Cover


Eine beliebte Süßigkeit, die man früher für ein paar Groschen am Kiosk erwarb, war das sogenannte Eßpapier. Theo Breuer, so scheint es, hat nie mit dem Naschen aufgehört. Ein Buch nach dem anderen nimmt er zu sich, und das Charmante an seinem unstillbaren Lesehunger ist, daß er die Leser daran teilhaben läßt. Sein waches Interesse an neuesten Strömungen in der zeitgenössischen Lyrik und Prosa findet reichhaltigen Ausdruck in den seit 1999 erschienenen Mono¬graphien zur Poesie vor und nach 2000.

Breuer macht sich jede Anregung umgehend zunutze, verarbeitet sie in einfühlsamen Essays und leitet so eine stilistische Neuorientierung ein, die zu denken gibt. Über deren Tragweite und sein Selbstverständnis als Autor, der ei¬nen Weg jenseits von Avantgarde und Post¬moderne be¬schreitet, legt er in den ebenso tiefsinnigen wie luziden Selbstbefragungen seiner Bücher Rechenschaft ab.

Die Monographien »Ohne Punkt & Komma. Lyrik in den 90er Jahren« (1999), das opus magnum »Aus dem Hinterland. Lyrik nach 2000« (2005) sowie »Kiesel & Kastanie. Von neuen Gedichten und Geschichten« (2008) präsentieren die pralle Pracht der Po¬esie im deutschen Sprachraum – und darüber hinaus. Der Lyriker, Herausgeber und Verleger Theo Breuer, gleichsam Erfinder der lyrisch-essayisti¬schen Fußnote, drückt dieser mit seinen lyrischen Essays einen sehr persönlichen Stempel auf, er ist zugleich Liebhaber, Sammler und Enzyklopädist, setzt sich der Wörter-, Bilder- und Textflut aus, die uns täglich umspült und sucht aus ver¬queren Ver¬weisen stimmige Strukturen abzuleiten.

Jan Röhnert betont: »Kiesel & Kastanie. Von neuen Gedichten und Ge¬schichten ist ein wichtiges Buch, vielleicht ist es überhaupt Theo Breuers wich¬tigste Publi¬kation bislang, zumindest in der gegenwärtigen Situation. Es gibt wohl keinen, der mit einem derartigen Insiderwissen aufwarten kann, was die Infor¬miertheit über lyrische Neuerscheinungen usw. betrifft, und dabei, was seine äu¬ßerliche Isoliertheit im soge¬nannten Betrieb be¬trifft, aus einer fundamentalen Außensei¬terposition heraus argumen¬tiert. Gerade dieser scheinbare Widerspruch verleiht Autor und Buch die außer¬gewöhnli¬che Kraft und Schärfe. Theo Breuer legt aus guten und nachvoll¬ziehbaren Gründen kei¬nen Wert auf Besprechungen in den Feuilletons, auf Bekanntwerden im Betrieb, aber ge¬rade das wäre diesem Buch im Inte¬resse der Sache, um die es geht, sehr zu wünschen. Die unbeque¬men Wahrheiten, die, wenn ich mich unter den heutigen Lyrikern umschaue, kei¬ner so unverblümt und ungekünstelt öffentlich macht, wäre nur zu sehr den an¬gehen¬den Bellatristianern und Bellatristianerinnen, den Schaum¬schlägern und Schaum¬schläge¬rinnen aus dem Berliner Bionadebiedermeier unter die Nase zu reiben: Aber sie werden’s schon lesen, rezensions- und erfolgshungrig wie sie sind, und werden sich höchst wun¬dern, daß es da einer wagt, Tacheles zu reden, anstatt sie am Babyspeck zu kraulen. Es ist schon so, wie Breuer schreibt: In einem verwöhnten Environment wachsen verwöhnte Kinder heran, die mit der Realität des wirklichen Lebens draußen wenig anzufangen wissen, natürlich gedeiht da nur eine künstlich hochgezüchtete Treibhauslyrik. Ein Grund mehr, wa¬rum die tiefe, wirklich exi¬stentiell berührende Lyrik heute kaum in Deutschland, sondern andernorts entsteht, wie Breuer anhand verschiedener Beispiele nachweist. Kiesel & Kastanie spricht mir mit vielem, sei es auch scheinbar versteckt in den zahlreichen Fußnoten, aus tiefstem Herzen. Es werden Wahrheiten ausgesprochen, besonders etwa im Kapitel Lyrik 2007 – Kleines Ver¬schieben. Junge Lyrik, usw. (in dem u.a. BELLA triste 17 ausführlich besprochen wird), die an¬derswo gar nicht veröffentlicht würden: Was Breuer über die Wohnortwahl, über Kritikerhochmut, über Dichterhochmut beim Poetologisieren, über unsinnige Ab¬solut¬heitsan¬sprüche einiger Poe¬ten, deren Bücher sich allenfalls wenige hundert Mal ver¬kaufen, usw. schreibt, ist einfach nötig, gesagt zu werden; viele, die meisten vielleicht, werden es kaum hören wollen – aber auch das nützt ihnen nichts. Denn der Leser von Kiesel & Kastanie wird schnell gewahr, daß hier kein beleidigter Zurückgewiesener schreibt, sondern einer, den die Begeisterung zur Poe¬sie treibt und der deshalb die Sache verteidigen will und nicht Perso¬nen, die glauben, die Sache als Mittel zur Profilierung mißbrauchen zu können. Der Ton in Kiesel & Kastanie ist deshalb einer der absoluten Redlichkeit, die im¬mer wieder die Poesie und nichts als die Poesie betont, aus keiner Seite spricht Kokette¬rie. Und so bleibt mir am Ende nichts als dieses gelungene Buch, das von neuen Gedich¬ten und Geschichten und mehr handelt, nochmals und nochmals zu preisen.«

