit, in der die Stadt dem Vergessen anheim gefallen und aufgrund ihrer Lage sich selbst und damit dem Verfall überlassen war, gehörte der Vergangenheit an. Mit dem Ende des Kalten Krieges hatte der Optimismus und der Zukunftsglaube auch hier Einzug gehalten. Überall war die Restauration in vollem Gange oder bereits zu einem blühenden Ende gelangt und Harry hatte Mühe, außer den üblichen Touristenattraktionen noch einen Funken vom ehedem blühenden Untergrundleben der Hausbesetzer und Alternativszene zu entdecken.

Am späten Nachmittag bemühte er einen Kollegen, um zur angegebenen Straße in Spandau zu gelangen. Vor einem schicken Einfamilienhaus inmitten einer Neubausiedlung wurde er aus dem vertrautem, cremefarbenem Gefährt ausgespuckt. Da stand der herausgeputzte Harry nun mit seiner Reisetasche in der einen Hand, einem Blumenstrauß in der anderen und einem gewissen Gefühl der Lähmung und Unentschlossenheit in der Magengegend. Er fasste sich ein Herz, öffnete die Gartenpforte, durchschritt den Vorgarten und schellte an der Klingel, über der ein Namensschild diesen Besitz als den des Ehepaares ‚David und Jana Lehmann- Meier’ auswies. David öffnete ihm die Tür und das vertraute, zurückhaltende Lächeln, mit dem er den Gast begrüßte, nahm diesem unmittelbar die Beklemmung. „Hallo David. Es ist schön dich Wieder zu sehen.“ – „Ich freue mich auch außerordentlich. Wie du weißt, habe ich in dir immer einen intelligenten, jungen Mann gesehen, der mir in vielen Charaktereigenschaften sehr ähnlich ist. Und deshalb war ich stets um dein Wohlergehen besorgt und das du den Kontakt so abrupt abgebrochen hast, hat mich sehr getroffen. Aber ich will jetzt keine alten Wunden einreißen. Ich glaube ja zu verstehen, was dich zu diesem Schritt veranlasst hat. Wie gesagt, sind wir uns einfach zu ähnlich, als das ich so ein Verhalten a priori missbilligen würde.“ – „Ich danke dir für die Schonung… Ich denke ich bin dir den Versuch einer Erklärung schuldig. Mehr als ein Versuch wird es wohl nicht werden, da auch ich meine Gedanken erst noch ordnen muss und mich selber wahrscheinlich nie verstehen werde… Soviel vielleicht nur vornweg: Auch du hast mir viel bedeutet und ich bin dir mehr als dankbar für deine Rolle als mein Mentor, welche du nicht nur im Beruflichen, sondern vor Allendingen im privaten Bereich geübt hast. Auch ich kann mich nicht erinnern, jemanden getroffen zu haben, der mir so ähnlich war, wie du…. Na ja eine Person vielleicht noch…., aber jetzt stoßen wir glaube ich schon zu unvorbereitet in die Abgründe vor. Sag mal wie geht es dir denn so? Du siehst gut aus.“ – „Ja danke, mir geht es auch ziemlich gut. Aber komme doch erst einmal herein, dann kann ich dir meine Frau vorstellen.“ – „Oh ja, danke. Ich habe ja schon mitbekommen, dass du jetzt verheiratet bist und war begierig zu erfahren, wie die Frau, welche das Glück hatte dich erobern zu können, so ist.“ Sie betraten die Diele des Hauses wo Harry ablegte, seine Straßenschuhe gegen bereitgestellte Pantoffeln tauschte und seine Tasche neben einer Kommode abstellte. David bat ihn ins geräumige, lichtdurchflutete Wohnzimmer und ging Jana zur Begrüßung holen. Das Wohnzimmer war geschmackvoll in einem spartanischen Stil eingerichtet, sodass die Gedanken auf das Wesentliche beschränkt blieben und nicht durch Nippes und zu üppig ausgefallene Polster und Vorhänge zerfasert wurden. Das Panoramafenster zum Wintergarten bot einen Blick in den gut gepflegten Garten. „So mein Schatz, endlich darf ich dir einen besonderen Menschen vorstellen: Das ist Harry Koenig. Und das Harry ist meine Frau Jana.“ Die beiden gaben sich die Hand und Harry entledigte sich des Blumenstraußes. Sie war eine Frau in schätzungsweise Harrys Alter und damit etwa zwei Jahrzehnte jünger als David. Ihrem Äußeren nach zu urteilen, musste sie früher einmal eine außerordentliche Schönheit gewesen sein. Sie hatte pechschwarzes Haar, welches mittlerweile von grauen Strähnen durchsetzt war. Neben den ungefärbten Haaren zeugten die offen zur Schau gestellten Falten ihres Gesichtes von einer selbstbewussten Persönlichkeit mit Charisma. „David hat mir schon so viel von Ihnen erzählt und ich freue mich, Sie endlich kennen lernen zu dürfen.“ – „Ich war auch gespannt auf die Frau, welche Davids Herz erobern konnte, und ich muss sagen: Der erste Eindruck ist sehr viel versprechend. Und da hier niemand anderes als David gewählt hat, bin ich mir sicher, dass in diesem Fall der äußere Schein nicht trügen wird. Aber wollen wir nicht das siezen überspringen und gleich zum Du übergehen. Ich bin der Harry.“ – „lachend. Das passt ja schon mal genau zu dem nonkonformistischen Geist, den David mir so oft geschildert hat. Aber in diesem Fall spricht ja nichts dagegen. Ich bin Jana, freut mich sehr.“ – Sie reproduzierten die manuelle Begrüßungsgeste des okzidentischen Kulturkreises. „So jetzt lasse ich euch beide noch eine Weile allein. Ihr habt euch ja sicher viel zu erzählen und ich muss noch mal in die Küche und mich um das Abendessen kümmern. Sie mögen doch Lamm Harry.“ – „Du... Ja Lamm geht in Ordnung.“ Die beiden Männer blieben verlassen von weiblicher Wärme im Wohnzimmer zurück und machten es sich in den Sesseln bequem. „So, ich denke zum Einstieg sollten wir uns erst einmal einen Whiskey zur Brust nehmen. Ich habe da einen ganz tollen Malt aus Schottland. Zum Essen habe ich dann schon den Rotwein dekantiert und wie es danach weitergeht werden wir sehen…“ – „… Ähm…ich weiß nicht..“ – „Was? Willst du etwas anderes? Ich habe extra für dich Bier eingekauft. Deine Präferenz für dieses Prollgetränk habe ich ja nie verstanden, aber da ich weiß wie viel dir daran liegt, wollte ich mal nicht so sein und deine solidarische Ader mit dem Plebs unterstützen.“ – „Haha Danke das ist Lieb. Meine Vorliebe für den köstlichen Gerstensaft ist aber nicht einzig in meiner Klassenkämpfer- Attitüde begründet, sondern eher eine echte Geschmacksfrage. Aber das ist gar nicht der Punkt. Weißt du ich habe seit … jetzt muss ich selber nachdenken… ja seit ungefähr acht Monaten keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken.“ – „Oh, das wusste ich nicht. Und das ist auch eine Entwicklung, die ich bei dir nicht für möglich gehalten hätte….Entschuldigung, ich wollte nicht sagen, dass du ein Trunkenbold warst, aber du warst einfach zu …tja wie soll man sagen, zu sehr voller Leben, als das du auf diese Kultur oder irgendeine andere verzichtet hättest… Aber du wirst schon deine Gründe haben und ich will dich nicht verleiten. Dazu habe ich zuviel Respekt vor asketischen beziehungsweise in diesem Fall abstinenten Einstellungen… Falls deine Entscheidung nicht so sehr willentlich begründet ist, kann ich auch gerne einen abstinenten Abend einschieben und dir auf diese Art einen kleinen Freundschaftsdienst verrichten.“ – „Nein, das brauchst du auf keinen Fall…. Obwohl die Entscheidung in der Tat nicht bewusst getroffen ist. Eigentlich bin ich mir nicht einmal sicher überhaupt eine Entscheidung getroffen zu haben. Weißt du es gab seit unserem letzten Treffen in der Tat lange Jahre, in denen der Alkohol meinen Lebensmittelpunkt dargestellt hat. Zum Glück hat dieser Abusus nicht zu einer physischen Abhängigkeit geführt, aber eine psychische Notwendigkeit hat schon bestanden… Und von dieser habe ich mich vor eben jenen acht Monaten befreit, ohne mir dessen so ganz bewusst zu werden oder eine neue Einstellung zum Alkohol zu definieren. Das hört sich jetzt unglaublich an, aber mir war bis eben nicht einmal bewusst, dass ich seit diesem Moment wirklich keinen Tropfen mehr getrunken habe.“ – „Das hört sich aus deinem Mund wirklich unglaubwürdig an.“ – „Meine fatalistische Ader habe ich in deiner Gegenwart immer erstaunlich gut unter Kontrolle gehabt…. Also verstehe das jetzt nicht falsch. Ich habe keineswegs versucht dich zu täuschen. Vielmehr war sie in der Phase, in der wir zusammen waren, von anderen Eigenschaften vollständig überdeckt oder wahrhaftig nicht vorhanden… Aber es ist schon notwendig meine Einstellung zum Alkohol zu überdenken und neu zu definieren. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, erscheint es mir grundfalsch von einem Extrem ins andere zu verfallen. Und schließlich hast du ja recht: Alkoholgenuss in Maßen ist auch eine Kulturleistung, welcher wir uns nicht entziehen sollten. Und der Konsum eines Rauschmittels in wohldosierten Portionen ohne in Extreme zu verfallen, ist eine Herausforderung, an der wir nur wachsen können. Also lass uns deinen Vorschlag in die Tat umsetzen und mit deinem Malt beginnen. Auf das Bier werde ich, denke ich mal, zu vorgerückter Stunde zurückgreifen.“ – „Bist du dir sicher.“ – „Ja absolut. Die feige Flucht in die absolute Abstinenz kann ich nicht weiter vor mir verantworten.“ – „Na gut.“ David stand auf, ging in die Küche, füllte dort zwei Gläser mit Eis, kam zurück, öffnete den Schnapsschrank und goss den goldgelben Hochprozentigen über das Eis. Mit den Gläsern bewaffnet setzte er sich wieder zu Harry, übergab ihm eines und in seinem Gesicht lag hierbei der Ausdruck echter Sorge, verbunden mit der eindringlichen Warnung behutsam zu sein und sich nicht an der scharfen Waffe zu verletzen. „Also dann. Ich habe das Gefühl, dass du mir mehr zu sagen hast als ich dachte… Prost, mein Bester.“ Die beiden stießen an und tranken von dem gefährlichem Stoff. „Aber jetzt sag erst einmal wie es dir ergangen ist. Was macht der Job? Wo hast du Jana kennen gelernt? Wann habt ihr geheiratet? Und…“ – „Nun mal langsam mit den jungen Pferden und eins nach dem anderen. Also ziemlich unmittelbar nachdem du aus dem Staatsdienst ausgeschieden bist hat das Berlin/Bonn- Gesetz auch bei uns gegriffen und mein ganzes Referat wurde von Bonn nach Berlin an den zweiten Dienstsitz des Ministeriums verlegt. Und ich stand dann vor der Wahl mitzugehen oder in meinem Alter noch mal neu anzufangen. Wobei natürlich beide Alternativen einen Neuanfang beinhaltet hätten. Entweder einen beruflichen oder den Umzug in eine andere Stadt. Ich habe mich dann für den Umzug in die andere Stadt entschieden und denke auch, dass das eine gute Wahl war. Schließlich habe ich hier Jana kennen gelernt. Sie ist wirklich eine unglaubliche Frau. Sehr intelligent, charakterstark und dennoch liebevoll.“ – „Was macht sie denn beruflich?“ – „Sie arbeitet als freischaffende Journalistin und nebenbei als Dozentin für Germanistik an der Humboldt- Universität. Kennen gelernt haben wir uns bei einer Theatervorstellung von Goethes Faust. In einer Pause sind wir ins Gespräch gekommen und es hat sofort gefunkt.“ – „Also Liebe auf den ersten Blick?“ –„Warum so skeptisch?“ – „Seit meiner Kindheit fällt es mir schwer an ein so idealisiertes, romantisches, der Zyniker in mir würde sagen: kitschiges Prinzip zu glauben. Die Liebe auf den ersten Blick kann doch nur durch Äußerlichkeiten begründet sein und zu einer wahren Liebe erscheint mir ein viel tieferer Blick in die wahre, innere Schönheit des Gegenübers unabdingbar.“ – „Du denkst also nicht, dass es so etwas wie Seelenverwandtschaft gibt, welche man beim Blick in die Augen erkennen kann?“ – „Also bitte, dass glaubst du ja wohl selber nicht. Dieser ganze esoterische Quatsch von wegen, man schaut seinem Seelenpartner in die Augen und sieht alle Generationen, die man zeugen wird. Das sagen doch nur Gurus, die junges Fleisch ins Bett locken wollen. Wenn man jemandem in die Augen schaut, sieht man dort doch höchstens blau, grün, grau, braun, im Bestfall graugrünblaubraun und im Extremfall rot.“ – „Traurig, aber so kenne ich dich ja. Wenn es mich auch immer wieder verwundert, wie ein im Grunde schöngeistiger, poetischer, sehnsuchtsvoller Mensch so zynisch werden konnte… Aber in unserem Fall hast du sogar Recht. Liebe auf den ersten Blick war es, zumindest von Janas Seite, nicht. Wir haben uns auf intellektueller Ebene sofort verstanden, die gleichen Interessen beieinander entdeckt und waren uns einfach sympathisch. Dadurch haben wir dann sehr viel Freizeit miteinander verbracht und der Rest hat sich peu a peu entwickelt. Und jetzt sind wir seit fast einem Jahr verheiratet, haben uns das Haus hier gekauft und ich bin rundum zufrieden.“ – „Also dich als Hausmann oder im Garten beschäftigt kann ich mir nicht vorstellen.“ – „Das liegt aber nicht an deinem Mangel an Phantasie, den du ja, so wie ich dich kenne, nicht hast. Diese häuslichen Verpflichtungen übernimmt Jana in der Tat alleine und auch noch gerne. Von ihr kam ja auch der Impuls ein Haus zu kaufen, mir hätte eine kleine Wohnung vollkommen genügt. Wenn ich sie manchmal beobachte, wie viel Zeit sie im Garten oder der Küche verbringt, muss ich mich immer fragen, wo sie die Energie hernimmt nebenher noch geistig fit zu bleiben und einen so anspruchsvollen Beruf zu meistern.“ – „Und was macht dein Beruf?“ – „Ach, die öffentlich präsenten Gesichter wechseln, aber im Grunde ist es immer noch der gleiche Kampf gegen Windmühlen, den du zur Genüge kennst. Wenn ich sehe wie sehr diese ganzen Gecken vom Karrierestreben korrumpiert sind und wie wenig es ihnen um Inhalte und die Sache an sich geht, vermisse ich dich doch sehr… Aber das soll um Gottes Willen kein Vorwurf sein. Im Gegenteil manchmal wünschte ich, ich hätte deinen Mut und würde auch mit der ganzen unbefriedigenden Situation brechen. Aber das Thema hatten wir ja schon so oft. Ich versuche immer noch, jetzt allerdings noch einsamer, etwas zu erreichen und vorwärts zu bringen und die Institutionen der Machtversessenheit und Trägheit schmeißen mir Knüppel zwischen die Beine wo es nur geht. Na ja, bald habe ich es ja geschafft, dann kommt die Pensionierung und ich hoffe noch ein paar schöne Jahre mit Jana genießen zu können. Aber wenn ich ein bisschen mehr wie du wäre, also optimistischer und weniger resigniert, würde ich wahrscheinlich auch auf meine alten Tage noch mal neu anfangen oder mir zumindest jetzt schon ein Betätigungsfeld für den Ruhestand suchen.“ – „Da wäre ich aber sehr vorsichtig.“ – „Wieso? Denkst du ich bin nicht mehr fit genug?“ – „Nein das meine ich nicht. Es geht mehr darum, mir Eigenschaften wie Optimismus und ….ähem was ist denn das Antonym von Resignation?...Kampfgeist?..“ – „ …Mut?…“ – „….Änderungswille?...“ – „….Zuversicht?....“ – „…..ja Zuversicht ist sehr gut. Euphorie geht vielleicht auch…. Also das sind alles Eigenschaften, die du mir nicht guten Gewissens zuschreiben kannst. Zumindest nicht mehr…. Aber da du es gerade selber angesprochen hast. Was macht denn deine Gesundheit?“ – „Ich kann nicht klagen. Du weißt ja, dass man mit meiner Krankheit, besonders was das Herz- Kreislauf-System angeht, immer mit dem schlimmsten rechnen muss. Aber ich habe ja jetzt schon sehr viel länger leben dürfen, als viele meiner Leidgenossen und von daher ist alles bestens. Ich gehe regelmäßig zur Prävention und hoffe so, notwendige operative Eingriffe rechtzeitig durchführen lassen zu können. Und mit den ganzen modernen Diagnose- Verfahren und OP- Techniken sollten mir noch ein paar glückliche Jahre beschieden sein….“ Jana kam mit den zwei ersten Tellern ins Zimmer, stellte sie auf den vorgedeckten Esstisch und rief die Männer zum Abendbrot. Während des Abendessens entspann sich ein Gespräch über die kulturellen Vorlieben der einzelnen Essensteilnehmer. Es ging um Malerei, Musik, Literatur, Film und Theater und Harry verstand, was David an seiner Frau anziehend fand. Nach dem Essen, räumte Jana ab, entschied, dass der Abwasch bis morgen warten könne und leistete den Männern noch für ein paar Stunden Gesellschaft. Anschließend zog sie sich zurück und überließ den Freunden wieder das Feld für intimere Gespräche. „So jetzt bist du dran. Alles in allem machst du mir den gewohnten Eindruck und doch scheint ja so einiges in deinem Leben passiert zu sein. Jetzt erzähl mal wie es dir ergangen ist.“ – „…Ja, also, wo fange ich am besten an….Ich glaube ich stelle erst einmal das Bier zur Seite. Soviel Zeit muss sein und ohne den Druck lässt es sich ja auch leichter reden... Zeigst du mir das Badezimmer.“ – „Zum Flur raus und dann die zweite Tür rechts.“ Harry stand auf, ging ins Bad, erledigte sein Geschäft und machte sich frisch. „So und jetzt hätte ich gerne noch ein neues Bier, um meine Zunge und die Gedanken zu ölen.“ – „Bitte, bedien dich nur. Sie stehen im Kühlschrank.“ – „Sehr gut. Wohl temperiert schmeckt der Gerstensaft noch mal so gut.“

„Also viel passiert ist eigentlich seit unserem letzten Treffen nicht. Zumindest die Fakten sind schnell aufgezählt: Ich bin zurück in meine Heimatstadt gezogen und habe dort eine kleine Wohnung genommen. Um die bezahlen zu können habe ich meinen Taxischein gemacht und bin jetzt einfacher Taxifahrer.“ – „Sag das mal nicht so despektierlich. Umso einfacher die Berufe, umso notwendiger sind sie schließlich für die Gesellschaft. Auf Anwälte und Politiker könnte ich gut verzichten, aber ohne Bäcker, Fleischer und so weiter wären wir ganz schön aufgeschmissen…. Aber mit was hast du dich denn nun beschäftigt.“ – „Tja, …. das ist die Crux. Ich bin genau dem Fatalismus verfallen, den du mir vorhin abgesprochen hast und habe eigentlich die ganze Zeit über nichts gemacht. … Und das schlimmste ist: Ich meine damit nicht nur, dass ich nichts aktiv gemacht habe, sondern ich habe wirklich gar nichts gemacht. Nichts gelesen, mich nicht für die Nachrichten interessiert, mein Interesse für Kultur und Natur nicht gepflegt. Eigentlich habe ich nur wie ein Tier gelebt, mich mehr schlecht als recht ernährt, um zu überleben und mir nicht einmal die Zeit zum Nachdenken genommen…. Um mal eine Plattitüde zu benutzen: Es war zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel.“ – „Aber das kann ich so nicht stehen lassen. Du warst doch eben sehr gut über aktuelle Themen informiert und ich hatte das Gefühl, dass du sogar eloquenter warst, als ich dich in Erinnerung hatte.“ – „Ja es gab da so was wie ein Erweckungserlebnis, aber nicht so spirituell wie sich das jetzt anhört… Es war eher ein Erkenntnisprozess, der mich dazu bewogen hat, meine Situation zu überdenken und den Rückweg aus dem Wald in die dörfliche Gemeinschaft anzutreten. Nur dank dieser Erkenntnis habe ich ja den Kontakt zu dir wieder gesucht.“ – „Kannst du dieses Erweckungserlebnis näher beschreiben? Es hat doch wahrscheinlich mit der dir ähnlichen Person zu tun, welche du vorhin nebenbei erwähnt hast…. Wobei, ich glaube wir sollten erst einen Schritt nach dem anderen gehen. Erkläre die Zeit deiner Resignation doch etwas näher. Versuche aber nicht deine Handlungen zu beschreiben, die meine ich jetzt verstanden zu haben, sondern gehe mehr auf die Gründe ein.“ – „Dank dir.“ – „Für was?“ – „Einfach für deine Art. Du musst nämlich wissen, dass ich nicht ohne Hintergedanken zu dir gekommen bin. Was ich an dir immer am meisten bewundert habe, ist deine Gabe zwischen den Zeilen zu lesen und die Menschen, welche dir begegnen fast sofort richtig einzuschätzen und zu charakterisieren. Ich erhoffe mir, durch die von dir richtig gestellten Fragen, selber Klarheit zu erlangen und ein paar neue Impulse zu bekommen…. Das ich zum Beispiel eine mir wichtige Person erwähnt habe war mir gar nicht klar.“ – „Ich habe dir schon immer gesagt, dass du mehr auf das achten solltest, was du von dir gibst. Und die Fähigkeit Menschen einzuschätzen ist keine Gabe oder Zauberei, sondern ein Handwerkszeug, welches man lernen kann. Du brauchst nur ein bisschen Psychologie, Soziologie, Philosophie und natürlich Aufmerksamkeit für dein Gegenüber. Die Aufmerksamkeit ist etwas, was man natürlich nicht so leicht lernen kann und dein Interesse für Andere war schon immer eher schwach ausgeprägt.“ – „Wie wahr, wie wahr…“ – „So nun erzähl aber von den Gründen deines Fatalismus… Übrigens meine Fähigkeit Leute einzuschätzen kann doch nicht so stark ausgeprägt sein, da ich dir, den ich meinte sehr gut zu kennen, nie so eine Eigenschaft zugetraut hätte. Aber heute Abend hast du mich schon mehrfach davon überzeugt, dass es der Wahrheit entspricht.“ – „Das tut deinen Fähigkeiten keinen Abbruch. Es ist viel mehr so, dass ich zu Zeiten, wo wir uns kannten, diese Eigenschaften noch nicht ausgeprägt oder besser gesagt sehr gut unter Kontrolle hatte…. Also, die Gründe meiner Resignation…. Am besten fange ich mit den Gründen an, die mich bewogen haben den Job bei euch zu schmeißen und die sichere Karriere der gehobenen Beamtenlaufbahn aufzugeben. Karrierestreben war nie meine Antriebsfeder. Es ging mir nicht um Titel, das große Geld oder Statussymbole, wie Maßanzüge, Villen und dicke Dienstwagen. Meine Motivation war eher in einem abstrakteren Wissensdrang und, tja wie soll man das nennen,… Veränderungswillen begründet. Ich wollte nie den Status Quo aufrechterhalten, sondern die Gesellschaft verändern. So weit sind wir d' Accord. Dass das in unserem Job sehr schwer bis unmöglich ist, wissen wir beide. Der Unterschied ist nur, dass ich an diesem Wissen verzweifelt bin… und das war schon der erste Schritt in die Resignation.“ – „Das habe ich noch nicht als Resignation, sondern als Neuorientierung verstanden und dich für den dazugehörigen Mut bewundert.“ – „Vielleicht gab es am Anfang in der Tat noch den Wunsch nach Ausrichtung meiner Energien auf ein neues Betätigungsfeld. Aber es viel mir schwer ein neues Arbeitsfeld zu definieren und ich war der Meinung, dass es dieses Feld nicht gibt…. Und sag doch mal ehrlich: Auf welchem Gebiet soll man denn noch etwas bewegen, wo doch Alles erreicht scheint? Für große Schritte scheint mir kein Platz mehr zu sein und alles verliert sich im Kleinklein.“ – „Da magst du oberflächlich betrachtet Recht haben. Aber genau diese Oberflächlichkeit wundert mich an dir. Man hat wahrscheinlich zu jeder Zeit gedacht, dass alles Menschenmögliche erreicht ist und dann kamen Visionäre und haben neue Perspektiven aufgezeigt.“ – „Ja, aber zum Visionären spüre ich keine Kraft in mir…. Weißt du, dass du mir schon eine erste wertvolle Hilfe gegeben hast.“ – „Inwiefern?“ – „Wir sprachen davon, dass wir beide Wissensdurst und Veränderungswillen haben. Ich meinte erkannt zu haben, dass ich nichts Verändern kann und habe diese Erkenntnis auf mein gesamtes Streben generalisiert. Aber die Aneignung von neuem Wissen und die Bereicherung des Geistes sind ja vollkommen unabhängig von der Gestaltung der Welt. Bei Licht betrachtet sind sie sogar die Grundvoraussetzung vor der Veränderung.“ – „Gratulation zu dieser Erkenntnis. Aber erstens ist sie zu trivial für jemanden wie dich und zweitens hattest du sie schon vor mir, Stichwort: Erweckungserlebnis.“ – „Ja und nein. Ich habe wieder am Leben teilgenommen, dass ist wahr. Aber ein echtes Studium habe ich bis jetzt noch nicht wieder aufgenommen.“ – „Wenn ich das mal drastisch zusammenfassen darf: Du standest vor dem Scherbenhaufen deines Lebens. Alles, was du angestrebt hast, hat sich als nicht so einfach erreichbar erwiesen, wie du dachtest. Um ein neues Ziel zu definieren warst du zu faul…“ – „nicht faul, sondern unfähig…aber rede bitte weiter. Es hört sich nach einem gelungenen Fazit an.“ – „Also schön. Du warst also unfähig, was das ganze schon abmildert, da es sich hier um ein echt schwieriges Problem handelt. Um das Leben so zu akzeptieren, wie es ist, hattest du nicht den Mut und hast die Flucht in das Drogenparadies ergriffen.“ – „Wie schon gesagt. Ein sehr gelungenes Fazit… Jetzt habe ich meine Feigheit erkannt, mich von ihr befreit und stehe am gleichen Punkt. Die Notwendigkeit ein neues Lebensziel zu definieren steht wieder bedrohend vor mir und ich habe immer noch keine Ahnung, wie ich ihr begegnen soll. Zumindest habe ich jetzt für mich definiert, dass es kein Ausreißen und keine Flucht mehr geben soll.“ – „Das ist doch schon einmal ein Anfang. Wie kann ich dir jetzt helfen?“ – „Das weiß ich noch nicht genau. Die Tatsache jemanden zu haben, dem ich meine Gedanken und Nöte in geordneter Form mitteilen kann und der sie versteht, ist vielleicht schon Hilfe genug. Und wenn mir jemand einen Tipp geben kann, dann du…. Letztendlich sind wir doch zur Zeit auf der Suche nach einem Weg, auf welchem ich meine animalischen Energien sublimieren kann.“ – „Willst du sie wirklich sublimieren und nicht ausleben?“ – „Ja. Ausgelebt habe ich sie schon zweimal in meinem Leben. Jeweils mit sehr unbefriedigendem Ausgang. Das eine mal vor meinem Studium, davon habe ich dir glaube ich schon bei anderer Gelegenheit erzählt.“ – „Ja, ich erinnere mich.“ – „Und das andere mal gerade jetzt.“ – „Nein, da hast du sie nicht ausgelebt, sondern eher betäubt.“ – „Auch wieder wahr….“ – „Dann lass uns dein Problem doch mal etwas allgemeiner angehen: Auf welchem Weg kann man denn seine Triebe sublimieren? Beziehungsweise, zu erst einmal sollten wir klären, um welche Triebe es sich überhaupt handelt.“ – „Ich weiß nicht, ob dass eine Rolle spielt. Aber, da ich deinem Instinkt traue, will ich es versuchen. Also… zunächst einmal störe ich mich an deiner Formulierung, dass es sich um Triebe handelt. Da ist mir zuviel Professor Freud im Spiel. Es geht hier nicht um Sexualität.“ – „Sicher?“ – „ Ziemlich…. Ich kann es nicht genau beschreiben... Es gibt eine Hyperaktivität in mir, welche auf ein geeignetes Ziel fokussiert werden muss. … Letztlich suche ich einen Katalysator, um diesen Energieüberschuss, die Aggressivität und die Sehnsucht für einen sinnvollen Zweck nutzbar zu machen … Wenn ich es mir Recht überlege, ist Sublimierung sogar das falsche Wort für das, was Ursache meines Strebens ist. Es geht nicht darum niedere Instinkte in etwas Erhabenes zu verwandeln und auf eine, für das zivilisierte Zusammenleben notwendige, höhere Ebene zu stellen, sondern eher um das Gegenteil. Ich suche eine Möglichkeit Anspruchsvolles in einem anspruchsfeindlichem Alltag zu leisten und will mir letztendlich eine Flucht vor den Niedrigkeiten des Lebens ermöglichen oder zumindest lernen, mich mit ihnen zu arrangieren. Man könnte also sagen, dass ich meine zu hohen Ansprüche resublimieren und nicht meine Animalität ins Humane umwandeln muss. “ – „Na gut. Über die Frage, was du sublimieren musst, solltest du dir wohl wirklich besser selber klar werden, aber ich halte die Antwort für wichtig und wollte dich eigentlich nur darauf hinweisen. Dann zur anderen Frage: Auf welchem Weg kann man seine Triebe sublimieren?“ – „…. Beruf…. Kultur…. Wissenschaft….. Religion….. Familie…… Hobbys und Interessen…..mehr fällt mir ad hoc nicht ein.“ – „Mir würde noch Barmherzigkeit einfallen und du darfst nicht vergessen, dass die Themenfelder dieser Aufzählung nur dann zur Sublimierung taugen, wenn man sich ihnen aufopferungsvoll hingibt. Dann gehen wir sie mal der Reihe nach durch. Starten wir mit dem Beruf.“ – „Denn wir ja eigentlich schon hatten und von dem Kultur, Wissenschaft und Religion auch nur Spielarten sind…. Na gut Religiosität und kulturelles Schaffen müssen nicht unbedingt dem Broterwerb dienen und können auch in der Freizeit betrieben werden. Auch Wissenschaftliches Interesse und Weiterbildung können unabhängig von Arbeitgebern erbracht werden. Aber immer noch ist die Frage unbeantwortet, wie ein Beruf aussehen soll, um Großes bewegen zu können…. Wobei dieser Ausdruck auch deutlich zu angestrengt und zu weit gegriffen ist… Es geht mehr darum etwas zu finden um die Leere zu füllen.“ – „Okay mit dem Beruf drehen wir uns wirklich im Kreise, aber du scheinst auch erkannt zu haben warum. Unrealistische und überzogene Erwartungen müssen zwangsläufig enttäuscht werden und enden dann in Zynismus und der Resignation, an der du gelitten hast und von der ich mir nicht sicher bin, ob du sie überstanden hast.“ – „Ich befinde mich noch in der Rekonvaleszenz, aber der Optimismus hat mittlerweile wieder die Oberhand gewonnen und gibt mir das Gefühl auf einem guten Weg zu sein. Wenn auch der zurückkehrende Realitätssinn die Gefahr eines Rückfalles ganz klar sichtbar werden lässt…. Was ich dir nicht ganz glaube ist, dass du den Wunsch, mehr aus sich zu machen, als man ist, für das Grundübel hältst.“ – „Nein, das Grundübel ist er sicher nicht, aber du bist jemand, der liebend gern in Extreme verfällt und sehr wenig die Kunst der Diplomatie beherrscht… Das Streben mehr aus sich zu machen als man ist, ist im Gegenteil essentieller Lebensbestandteil für jemanden wie uns. Gefährlich wird es erst, wenn man auf Biegen und Brechen versucht, mehr aus sich zu machen als man sein kann.“ – „Gut. Soweit habe ich das verstanden…. Erstaunlicherweise habe ich also in der Tat versucht aus Karriere- und Erfolgswillen etwas anderes aktiv zu bewegen, anstelle mich fürs Erste damit zu begnügen, etwas in mir zu bewegen und zu schauen was sich daraus entwickelt.“ – „So würde ich das sehen.“ – „Damit sind wir bei dem Punkt Hobbys und Interessen angelangt… Etwas, was ziemlich abgeschmackt klingt, da ich damit hauptsächlich den Fußballverein, Computerdaddelei und Stammtische verbinde. Aber natürlich kann man sich in seiner Freizeit mit anderen Dingen beschäftigen. Und in der Tat zählte das Wandern, Lesen und Lernen zu den wichtigsten, schönsten und befriedigendsten Momenten der jüngeren Vergangenheit.“ – „Gut. Das hört sich doch schon ganz vernünftig an. Bleib Taxifahrer, werde Astronaut oder Putzkraft, Hauptsache du vernachlässigst nicht deinen Geist und deine kulturellen Bedürfnisse und arbeitest weiterhin am Subjekt. Die von dir angestrebte Arbeit am Objekt ergibt sich dann von selber oder eben auch nicht. Das ist dann eine zweitrangige Angelegenheit und nicht mehr als ein Abfallprodukt deiner Existenz.“ – „Danke… Du hast mir mal wieder die Augen geöffnet.“ – „Jetzt verfalle nicht gleich in Euphorie. Diese Einsicht ist erst ein Anfang und, nebenbei bemerkt, habe ich dir nur durch die richtigen Fragen geholfen sie selber zu erlangen…. Auch ist die Frage für mich nicht neu und auch für viele andere nicht, doch das Problem bei ihrer Beantwortung ist, dass es keine allgemeingültige Antwort gibt.“ – „Und darf ich spicken und einen Blick auf deine Antwort erhaschen?“ – „lachend. Meine Antwort ist im Prinzip mit der eben gegebenen identisch… Die große, chaotische Welt will ich nicht mehr ändern, nur noch meine eigene so gestalten, dass sie mir gefällt. Und seit ich Jana in diese Welt aufgenommen habe, ist sie ein ganzes Stück besser geworden.“ – „Darauf sollten wir anstoßen.“ Sie leerten noch ein Glas Whiskey und stellten fest, dass es sehr früh geworden war und das Gespräch sie sehr ermüdet hatte. David zeigte seinem Freund das Gästezimmer und sie wünschten sich eine gute Nacht. Am nächsten Morgen gab es ein Sonntagsfrühstück und Harry verbrachte noch einige Stunden in Davids wohl gestalteter Welt, bevor er den Zug zurück in seine, sich im Entwickeln begriffene, nahm.

Teil 4- Um sich als Leitstern zu entpuppen

Achtzehn

In dieser, seiner surreal, absurden Welt, bewegte sich Harry nunmehr in traumwandlerischer Verschlafenheit, stets gewahr unvermittelt und mit katastrophalen Folgen aus der Somnambulie geweckt zu werden. Im Whiteout der unwirtlichen Hochgebirgslandschaft stapfte er auf dem Gipfelgrat ohne entscheiden zu können, ob es bergan oder bergab ging. Mit jedem Schritt fürchtete er in eine Wechte zu treffen und durch einen Sturz in die Tiefe aus dem Konzept gebracht zu werden. Die existenzielle Erkenntnis, zu der ihm das Gespräch mit seinem Freund verholfen hatte, und die daraus abgeleitete Akzeptanz der absurden Situation des Grenzgängers, halfen ihm mit den Gefahren umzugehen. Der durchschnittliche Flachländer hatte zu keiner Zeit Verständnis für die Bezwingung eines Berges um seiner Selbstwillen gezeigt. Ob Kammerlander, Hillary oder Petrarca, für das Volk war ihr Antrieb nie klar gewesen und auch sie konnten oder können ihre Motivation für sinnlose Taten in einer Sinnwidrigen Welt wohl nicht befriedigend erklären. Doch wenn die ausgetretenen Pfade keinen Halt mehr für die Sehnsucht bieten, offeriert das steinige, unbegangene Terrain immer noch neue Möglichkeiten der Absurdität aus einem nie gekannten Blickwinkel lächelnd ins garstige Angesicht zu blicken. Letztendlich war es eine uralte Menschheitsfrage und es ging immer nur darum, die Bürde des Bewusstseins und die daraus abgeleitete Freiheit und Verantwortung zu erkennen und das Biest mit einem individuell gestalteten Zaumzeug zu domestizieren. Der individuelle Weg, auf dem Harry seine Existenz mit Essenz fühlen wollte, war ebenso entbehrungsreich, trocken, von Regen gepeitscht, glühendheiß und bitterkalt, steinig und sandig, wie die Wege, die Richardson oder Mallory auf sich genommen hatten. Doch die wichtigste, schönste und erschreckendste Eigenschaft der angestrebten Expedition war die Unbekanntheit des vor ihm liegenden Gebietes. Schon mit der in Angriffnahme der Expedition war ein Teilziel erreicht. Harry wappnete sich weiterhin für alle Eventualitäten, schulte sein Wissen und nahm an den Lebensbereichen, welche ihm Befriedigung versprachen, voller Inbrunst teil.

Eines Tages stieg ein geschniegelter, froher, etwas aufgeregt wirkender Mann von etwa vierundzwanzig Jahren am Bahnhof in sein Taxi. Er nannte ihm eine Adresse im Gewerbegebiet der Stadt und Harry fuhr los. Ungefragt teilte der Affektierte mit, dass er gerade seinen Ingenieur auf dem Gebiet des Maschinenbaus gemacht hatte und in dem mittelständischen Unternehmen seine erste Anstellung haben werde. „Kannst du dir denn so sicher sein, dass du den Job bekommst?“ – „Ich habe zwar noch ein paar andere Eisen im Feuer, aber wenn sich vor Ort nicht ein vollkommen anderer Eindruck, als aus der Ferne ergibt, werde ich wohl diesen Job annehmen. Die weiteren Qualifikationsmöglichkeiten sind hervorragend und die Bezahlung ist auch überdurchschnittlich. Die Anreize die ein Unternehmen geben muss, um Fachkräfte in diese Provinz zu locken, sind einfach größer, als man sie in den Ballungsgebieten nötig hat und mit dem Wissen, welches ich hier erwerbe,
bin ich dann bei den wirklich großen Unternehmen ein gefragter Arbeitnehmer und kann meine eigenen Bedingungen diktieren. Eigentlich müssten die sich schon wirklich ziemlich doof anstellen oder eine katastrophale Ausstattung haben, um mich noch umzustimmen.“ – „Meine Frage zielte nicht so sehr darauf ab, ob du dir sicher bist dieses Angebot anzunehmen, sondern ging eher in die Richtung, warum du dir sicher bist genommen zu werden?“ – „Aber hören Sie mal. Ich sehe keinen Grund nicht genommen zu werden. Mit der richtigen Qualifikation und einem selbstbewusstem Auftreten stehen einem doch heutzutage alle Türen offen.“ Harry lieferte den Narzisst ab und wartete auf sein Bitten für die Dauer seines Auftrittes vor dem Bühnenausgang. Mit einem selbstgefälligen Grinsen stieg der Hochmütige nach umjubelter Premiere wieder in den wartenden Wagen. „Genau wie ich es vorausgesagt habe. Die Firma muss ganz schön was bieten, um gescheite Köpfe in die Provinz zu locken und letztendlich war nicht ich der Bittsteller.“ – „Das freut mich für dich… Und hat dir dein Publikum das geboten, was du erwartet hast?“ – „Wieso? Welches Publikum?“ – „Ach, entschuldige bitte. Wir Hinterwäldler verwechseln manchmal die einfachsten Dinge… Aber daran wirst du dich gewöhnen müssen, wenn wir die Ehre haben, dass du zu uns ziehst. Tief Luft holend, nach den richtigen Worten suchend und umständlich neu ansetzend. Was ich eigentlich fragen wollte war, ob man dich von der Stelle überzeugen konnte.“ – „Oh. Ja. Im Großen und Ganzen haben Sie keine falschen Versprechungen gemacht. Ich kann eine Stelle als Entwicklungsingenieur antreten und die Firmenleitung scheint erkannt zu haben, dass sie ihre Marktführerschaft in der Nische nur halten können, wenn sie bereit sind sehr viel Geld in die Forschung zu stecken. Von daher gibt es hier wirklich optimale Arbeitsbedingungen.“ – „Das heißt also unsere bescheidene Stadt darf mit frischem urbanen Wind rechnen?“ – „Ja, ich denke ich werde dieser Stadt eine Chance geben.“ – „Das freut mich zu hören.“

Die Begegnung mit dem ihm so verschiedenen Charakter rief in Harry nicht nur selbstreflektierende Erinnerungen wach, sondern frischte auch den Gedanken an einen anderen jungen Menschen auf, den er vor kurzer Zeit auf ähnlichem Weg begleitet hatte. Bis auf die Tatsache das diese beiden Persönlichkeiten im gleichen Alter und einer identischen Situation waren, waren sie dennoch grundverschieden. Wie anders hatte doch der sanftmütige, bescheidene, schüchterne graue Hase von neulich gegen diesen altklugen, dreisten, eitlen und übermütigen Selbstdarsteller gewirkt. Die Wirkung dieses subtileren Charakters war dennoch sehr viel charismatischer und dauerhafter für Harry gewesen, wenn es auch in der Natur dieser Charaktereigenschaften lag, dass bis zu ihrer Wirkung eine lange Zeitspanne ungenutzt und unberührt verstreichen musste. Er musste an David und Irene denken, welche beide wie selbstverständlich die Wirkung eines anderen Menschen als Ursache für Harrys positive Entwicklung postuliert hatten. Dieser trivialen Einsicht konnte auch er sich nicht länger entziehen. Ottilia war das Fanal, welches sein Erwachen aus langem, allumfassendem Alp, verursacht hatte. Es war natürlich nicht die Person Ottilia, die der gemeine Bürger automatisch bei dieser Aussage vor Augen haben muss. Vielmehr handelte es sich um einen verklärten Traum ihrer selbst. Dieses Zerrbild fußte auf einem verbotenen, tiefen Einblick in die wahre, innere Schönheit der ihm wertvollen Person und die romantische Geschichte seiner Erweckung war letztendlich nur Kopfkino ohne jedweden Bezug zur fleischlichen Wirklichkeit. Seine Liebe, denn er war gewillt dieses große Wort in diesem Fall zu benutzen, obwohl es seiner Meinung nach oft zu inflationär gebraucht wurde, war ein passives, lebloses Prinzip ohne Anknüpfungspunkt zum Realen. Ottilia war während ihres ganzen großen, seine Welt bewegenden Werkes nie Aktion gewesen und hatte es dennoch geschafft eine nicht für möglich gehaltene Reaktion zu bewerkstelligen. Schon in ihren jungen Jahren hatte sie der Absurdität ein Schnippchen geschlagen und eine sinnvolle Tat vollbracht. Noch war Harry sich nicht klar darüber, ob er Aktion in seinem Verhältnis zu ihr anstreben sollte und dadurch Gefahr lief das Traumbild zu zerstören. Vielleicht war es vielmehr ausreichend den Schwung mitzunehmen und sie so in Erinnerung zu behalten, wie er sie sich zurechtgeformt hatte. Die Alltags- Ottilia konnte diesem Ideal unmöglich gerecht werden und die Illusion musste zwangsläufig an der Realität zerbrechen und enttäuschend auf ihn wirken. Diese Feststellung war allerdings nicht so negativ konnotiert wie es den Anschein hat. Vielmehr deckte sich auch der Alltags- Harry in keiner Weise mit seinem Selbstbild, sondern war verdammt seine Existenz in Trivialitäten und Notwendigkeiten zu fristen. Die Entzauberung des Leitsterns beinhaltete also nicht weniger, als die Annahme der Absurdität und damit einen Ansatz zu ihrer Überwindung. Um die Entscheidung einer etwaigen Konfrontation des süßen Traumes mit der rauen Wirklichkeit auf einer fundierten Faktenlage zu begründen, widmete er sich wieder dem weinroten Notizbuch. Dieses Mal musste er es nicht lange in seiner Wohnung suchen, sondern er wusste seine Reliquie an einem wohl gehüteten Platz seiner Vitrine, an der sie vor voreiligem Zugriff sicher verwahrt war. Er nahm sich wahllos einen der Einträge vor und begann darin zu lesen:

„ Nächste Woche geht es wieder los. Die bittere Realität umfasst mich erneut mit ihren eisigen Klauen und zieht mich zurück in die Trübsal der Notwendigkeit. Jetzt habe ich fast ein viertel Jahr Semesterferien genießen dürfen, doch diese schöne Zeit neigt sich nun ihrem fatalen Ende zu. Die Ferien waren eine so ersehnte Abwechslung zum anstrengenden Alltag des Studiums und haben mich, trotz ihres vollmundigen Versprechens, in keiner Weise enttäuscht. Während meine Kommilitonen Reisen und Vergnügungen planten oder dem Zwang Geld zu verdienen ausgesetzt waren, hatte ich die Freude die beste aller vorstellbaren Unternehmungen anzutreten. Ich durfte meine Reisetasche packen, mich in den Zug setzen und die Reise zurück in das sagenumwobene Land meiner Kindheit antreten. Meinen liebevollen Eltern habe ich das Glück zu verdanken, erneut in vollständiger Geborgenheit, Unbekümmertheit und frei von Zwängen unbeschwert aufleben zu können. Ich werde am Bahnhof abgeholt, Papa entlastet mich von meiner Tasche, Mama hat Kaffee und Kuchen zum Willkommen bereitet und dieses angenehme Behütetsein nimmt über die ganzen Ferien kein Ende. Dieses Elternhaus bietet mir soviel Liebe und Stetigkeit, dass es unmöglich ist daran zu denken, dass dieser Zustand der Glückseligkeit jemals enden könnte. Morgens steht man auf und das Frühstück ist bereitet. Die Tageszeitung liegt griffbereit und Sonderwünsche werden mir von den Augen abgelesen und unverzüglich erfüllt. Nach dem Essen kann ich aufstehen, alles stehen lassen und in den Garten gehen, mich in die Sonne legen und ein Buch lesen oder am Teich Algen fischen. Nach dem Mittag habe ich die Freiheit mein Botanisierzeug einzustecken, lange Streifzüge durch die Natur zu unternehmen, Pflanzen zu bestimmen und besondere Fundstücke mitzunehmen und für spätere Betrachtung zu konservieren. Die Klassifizierung von Pflanzen und Käfern, sowie ihre Sammlung haben mir schon immer ein unbeschreibliches Vergnügen bereitet. Doch diese unbekümmerte, sorgenfreie Welt ist wohl nicht mehr als ein Trugbild und Wunschtraum. Ich bin zu sehr Realist, um nicht zu sehen, dass die Heimat als abstraktes Gefühlsgebilde nicht ewig existieren kann und der Zeitpunkt kommen wird, an dem ich für immer Ade sagen muss. Und genau in dieser notwendigen Erkenntnis liegt das Problem. Umso mehr ich mich in die Traumwelt verbeiße, umso schwieriger wird der Moment des Abschiedes fallen. Und das dieser Moment kommen muss ist genauso sicher, wie sonst nur der Tod. Aus diesem Grund darf ich das erlebte Abenteuer auch nicht als mehr ansehen. Das Glück ist eben nur eine Episode, eine Sommerfrische, welche genossen und ausgekostet werden will, aber nun ist es an der Zeit, den Blick wieder nach vorne zu richten und die Gestaltung meines weiteren Lebensweges erneut in Angriff zu nehmen. Alle meine Freunde werfen mir vor in der Vergangenheit zu leben und die Existenz als Erwachsene nicht so zu leben, wie es sich gehört und wie es angeblich normal ist. Und sie haben ja auch Recht. Ich kenne keinen jungen Mensch, der so gerne die alte Zeit der Kindheit wieder aufleben lässt, wie ich. Alle „Normalen“ haben nur Parties, Sex und Abenteuer im Kopf. Aber was spricht dagegen den Urzustand, in welchem das Glück noch greifbar war und nicht bloß ein fernes, unscharfes Versprechen, wieder aufleben zu lassen, wenn man die einzigartige Chance dazu hat.“

Das soeben gelesene verblüffte Harry ziemlich und passte doch irgendwie zu Ottilias Persönlichkeit und dem Bild, dass er sich von ihr gemacht hatte. Ihre Kindheit hatten wahrscheinlich alle Sprösslinge der Mittelschicht in einer ähnlichen Situation verbracht, wie Ottilia sie gerade kurz umrissen hatte. Aus seiner Erfahrung konnte er ihre Annahme bestätigen, dass diese Erlebnisse im Normalfall nicht dazu führten den Wunsch nach ihrer Fortlebung zu hegen, obwohl sie durch und durch positiv waren. Diese, ihre Abweichung vom Normalen fand er an sich schon sehr sympathisch, obwohl er sich in diesem speziellen Fall so gar nicht damit identifizieren konnte. Auch seine Kindheit war unzweifelhaft sehr glücklich und behütet verlaufen und dennoch konnte er sich dem Zwang, sich zu entwickeln und sich zu ändern, nicht entziehen. Hier bot sich ihm ein weiterer Erklärungsansatz für den unverdorbenen, unschuldigen und beschützungswürdigen Eindruck, den Ottilia auf ihn gemacht hatte. Sie schien in der Tat die Kraft gehabt zu haben, sich dem vermeintlichen Schicksal der Reifung zu entziehen und der tristen Existenz auf dieser Weise zu entfliehen. Natürlich konnte auch sie sich nicht dem biologisch Unvermeidlichem entziehen und der kindliche Körper war in zarter Fraulichkeit erblüht, würde weiter an sexueller Strahlkraft gewinnen, um sich schließlich dem schon eingesetzten Zerfallsprozess beugen zu müssen und in wabbeliger Faltigkeit seinen letzten Atem auszuhauchen. Auch war sich Harry nicht ganz klar darüber, ob er die Verharrung in einer überkommenen Entwicklungsstufe goutieren sollte. Hätte man ihm bis vor kurzer Zeit von einer jungen Frau erzählt, welche sich die Empfindungen ihrer Kindheit bestmöglich konserviert hatte, hätte er höchstens gelacht und die erwähnte Person als uninteressant und lebensunfähig abgetan. Doch in diesem Fall fiel ihm die Verurteilung nicht so leicht, wie er es sich gewünscht hätte. Ottilia war nicht infantil im Sinne von debil. Sie hatte einen klaren Verstand und war drauf und dran Karriere im bürgerlichen Sinn zu machen. Aber auch das war im Prinzip nicht das positive an ihrer Einstellung. Vielmehr ging es darum, dass sie die Infantilität als eine Art ungewöhnliches Freizeitvergnügen betrachtete, die dazugehörigen Gefühle und Empfindungen in ihrem Herzen bewahrt hatte und dennoch fähig war mit dem Verstand die Realität zu erkennen. Auch sie hatte nicht den Wunsch oder besser gesagt die Fähigkeit sich aus Gruppenzwang gewöhnlichen Hobbys zu widmen, sondern lebte ihre Eigenheiten ungehemmt aus und war sich dabei selbst genug. Auf seine eigene, ungrantliege Art war auch dieses junge, lebensfrohe Mädchen ein Misanthrop und ihre Form mit dieser Gesellschaftssicht umzugehen war weder die Flucht in Einsiedelei, Alkohol oder Zynismus, sondern die Verschanzung in den Trutzburgen glücklicher Kindheitstage. Sie hatte sich mit ihrer eigenbrötlerischen Art im Leben eingerichtet und ein erstaunliches Talent bewahrt sich an den einfachen Dingen zu freuen. Während viele an krankhaften Erwartungen litten, nach immer mehr strebten, schon bald jegliches Interesse am selbstverständlich Scheinenden verloren und keine Befriedigung mehr aus ihm ziehen konnten, hatte sie sich die kindliche Freude an den einfachen Dingen bewahrt. Sie konnte aufstehen und einen weiteren Tag in einer langen Reihe gleichförmig, ereignisloser Tage verbringen und trotz oder gerade wegen seiner Dauerhaftigkeit und Beständigkeit ihre Freude aus ihm ziehen. Zum einen bemitleidete Harry sie für das Erstarren in vermeintlicher Mittelmäßigkeit, doch auf der anderen Seite war es befreiend nicht zwischen Extremen wandeln zu müssen, um Befriedigung zu finden. Die Wanderung vom Schatten ins Licht, vom Berg ins Tal und zurück von der Scheiße in den Kaviar, war eine Möglichkeit eine Fünfsterne- Mahlzeit auf einem besonnten Gipfel genießen zu können, doch auf Dauer war sie sehr anstrengend.

Wieder einmal fasziniert von den Gedankengängen, die sein Fundstück in ihm hervorgerufen hatte, widmete Harry sich gleich dem nächsten Eintrag:

„Heute Abend sind alle meine Freundinnen mit ihren Freunden ausgegangen und ich sitze hier allein in meinem Studienzimmer und suche Liebe und Geborgenheit, wie ein kleines Kind. Wie oft schon wollten Claudia und Isabel mich verkuppeln und mir endlich auch zu einem Freund verhelfen, aber dazu verstehen sie einfach viel zu wenig das Ziel meiner Suche. Meine Mädels haben Dates mit so vielen Typen und suchen sich den vermeintlich Richtigen unter ihnen aus, aber ich will das alles nicht. Phillip hat mir neulich sogar vorgeworfen ich sei liebesunfähig, weil ich mich permanent weigern würde mit ihm essen zu gehen. Dieser Vorwurf hat mich sehr schwer getroffen und ich weiß einfach nicht, was ich darauf noch erwidern soll. Einfach zu sagen: ‚Tut mir Leid. Du bist halt nicht mein Typ.’, wäre deutlich zu kurz gegriffen und auch noch gelogen. Phillip sieht gut aus, wir sind uns sympathisch und ich verstehe mich außerordentlich gut mit ihm. Mit ihm kann ich lachen und sogar ernste Gespräche führen. Ich habe selten jemanden getroffen, der mir so ähnlich ist und mit dem ich so auf einer Wellenlänge war. Also hat er vielleicht doch Recht und ich bin einfach nur frigide. Aber nein das kann nicht sein. Ich fühle mich so übervoll von Liebe und Zärtlichkeit, dass ich denke, dass es das Übermaß ist, was mich erdrückt. Ich bin nicht bereit mein romantisches Bild einer dauerhaften Liebesbeziehung aufs Spiel zu setzen und Gefahr zu laufen enttäuscht zu werden. In meiner Vorstellung von einer Partnerschaft zählen Dinge wie Treue, gegenseitiges Vertrauen, Geborgenheit und Zärtlichkeit sehr viel mehr als alle Formen von Körperlichkeit. Bei Licht betrachtet habe ich sogar eine Abscheu vor zu intimen Körperlichkeiten. Sex macht viel von der Zweisamkeit kaputt und stellt die zwischenmenschliche Beziehung auf eine niedere, animalische Stufe. Und wie so viele scheint mir Phillip genau diese vermeintliche Vertiefung unserer Beziehung anzustreben. Claudia hat mir gesagt, dass sie sich absolut sicher sei, dass Phillip es ernst mit mir meint und mich nicht nur als Trophäe betrachtet, welche er nach dem finalen Schuss an die Wand seines Jagdzimmers hängen will. Auf meine Versicherung, dass ich mir dessen bewusst bin, hat sie dann mit vollkommenem Erstaunen reagiert. Auch meine beste Freundin kann meine Probleme nicht nachvollziehen und wenn ich ehrlich bin, fällt es sogar mir selber manchmal schwer. Ich habe das Gefühl, nie einem Menschen so vollständig vertrauen zu können, ihn so gut zu kennen und zu verstehen, dass ich in der Lage sein werde ihm die zarte, pflegebedürftige Pflanze meiner Liebe anvertrauen zu können. Und selbst wenn ich jemanden finden sollte, der mir in der Momentaufnahme absolut vertraut und treu scheint, kann ich nicht sicher sein, wie er oder ich mich entwickeln. Meine Liebe benötigt Stetigkeit und wird durch die Brüche, welche das Leben zwangsläufig mit sich bringen wird, nur unnötig geknickt und gequält. Sie soll nicht durch berufliche Verpflichtungen, Gewöhnung aneinander und mangelnde Aufmerksamkeit zertrampelt werden. Dann ist es schon besser sie auf ewig im Gewächshaus zu halten und diese Kostbarkeit nie dem Unbill des Wetters im Freien auszusetzen.“

Mit diesem Eintrag schien ihm ein möglicher Rettungsweg aus seiner Zwangslage geradezu vor die erstaunten und immer noch ungläubigen Füße gefallen zu sein. Er hatte erkannt, dass Ottilia eine gute Tat vollbracht hatte, indem sie ihn gerettet hatte. Nun war es an ihm diese Tat zu vergelten und seinerseits Ottilia eine Hilfestellung zu geben. Nie wurde ihre Hilfsbedürftigkeit und die Möglichkeit der Rettung für ihn so klar, wie durch den eben gelesenen Eintrag. Er hatte es mit einem hochintelligentem, empfindsamen Wesen zu tun, welches zusehends an seinen zu hoch gesteckten Idealen zu zerbrechen drohte. Sollte es ihm gelingen ihr die Schönheit des Schmerzes und Bruches verständlich zu machen und die Sehnsucht nach ursprünglichem Leben zu wecken, bestand für sie eine Möglichkeit ihr Verlangen zu stillen und nicht nur das Glück entfernter Epochen zu leben, sondern ihre Zukunft positiv zu gestalten. Wenn er diese Werk vollbrachte hatte er zumindest für die Dauer seiner Bestimmung ein sinnvolles Anliegen, welches voll und ganz taugte seine Energie und Schaffenskraft zu sublimieren. Doch wie sollte er diesen Auftrag angehen. Der Engel war in sein Leben getreten, hatte ihm eine Richtung aus dem Dunkel gewiesen und war genauso plötzlich wieder verschwunden. Er wusste die genaue Zeitspanne nicht zu benennen, und diese Zahl spielte auch eine untergeordnete Rolle, aber seit einer gefühlten Ewigkeit hatte er das liebreizende Geschöpf nicht mehr gesehen und wusste auch nicht an welchem Ort er nach ihr suchen sollte. Ihr Himmel war für den Unterweltbewohner versperrt und er wusste keinen Boten, um ihr Nachricht von sich übermitteln zu können. Schlimmer wog noch, dass er nicht einmal wusste, wie es ihr zum aktuellen Zeitpunkt eigentlich ging. Sie hatte irgendwo auf dieser Welt einen neuen Lebensabschnitt eingeleitet und es bestand die Möglichkeit, dass sie ihre Scheu überwunden hatte und mittlerweile in der Lage gewesen war das Versprechen des Lebens auf positive Gefühle und Stimmungen einzulösen. Doch diese Eventualität hielt Harry für ebenso unwahrscheinlich wie wünschenswert. Er hatte ihr Innerstes durch zwei Lebensabschnitte begleiten dürfen und erkannte zu viele Parallelen zu seinem eigenen Charakter. Ein so fundamentaler Wandel war nicht einfach so zu erreichen und dies bestärkte ihn in seinem Gefühl hier mit einer lohnenden Aufgabe konfrontiert zu sein. Blieben also hauptsächlich die praktischen Hindernisse, welche allerdings allein schon schwer genug wogen. Er kannte ihr Elternhaus in der Mittelstrasse, aus dem er die Ehre hatte sie so oft abzuholen. Natürlich konnte er klingeln und die Eltern nach dem Verbleib ihrer Tochter fragen. Aber trotzdem er sich ziemlich sicher war, dass Ottilias Eltern keine falsche Vorstellung von ihrer Tochter bekommen würden, zögerte er ob dem Eindruck, welchen ein Mittvierziger auf Eltern machen muss, wenn er nach dem Aufenthaltsort ihrer fünfundzwanzigjährigen Tochter fragt. Doch da dies die einzig gangbare Richtung für seinen ersten Schritt schien, wollte er die Möglichkeit nicht ganz verwerfen.

Neunzehn

In den nächsten Tagen stellte Harry die Frage, wie er den Kontakt zu Ottilia wieder herstellen konnte fürs Erste hinten an und widmete sich mit erhöhter Aufmerksamkeit dem, was er ihr mitzuteilen gedachte. Erstere Frage löste sich nach ihrer Einstufung zu niedriger Priorität wie von selbst. Ihm fiel ein, dass auf der ersten Seite seines Schatzes neben dem Namen seiner rechtmäßigen Besitzerin auch eine Handynummer und eine Emailadresse vermerkt war. Eben noch unwissend wie sie überhaupt zu erreichen sei, taten sich ihm auf einen Schlag zwei Pfade auf und er stand vor der Entscheidung sie anzurufen oder ihr eine Mail zu schicken. Aus zwei Gründen entschied er sich schlussendlich für die Kontaktaufnahme per Email. Obwohl sein Anliegen ein zutiefst persönliches war, welches im unmittelbarem zwischenmenschlichem Dialog wohl besser aufgehoben war, bot ihm die Möglichkeit eines niedergeschriebenen Monologs zu Beginn eine bessere Form seine verworrenen Gedanken sauber zu artikulieren ohne sich selbst in ihrem Gespinst zu verfangen. Außerdem war noch völlig offen, wie Ottilia auf die Anrede reagieren würde. Mit dem Wissen, das er sich voyeuristisch von ihrem Seelenzustand angeeignet hatte, sah er gute Chancen für sich zu ihrem innersten Empfinden vorstoßen zu können. Doch er wusste auch, dass er es hier mit einem verstörten und misstrauischen Pflänzchen zu tun hatte, welches beim ersten falschen Wort oder Gedankengang sofort erschrocken und verängstigt den Kontakt abbrechen würde. Auf eine Email musste sie nicht unmittelbar antworten, sondern sie konnte erst einmal über die Vorschläge, die er ihr zu unterbreiten gedachte, inkubieren und ihm anschließend eine wohl durchdachte Antwort übermitteln. Aus diesem Grund war die Form des elektronischen Briefes eindeutig vorzuziehen, aber dennoch war der Beginn des ersehnten Kontaktes sehr viel diffiziler einzuleiten, als er sich das erhofft hatte. Einerseits musste er einen Aufhänger finden, um zu gewährleisten, dass sein Anliegen nicht unvermittelt im elektronischen Papierkorb landete. Andererseits war es wichtig nicht sogleich mit der Tür ins Haus zu fallen und Ottilia mit zu offenem Gebaren zu verschrecken. Um diese ambivalenten Anforderungen zu meistern, war Ausdauer und Geschicklichkeit gefragt, denn dieser Spagat musste nicht nur während der ersten Briefe durchgehalten werden, bis das Zutrauen der Vertrauensscheuenden hergestellt war, sondern als Kür gleich zu Beginn auf engstem Raum, innerhalb einer Betreffzeile, vollführt werden. Da er keinen eigenen Computer zur Verfügung hatte, skizzierte er den Entwurf des ersten Briefes mit Bleistift auf Papier. Viele Feierabendstunden feilte er an der Feinjustierung des, für das Gelingen seines Vorhabens, zur präzisen Arbeit verdammten Skalpells, bevor er es für den ersten Schnitt zur Freilegung der verborgenen Schichten ansetzte. Nachdem er sein Werkzeug für gut befunden hatte und sein Perfektionismus endlich Ruhe gab, erhob er sich von seinem Stuhl, watete durch die, sich aus verdichteten Baumresten auf dem Boden gebildete, Mittelgebirgslandschaft und begab sich in ein Internetcafe. Hier tippte er die Endversion seines Werkzeuges ab und sendete das Ganze an die Adresse aus dem roten Notizbuch. Bevor der Mauszeiger über den ‚Senden’ - Button huschte und diesen mit einem Linksklick betätigte, war auf dem Bildschirm der folgende Text lesbar:


Betreff: Der Verbleib deines Tagebuches


Liebe Ottilia,

ich bin unverschuldet in den Besitz eines wichtigen, sehr privaten Teiles deiner Persönlichkeit gelangt. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich darin gelesen habe. So wie ich meine dich dadurch kennen gelernt zu haben fürchte ich, dass du diese Mail sofort löschen wirst. Ich bitte dich das nicht zu tun und mich erst anzuhören. Solltest du im ersten Schreck nicht in der Lage dazu sein, so versprich mir die Mail zu speichern und zu lesen, falls du irgendwann die Kraft dazu verspürst. Sei vergewissert, dass ich dich nicht weiter belästigen werde und du erst wieder von mir hören wirst, wenn du soweit bist und mir dies durch deine Antwort bekundet hast.