Notwehr aus dem Hinterland

Breuer ist literaturbesessen im besten Sinne des Wortes. Er ist nicht nur begeis¬terter Liebhaber literarischen Schaffens, sondern einfühlsamer Leser und kennt¬nisreicher Vermittler – mit der Finesse, Bücher in seinen Monographien auch ent¬sprechend vorzustellen zu können. Theo Breuer agiert quasi in Notwehr. Da das deutschsprachige Feuilleton nur¬mehr interessengesteuert einen mehr als eingeengten Blick in den Literaturbetrieb ermöglicht, leistet er »aus dem Hinterland« eine ernorm wichtige Aufklä¬rungsarbeit. Er überzeugt den Leser mit einer Präsenz und einer Glaubwürdigkeit, die immer wieder neu frappiert. Frei von jedem Manierismus schildert Breuer die Vielfalt poetischer Stimmen im deut¬schen Sprachraum und stellt vom Feuilleton ignorierte Autoren, Handpres¬sen und Kleinverlage in den Mittel¬punkt des Interesses. Es geht ihm eben nicht um die Betonung der Wertungsgefüge innerhalb des Literaturbe¬triebs, sondern, im Gegenteil, auf eigene Maßstäbe. In der hinterländischen Provinz – Sistig liegt im Nationalpark Eifel – bricht sich die Gabe des Beobachters bahn, der enorme literarische Reserven anlegt. In diesem von ihm nach dem gleichnamigen großartigen Gedicht Jürgen Nendzas benann¬ten Hinterland lebt Theo Breuer als seßhafter Nomade und My¬thenzerstörer.

Dieser Autor ist Lyriker, begnadeter Reisechronist und Briefschreiber (auch seine Mails lesen sich wie Briefe). Mit Theo Breuer über Gedichte, Romane, das Erar¬beiten einer Figur oder über das Werk von Schriftstellern zu korrespondieren ist zugleich die Erfahrung, mit einem Menschen im Briefwechsel zu stehen, der sein Me¬tier liebt, einem Schreiber von Essays, Buchvorstellungen oder Autorenport¬räts zu begegnen, der weiß: Schreiben bedeutet, einer fremden Figur Gestalt zu ge¬ben, und nicht, die eigene Person in den Mittelpunkt zu stellen.