Zuallererst möchte ich dir von Herzen danken. Wofür? fragst du jetzt wahrscheinlich. Nun ich habe in dir oder besser gesagt in dem, was ich von deinen Gedanken gelesen habe, einen Spiegel meiner selbst gefunden. Obwohl wir uns nie in der realen Welt gegenüberstanden und dies aller Voraussicht nach auch nie tun werden, meine ich in dir einen Freund gefunden zu haben, der mich versteht, wie kaum ein anderer Mensch dem ich bis jetzt begegnet bin. Und obwohl du nur als Reaktion auf mich gewirkt hast und nicht die Chance hattest meine Existenz als atmende Frau aus Fleisch und Blut zu bereichern, hattest du die Kraft meinem Leben eine entscheidende Wendung zu geben. Doch davon will ich dir an anderer Stelle mehr erzählen. Als erstes möchte ich der Fairness ihr Recht einräumen und Chancengleichheit zwischen uns herstellen. Du hast mir ungewollt tiefe Einblicke gewährt und ich möchte versuchen dir die gleiche Ausgangslage zu verschaffen, indem ich dir etwas von mir erzähle. Ich hoffe damit Vertrauen zwischen uns aufbauen zu können und weiß gleichzeitig, dass dies ein sehr hilfloser Versuch ist. Ich kann dir nicht mehr bieten als mein Versprechen schonungslos offen zu sein und wahrheitsgetreu zu berichten. Und schon hier beginnt mein Problem. Solange du kein Vertrauen hast ist mein Versprechen, auf dessen Fundament das Vertrauen ja erwachsen soll, nur eine leere Hülse. Wenn du Sicherheit suchst und Gewissheit über meine Geschichte verlangst wüsste ich nicht, wie ich sie dir geben könnte. Lass dich ganz unverbindlich auf sie ein und entscheide am Ende selber, was du daraus machen willst.

Ich möchte meine Erzählung zu einem Zeitpunkt beginnen, an dem ich etwa vierzehn Jahre alt war. Bis zu diesem Zeitpunkt ist mein Leben dem deinen, so wie ich es kennen lernen durfte, sehr ähnlich verlaufen. Ich bin in einem bürgerlichem Haushalt der Mittelschicht aufgewachsen, meine Eltern haben sich liebevoll und aufopfernd um mich gekümmert und es hat mir an nichts gefehlt. Doch zu diesem Zeitpunkt hat mir die Existenz in der schönen neuen Welt nicht mehr genügt. Damals konnte ich das einsetzende Gefühl der Unzufriedenheit nicht adäquat artikulieren und ich will mal versuchen, ob ich es jetzt kann. Der Mensch wird nach meinem tiefen Empfinden durch Streben, Wollen, Gefühle und Sehnsucht zum Menschen und diese Triebe werden durch die Gesellschaft und die von ihr verlangte Konformität unterdrückt. Ich bin mir nicht einmal mehr so sicher, weshalb ich schon darunter gelitten habe, da ich, aus der Retrospektive betrachtet, in einer Zeit aufwachsen durfte, in welcher dem Freigeist und der Unabhängigkeit ein noch weitaus größerer Stellenwert beigemessen wurde, als es heute der Fall ist. Um wie viel härter muss die Diskrepanz zwischen Menschlichkeit und Anpassung jemanden treffen, der, wie du, in der modernen Zeit aufgewachsen ist. Das letzte was ich möchte ist auf dich wie ein alter Sack zu wirken, welcher ich biologisch im Übrigen bin, der die ‚gute alte Zeit’ verklärt und sich sehnlich zurückwünscht. Doch du musst zugeben, dass der Jugend heutzutage, oder besser gesagt zu allen Zeiten und ich habe nur das Gefühl, dass dieser Prozess beständig an Fahrt gewinnt, die Luft der freien Entfaltung genommen wird. Leistung ist das einzige Kriterium das zählt und die Räume zum Experimentieren werden immer enger. Aus deinen Tagebucheinträgen konnte ich entnehmen, dass für dich die Leistung, erst in der Schule, dann im Studium und nun in deinem beginnenden Berufsleben ein sehr zentraler Punkt ist und du danach strebst den Anforderungen gerecht zu werden und sie mehr als nur genügend oder gut zu erfüllen. Ich bin fest überzeugt, dass du dem Menschen in dir zu wenig Freiräume lässt und dem Durst nicht genügend Beachtung schenkst. Doch was ein Mensch leisten muss, ist ein Drahtseilakt auf dem schmalen Grat zwischen geistiger und animalischer Existenz. Diesen Balanceakt unfallfrei zu überstehen ohne zumindest einmal in eine der bedrohlichen Klüfte abzustürzen ist wohl niemandem vergönnt. Was schon für den Erfahrenen eine Kraftanstrengung bedeutet, ist für den Heranwachsenden wohl unmöglich. Ich habe mich in meiner Jugend umfangreich dem Alkohol und dem, was heutzutage als Spaßgesellschaft verschrien ist, hingegeben. Einmal in diese Tiefe gestürzt habe ich ein gutes Jahrzehnt gebraucht, um mich wieder auf den Mittelweg zu begeben. Doch diese Zeit darf man nicht als verschwendet oder gar verloren betrachten. Ich möchte keinen meiner Exzesse missen und kann nur sagen, dass unter anderem sie mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin. Nachdem ich erkannt hatte, dass im Tal der biologischen Triebe nicht genug Wasser fließt, um mich am Leben zu halten, habe ich wieder die Höhe erklommen, um gleich darauf erneut, dieses mal an der anderen Flanke, des monströsen, angsteinflößenden Berges der Wahrheit abzustürzen. Ich habe studiert und es nach einigem Bemühen geschafft eine Karriere zu machen, auf die meine Eltern stolz waren. Doch auch in dieser Niederung hat mir etwas gefehlt und so bin ich auf verschlungenen Wegen, ohne erneut über die Höhe zu gehen, zurück in die andere Senke, in welcher ich total verschüttet wurde. Aus dieser Lethargie konnten mich dein Tagebuch und die darin festgehaltenen Gedanken befreien. Ich habe in dir jemanden erkannt, der mir sehr ähnlich ist. Allerdings hast du, so wie ich es verstanden habe, nie das Fernweh gespürt und dich gefragt, wie das Leben jenseits des Gebirges ist und wie es sich als Tier leben lässt. Ich meine erkannt zu haben, dass für unsere Seelen die Zukunft nur in der Höhe liegen kann. Wir müssen für uns persönlich einen gangbaren Mittelweg zwischen den Notwendigkeiten des körperlichen Triebes, der Anspruchslosigkeit der Durchschnittsgesellschaft und den Bedürfnissen des Geistes finden, um nicht in diesem Spannungsfeld zu zerbrechen. Da du mir zu dieser Erkenntnis verholfen hast, möchte ich dich zum Dank auf meiner Expedition mitnehmen und den diesmal gut vorbereiteten Anstieg auf die Grate und Kämme des wahren Lebens mit dir zusammen in Angriff nehmen. Mit meinen schmerzhaft scheinenden und doch wertvollen Erkenntnissen über die Unwägbarkeiten des Geländes, biete ich dir an dein Sherpa zu sein und dich notfalls zu tragen, falls dir die Kraft ausgehen sollte. Ein solches Angebot von einem Tatterkreis, muss auf ein junges Mädchen wie dich erschreckend wirken und dieses Entsetzen macht dich in meinen Augen nur noch glaubwürdiger und wertvoller. Sei versichert, dass diese Expedition niemals in der Realität stattfinden wird. Ich habe dich als abstraktes, geistiges Gebilde kennen gelernt und möchte es auch dabei belassen. Die Form des Briefes scheint mir am besten geeignet, um eine neue Lebensphilosophie im Dialog miteinander zu entfalten. Vertraue meinem Urteil, dass wir verwandte Seelen sind die voneinander profitieren können, ignoriere in diesem Fall dein wertvolles Misstrauen, gib deinem Herzen einen Schub und lass dich ganz unverbindlich auf das Angebot ein.

In tiefer Dankbarkeit

Ein treuer Freund

Nachdem Harry diese Mail verschickt hatte, drehte sich sein ganzes Leben, wie bei einem Frischverliebten oder einem hoffnungsvollem Bewerber, nur noch um den Posteingang seines Emailaccounts. Obwohl sein Verstand ihm sagte, dass bis zur Antwort gut und gerne ein paar Tage oder gar Wochen verstreichen konnten, so man sich denn überhaupt die Mühe machte den Bangenden von seiner dem Antwortenden unbekannten Qual zu erlösen, zog ihn sein Bauch doch so oft es sich einrichten ließ ins Internetcafe und sein Herz dachte zu keinem Zeitpunkt an etwas anderes. Wider Erwarten antwortete Ottilia schon nach ein paar Tagen und die Antwort entsprach in etwa Harrys Erwartungen.

Betreff: Re: Der Verbleib deines Tagebuches


Hallo unverschämter, alter Trunkenbold,

ich habe selten eine so unglaubliche e- Mail bekommen. Nicht nur, dass du dich erdreistest mein Tagebuch zu lesen und das auch noch zugibst, scheinst du mich auch noch völlig falsch eingeschätzt zu haben. Für was für ein verstörtes Reh hältst du mich eigentlich? Warum sollte ich deine Mail schnell löschen und Angst haben dir zu antworten? Und was zum Geier willst du mir eigentlich mit deiner psychedelischen Ausdrucksweise sagen? Bekomme ich mein Tagebuch wieder? Und wie soll ich Vertrauen zu dir aufbauen, wenn du mir doch eigentlich gar nichts von dir sagst, nicht einmal mit einem Namen rüber kommst?

Immer noch leicht erstaunt über die Unmittelbarkeit der Antwort verfasste Harry unverzüglich eine neue Mail:

Betreff: So viele Fragen auf einmal verwirren den Suffkopf

Liebe Ottilia,

ich bin sehr erstaunt und in noch höherem Maße erfreut über deine schnelle Antwort. Ich habe mich selten über eine Nachricht so gefreut, wie über deine. Das Leuchten der Kinderaugen wird sicher nicht so sehr durch den Inhalt des Präsentes hervorgerufen, sondern in höherem Grade durch die Geste des Überbringers. Das soll nicht heißen, dass es der Seele des alten Mannes nach jeder Aufmerksamkeit gelüstet, die sie nur bekommen kann. Dazu bedeuten ihm zu Viele einfach zu wenig.

Zum Inhalt des Geschenkes. Auf die Vielzahl deiner Fragen möchte ich nicht im Einzelnen antworten. Du hast Recht, dass ich bei meiner Geschichte, so wie ich Sie dir erzählt habe, auf einzelne biografische Fakten verzichtet habe. Doch diese sind genauso wie mein Name austauschbar. Auf was es ankommt sind die Gefühle und Gedanken, die mich und andere bewogen haben bestimmte Entscheidungen zu treffen. Selbst die Details der Entscheidungen sind hierbei allenfalls schmückendes und eigentlich unnützes Beiwerk. Bis jetzt habe ich dir in der Tat auch von den Gefühlen und Gedanken nur einen oberflächlichen Eindruck vermittelt. Das ist zum einen darin begründet, dass wir uns erst am Anfang befinden und zum zweiten ist die Mitteilung und das verständlich Machen dieser Dinge sehr viel schwieriger, sowohl für den Zuhörer als auch den Erzähler, als das bloße herunter rattern von Fakten. Das mit dem Namen ist allerdings ein Punkt, mit dem du durchaus Recht hast. Schließlich brauchst du einen Bezugspunkt für deine Ansprache. Da mein echter Name nichts zur Sache tut, möchte ich Candide vorschlagen. Sollte aus irgendeinem Grund der von meinen Eltern für mich gegebene Name eine Bedeutung für dich haben, lass es mich wissen.

Nun zum wichtigsten Punkt. Um was geht es mir eigentlich. Mein Ziel ist, dass zwei verwandte Seelen, und fürs erste musst du die Prämisse der Verwandtschaft als solche annehmen, gemeinsam einen Weg finden, um den ihnen gegebenen Möglichkeiten gerecht zu werden. Ich möchte mit dir gemeinsam, für jeden von uns eine Hoffnung finden die Qual unserer Tage zu beenden und das Leben, welches uns gegeben wurde zu akzeptieren. Wir haben nur dieses eine Leben und es wäre zu schade, wenn wir uns bis zu seinem fatalen Ende davor fürchten würden. Jeder von uns beiden muss seinen Platz finden und danach streben das Beste aus sich zu machen. So wie es keine allgemeingültige Antwort auf die Suche nach diesem so wichtigen Motivationsmoment gibt, werden auch wir beide keine gemeinsame finden, dazu sind wir, trotz aller Gemeinsamkeiten, zu verschieden, was sicher nicht nur in unserem Generationsunterschied begründet liegt. Du bist in einem Alter, in welchem die Suche nach einem Platz das erste Mal so richtig einsetzt und ich bin in einer Phase, in welcher man sich oft zum mindestens zweiten Mal fragt, ob man nicht eine Lüge gelebt hat und sich neu zu definieren gedenkt. An einem trivialen Beispiel will ich die Suche deutlich machen. Ich bin dir als realer Person auf der Suche nach deinem ersten Arbeitsplatz begegnet und durfte in deine Gedankenwelt bis zu diesem Punkt eintauchen. In einem Bewerbungsgespräch ist eine sehr beliebte Frage, wo man sich in fünf oder zehn Jahren sieht. Uns beiden fällt es meiner Meinung nach ziemlich leicht hierauf eine Antwort zu finden, welche dem Gegenüber gefällig klingt und dem gewöhnlichen Ohr des Bewerbungstrainers schmeichelt, aber eine ehrliche Antwort vermochte ich darauf nie zu geben und ich glaube auch nicht, dass ich sie jetzt geben kann. Ob du dazu in der Lage bist, musst du selber beantworten, doch ich denke nicht. Die große Aufgabe, die ich wünsche mit dir gemeinsam, in einem hoffentlich regen Austausch, anzugehen ist auf diese Frage eine ehrliche Antwort zu finden. Ich denke dieses Ziel ist so hoch gesteckt, dass wir uns eines Scheiterns stets bewusst sein sollten, aber nichts desto trotz ist es essentiell das Projekt trotzdem anzugehen und an dem Problem zu wachsen. Nun will ich den ersten Schritt wagen, da ich denke, dass du mit der Dauer unseres Briefverkehrs selber herausfinden wirst, auf was das Ganze hinauslaufen soll.

Ich möchte an die für eine Bewerbungssituation typische Frage anknüpfen und dir versuchen meine ehrliche Antwort zu geben. Zum einen ist da das, was der Candide in deinem Alter bzw. genauer gesagt, was der Candide auf seiner ersten Jobsuche gesagt hätte. Dieser Candide hätte dich, sollte er die Notwendigkeit verspürt haben ehrlich zu antworten, mit großen, staunenden Augen angesehen und hätte fassungslos nach den passenden Gedanken gerungen. Am Ende hätte ich mich wohl dazu durchgerungen zu sagen, dass ich in meinem Beruf, nebenbei bemerkt bin ich studierter Politikwissenschaftler, möglichst weit kommen und viel erreichen will. Dabei ging es mir nie um Geld oder angesehene Positionen. Diese Fremdbestätigungen durch die abstrakte Gesellschaft sind einfach irrelevant im Angesicht der Frage, ob man seine Entscheidungen und seinen Werdegang vor sich selber verteidigen kann. Das Streben nach Erfüllung im Beruf meinte also schon zum damaligen Zeitpunkt nicht Karrierestreben, sondern war eher der debil- infantil- idealistische Wunsch die Welt zu einem besseren Ort zu machen und meinen Beitrag dazu, auf dem von mir auserkorenen Weg möglichst gut zu erfüllen. Ich habe diese Antwort dann sogar in ganz ähnlicher Form bei allen Bewerbungsgesprächen angebracht und war zu diesem Zeitpunkt also noch eine relativ ehrliche Haut. Schließlich wurde ich in einem Bundesministerium eingestellt und habe genau die Karriere gemacht, die ich nie angestrebt hatte. An und für sich habe ich die äußeren Zeichen meines Aufstieges als nichts Verwerfliches angesehen, sondern sie waren für mich vielmehr notwendige Voraussetzungen und Begleiterscheinungen, um die Macht zu erlangen, welche zur Durchsetzung meiner Vorstellungen notwendig schien. Irgendwann habe ich dann allerdings erkannt, dass in dem System, in welchem ich gefangen war, die Insignien der Macht nicht Mittel, sondern Selbstzweck waren. Der heutige Candide könnte aufgrund seiner Erfahrungen in einem Bewerbungsgespräch nicht mehr aufrichtigerweise dieselbe Antwort geben. Das kleine Zahnrad kann in der Weltmaschine nicht den entscheidenden Beitrag leisten. Nach langer Resignation habe ich festgestellt, dass diese Aussage nicht gleichbedeutend mit einem Stillstand der Maschinerie ist. Vielmehr ist sie immer noch in sehr reger Aktion und bewegt sich, zwar nicht mit jeder Umdrehung in die richtige Richtung, so aber doch in der Summe der Einzelbewegungen, vorwärts. Diese Bewegung erfolgt natürlich nur aufgrund der, im Gegensatz dazu, unscheinbaren und nichtigen Bewegungen der Einzelteile. Doch die Einzelteile können aus ihrem kleinen Beitrag meiner Meinung nach nicht mehr ihre alleinige Existenzberechtigung ziehen. Es ist immer noch notwendig, dass sie ihren Beitrag leisten und sich mitdrehen, aber sie sollten sich nicht darauf fokussieren, sich ausschließlich und auch in fünf Jahren in noch höherem Maße zu drehen. Damit ist meine erste Antwort also auch heute noch wahr, aber nicht ehrlich, da ich etwas verschweige und ihr ein Teil fehlt, den ich selbst noch nicht kenne. Auf die Suche nach diesem fehlenden Puzzleteil will ich mich mit dir zusammen begeben, da ich denke, dass auch du es noch nicht gefunden hast.

Der Suchende hofft auf positive Rückmeldung des auserkorenen Expeditionsteilnehmers und verbleibt

Dein treuer Freund

Candide

P.S. Natürlich kannst du deinen rechtmäßigen Besitz wieder haben. Du kannst ihn entweder bei mir abholen oder du schickst mir deine Adresse, dass ich ihn dir schicken kann. Zweiteres wäre mir lieber, da ich dann diese unsäglichen elektronischen Briefe aufgeben könnte und den angestrebten Schriftverkehr auf die ihm gebührende altmodische Form zurückführen könnte.


Zwanzig

Die Sonne schien wieder etwas heller und ihre Wärme tat dem an Eisigkeit gewohnten Körper wohl. Gleich denen einer Amphibie erwachten auch Harrys Lebensgeister durch sie wieder zu neuer Vitalität und sein Stoffwechsel nahm mit beharrlicher Stetigkeit wieder die Züge einer höheren Existenz an. Trotz seines glücklichen Fundes eines Klümpchen Goldes im Scheißhaufen der Welt, war Eldorado noch weit und der Dreck prasselte weiter auf den Gescheiterten ein und verschmutzte seine blütenweiße Kleidung mit dem widersinnigen Schmutz des Banalen. Die Feigheit vor dem Leben war noch nicht überwunden und zeigte sich in extremer Ausprägung in seiner Angst, der Notwendigkeit nachzukommen und seiner Garderobe die erforderliche Pflege angedeihen zu lassen. Er hatte nicht das geringste Interesse daran die quasselnde und nervtötende Schönheit wieder zu treffen, welche Wert auf gebügelte Anzüge legte und ihn in die Geheimnisse des Waschens eingeführt hatte. Doch der neue Harry erkannte zumindest die Pflicht, der Absurdität ins Auge zu sehen und sich auch den unangenehmen Erfordernissen zu stellen. Zu lange hatte er sich versteckt und war vor den Trivialitäten geflohen, um nicht zu wissen, dass sie überall lauerten und ihnen nicht zu entkommen war. Sich ihnen zu stellen war die eigentliche, größte Herausforderung die es gab und der man sich weder entziehen sollte noch konnte. Erst wenn der Held diese Kraftanstrengung erfolgreich hinter sich gebracht hatte, hatte er sich seine Erholung von ihnen redlich verdient. Es war wichtig dem ersten Impuls der Bequemlichkeit nicht zu folgen und sich der Qual zu stellen. Und so entschied er sich gegen den Kauf einer eigenen Waschmaschine und ging weiter in den Waschsalon. Eines Tages trat das Unvermeidliche ein und er begegnete Steffi wieder. Sie hatte seine nicht gegebenen Zeichen richtig interpretiert und verhielt sich wie eine Fremde. Mit Wollust steigerte er die Pein ins Unermessliche und sprach sie ohne Erfordernis an: „Hallo Steffi. Schön dich mal wieder zu sehen.“ – „Ach. Und ich dachte schon der Herr kennt mich nicht mehr.“ Zur letzten Konsequenz und der Ehrlichkeit fehlte ihm die Kraft beziehungsweise die Unaufrichtigkeit hatte sich mittlerweile so sehr mit seiner Person verbrüdert, dass er die familiäre Bindung nicht um dieser flüchtigen Bekanntschaft Willen aufs Spiel setzen wollte. „Tja weißt du ich hatte in letzter Zeit einfach ziemlich viel zu tun. Die Arbeit frisst mich auf und die Scheidung von meiner Frau benötigt auch erstaunlich viel Zeit. Anstelle mich mit einem schönen Mädchen treffen zu können, musste ich meine Freizeit so oft bei Anwälten verbringen, dass ich schon ganz korrumpiert von deren Heuchelei bin.“ – „Ja ich weiß was du meinst. Ich hatte auch ziemlich viel zu tun. Die Arbeit alleine würde ja schon reichen, aber nebenbei muss man noch die Kontakte zu seiner Familie und den Freunden pflegen, seinen Haushalt organisieren und da bleibt für die Erholung eben kaum noch Zeit. Letzte Woche habe ich zum Beispiel meine erste Steuererklärung abgefertigt. Du glaubst gar nicht, wie viel Zeit das in Anspruch genommen hat. Und dann habe ich noch meine Pflanzen umtopfen müssen und mein Kleiderschrank musste auch dringend überholt werden.“ – „Ja der Alltag kann einen schon auffressen und einem alle notwendigen Freiräume nehmen. Ich zum Beispiel muss jetzt auch wieder gleich los. Das Bett ruft und vorher muss ich unbedingt noch auf Toilette... War schön dich mal wieder getroffen zu haben. Bis bald.“

Mit den frisch duftenden Verhüllungen seiner empfindsamen Scham beladen musste er auf dem Heimweg feststellen, dass sogar jemand wie Steffi ihm in dieser Wandlungsphase wertvollen Stoff zum nachdenken bieten konnte. Obwohl er selber bis zur eigenen Schmerzgrenze und darüber hinaus geheuchelt hatte, war er sich sicher, dass sie auch heute aufrichtig zu ihm gewesen war. Ihm hatte die Bewältigung der scheinbaren Nichtigkeiten schon immer die größten Probleme bereitet und dennoch hatte er die Wichtigkeit dieser für so viele seiner Mitmenschen nie verstanden. Wie oft hatte er schon Gespräche erleben müssen, die die Ereignisse der letzten Zeit thematisierten und in langen Schilderungen über ach so wichtige und zeitfressende Beschäftigungen kulminierten. Damit waren nicht mal ausschließlich Betrachtungen über das Wetter gemeint, welche den wohl gängigsten Stoff zu einem Gespräch boten, für welches einem eigentlich jede Grundlage oder zumindest der Mut, die wichtigen Themen anzuschneiden, fehlte, sondern eher die Erwähnung solcher Details wie Mahlzeiten, Einkaufen, Baden und Fernsehen. Das einzige was in diesen Aufzählungen fehlte, und über dessen Nichtnennung er sich ernsthaft wunderte und sie geradezu gespannt erwartete, war die Auskunft, dass man in diesem ganzen Trubel und der Hektik natürlich auch das Atmen nicht vergessen hatte.

Nachdem er sich der grausamen Folter des Notwendigen gestellt und die unvermeidliche Konfrontation mit den Niederungen des Lebens mit Anstand hinter sich gebracht hatte, konnte er sich wieder den wichtigen Dingen widmen. Mit Vorfreude verfasste er die nächste Email an Ottilia:

Betreff: Wissensdurst und ehrliches Streben

Hallo Suchende,

neben dem Schlaf nimmt unser Beruf den größten Teil der Zeit, die uns vergönnt ist, in Beschlag und bestimmt unser Leben in einem beispiellosen Ausmaß. Dem Schlaf können wir nicht entfliehen und müssen uns dem Diktat seines süßen Stumpfsinns ohne Maulen beugen. Doch in unseren wachen Stunden haben wir, so wir denn wirklich wach sind und uns nicht in einem als nur real erlebten Alptraum bewegen, die Möglichkeit unser Leben zu gestalten und etwas zu bewegen. Den größten Teil der Wachphasen haben wir mit dem Beruf zu verbringen. In Anbetracht dieser immensen Bedeutung sollten wir danach streben einen Broterwerb zu finden, der mehr befriedigt, als das Bedürfnis den Schornstein am rauchen zu halten und den Wunsch nach Karriere transzendiert. Erst wenn wir anstelle der Last eine Passion setzen, erkennen wir den Kamin als eine Öffnung und Fluchtmöglichkeit aus unserer beschränkten Umwelt, wir bekommen einen freien Blick auf die Sterne und versetzen uns in die Lage unsere vergeistige, von Alltagssorgen befreite, Gewöhnlichkeit in den sublimen Raum des freien Himmels zu verflüchtigen.

Ich habe die normale Entwicklung in der Vorstellung meines beruflichen Werdegangs hinter mir. In der Grundschule waren, für uns Alle, die täglich erlebbaren Berufe das höchste Ziel. Ich wollte zwar nie Feuerwehrmann oder Lokomotivführer werden, aber der Beruf des Elektrikers war für mich das Faszinierendste auf der Welt. Ich erinnere mich noch gut, wie meine Eltern umgebaut haben. Ich war damals etwa zehn, turnte auf der Baustelle zwischen den ganzen Erwachsenen in Blaumännern herum und war beeindruckt von den vielfältigen, glitzernden Spielzeugen, welche diese Helden wie selbstverständlich nutzten. Mit zunehmender Ausbildung wurde der Mensch immer weiter darauf getrimmt diese Wünsche zu begraben, der Erwartung der älteren Generation zu genügen und einen Beruf mit höherem Status zu ergreifen. Was als dumpfe Anforderung begann, hat sich mit der zunehmenden Bildung schließlich zur Notwendigkeit entwickelt und ab der zehnten Klasse hegte wohl niemand mehr den ernsthaften Wunsch eine handwerkliche Ausbildung zu wählen. Die meisten meiner ehemaligen Klassenkameraden hatten zu diesem Zeitpunkt den Traum, einen gewissen Status zu erreichen, vollständig verinnerlicht und mich hinderte nur die schiere Rebellion daran zuzugeben, dass auch mein Geist nach einer Herausforderung strebte. Retrospektiv sind mir die Mitschüler am sympathischsten, welche schon in einer sehr frühen Phase ihr Bedürfnis artikulieren oder zumindest empfinden konnten, etwas zu erlernen, mit dem sie sich identifizieren konnten. Doch die angehenden Ärzte, Theologen und Wissenschaftler waren in der Minderheit und das Gros träumte nicht von einem Inhalt, sondern von Anzügen, Oberklassewagen und einem hohen Einkommen. Ich muss zugeben, dass ich zu dieser Zeit noch ziemlich retardiert war, meine Entwicklung unglaublich langsam voranging und ich etliche Jahre länger brauchte, um mein Ziel zu definieren. Das Ziel, welches ich schlussendlich über langwierige, aber lohnende Umwege, für mich definierte, basierte auf der Erkenntnis des Veränderungswillens als dominierendes Motivationsmoment über dem Karrierestreben. Als ich dachte am Ziel angekommen zu sein, musste ich diese Erkenntnis fast augenblicklich wieder überholen und feststellen, dass die Welt veränderungsresistent ist und konservative Kräfte, welche den Wandel im Keim ersticken und jedes Ideal abtöten, systemimmanent sind. Stell dir einen jungen, motivierten Politikwissenschaftler vor, der sein Studium hinter sich hat, nach langer Suche meint eine Anstellung gefunden zu haben, in der er seine Vorstellungen verwirklichen kann und erst einmal für Wochen auf die verschiedensten Weiterbildungs- und Schulungsmaßnahmen geschickt wird. Nicht das ich an dieser Stelle etwas gegen Weiterbildung sagen wollte oder den Eindruck entstehen lassen will, ich sei ein Springinsfeld gewesen, der meinte schon alles zu wissen. Obwohl ich zum Teil eben jene Arroganz gezeigt habe, war es nicht die Schulungsmaßnahme als solche, welche mich am Veränderungswillen und Wissensdurst meiner Mitstreiter zweifeln ließ, sondern die Tatsache, dass während dieser Seminare, welche stets an touristisch umworbenen Orten an der See, in den Bergen oder in In- Städten stattfanden, die Freizeit eine zentrale Rolle einnahmen. Das gemeinsame Baden, Feiern und Sightseeing mit allem was eben dazugehört sollte den Teamgeist stärken, die sozialen Fähigkeiten der Probanden fördern und führte doch alleinig dazu, mich am Ziel des so genanten Seminars zweifeln zu lassen. Ich stand allein auf weiter Flur und musste mein Ziel mit diesen Klötzen beschwert angehen. Und diese Bleigewichte begnügten sich nicht einmal damit, Newtons Gesetz zu folgen, sondern zogen munter in die andere Richtung, zeigten ihre Motivation, das Leben zu genießen, eine gute Zeit zu verbringen und Geld zu verdienen, ungeniert und gingen mit ihr hausieren. Es ist schon erstaunlich mit was man so alles kokettieren kann. Ich habe nie verstanden, wie man ein gutes Wochenende oder einen schönen Urlaub haben kann, wenn man am Strand lag oder einen Ausflug in den Park unternommen hat. Die inhärente Perfidie der Arbeitswelt liegt in dem Bewahrungswillen derer, die Mitglied sind und dem Unvermögen des Einzelnen daran etwas zu ändern ohne aus dem elitären Verein ausgeschlossen zu werden. Es scheint mir wichtig festzustellen, dass die Erwartungen, die wir an unseren Beruf haben, nicht zu groß sein dürfen und wir mehr oder weniger den Egoismus des Clubs annehmen sollten und für uns persönlich Streben, ohne der Gesellschaft einen Dienst erweisen zu wollen. Damit einher geht auch ein Wandel in dem Motiv, welches ursächlich für unser berufliches Streben sein sollte. Wenn der Veränderungswille sich als Trugbild erweist, bleibt nur noch die Flucht vor der Langeweile. Und auf diese Flucht sollten wir uns ganz egoistisch begeben ohne Rücksicht auf andere Motive unseres Handelns zu nehmen. Hüten sollten wir uns jedoch vor der Egozentrik und dem Wunsch zu ihrer Befriedigung Besitztümer und Posten um ihrer selbst Willen anzuhäufen.

Dein egoistischer Freund

Candide

Auf die Antwort musste Harry nicht lange warten.

Betreff: Re: Wissensdurst und ehrliches Streben

Hallo Candide,

du sprichst mir aus dem Herzen und bist dennoch kaum in der Lage mir neues mitzuteilen. Das was du Karrierestreben nennst war nie Teil meiner Motivation. Da es mir nie gefehlt hat, hat Geld hat mir zu keiner Zeit mehr bedeutet als Unabhängigkeit und die einzige, wenn auch unbefriedigende, Möglichkeit der Gesellschaft, Wertschätzung für meine Arbeit auszudrücken. Shoppen, Geld ausgeben oder ein großes, kostenintensives Haus pflegen zu müssen sind keine Tätigkeiten, die mir Erfüllung geben könnten. Ich könnte auch mit dem Gehalt einer Krankenschwester leben und in der Tat ist dies der Traumberuf meiner Kindheit gewesen. Anderen Menschen zu helfen schien mir immer das erhabenste zu sein was es gibt und dieser aufrichtig altruistische Wesenszug ist es, der uns anscheinend unter anderem voneinander unterscheidet. Nur wenn ich jemanden helfe, kann ich Glück empfinden und das Problem eines anderen ist das einzige Gesprächsthema, welches mir wirklich relevant erscheint. Das ich schließlich nicht Krankenschwester geworden bin hat mit genau dem Mechanismus zu tun, den du erläutert hast. Allerdings muss ich so einige Punkte klarstellen. Meine Eltern haben mich nicht gezwungen zu lernen, das Abitur zu machen oder gar zu studieren und wären sicher auch auf eine Krankenschwestertochter stolz. Sie haben mich nicht aufgefordert mehr aus mir zu machen, sondern mir die Möglichkeit dazu eröffnet. Ich habe sie ergriffen und bin froh darüber. So wie ich mich entwickelt habe, würde meinem Verstand ein wichtiger Anreiz fehlen, sollte ich heute ‚nur’ Krankenschwester sein. Die Krankenschwester hat den klaren Vorteil, dass sie die Welt ein Stück menschlicher gestalten kann, auch wenn dieser Aspekt ihrer Arbeit durch die zunehmende Ökonomisierung des Gesundheitsbereiches immer weiter beschnitten wird. Insofern kann die Krankenschwester, wenn sie mit Überzeugung bei der Sache ist, die Welt sehr wohl positiv gestalten und zum besseren verändern. Ich glaube das Problem was du hattest ist, dass du einfach zuviel wolltest. Das Streben, welches du so positiv darstellst, ist sicher eine wichtige Eigenschaft, die den Mensch vom Tier unterscheidet, und notwendig zum Glück. Doch wenn die Ziele zu hoch gesteckt sind und ein Scheitern unumgänglich machen wird das Wollen zur Qual. Wie du Voyeur auf unerlaubte, verstohlene Weise sicher erfahren hast, habe ich Jura studiert und bin mittlerweile Anwältin. Mit einem Minimum an Willen und nicht zu hohen Erwartungen ist es mir auch in diesem Job möglich, die Welt ein Stück weit zu verbessern. Ich habe nach anstrengender Suche eine Anstellung in einer kleinen Kanzlei gefunden, in der ich nicht Konzernen für viel Geld ihren Dreck wegräumen muss, sondern sozial Schwachen helfen kann, den Beistand zu bekommen, der für sie nicht selbstverständlich ist. Ich habe mich also bewusst gegen Karriere und Macht entschieden und meiner menschlichen Seite ihr Recht auf Verwirklichung eingeräumt. Wer wirklich etwas verändern will findet also sehr wohl den Hebel, an dem es hierzu anzusetzen gilt.


Betreff: Ehrlichkeit unter Freunden

Hallo mein verstörtes Reh,

wenn du diese Anrede nicht zu hören wünscht und dich gegen den von ihr implizierten Wesenszug auch vehement gewehrt hast, fällt mir doch nichts Besseres ein dein Verhalten zu charakterisieren. Der reflexhafte Schutz der eigenen, empfindsamen Innerlichkeit vor zu unverschämten äußeren Zugriffen ist eine nur zu menschliche Eigenschaft, wegen der wir uns nicht schämen sollten, sondern die wir im Gegenteil aus reinem Selbsterhaltungstrieb konservieren müssen. Um das Leben in menschlicher Gesellschaft unbeschadet zu überstehen, muss auch ich in andauernder Unaufrichtigkeit schauspielern und meiner Persönlichkeit durch fortdauernde Lügen neue Facetten hinzufügen. Wenn ein solch empfindsamer Menschenschlag auch in der vermeintlichen Anonymität des Internets nicht sein wahres Gesicht zeigt, ist dies also nur folgerichtig. Doch wir befinden uns auf einer Expedition, auf welcher volles Vertrauen zwischen den Teilnehmern notwendig ist. Wir sind letztendlich eine Seilschaft und legen unser wahres Leben in die Hände des Gegenübers. Die Voraussetzung um dieses Urvertrauen aufbauen zu können ist Aufrichtigkeit. Vielleicht tue ich dir Unrecht und du hast mir spontan ehrlich geantwortet. In diesem Fall musst du mir einige Unstimmigkeiten erklären oder besser gesagt beginnen dir selber über sie klar zu werden.

Als erstes möchte ich festhalten, dass ich mich wirklich für dich freue. Du scheinst ja nach kafkaesker Suche nun endlich den Platz gefunden zu haben, der in der Lage ist deine Ansprüche zu erfüllen und deine Wünsche zu befriedigen. Nach langer Wanderung machst du nun auf dir gelegentlich begegnende Sonntagsausflügler den Eindruck, den Aussichtspunkt erreicht zu haben, zu dem du vor langer Zeit aufgebrochen bist. Ich hoffe für dich, dass der Ausblick sich lohnt und sein Versprechen auch für längere Dauer einlösen kann. Auch falls das Ziel der Reise sich im Endeffekt als nicht so erstrebenswert herausstellen sollte wie anfangs gedacht, der Weg hat sich in jedem Fall gelohnt. Was ich jetzt nicht so ganz verstehe ist der Eindruck, den du mir zu vermitteln versuchst. Das Ziel, was du jetzt erreicht hast, war doch nicht von Anfang an der Platz, zu dem du aufgebrochen bist. Das du mit deiner Berufswahl immer etwas anderes als Kariere im klassischen Sinne angestrebt hast, kann ich dir nicht glauben, dazu habe ich zuviel von deinem Notizbuch gelesen. Die Überwindung des kindlichen Berufswunsches durch Reifung des Geistes musst du mir nicht weiter erklären. Aber wie kommt es, dass deine beruflichen Ansprüche die gewerkschaftlichen Anforderungen an den Arbeitgeber nun auf einmal transzendiert haben?

In Erwartung der Aufrichtigkeit

Dein Freund


Betreff: Re: Ehrlichkeit unter Freunden

Hallo Seilschaftler,

Es gibt nichts, für was ich mich entschuldigen müsste. Selbst wenn ich absichtlich gelogen hätte, wüsste ich nicht warum ich dir gegenüber zur Aufrichtigkeit verpflichtet sein sollte. Aber in diesem Fall habe ich nicht bewusst gelogen, sondern lediglich den Fehler begangen nicht weit genug zu denken und mir die Zeit zu nehmen ernsthaft über meine Ansprüche an meinen Beruf nachzudenken. Dank deines Anreizes habe ich das nun getan und festgestellt, dass du Recht hast. Meine Wahl Jura zu studieren wurde in der Tat nur wegen der möglichen Karrierechancen getroffen und nicht aufgrund eines altruistischen Impulses, der ja auch nur in den unwahrscheinlichsten Fällen in diesem Studium enden würde. Ich habe aber mittlerweile unterbewusst erkannt, weshalb Geld, Macht und Ansehen für all die nicht reichen können, die in ihrem Job mehr als die übliche 40 Stunden Woche zubringen wollen oder besser gesagt müssen. Das herauszufinden fiel mir erstaunlich leicht, aber sehr viel länger habe ich für eine andere Antwort gebraucht, welche du noch als selbstverständlich hingestellt hast. Natürlich kann ich, sobald ich meine Bildung wahrhaft verinnerlicht habe, nicht mehr als Krankenschwester arbeiten. Doch was hat mich daran gehindert Medizin zu studieren und warum hast du nicht Elektrotechnik studiert? Für dich kann und will ich nicht antworten und meine Antwort für mich ist auch nach längerem Nachdenken nicht klar. Wann und wodurch der Wunsch und das Bedürfnis nach medizinischer Hilfsbereitschaft in mir zerrieben wurden, ist mir noch immer ein Rätsel. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke könnte ich sagen, warum ich ein anderes Studium gewählt habe. Die Ökonomisierung und Technisierung des, in seiner Natur zutiefst menschlichen, Berufsbildes würde der Möglichkeit einer freien Entfaltung der Passion doch ziemlich hinderlich sein. Aber diese Erklärung ist, zum jetzigen Zeitpunkt gegeben, auch nur eine faule Ausrede und der hilflose Versuch eine unklare Entscheidung, die dieses Wort eigentlich nicht verdient, zu rechtfertigen.

Deine ehrliche Ottilia

Einundzwanzig

Die Regelmäßigkeit forderte wieder einmal ihr Recht und bestand auf Durchbrechung der Tristes des Gewöhnlichen. An diesem Freitag erreichte die Flucht vor dem Althergebrachten zusammen mit der fünften Jahreszeit ihren Höhepunkt. Zum Karneval hatte der, im Räderwerk der Verpflichtungen gemarterte Körper, die einmalige Chance in seiner Freizeit nicht nur den Geist in ungewohnte Sphären gleiten zu lassen, sondern auch die biologische Hülle konnte eine Metamorphose in nahezu jede denkbare Richtung erleben. Da die Arbeitswelt auf der oft geforderten Unflexibilität bestand, war für Harry diese Möglichkeit verbaut. Er musste gerade zu den Zeiten, in denen andere ihre Freizeit gestalten wollten, seine Dienste erbringen und war zur Heraushebung seines Unvermögens von seinem Chef dazu angehalten wurden den Taxiinnenraum mit bunten Girlanden zu gestalten und ein albernes Käppi zu tragen. Nicht nur das er in der Freitagnacht seiner Pflicht den Erholungssuchenden gegenüber nachkommen musste, war er in dieser eigentümlich aufgelösten Stimmung auch den Samstagnachmittag dazu verdonnert, seinen Beitrag zur Freude und Regeneration der Menschheit zu leisten. Alle nutzten voller Lust das einmalige Recht mit den Konventionen zu brechen, für einen Wimpernschlag in eine neue, freie Traumrolle zu schlüpfen und sich selber aus einer anderen Perspektive zu erleben. Der Richter wurde zum Wildwest- Outlaw, der Dandy zum Aussteiger, der Yuppie fand sich als Anachoret von sozialem Kontakten befreit und mit ungewohnt tiefen Sinnfragen beschäftigt, der Nerd konnte sich als Frauenheld fühlen und Harry schaffte es, sogar ohne äußere Anreize gesetzt zu haben und unabhängig von der ihn umgebenden Faschingslaune, dem Gefühl des Versagens zu entfliehen. Er genoss den Transport der selig strahlend, betrunken Feiernden in der gelockerten Atmosphäre dieser besonderen Tage.