Maximilian Zander resümiert: »Mit großem Vergnügen und Gewinn habe ich Breuers umfangreiches »Aus dem Hinterland« gelesen. Interessant ist: Obwohl er, Theo Breuer, fast auf jeder Seite vorkommt, hat man an kei¬ner Stelle das Gefühl, daß er sich ins Rampenlicht stellt. Wie kann das sein? Das kann sein – und ist hier so –, weil der Autor nichts anderes als ein leidenschaftlicher Leser und Liebhaber der schö¬nen Literatur ist, und diese Persona bzw. Kunstfigur ist es, die da spricht und sich einmischt, kein anderer. Der Gewinn bei der Lektüre ist groß, man wird auf sehr viele Bücher aufmerksam gemacht, von deren Exis¬tenz man sonst nie er¬fahren hätte, die man in keiner Buchhandlung zu sehen bekommt, auf die einen kein Buchhändler aufmerksam macht. Weiterhin berei¬chernd: die vielen Zitate, auch Anekdoten. Hat Arno Schmidt himself wirklich Zettels Traum auf einer übergroßen Schreibmaschine geschrieben?«

Die Spannungen zwischen der eigenen, offenbar bewußt an der Peripherie, dem deutsch-belgischen Hügelgrenzland gelebten Existenz und des Lite¬raturbetriebs kann er vielleicht deshalb so gut aushalten, weil er sie, über sie reflektierend, neutralisiert und relativiert. Ein Blatt nimmt er dabei selten vor den Mund, schreibt jedoch mit Vorliebe über die erquicklichen Dinge des literarischen Da¬seins, die er ins Bewußtsein der Leser he¬ben möchte, und schweigt gern über Stoffe, die nicht der Rede wert sind. Das Schwein gehört in den Stall, nie wird im Hinterland eine Sau durchs Dorf gejagt, wie es in Berlin und anderen Metropolen an der feuilletonistischen Tagesordnung ist.

Edition YE

1993 gründete Theo Breuer die Edition YE mit der lyrischen Kunstschach¬tel YE, über deren bislang 13 Ausgaben es im Wikipedia-Artikel »Edition YE« heißt: »Ca. einmal jährlich erscheint seit 1993 die Kunstschachtel YE, in der originale Werke von Künstlern und Schriftstellern aus aller Welt ver¬sammelt werden. Typische Tech¬niken der nummerierten und signierten seriellen Arbeiten, die im Zusam¬menspiel von Bild und Wort visuelle Poe¬sie hervorbringen, sind Acrylmalerei, Aquarell, Autograph, Bleisatz, Col¬lage, Computergrafik, Fotografie, Holzschnitt, Linol¬schnitt, Mischtechnik u.a. Die Schachteln erscheinen in limitierten Auflagen von ca. 20 bis 100 Exemplaren. Hansjürgen Bulkowski, Guillermo Deisler, David Del¬lafiora, Manfred Enzensperger, Karl-Friedrich Hacker, Stefan Heuer, Joseph W. Huber, Klára Hůrková, Birger Jesch, Ilse Kilic, Axel Kutsch, Hendrik Liersch, Hen¬ning Mittendorf, Jürgen Nendza, Andreas Noga, Karla Sachse, Litsa Spathi, Gün¬ter Vallaster, Jürgen Völkert-Marten und Fritz Widhalm gehören zum interna¬tio¬nalen Kreis der mehr als 200 Beiträger aus 25 Ländern.«

1994 erschien erstmals Faltblatt, die Lyrikzeitschrift, von der bislang neun, von Mal zu Mal umfangreicher werdende Ausgaben erschienen. 2002 wurde die Ly¬rikreihe mit Gedichtbänden von Margot Beierwaltes, Marianne Glaßer, Andreas Noga, Frank Milautzcki, Joseph Buhl u.a. ins Leben gerufen. Die 2003 edierte Ly¬rik-Antho¬logie »NordWestSüdOst« mit Gedichten von 66 Zeitgenossen bietet ei¬nen re¬spektablen Querschnitt deutschsprachiger Lyrik kurz nach der Jahrtau¬sendwende, die er in Karl-Friedrich Hackers Itzehoer edition bauwagen mit bis¬lang sieben handge¬schriebenen Künstlerbüchern, die originale Autographen von jeweils 19 Lyrike¬rinnen und Lyrikern bergen, im wahrsten Sinne des Wortes un¬mit¬telbar und ori¬ginell fortschreibt.