Am Samstagnachmittag wechselte dann das Publikum und die feierwütig Junggebliebenen wurden durch familiärere Kreise ersetzt. Gegen vier Uhr beobachtete er einen etwa achtjährigen Schlipsträger, der verloren unter einer Ampel an der Kreuzung Bahnhofsstrasse, Kirchweg stand und zwischen all den Clowns, Feen, Rittern, Indianern und Hobbyhuren nicht den Eindruck machte, dass er die zur geschäftlichen Uniform gehörende Selbstständigkeit und Abgeklärtheit verinnerlicht hatte. Einem ungewohnten Impuls zur Selbstlosigkeit folgend, stieg Harry aus seinem Fahrzeug aus und näherte sich dem, im anarchistisch aufgelösten Raumzeitgefüge überforderten, Leistungsträger der Neuzeit. „Hallo Kleiner. Ich habe dich eben schon eine Weile beobachtet und hatte das Gefühl, dass du vielleicht Hilfe brauchst.“ – „Danke Mister. Ich suche meine Oma und meinen Opa.“ – „Wann hast du sie denn das letzte mal gesehen?“ – „Ich weiß nicht mehr.“ – „Wie sehen sie denn aus? Als was haben sie sich verkleidet?“ – „Ach die haben sich heute ganz toll herausgeputzt. Ich musste so lachen, als ich sie gesehen habe. Oma ist eine Hexe mit einer fürchterlich langen, hässlichen Nase, einem spitzen Hut und so einem typischen Besen. Zuerst habe ich mich sogar ein bisschen gefürchtet, weil sie auch noch so getan hat, als sei sie eine echte Hexe und würde gerne kleine Kinder fressen, aber dann hat sie mir erklärt, dass das alles nur ein Spiel ist. Und der Opa muss heute ihr Haustier sein. Er trägt ein schwarzes Kostüm mit langem Schwanz und spitzen Ohren und hat einen Schnurrbart im Gesicht.“ – „Solch ein Pärchen ist mir bis jetzt noch nicht aufgefallen, aber wir werden sie schon finden. Am Besten wir klappern deinen Weg ab, den du hierher genommen hast. Erzähl mir mal wie du hierhin gekommen bist.“ – „Ja... Also... Oma und Opa sind mit mir zusammen nach dem Mittag in die Stadt gekommen, um den Umzug anzusehen.“ – „Seid ihr mit dem Auto gekommen oder zu Fuß?“ – „Mit dem Bus. Und dann sind wir irgendwo ausgestiegen und Opa hat mich an die Hand genommen und wir sind losgegangen.“ - „Und wie hast du sie verloren?“ – „Also wir waren auf so einem Markt. Und da war ein Stand, an dem Hexenzubehör verkauft wurde. Eingelegte Froschschenkel und Krähenfüße, Zauberstäbe und Umhänge und unter anderem gab es da auch Wunderkugeln und Oma hat gesagt, dass sie als Hexe in diesem Kristall die Zukunft voraussehen könnte und jeden Menschen beobachten kann.“ – „Und du wolltest sie auf die Probe stellen und testen ob sie dich findet?“ – „Genau“ – „Ich nehme an du bist so schnell abgehauen, dass du dir den Weg nicht gemerkt hast?“ – „Leider nicht.“ – „Und was machen wir jetzt?... Als erstes Mal sollten wir beide ganz fest unsere Daumen drücken und hoffen, dass deine Oma eine echte Hexe ist und über ganz viel teuflische Magie verfügt. Wir müssen ihren Ehrgeiz anstacheln, indem wir uns möglichst gut vor ihr zu verbergen suchen. Auch Hexen brauchen Herausforderungen, um sich anzustrengen… Schau so machen wir das.“ Harry umschloss seine beiden Daumen mit den restlichen Fingern, verbarg sie in der Wärme seiner Handfläche und führte diese falschen Fäuste an seine Lippen. Nun begann er in beschwörenden Formeln zu murmeln: „Du böse, böse Hexe. Vielleicht bist du eine ganz große Magierin, aber um uns zu finden reicht deine Macht nicht aus.“ Über das Gesicht der verzweifelten Elite huschte zum ersten Mal ein Funken Hoffnung und mit verhaltener Freude ahmte der Geschäftsmann des Taxifahrers einfache Geste nach. Harry entspannte sich wieder. „So, jetzt sollte sie sich genug angespornt fühlen. Nachdem wir ihr nun einen Anreiz gegeben haben, können wir unseren Teil der Suche beginnen. Komm mit wir gehen jetzt in diese Richtung.“ Harry nahm seinen Gast bei der Hand und zum ersten Mal in seinem Leben transportierte er jemanden unentgeltlich, per pedes und selber das Ziel bestimmend. Doch damit der Neuerungen nicht genug, war er bei dieser Fahrt auch noch gewillt von sich aus ein Gespräch anzuknüpfen. „Als was hast du dich eigentlich verkleidet?“ – „Das sieht man doch nun wirklich. Ich bin Geschäftsmann. Aber was du darstellen willst ist mir nicht klar.“ – „lachend Das wundert mich nicht. Ich habe mich gar nicht verkleidet.“ – „Aber warum denn nicht? Ist es nicht das schönste am ganzen Jahr, sich verkleiden zu dürfen und mal wer anders zu sein.“ – „Ja. Vielleicht hast du da Recht. Aber weißt du, eigentlich will ich gar niemand anders sein und fühle mich ganz wohl in meiner Haut. Ich bin übrigens auch verwundert. Warum will denn ein Junge einen Anzug tragen. Willst du nicht viel lieber Cowboy oder Polizist werden?“ – „Das mach ich vielleicht nächstes Jahr. Aber dieses mal wollte ich Geschäftsmann sein.“ – „Und das passt ja auch irgendwie zu deiner Familie. Die Oma eine Hexe, der Opa ein schwarzer Kater und der Junge ein Geschäftsmann. Ich frage mich, was deine Eltern für Gestalten sind?“ Harry trat mit dem lachenden Jungen an einen Umzugswagen heran und schilderte einem Zebrahinterteil das Problem. Da das Vorderteil dieses Gespanns nur teilnahmslos zuhörte, war zu vermuten, dass bei dieser Spezies das Hirn anatomisch irgendwo zwischen Bauch und Hüfte angesiedelt war. Trotz dieser Anomalie zeigte das Wesen ein für ein Tier erstaunliches Verständnis und geleitete die Gestrandeten hilfsbereit auf den Wagen. Hier übergab Harry seinen Schützling an ein Löwenweibchen, welches unvermittelt in ein Mikrofon brüllte, so die Hexe und ihren Kater aufmerksam machte und zur Rechenschaft für ihren sträflichen Umgang mit der Realsten all dieser Gestalten zog. Den Knaben bei den wilden Tieren in guter Gesellschaft wissend, zog Harry sich aus Afrika zurück in sein gewohntes Umfeld und freute sich über die ihm gebotene Möglichkeit seinem Arbeitsplatz verbotener Weise entkommen zu sein. Er konnte sich nicht erinnern, wann und ob überhaupt jemals das bunte Karnevalstreiben ihm soviel Freude bereitet hatte, wie am heutigen Tag. Im Normalfall empfand er das Verkleiden seiner Mitbürger und ihr Aufgehen in fremden, unernsten Rollen als nicht mehr, als einen überzogenen Ausdruck des gewöhnlichen surrealen Wahnsinns der Welt. Diese Zuspitzung schien ihm in Zeiten der Oberflächlichkeit einzig dazu zu dienen, diesen Irrsinn auch seinen, nicht mit subtilen Sinnen zu seiner Wahrnehmung ausgestatteten, Mitmenschen kenntlich zu machen. Doch in dieser Saison sah er mehr in ihm und war, aufgrund der Tatsache, dass er ausgerechnet in diesem Jahr beruflich und nicht emotional an der Teilnahme gehindert war, traurig. Wenn diese Erfahrung ihm schon keine Teilnahme vergönnte, zog er doch Stoff für eine neue Botschaft an Ottilia aus ihr und knüpfte zu Beginn an die offenen Punkte vom vorherigen Kontakt an:

Betreff: Freizeit und was man daraus macht

Hallo mein treuer Weggefährte,

ich danke dir für deine Aufrichtigkeit. Auch ich kann dir nicht erklären, weshalb ich nicht folgerichtigerweise Elektrotechnik studiert habe. Die der Wahrheit am nächsten kommende Erläuterung ist wahrscheinlich die, dass ich als Kind sehr wohl fasziniert von den Elektrikern war, diese Faszination aber nicht so sehr aufgrund ihrer Tätigkeit hervorgerufen wurde, sondern eher durch die Tatsache ihres sicheren, abgeklärten Auftretens in einer für das Kind ungewohnten Umgebung. Ich habe also vielmehr den Erwachsenen bewundert und das dieser mir in Person des Elektrikers zum ersten Mal bewusst vor Augen getreten ist, war nicht mehr als ein Zufall.

Es wird Zeit, dass wir uns dem nächstem relevantem Themenkomplex widmen. Neben der Erfüllung im Beruf ist die Gestaltung der Freizeit und das Vergnügen ein zentraler Punkt in unser aller Leben. Die Zivilisation strebt zu oft danach einmal gefundene Vergnügungen zu konservieren und sich vor dem Wandel der eigenen Persönlichkeit in bekannte Verhaltensmuster zu flüchten. Ich möchte dir das an einer, wie ich finde, sehr eindrücklichen Geschichte erzählen.

In meiner Klasse war ab der Gymnasialzeit ein sehr aufgeweckter Junge, den ich Thomas nennen möchte. Dieser Junge ist sicher eine der intelligentesten und begabtesten Personen gewesen, welche ich in meinem Leben getroffen habe. Schon in seinen jungen Jahren hat er Karrenweise Bücher aus der Stadtbibliothek entliehen, sie geradezu über Nacht verschlungen und in sich aufgesaugt. Mit diesem unglaublichen Vorwissen hat er sich natürlich in der Schule unterfordert gefühlt und war schlichtweg gelangweilt vom Stoff, der uns Durchschnittsschüler in den meisten Fällen gefordert oder doch zumindest genügt hat. Da seine Energien keinen Halt im Geistigen fanden, hat er sie in körperlichen Aktionen ausgelebt. In der heutigen Zeit wäre man in einem solchen Fall mit der Diagnose ‚Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom’ sehr schnell bei der Hand und hätte die passende Droge, um den ungewohnten und damit beängstigenden Charakter auf Linie zu bringen und der Norm anzupassen. Doch Thomas hatte keine Wunderdroge und wurde so zu unserem Klassenkasper. Geliebt für seine unkonventionelle Art den Unterricht aufzulockern, hat die Grausamkeit unserer Kindheit ihm dennoch einiges Leid zugefügt, was er seinen Kameraden erstaunlicherweise nie wirklich übel genommen hat. Im Laufe der Schuljahre zeigte der überragende Geist immer mehr Schwierigkeiten sich an die Anforderungen des streng umgrenzten Lehrplanes anzupassen und seine schulischen Leistungen rutschten zunehmend ab. Kurz gesagt fiel Thomas durch das Netz unseres Bildungssystems und musste das Gymnasium in der Obertertia verlassen. Er kam auf die Realschule und schaffte es sich dort im letzten Jahr noch soweit zu fangen und zurechtzufinden, dass er einen sehr guten Abschluss bekam. Ich habe ihn zu dieser Zeit noch des Öfteren getroffen und er machte auf mich den Eindruck eines glücklichen jungen Mannes, der endlich seinen Platz gefunden hatte und nun eine Ausbildung begann mit allem was dazu gehört. Er hatte seine erste eigene Wohnung schon bezogen, war der Enge des Elternhauses entkommen und damit für uns, die wir immer noch in der Schule gefangen waren und die Füße noch für eine gefühlte Ewigkeit unter unsere elterlichen Tische stellen mussten, auf einen Schlag ein begehrter Freund. Wir konnten in seiner Wohnung an den Wochenenden ein- und ausgehen wie wir wollten, Drogen nach Lust und Laune konsumieren, Musik in beliebiger Lautstärke hören und diese Möglichkeiten der Freiheit imponierten uns sehr. Am Anfang dieser Zeit war er noch darauf bedacht gewesen seine neu gewonnene Freiheit nur an den Wochenenden mit dieser Art der Freizeitvergnügungen auszuleben. Doch diese Einschränkung weichte nach und nach immer weiter auf, wurde wabbelig und zerfiel schließlich ganz. Seine Ausbildung bedeutete ihm immer weniger, die Berufsschule konnte er ungestört verpassen und wenn er es aufgrund einer langen Nacht nicht schaffte pünktlich oder ausgeschlafen in seinem Betrieb zu erscheinen, war ihm dies auch zunehmend gleichgültig. Wir bewunderten dieses Leben damals ernsthaft als Gipfel des Möglichen und fingen an ihn dafür zu beneiden. Natürlich ging es nicht lange gut, er verlor bald seinen Ausbildungsplatz und konnte nun ungestört sein Leben genießen. Ein paar Jahre später, als bei mir schon lange nicht mehr das Gefühl vorherrschte es hier mit einem Vorbild zu tun zu haben, musste ich erkennen, dass es nur konsequent war an seiner Stelle so zu handeln. Er war zu intelligent und hatte zuviel Grips, um seine Erfüllung in diesem Ausbildungsberuf zu finden. Das pünktliche Aufstehen und Arbeiten nach der Stechuhr kann für jemanden wie ihn niemals erfüllend sein, und dass es eine Möglichkeit gibt eine geistig anspruchvolle Tätigkeit zu leben war ihm, durch das Scheitern des Bildungssystems, nie zu Gehör gekommen. Wir haben uns dann lange Zeit aus den Augen verloren und ich traf ihn erst wieder, nachdem ich mein Studium beendet hatte und vor meinem ersten Job eine Weile in der Luft, oder besser gesagt in der Leere des Vakuums, gehangen hatte. Wir trafen uns zufällig in der Stadt, tauschten ein paar Floskeln aus und er lud mich zu sich ein. Er wohnte immer noch in seiner ersten Wohnung, sagte dass ich kommen könnte wann ich wollte, es war im Prinzip immer was los und ich freute mich wirklich die gute alte Zeit für einen Abend wieder aufleben zu lassen. Ich rüstete mich mit geistigen Getränken aus und machte mich auf den Weg des Gymnasiasten zu verbotenem Umtrunk. In der Tat hätte die Reise in die Vergangenheit nicht besser und liebevoller organisiert sein können. Die Bühne war nahezu originalgetreu wieder hergestellt, wenn ich nicht um die Unmöglichkeit gewusst hätte, hätte ich gedacht sie wäre unverändert. Das gewechselte Ensemble war der einzige Umstand, der mir anzeigte, dass ich es nur mit einem Remake zu tun hatte. Die Gesichter waren andere, aber die Typen waren haargenau getroffen. Es befanden sich wieder hauptsächlich Jugendliche unter seinen Gästen, die mit Wollust die Früchte der ungewohnten Freiheit kosteten. Das aufgeführte Stück war tausendmal gesehen, mir wahnsinnig wichtig und dennoch wusste ich, dass seine Bedeutung für mich nicht mehr aktuell war. Wir tranken, pöbelten, hörten laute Musik und alle schienen es zu genießen. Nachdem Ruhe eingekehrt war, unterhielt ich mich noch eine Weile allein mit ihm und musste feststellen, dass er sich kein Stück verändert hatte. Den tiefsten Eindruck auf mich machte hierbei sein Bücherschrank. Die Wohnung war noch genauso eingerichtet wie in meiner Erinnerung, wenn auch die Zeit und die drogeninduzierte Teilnahmslosigkeit ihre Spuren hinterlassen hatte. Die ausgestellten Bücher repräsentierten den geistigen Horizont und die Interessen eines auffallend scharfsinnigen Sechzehnjährigen. Dieses Erlebnis ließ mich mit der gleichen Trauer zurück, die mich überfällt, wenn ich eine alternde Frau oder einen erschlafften Dandy sehe, die versuchen mit dem Skalpell die Zeit aufzuhalten oder gar die Zeiger der Uhr zurückzudrehen.

Im Allgemeinen verbinden wir mit Freizeitvergnügungen meistens die Dinge, die uns einmal Spaß bereitet haben und versuchen sie verzweifelt für uns zu konservieren. Der sich nicht entwickelnde Mensch, der mit zunehmendem Alter immer noch seine Erfüllung in Partys, Gläserrücken und Oberflächlichkeit sucht, belügt sich letztlich selbst. Jetzt fragst du dich bestimmt, warum ich ausgerechnet dir diese Geschichte erzählt habe. In der Tat habe ich selten jemanden getroffen, der die angestrengten Experimente der Jugend so konsequent ausgelassen hat oder dem sie zumindest so wenig bedeuten.
Aber du scheinst mir dafür eine andere, frühere Entwicklungsstufe für dich konservieren zu wollen. Akzeptiere die Veränderung und werde nicht zu einem armselig im Stillstand verharrenden Schatten deiner selbst. Die erste Reflektion hierüber wird dich zu einer so leichten Antwort verleiten, dass ich dir an dieser Stelle den Wind aus den Segeln nehmen möchte. Ich habe, nicht zuletzt dank dir und dem Nachsinnen über dich, erkannt, dass ich genau der armselige Schatten war und ich hoffe inständig, dass die Erkenntnis den ersten Schritt zur Lösung der verknoteten Fäden bietet, damit sich mein Garn wieder frei von der Spule entwickeln kann und die Blockade endlich überwunden ist.

Der eifrig Spinnende wünscht der Einfädelnden gutes Gelingen

Dein Candide

Er hatte sein Versprechen eingehalten und seine Oma etwa einmal im Monat besucht, seit er sie zum zweiten Mal kennen lernen durfte. Beim letzten Besuch hatte er sie, einer im lockeren Gespräch entsprungenen Unüberlegtheit nachgebend, zu sich eingeladen, um sich damit für ihre Gastfreundschaft zu revanchieren und ihr die Chance zu geben, einen Blick in seine Welt zu werfen. Sofort hatte er das kaum Gesagte bereut und die ambivalenten Gefühle und Gedanken, die dieser einfache, angekündigte Besuch bei ihm auslösten, bereiteten ihm Kopfzerbrechen bis dieser Körperteil durch die Ankunft des abgemachten Tages entlastet wurde. Einerseits wollte er ihr wirklich seine Wohnung zeigen und freute sich den geliebten Menschen zu bewirten. Andererseits hatte er das beklemmende Wissen mit der Vorstellung, die er ehrlicherweise nur bieten konnte, eine Person zu enttäuschen, der er diesen Kummer lieber erspart hätte. Die Trübsal wurde durch die notwendige Aktivität immer weiter gemildert, je näher der bang erwartete Termin rückte. Die Aufrichtigkeit setzte sich schlussendlich durch und er versuchte nicht seine Lebenssituation zu beschönigen, sondern begnügte sich damit, seine Wohnung auf Vordermann zu bringen und putzte sie am Samstagabend vor ihrem Besuch besonders gründlich. Oma Gerda war immer eine stolze Frau gewesen und bestand darauf selbstständig anzureisen. Da ihre körperlichen Gebrechen sie jedoch stark einschränkten, war sie auf ein Taxi angewiesen und so verrichtete Harry erst eine dienstliche Fahrt in seiner Freizeit, um darauf nahtlos in die Rolle des Gastgebers überzugehen.

Der Ort der Handlung ist eine kleine Zweizimmerwohnung von etwa fünfzig Quadratmetern inmitten einer Siedlung voller solcher heimischen Verschläge. Die meisten dieser wenig sehnsuchtsvollen Behausungen werden bewohnt von Singles, jungen Novizen in der Erwachsenenwelt und Alten, die der Tod vereinsamt hat. Die Wohnung selber ist unspektakulär eingerichtet und wenn man ihr einen Stil zuordnen müsste, wäre sie spartanisch zu nennen. Dieses Gepräge wurde der Wohnung nicht durch einen Geschmack ihres Mieters aufgedrückt, sondern resultierte aus seiner Gleichgültigkeit. Das Bad enthält außer der Dusche und der Toilette noch ein Waschbecken mit Spiegel. Im Schlafzimmer steht ein Kleiderschrank und auf dem Boden liegt eine Matratze. An der Einbauküche wurde nichts verändert und nur ein Esstisch mit zwei Stühlen lädt zum Verweilen in diesem Zimmer ein. Die Diele ist kahl und drei Hacken an der Wand hängen bereit, um den Fellersatz des zivilisierten Tieres für seine unvermeidlichen Begegnungen mit der Unkultiviertheit der Außenwelt aufzunehmen. Im Schloss der mit birkenem Furnier verkleideten Wohnungstür aus Presspappe schabt ein Schlüssel. Die Profilierung des Schlüsselbartes hebt die Stifte im Zylinder auf das richtige Niveau, die Umdrehung des Schließenden setzt den Mechanismus in Gang und der Riegel öffnet dem Außenstehenden die Privatsphäre. Harry führt seine Oma in sein Reich. „So Oma. Da wären wir also in meiner Wohnung…. Darf ich deine Jacke abnehmen?“ – „Ach, immer noch ganz Gentleman.“ – „ Das ist doch einer Dame gegenüber selbstverständlich…. So, jetzt zeige ich dir kurz alles. Wie schon gesagt, viel zu sehen gibt es eigentlich nicht…. Hier vorn ist die Küche.“ – „ Die ist aber ganz schön klein.“ – „Kochen ist nicht gerade mein Hobby und für das bisschen, was ich in der Küche mache, reicht der Platz allemal… Hier ist das Schlafzimmer… Da haben wir das Bad… Und zu guter letzt ist hier das Wohnzimmer. Setz dich doch bitte, dann kann ich schnell Kaffee machen und den Kuchen schneiden.“ – „Da kann ich dir doch auch helfen“ – „Nein danke. Du bist heute mein Gast und ich habe so selten Gäste, dass ich, wenn ich schon mal die Möglichkeit dazu habe, das komplette Programm der Bewirtung durchgehen will.“ – „Na gut. Wie du meinst.“ Er kochte Kaffee, deckte den Tisch und servierte den Bienenstich. „Also der sieht mir doch sehr nach selber gebacken aus.“ – „Wieso? Ich dachte er sei mir gelungen. Was stimmt denn nicht damit? Ist der Boden zu hart oder ist er zu braun geworden?“ – „Nein er sieht fantastisch aus. Ich wundere mich nur ein bisschen, dass du Kuchen gebacken hast. Dabei hast du mir doch vorhin noch erzählt, dass du in der Küche nicht gerade heimisch bist.“ – „Heute ist halt ein besonderer Tag. Und mit dir habe ich ja die Person im Haus, die mir alles über das Backen und Kochen beigebracht hat, was ich weiß. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann ich dieses Wissen zum letzten Mal angewendet habe. Und jetzt habe ich gleich die Meisterin als Testesserin hier. Ich hoffe mal, dass ich die Prüfung bestehen kann.“ – „Ja… Der ist dir ganz gut gelungen. Ich habe ja auch schon ziemlich lange nicht mehr gebacken. Im Stift bekommen wir unsere Mahlzeiten und haben nicht die Möglichkeit selber mal wieder in der Küche zu stehen. Irgendwie fehlt mir das ein bisschen. Es ist schon komisch. Da habe ich mich auf die Rente gefreut und gedacht, dass ich die freie Zeit genießen würde und nun stelle ich fest, dass mir die Beschäftigung fehlt.“ – „Es ist wohl das richtige Maß, welches schwer zu treffen ist. Wenn du heute jeden Tag kochen müsstest, wärst du sicher auch nicht froh.“ – „Schon wahr…. Und wie ist es denn bei dir. Hat dir das backen nicht Spaß gemacht?“ – „Oh doch. Erstaunlich großen sogar. Aber auch bei mir ist es das gleiche. Ich habe meine Freude aus dieser Beschäftigung nur ziehen können, weil sie etwas Außergewöhnliches war.“ – „Und was machst du denn sonst so, wenn du nicht kochst und keine Frau hast.“ – „Du bist ja lustig... Wieso sollte ich denn mit einer Frau automatisch weniger Freizeit und Langeweile haben als ohne? Ich gehe mal davon aus, dass du nicht auf die eine Beschäftigung anspielst, zu welcher eine Frau unabdingbar ist. Wenn dein Leben mit Opa nur daraus und kochen bestand, habe ich mich aber ziemlich in euch getäuscht. Aber wie sagt man so schön: ‚Stille Wasser sind Tief.’“ – „Ach hör doch auf. Das habe ich bestimmt nicht gemeint.“ – „Lachend. Das weiß ich doch. Aber ob mit oder ohne Frau ist doch für deine Frage, mit was ich mich beschäftige, nun wirklich egal. Ob nun alleine oder zu zweit, in jedem Fall verdammt eine sinnvolle Beschäftigung zu finden, um sein Leben zu gestalten.… Ich für meinen Teil lese nach der Arbeit ziemlich viel und gehe an freien Tagen, wenn das Wetter nicht ganz verrückt spielt, wandern.“ – „Und das reicht dir?“ – „Zurzeit: absolut. Es gab in der Tat Phasen, in denen ich an dieser Nutz- und Sinnlosigkeit verzweifelt wäre, aber ich habe erkannt, dass diese Zustände lebensimmanent sind und das wir uns besser damit arrangieren sollten, wenn wir nicht bis zum Ende unserer Tage jedes mal kotzen wollen, sobald wir uns im Spiegel sehen… Entschuldige“ – „Und das macht dich glücklich? Den Istzustand akzeptieren, weil du meinst es geht nicht besser?“ – „Das ist nicht ganz richtig. Ich meine nicht, dass es nicht besser geht. Wenn ich das nur annehmen würde, wäre die Suche nach Verbesserung und Änderung notwendig für jeden, der die Bezeichnung Mensch verdienen will. Du musst genauer werden und sagen, dass ich weiß das es kein besseres Leben gibt als das, welches ich jetzt führe.“ – „Das kannst du doch unmöglich ernst meinen.“ – „Bist du denn so enttäuscht von deinem Enkel? Ich kann ja verstehen, dass es für dich kein angenehmes Gefühl ist zwischen deinen Freundinnen zu sitzen und erzählen zu müssen, dass dein Enkel Taxifahrer ist. Aber dieser Job ist gar nicht so schlecht wie ich anfangs dachte. Ich habe eine Beschäftigung und die ist sogar noch sinnvoller als das, was ich im Gesundheitsministerium zu tun hatte.“ – „Aber du warst doch immer so ein aufgeweckter Junge. Wie kann denn eine so einfache Tätigkeit deinem Geist Halt geben?“ – „Jetzt muss ich dich mal schockieren: Ich habe in meinem Leben zu viele Drogen genommen, um nicht zu wissen, dass der Geist den Körper sehr wohl verlassen kann und in der Lage ist so etwas unerhörtes wie ein Eigenleben zu führen.“ Als Reaktion auf diese Auskunft war Oma erst einmal sprachlos und längeres Schweigen zwischen den verschiedenen Generationen war die logische Konsequenz. Schließlich fasste die Großmutter sich ein Herz und nahm das Gespräch auf unverfänglicher Ebene wieder auf: „Kann ich dir noch beim Abwasch helfen?“ – „Nein bloß nicht. Die Freude lasse ich mir nicht nehmen. Das lassen wir schön stehen und ich mache das nachher, wenn du wieder weg bist. Das gehört schließlich zu einem Besuch dazu und wenn schon, dann will ich das ganze Programm.“ – „Aber lass uns wenigstens die Tassen ausspülen. Eingetrocknete Kaffeeränder sind so schwer zu entfernen.“ – „In dem Fall lassen wir sie gerade stehen und freuen uns auf die Herausforderung.“ – „Du bist wirklich unmöglich.“ Das Gespräch wechselte zu privaten Familienthemen, mit denen der Leser nicht gelangweilt werden soll, und gegen halb sechs stellte Oma Gerda fest, dass sie zurück gebracht werden musste, um nicht das Abendbrot zu versäumen. Nach dem er seine wertvolle Fracht abgeladen hatte, fuhr er noch im Internetcafe vorbei, um seinen Emailaccount zu checken. Erfreut verzeichnete er den Eingang von Ottilias Antwort:

Betreff: Re: Freizeit und was man daraus macht

Hallo Candide,

du hast nicht ganz Unrecht und wenn ich mich recht erinnere, gibt es ja einen Eintrag in meinem Tagebuch, in welchem ich meine Kindheit geradezu verkläre. Doch ich verstehe nicht so ganz, was daran schlecht sein soll. Das man in einem Teil seiner Freizeit versucht einen guten Lebensabschnitt und eine positive Erinnerungs- und Gefühlswelt zu konservieren ist doch nicht verkehrt. Problematisch wird es vielleicht in dem Fall, wenn man ausschließlich in der Vergangenheit lebt oder sich nicht bewusst ist, dass man es tut. An dem Bewusstsein hierfür hat es mir in der Tat bis zu deinem Anstoß gemangelt, doch die Ausschließlichkeit deines Thomas kann ich für mich nicht gelten lassen und ich war weit davon entfernt mich so aus der Realität zu verlieren wie jemand, dessen echten Namen ich an dieser Stelle nicht preisgeben und den ich der Einfachheit halber Candide nennen möchte. Ich lebe nicht nur in der Vergangenheit und würde von mir behaupten, sie eher als eine Art ungewöhnliches Freizeitvergnügen zu betrachten. Du großer ‚Spinner’ musst nicht denken, dass ich nach der Arbeit noch mit Puppen spiele oder Kinderbücher lese. Auch wenn du es dir nicht vorstellen kannst, weil es nicht explizit in meinem Buch Erwähnung fand: Ich lese Zeitung, schaue Nachrichten (sogar Erwachsenen- Nachrichten) und kann mich auch über andere Dinge als Mode und Jungs unterhalten.

Liebe Grüße

Ottilia

Da hatte sie ihn eiskalt, sarkastisch bei den Eiern gepackt und sie hatte auch noch Recht. Von ihnen beiden war er es, dem seine Geschichte deutlich mehr Stoff zum nachdenken bieten sollte. Ottilia hatte ganz schön was auf dem Kasten und eine erstaunliche Fähigkeit in den relevanten Gebieten die richtigen Punkte aufzugreifen. Er hatte sich seitenweise abgemüht und sie konterte ihm berechtigt und geschickt mit wenigen Sätzen. Tief Luft holend sammelte er seine versprengten Gedanken wieder auf, ordnete die durch zarte Hände arg verworrenen Ideenfäden zu neuem Muster und schrieb ihr eine Antwort:

Betreff: Freizeit und was man daraus machen sollte

Hallo mein Naturtalent,

du hast es geschafft mit einigen wenigen Sätzen geschickt zu kontern und gleichzeitig eine Schärfe in den Briefwechsel gebracht, den ich so nie beabsichtigt habe. Natürlich hast du Recht wenn du sagst, dass ich mir die Mahnung stärker zu Herzen nehmen sollte als du. In der Tat gab es eine Zeit, in welcher ich mich ganz dem infantilen Genuss des Alkohols hingegeben habe. Bevor jetzt gleich wieder der Einwand kommt, dass Alkoholkonsum nichts mit Infantilität zu tun hat und frühestens in einer späteren Lebensphase stattfinden sollte, möchte ich mich präzisieren. Nicht der Alkoholgenuss als solcher ist die infantile Handlung, sondern die mit ihm verbundene Flucht vor der Verantwortung und der Lebensfeindlichkeit der Erwachsenenwelt. Wahrscheinlich habe ich die Begebenheit, von der ich dir berichtet habe, auch nicht in erster Linie dir erzählt, sondern mir mehr für mich selber in Erinnerung gerufen. Das Alter verlangt auch bei mir eben nicht nur seinen biologischen Tribut, sondern meine unvermeidliche Gefangenschaft in seinen Verhaltensmustern hat schon begonnen, ohne dass ich mir dessen bewusst war. Ich wollte dir mit einem wohlgemeinten Rat eine Erfahrung ersparen und habe schlichtweg vergessen, dass man seine eigenen Erfahrungen machen sollte. Bevor die pathologische Demenz im Seniorenalter einsetzt scheinen wir schon vorher Dinge zu vergessen und uns darüber genau zu den nörgelnden Säcken zu entwickeln, die wir nie werden wollten.

Wie schon erwähnt hatte ich nicht vor die Heftigkeit in unsere Beziehung zu bringen, die nun eingetreten ist. Wenn ich dich persönlich angegriffen haben sollte, möchte ich mich dafür entschuldigen. Eigentlich freue ich mich sehr, dass du dir die Unverdorbenheit deiner Kindheitstage so stark bewahrt hast und dich darüber zu einem besonderen Menschen, im doppeltem Wortsinn, entwickelt hast. In einer Zeit voller Verführungen und Versuchungen macht dich das zu einem Rohdiamanten im Abort der Welt. Doch auch ein Rohdiamant kann durch den geeigneten Schliff noch an Wert gewinnen, wenn man auch aufpassen muss ihn nicht durch ungeübte Hand zu verhunzen. Da ich ein unerfahrener Schleifer bin, fühle ich mich außer Stande diesen Schliff durchzuführen. Die Hände zittern, in diesem Fall nicht aufgrund der genossenen Drogen, sondern im Bewusstsein gleich zu Beginn einen so wertvollen Stein in den Händen zu halten, und so kann ich dir nur den Tipp geben dich selber zu schleifen.

Und wie du mir gezeigt hast, hast du ja schon damit begonnen. Dein ungewöhnliches Hobby, die Flucht in glückliche Kindheitstage, macht nur einen Teil deiner Freizeit aus. Doch neben dieser Entspannung und Freude, der auch ihr Recht eingeräumt werden muss, scheinst du dich ja auch eher den „Erwachsenen- Hobbys“ zu widmen und deine Zeit mit anspruchsvollen Tätigkeiten zu verbringen und dein Schliff scheint .sich auf einem guten Weg zu befinden. Für mich bieten diese Art der Freizeitvergnügungen, die von vielen sicher eher als Arbeit und Anstrengung bezeichnet werden würden, die einzige Möglichkeit der Entspannung. Der Überschuss an Energie und die daraus resultierende Langeweile sind einfach zu gewaltig, um Erholung in Trivialitäten zu finden. Das faschistoide des Systems, welches wir als Gesellschaft zu bezeichnen pflegen, ist die Intoleranz gegenüber anderen Lebensphilosophien. Der sich als normal definierende Mainstream kann kein Verständnis für noch so kleine Abweichungen vom von Katalogen, vorgelebten Lebensmodellen und Medien indoktrinierten Menschenbild aufbringen und das führt zwangsläufig zu einem Gefühl der Ausgesetztheit bei all denen, die ihre eigene Persönlichkeit zu stark ausleben. Aber auch hier sollte unser Egoismus über den Wunsch nach Anpassung siegen und wir sollten beginnen unsere Einzigartigkeit zu akzeptieren. Wenn man seine Individualität einmal erkannt hat, kann man sich nicht mehr verbiegen und in ein Schema pressen lassen, welches nicht zur eigenen Person passt. Auch wenn es normal sein sollte eine Vielzahl von Bekanntschaften zu pflegen, auf Partys zu gehen und das Leben so zu genießen, wie die Meisten es vorleben, führt kein Weg daran vorbei seine eigenen Entscheidungen zu treffen und so zu leben, wie es einem selber kommod ist.

Dein dich ungewollt Verletzender, unsensibler

Candide

Zweiundzwanzig

Ein Schellen störte die private Atmosphäre seines Abends und riss ihn aus seiner wohlverdientem Abgeschiedenheit. Zum Glück war der Kontaktsuchende ein gern gehörter Geist und die Störung offenbarte sich als nicht so übel, wie durch ihr abruptes Eintreten vermutet. „Hallo mein Bester“, meldete sich von fernem Ort die, durch die Übertragung über mehrere Glasfasernetze, ihre Ausbreitung in der Luft bis ins Vakuum des Alls und zurück verfremdete, und doch in ihrer Vertrautheit geliebte Stimme Davids. „Mensch David. Schön mal wieder was von dir zu hören. Was macht das Leben.“ – „Also bei mir könnte es nicht besser laufen. Ich hab es endlich geschafft mich mental von meinen gefühlten Verpflichtungen zu lösen, habe mich frühzeitig pensionieren lassen und plane mit Jana eine sechsmonatige Weltreise. Nächste Woche geht es los und da wir nun für lange Zeit nichts mehr voneinander hören werden, wollte ich mich bei dir abmelden.“ – „Das freut mich wirklich für dich. Jetzt ergreifst da also tatsächlich noch die Chance fremde Kulturen kennen zu lernen und das Leben zu genießen.“ – „Ja. Ich freue mich auch schon darauf…. Und wie geht es bei dir. Kannst du das Leben auch wieder genießen?“ – „Ich genieße es außerordentlich. Auch wenn sich an den faktischen Gegebenheiten nichts geändert hat, ist meine Innerlichkeit doch strahlend wie selten. Man könnte sagen, dass ich mich schon seit einiger Zeit auf der Weltreise mit meiner Jana befinde.“ – „Schön zu hören. Jetzt kann ich etwas beruhigter auf unsere Reise gehen. Mein Bewahrungswille steht einer spontanen, reinen Vorfreude auf das Kommende doch etwas im Wege und wenn ich jetzt höre, dass auch deine Sache auf den rechten Weg gebracht wurde, kann ich einen weiteren Punkt abhaken und mich ein Stück weiter entspannen….. Sag mal. Kann ich dich etwas fragen? Da ist noch ein Punkt welcher bei deinem Besuch in der Fülle der Thematik etwas unterging und der mir seitdem doch keine Ruhe gelassen hat.“ – „Nur heraus damit. Es wäre mir neu, dass wir uns wie rohe Eier behandeln und um den heißen Brei herum reden.“ – „Da hast du Recht. Das haben wir im Normalfall nie gemacht, aber in diesem Fall handelt es sich um eine etwas diffizilere Angelegenheit…. Nein auch das ist nicht richtig. Eigentlich ist es etwas ganz gewöhnliches, aber vielleicht ist es gerade wegen seiner Gewöhnlichkeit nie thematisiert wurden. Es kann auch sein, dass es der Altersunterschied ist…“ – „Entschuldige. Ich will das ganze jetzt mal etwas abkürzen. Es ist ja unerträglich gerade dich so unentschlossen und nach Erklärungen ringen zu hören. Du willst sicher nur wissen, wer die Person ist, welche mein Erweckungserlebnis bewirkt hat, von dem wir sprachen, oder um es mal etwas märchenhafter zu sagen, welcher Traumprinz mich wach geküsst hat.“ – „Genau das wollte ich wissen. Ich danke dir für die Hilfe.“ – „Nun werde mal nicht zu devot. Das passt genauso wenig zu dir. Also bei meiner Traumprinzessin handelt es sich um ein ganz besonderes Mädchen, welches mir einen Spiegel vorgehalten und sich dabei so ungeschickt angestellt hat, dass das reflektierte Sonnenlicht mein an Dunkelheit gewohntes Auge auf rabiate Weise wieder an den Tag gewöhnt hat. Das ist im Prinzip schon die ganze Geschichte.“ – „Und ein Happy End hat deine Geschichte nicht.“ – „Handlungen mit Happy End empfinde ich, bis auf ganz wenige Ausnahmen, als zu schmalzig und realitätsfern. In diesem Fall kann ich dir allerdings über das Ende noch nichts sagen, da meine Geschichte noch nicht an diesem Punkt angekommen ist. Ich bin in einem Alter, in dem man im Allgemeinen noch ein paar Jahre vor sich hat und dabei meinen Lebenswandel derart zu gestalten, dass dies auch mir möglich sein sollte. Was ich auf meinem Sterbebett dann über diese Episode berichten werde, kann man nicht wissen. Egal wie es sich entwickelt, hatte ich in jedem Fall die Ehre jemanden zu treffen, der mein Leben bereichert hat. Und diese Aussage ist und bleibt unumschränkt gültig, auch wenn sie nur als passives Element gewirkt haben sollte.“ – „So viel Romantik hätte ich dir gar nicht zugetraut.“ – „Manchmal überrasche ich mich sogar selber. Ich hoffe, dass dir die Auskunft reicht. Auch wenn sie unbefriedigend scheint, kann ich dir nicht mehr dazu sagen.“ – „Das reicht mir in der Tat. Und ich habe ein gutes Gefühl.“ – „lachend Ich habe gerne meinen Teil beigetragen, um eurer Reise zum Gelingen zu verhelfen. Wenn ich dir wieder mal mit so einer einfachen Auskunft behilflich sein kann, lass es mich wissen…... Ich wünsche dir auf jeden Fall viel Spaß mit deiner Frau. Du kannst mir ja mal schreiben.“ – „Das mache ich gerne. Lass es dir gut gehen… Ich melde mich, sobald wir wieder da sind. Bis dahin: Machs gut.“ – „Ja, tschüß. Und danke für deinen Anruf.“
Harry nahm Davids Anruf als Ermahnung, dass es an der Zeit war die angesprochene Geschichte fortzuführen und einen weiteren wichtigen Punkt anzusprechen. Trotz der vorgerückten Stunde, zog er seine Hose wieder an und verließ noch einmal das vertraute Ambiente seiner Wohnung. Im Internetcafe tippte er den folgenden Text:

Betreff: Familie

Es gibt unter meinen ehemaligen Kommilitonen einige mit denen ich mich immer außerordentlich gut verstanden habe, obwohl Sie meine Sehnsucht und Neugier nicht teilten und weder diese Motivationen, noch die schiere Langeweile Triebfeder ihres Handelns waren. Vor zwei Wochen habe ich, im Rahmen meiner Wiedergeburt, einen von ihnen besucht. Patrick arbeitet mittlerweile als Redakteur bei einer politischen Wochenzeitung in Hamburg und hat mich auf einen Nachmittag in sein Haus eingeladen, um mir seine Familie vorzustellen. An diesem Nachmittag habe ich die ganze Absurdität des Alltages, sei er nun allein verlebt oder in Familie, mit voller Wucht zu spüren bekommen. Hier war wahrscheinlich ein Mechanismus am Wirken, den ich mal Selbstschutz oder Erhaltungstrieb nennen möchte. Da ich nie eine eigene Familie hatte, habe ich meine Aufmerksamkeit auf eben die absurden Momente gelenkt und meine Entscheidung so zu rechtfertigen gesucht. Doch auch diese Einsicht reicht nicht aus, um der Gesamtsituation etwas Positives abgewinnen zu können und die Stolperfallen des Gewöhnlichen zu ignorieren. Ignoranz empfinde ich an sich als eine schlechte Charaktereigenschaft, vor der wir uns hüten sollten, auch wenn sie uns helfen kann, unser Leben unkomplizierter zu gestalten.

Zum Einstieg möchte ich dir ein bisschen über Patrick und meine Studienzeit mit ihm erzählen. Nachdem er mir schon äußerlich, durch seine Weigerung die Uniformierung seiner Persönlichkeit mit den Ehrenkleidern der Elite mitzumachen, unter den anderen Kommilitonen positiv aufgefallen war, kamen wir im zweiten Semester in näheren Kontakt. Wir arbeiteten gemeinsam für ein Seminar eine Hausarbeit aus und entdeckten hierbei so einige gemeinsame Interessen, welche dann in gemeinsamen Partys und dem Genuss der studentischen Freiheiten endeten. Patrick zeigte sich hierbei als stets freiheitsliebender und unkonventioneller Idealist, der sich für seinen späteren Beruf vor Allendingen die Flexibilität wahren wollte. Er zeigte den, selbst mir in dieser Bedingungslosigkeit nicht verständlichen, Wunsch, der festen Bindung zu entfliehen und in möglichst vielen verschiedenen Kulturkreisen Lebenserfahrungen zu sammeln. Und dieser Freigeist hatte sich nun durch seine Familie an einen festen Ort gebunden und seine Träume damit zwangsläufig begraben müssen. Aber vielleicht war dies ja nicht ein Verlust seines Ideals, sondern eher ein Wandel. Im einzig lichten Moment des Nachmittages bestätigte er diese Vermutung, nachdem ich ihn auf die Veränderung seiner Lebenseinstellung angesprochen hatte. Er hatte die vermeintliche Frau seines Lebens getroffen, erkannt, dass Individualismus zwar Freiheit bedeutete, diese aber eine Lüge war und allem Anschein nach noch niemanden glücklich gemacht hatte. Und so hatte er das kleinere Übel gewählt, seine beruflichen Träume begraben, war sesshaft geworden und hatte eine Familie gegründet. Das diese Wahl nicht wohl überdacht war, sondern dass das Scheusal des Zweifels tief in ihm weiter an seinen Nerven nagte und seine Seele mit Leid und Qual erfüllte, sollte ich später noch erfahren. Schon die Szenerie des Schauspiels war grotesk zu nennen. Im Garten des Hauses war eine Kaffeetafel gedeckt und der Garten selber war liebevoll gestaltet und so gepflegt, dass jedem Schrebergärtner das Herz aufgegangen wäre. Mit viel Hingabe und mindestens genauso viel Arbeit hatte man hier versucht ein Stück Natur zur Erholung vom stressigen Alltag nachzugestalten, doch trotz, oder genauer gesagt gerade wegen, der ganzen Mühsal war keine Natur-, sondern eine Kulturlandschaft entstanden. Patrick hatte mittlerweile zwei Kinder im Alter von sechs bzw. neun Jahren und um das Klischee von der perfekten Familie abzurunden, waren es auch noch ein Junge und ein Mädchen. Doch seltsamerweise schienen die spielenden, tobenden und lärmenden Kinder die Eltern zu stören und so schickten sie sie nach einer halben Stunde auf die Straße, um dort mit den Nachbarskindern zu spielen. Schon oft musste ich mich fragen, warum man Kinder bekommt, wenn man eigentlich nicht kinderlieb ist. Die Vorstellung, dass Kinder an sich, ohne die nötige Aufopferung und das Verständnis für ihre Bedürfnisse zu erübrigen, schon sinnstiftend sein sollen habe ich nie verstanden. Sehr wohl halte sogar ich es für möglich, dass Kinder das Leben bereichern können, aber nicht durch ihre einfache Zeugung. Wenn der Sinn des Lebens alleinig im Akt der Fortpflanzung zu finden wäre, wäre das Leben Selbstzweck und diente nur dazu neues Leben zu generieren. Nach dem Kaffee räumte Patricks liebevolle Frau ab und wir gingen in den Garten, wo er mir stolz seinen Steingrill zeigte und mir auseinandersetzte was beim Grillen alles zu beachten war, welche Fleischsorten geeignet waren, ob man besser Briketts oder Kohlen nehmen sollte und warum Spiritus die beste Starthilfe war. Die Geschichte mit dem Spiritus fand der Pyromane in mir interessant, doch trotz einer urtümlichen Freude an offenem Feuer, dem Spiel der Flammen in der Dunkelheit und dem Sieg der behaglichen Wärme über die Kälte, war ich froh nicht zu einem Grillabend eingeladen worden zu sein. Patrick vertraute mir abschließend im Einvernehmen an, dass er mich angeblich für meine Freiheit und Ungebundenheit beneidete. Nach seinen eigenen Worten liebte er seine Frau zwar, konnte sich aber nicht mehr erinnern, wann er sich zum letzten Mal nach ihr gesehnt und sie aus tiefstem Herzen begehrt hatte. Doch er fand nicht die Kraft einen Schnitt zu machen oder sein Zusammenleben mit ihr auf eine neue Basis zu stellen. Die surreale Kulisse verstellte dem Protagonisten die Weitsicht, hielt ihn in dieser Welt gefangen und die Schönheit des Scheiterns und Neuanfangs war wohl auch Patrick nie zu Bewusstsein gekommen. Oder, um das Ganze einmal mit einer oft zitierten Wahrheit zu beschreiben: Er hatte erkannt, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt, und hatte trotzdem nicht den Mut die richtige Konsequenz daraus zu ziehen.

Ich hatte die Chance diesem Familienidyll sehr bald wieder zu entfliehen und blieb doch allein zurück mit der Frage, warum man in einer Situation verharrt mit der man sich augenscheinlich nicht identifizieren kann. Wenn man seine Familie nicht liebt oder sich zumindest nicht mit den zwangsläufig auftretenden Marotten und Macken ihrer Mitglieder arrangieren kann, sollte man den Mut zum befreienden Bruch haben oder gar nicht erst die Möglichkeit ihrer Gründung ins Auge fassen.

Dein idealistischer Familienmensch

Candide

Auch die Antwort auf diese Mail ließ nicht lange auf sich warten. Doch obwohl sie vom gleichen Absender kam, war Harry sich nicht sicher, ob wirklich Ottilia ihr Verfasser war:

Betreff: Re: Familie

Hallo Candide,

irgendwie überspringst du schon wieder einen entscheidenden Punkt und denkst nicht weit genug. Besser gesagt denkst du schon zu weit. Du bist schon bei der Familie angelangt und dabei hast du ihren Beginn, die Liebe, total außer Acht gelassen. Ich möchte mich mal deinem Duktus anschließen und von unseren Briefen als einer Expedition sprechen. Der Expeditionsleiter zeigt mit zunehmend zurückgelegtem Weg immer größere Schwächen, ob aufgrund seines Alters oder seines exzessiven Lebensstils will ich mal dahingestellt lassen, und sein Adlatus ist in der Pflicht immer größere Teile seiner Aufgabe zu übernehmen. Aber ich will mich an dieser Stelle nicht beschweren und die Bürde auf mich nehmen, immerhin hatte ich ja nicht den schlechtesten Lehrmeister und fühle mich gerüstet und fit genug für die anstehende Etappe.

Wahre Liebe scheint mir für uns etwas irreales und durchaus unbekanntes zu sein. Wahrscheinlich haben wir zu hohe Erwartungen, die in der Kunst zwar vorherrschen, aber im realen Leben in dieser Form nur sehr schwer erfüllt werden können. Ich habe mich immer gewundert, wie hübsche Typen, die mich in der Disko ansprechen oder es zumindest im Lärm versuchen, das Wort Liebe gebrauchen können oder mich auch nur zu einem Drink einladen wollen, wo sie mich doch gar nicht kennen. Es ist mir unverständlich, wie man die Kraft haben kann sich auf jemanden einzulassen, den man nicht kennt. Noch viel weniger fühle ich leider die Kraft, mich auf jemanden einzulassen, der mir etwas bedeutet. Zu oft habe ich in meinem Bekanntenkreis erlebt wie das scheinbare junge Glück aus heiterem Himmel zerbricht und die Liebe in Hass umschlägt. Wo einst Freude, Übermut und Zuversicht dominierten bleiben auf einen Schlag nur noch Scherben, Unglück, Verzweiflung und Depression. Am tiefsten bewegt hat mich eine Episode aus unserer Nachbarschaft. Ziemlich genau zu der Zeit zu der ich mein Studium aufgenommen hatte, zog in das Haus neben meinen Eltern ein junges Pärchen ein. Doreen war nur zwei Jahre älter als ich und ihr Freund, Tobias, war etwa sieben Jahre älter. Wie du ja weißt, und zu meinem Leidwesen oft bemängelst, bin ich sehr gerne bei meinen Eltern und habe viel von den neuen Nachbarn mitbekommen. Die beiden hatten ein starkes Interesse an guten nachbarschaftlichen Beziehungen und im Sommer haben wir des Öfteren bei ihnen oder meinen Eltern gegrillt. Doreen ist mir darüber eine gute Freundin geworden und in stillen Minuten habe ich sie so manches Mal für die Geborgenheit und Stabilität beneidet, die sie meiner Individualität voraus hatte. Ich benötige keine Freiheit, um mich auszuleben, sondern bin doch eigentlich eine sehr häusliche Natur. Doch dann kam der große Donnerschlag. Tobias hat für alle, inklusive Doreen, überraschend festgestellt, dass er zu jung sei, um sich schon jetzt auf ewig zu binden und ist von heute auf morgen ausgezogen und hat Doreen allein im verschuldeten Haus zurückgelassen. Zu meiner Schande muss ich dir gestehen, dass ich dieses Gewitter als unglaublich wohltuend und befreiend empfunden habe. Der einsetzende Regenguss hat all die falschen Illusionen weggespült und mich in meiner Auffassung bestätigt. Zum Glück hatten die beiden noch keine Kinder und für Doreen war es so nicht ganz so schwierig neu anzufangen. Für mich bot das ganze Unglück nur ein weiteres Beispiel dafür, dass man sich in einer Welt, in der man sich auf niemanden verlassen kann, nur auf sich selbst verlassen sollte und alle dauerhaften Bindungen weitest möglich umgehen sollte. Und wie sollte eine Beziehung auch funktionieren, wo doch ein jeder dazu angehalten ist, sein Leben und Auskommen selber in die Hand zu nehmen und ein Beitrag ausschließlich für die Familie und die unentgeltliche Aufopferung für einen anderen Menschen von der Gesellschaft in keiner Weise mehr positiv sanktioniert wird.
Da für mich ihre Initialisierung allenfalls im Traum möglich ist plane ich nicht damit eine Familie haben zu wollen.

Liebe Grüße

Ottilia

Ottilia schien ihm nun endgültig das Vertrauen aufgebaut zu haben, das er sich wünschte, und er fühlte, dass es an der Zeit war zum entscheidenden Punkt vorzustoßen:

Betreff: Gib der Liebe eine Chance

Hallo Boss,

das alternde Männchen erkennt die Überlegenheit des aufstrebenden Adlatus an und zieht sich in die zweite Reihe zurück. Ich hoffe dennoch dem kraftstrotzenden Jungtier mit so etwas wie Altersweisheit beiseite stehen zu können.

Die Geschichte, welche du mir erzählt hast, hat mich zutiefst bedrückt. Um die Wahrheit zu sagen ist mir das Wohlergehen von Doreen und Tobias egal. Ich bin schon zu autistisch, um mich großartig um das Befinden meiner Bekannten zu kümmern, da kann mich das Schicksal von Unbekannten nicht berühren, zumal, wenn sich hinter seiner angeblichen Grausamkeit nichts ungewöhnlicheres als eine alltägliche Trennung verbirgt. Wirklich traurig hat mich hingegen deine Schlussfolgerung gemacht. Wie kannst du so abgebrüht und gleichzeitig mitfühlend sein, aus dem Scheitern anderer eine Konsequenz für dein eigenes Leben zu ziehen. Das die Liebe nicht so leicht zu finden ist, wie man meinen könnte, wenn man all die, allem Anschein nach, glücklich verliebten Pärchen in der Innenstadt, am Strand und all den anderen bunt rummelnden Plätzen sieht ist uns, denke ich, beiden klar. Doch allein die Tatsache, dass sie nicht so offen und brachial unsere Aufmerksamkeit erzwingt, macht sie noch lange nicht irreal und wir sollten die Möglichkeit ihrer Existenz nie verleugnen und unsere Sehnsucht nach ihr in unserem Herzen konservieren. Doch wenn die Liebe in ihrer subtilen und für uns einzig wahren Form nicht auf den ersten Blick stattfinden kann, äußerliche Anreize schon allein wegen ihrer Vergänglichkeit jeder Relevanz entbehren und das Vertrauen und auch geistige Fundamente einem unausweichlichem und notwendigem Wandel unterzogen sind, bleibt nicht mehr viel übrig was uns helfen kann den sehnlich erhofften Gegenüber zu finden. Deine zwangsläufige Assoziation von Liebe mit dem bürgerlichen Lebensmodell, der Familiengründung und dem Leben im Reihenhaus zeigt mir, dass du auch noch nicht realisiert hast, dass die Liebe eingetretene Pfade verlassen kann und die Spielwiese der Seelenpartnerschaft weitaus mehr Freiräume bietet, als man gemeinhin annimmt. Die Art der Zuneigung, welche ich meine, hat für den Gemeinen einen kalten und zutiefst unromantischen Beigeschmack und dennoch würde ich sagen, dass sie den Gipfel des Gefühles darstellt. Echte Verbundenheit muss nicht in andauernden gemeinsamen Unternehmungen, Gesprächen und Urlaubsreisen bestätigt werden. Wenn ein Millionär eine Frau findet, welche er über alles liebt, mit der er den Rest seines Lebens verbringen will und für die er alles gibt trotz des Bewusstseins, dass seine Liebe nicht erwidert wird und nur der materialistische Sinn seiner Angebeteten sie bei ihm hält, ist das für mich einer der schönsten Ausdrücke aufrichtiger Liebe, die es geben kann. Allen Mahnern zum Trotz, die sich ereifern und ihm weismachen wollen, er lebe eine Lüge und die Romanze sei zum Scheitern verurteilt, lebt er nur seine Liebe in dem Bewusstsein aus, dass sie groß genug ist, um für zwei zu reichen und keiner Erwiderung bedarf. Das mag man als egoistisch betrachten, doch ohne eine solche Sichtweise wäre es die Frau, der man Egoismus vorwerfen würde. Überhaupt hat die Liebe in ihrer reinen, überwältigenden und subtilen Form nichts mit Egoismus zu tun, sondern stellt vielmehr die aufrichtige Überwindung dieses naturalistischen Triebes dar. Wer einen anderen Menschen aus tiefstem Herzen liebt, kann sehr wohl darauf verzichten mit ihm zusammenzukommen, wenn er erkennt, dass seine Anlagen und Vorstellungen von Partnerschaft nicht ausreichen, um dem angebetetem Wesen zu einem erfüllten Leben zu verhelfen. Wer seine Liebe ziehen lässt, weil er erkennt, dass sie ihre Freiheit braucht und in dem Gefängnis der eigenen Vorstellung von Partnerschaft nur verkümmern würde, ist in meinen Augen nicht in erster Linie ein Versager, sondern zeigt durch diesen Akt der Selbstlosigkeit das Ausmaß seiner Gefühle. Oder, um es frei nach Gottfried Benn zu sagen, der Verzicht ist eine Ovation für die Frau als Mensch.

Ich möchte jetzt noch auf einen deiner Tagebucheinträge zu sprechen kommen. Du hast mir ungewollt etwas von einem Phillip erzählt und ich durfte erfahren, dass du mit ihm eine sehr gute Zeit verbracht hast und trotzdem nicht bereit warst den nächsten Schritt zu gehen. Dein Realitätssinn hat dich gehindert diese logische Konsequenz zu ziehen und dein Bewusstsein hat dir wieder einmal die Perspektiven der Zukunft zu klar vor Augen geführt. Ich will hier gar nicht versuchen dir weiszumachen, dass alles ganz anders gekommen wäre. Die Vorstellung, dass etwas für ewig bestehen kann, ist selbst für dich zu infantil. Das soll nicht heißen, dass nichts für ewig dauert und es die große Liebe nicht gibt. Irgendwo da draußen ist diese Liebe und nach allem, was ich gehört habe, bestehen gute Chancen, dass Phillip deine war. Das kannst du allerdings nur erfahren, wenn du bereit bist, dich auf ihn einzulassen und die Möglichkeit des Scheiterns nicht ignorierst, sondern akzeptierst. Das keiner von euch beiden sich ändert oder weiterentwickelt, sei es persönlich oder beruflich, ist unwahrscheinlich und nicht wünschenswert, aber vielleicht ist eure Partnerschaft so stark, dass ihr euch mit ähnlicher Geschwindigkeit in die gleiche Richtung entwickelt oder ihr zumindest Verständnis für euer Gegenüber aufbringen könnt. Und wenn eure Liebe doch am Alltag zerbrechen sollte, ist auch das nicht verwerflich. Du hast eine Erfahrung gemacht und der Rohdiamant wurde durch eine weitere glitzernde Facette aufgewertet.

Dein bestätig predigender Spiegel

Candide


Betreff: Re: Gib der Liebe eine Chance

Ich bin mehr als erstaunt. Du hast Recht, dass die Situation, welche du beschrieben hast, von Niemandem als Liebe bezeichnet werden würde und auch ich war weit davon entfernt ein solches Verhalten als Liebesbeweis zu erkennen. In allen Fällen traf Versagen es in meinen Augen wirklich besser. Was ich mich jetzt eigentlich frage ist, wie es sein kann, dass so ein grantiger, fast bin ich geneigt zu sagen: garstiger, alter Zausel ein solch romantisch- idealistisches Weltbild haben kann. Und wie kommt es, dass du mit so einer Einstellung noch niemanden gefunden hast? Wenn es dir wirklich egal wäre, ob die Liebe auf Gegenseitigkeit beruht, hättest du doch sehr gut mit deiner Karriere, dem Ansehen und deinem Verdienst einen guten Fang machen können.

Grüße

Ottilia

Wie nicht anders zu erwarten war, hatte sie wieder einmal in ihrer Antwort die privaten Fragen übergangen. Doch da die Anreize gesetzt waren, hatten diese Antworten auch keine Bedeutung.

Betreff: Der Grund der Selbstgenügsamkeit

Hallo mein scheues Reh,

das Beispiel mit dem Millionär, der seine Frau unabhängig von ihrer Erwiderung liebt, kann nicht so ohne weiteres auf meine Person übertragen werden. Mit dieser Einschränkung will ich das Gesagte nicht relativieren oder gar revidieren, sondern lediglich feststellen, dass ich nicht in der Lage bin jemanden zu lieben, dem materielle Dinge eine so inhärent wichtige Bedeutung haben. Ich bin sehr wohl bereit eine unerwiderte Leidenschaft zu leben, aber wenn der Gegenüber sich durch Vermögen an mich binden lässt, ist dies eine Charaktereigenschaft, welche ich nicht zu lieben fähig bin. Das ich mein Leben alleine bestreite hat nichts damit zu tun, dass ich nicht an die Liebe glaube. Der Glaube ist so stark und die Erwartungen sind so hoch gesteckt, dass ich bis jetzt Niemanden getroffen habe, der es Wert war diese Hingebung zu verdienen. Ich muss sogar gestehen, dass ich mir nie bewusst war die Liebe als endgültiges Prinzip der sozialen Interaktion überhaupt zu suchen. Wenn ich mich zu einer Frau hingezogen gefühlt habe, war dieser Vorgang meist rein hormonell verursacht, der Plebejer in mir würde sagen: Ich war schwanzgesteuert. Das Herz ist ein Organ, welches mir noch nie sonderlich Kopfzerbrechen bereitet hat. Austausch mit dem anderen Geschlecht bedeutete mir, abgesehen von beruflichen und freundschaftlichen Kontakten, nie mehr als Sex und damit hatte ich das Gefühl den Vorgaben meines Umfeldes vollkommen gerecht zu werden. Es ist schon
erstaunlich in welch sinnwidrigen Zusammenhängen uns im Alltag nackte Haut begegnet. Wenn eine nackte Schönheit zur Bewerbung einer Sonnencreme eingesetzt wird, akzeptiert, für die Anpreisung einer Kamera, okay, das ein Auto etwas damit zu tun haben soll kann ich nicht mehr verstehen, aber das kennt man ja mittlerweile, doch was Aufschnitt mit nacktem Menschenfleisch zu tun hat kann mir kein Marketingstratege erklären.

Das die Liebe nichts mit Körpern zu tun hat, sondern in ihrer schönen Form das Fleisch transzendiert und sich fernab des haptisch und visuell erfassbaren im Kopf abspielt, habe ich nie realisiert. Diese Erkenntnis ist eine von vielen, welche ich in letzter Zeit machen durfte und vielleicht eine der Befreiendsten. Der alternde Körper ist von der Last und der Bürde entbunden mit der Jugend mitzuhalten und muss nicht länger versuchen das Unmögliche möglich zu machen. Man mag es als traurig empfinden diese Einsicht so spät zu haben, doch ich bin froh sie überhaupt zu haben und denke, dass sie Vielen in dieser Absolutheit auf ewig verwehrt bleibt. Wenn ich die überwältigende Liebe im Alter noch finden sollte, ist dies mehr Wert als das Leben in Unaufrichtigkeit und auch wenn sie, aufgrund meiner langen, stolprigen Biografie, zum grandiosen Scheitern verurteilt ist, ist das Gefühl sie einmal erlebt zu haben bedeutungsvoller als das Empfinden der ständig andauernden Mittelmäßigkeit, die gemeinhin als Partnerschaft bezeichnet wird.

In Liebe

Dein Candide


ENDE


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 02.01.2010

Alle Rechte vorbehalten

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