Kontakt, Korrespondenz, Kollaboration und Kommunikation sind Idealvor¬stellun¬gen, die Breuers verlegerische Tätigkeit begleiten. ‚The Breuer’ ist eine Instanz mit größter Sensitivität und Einfallsreichtum. Er deckt die sich verändernden Re¬ali¬täten im Literaturbetrieb auf und hat Anteil an den Versuchen, eine lebendige Kritik wiederzubeleben und auf anspruchsvolle Literatur abseits des Mainstreams aufmerksam zu machen.

Wortlos und andere Gedichte

Über den Essayisten, Herausgeber und unermüdlichen Chronisten wird unter den Kurz¬sichtigen des Betriebs der vielseitige Lyriker Theo Breuer, dessen erstes Gedichtbuch 1988 erschien, gelegentlich gern übersehen. »Wortlos und andere Ge¬dichte« heißt, programmatisch, das 2009 erschienene Ly¬rikbuch, in dem sich ne¬ben neuen Gedichten auch bereits be¬kannte Ge¬dichte in neuen Fassungen fin¬den. Das Buch ist im Anhang mit ausführli¬chen Anmerkungen versehen, die ei¬nen differenzierten und un¬terhaltsamen Einblick in die Textwerkstatt des Autors gewähren.

Ähnlich »Mittendrin« (1991), »Der blaue Schmetterling« (1993), »Das letzte Wort hat Brinkmann« (1996), »Land Stadt Flucht« (2002) oder »Nacht im Kreuz« (2006) läßt Theo Breuer lite¬rarische Heimatkunde auf Exotismus treffen, zeitgenössische Wirklichkeit auf Vergangenheitsgespenster. Es offenbaren sich Reibungsflächen der Moderne, die Gedichte deuten auf ein linguistisches System: Logik, Behaup¬tung, Spekulation und Instruktion sind wie beiläufig zu lesen. Was im diesem selbsternannten Hin¬terland entsteht, ist ein wortwörtliches oder visuelles Spiel, das der Lyrik offenbar mühelos den Hintergrund verleiht.

»Wortlos« ist wahrhaft wortstark. Gleich das erste Gedicht – »auf der straße« – ist eine Wucht. Und »du! (ruchu dur spruchu ust dus guducht)« sollte auf Pla¬katwänden kleben, zu den Favoriten von Sprayern gehören. Theo Breuer ent¬deckt die Narreteien der Sprache immer mehr und immer wieder aufs Neue, laufend fällt der Leser in schöne Stolperfelder, drempels bis in die reine visuellpoetische Zeichen¬haftigkeit hinein ziehen das Auge an: ‚Sprachstreu¬gutbreuergut’. Was auch immer für Erwägungen und Telefonate hinter dem Gedicht »forever young« stecken mögen – ich empfinde es als ein leises und zartes Gedicht mit der herrlichen Wortschöp¬fung: »mond¬schraubengroßmutter«. Das Gedicht ist natürlich sati¬risch, aber auch leise-melancholisch.

Schöne Gedichte, eindrückliche Gedichte: im Experimentellen mitwebend und doch von großartiger Klarheit, da¬durch unverwechselbar in Theo Breuers Ton und Duktus verfaßt. (Wobei in Be¬zug auf das Experimentelle auf das hinzuweisen ist, was Ann Cotten im Bella-triste-Lyrik-Mail-Austausch mit Florian Voß – beide sind ja gewissermaßen Breuers Nachbarn in »Der Große Conrady« – beklagt, daß nämlich nie¬mand diesen Terminus möge, es aber keinen besseren gebe.) In die Michael Hamburger gewidmeten Gedichte beißt man, wie Andreas Noga es in seiner »Wortlos«-Besprechung im Poetenladen beschreibt, herzhaft hinein und empfiehlt sie wie ein saftiges Apfelstück weiter.

Was noch hervorheben?

Klar, das Gedicht für Oskar Pastior »an oskar p. – eine verinne¬rung« oder das Titelgedicht »wortlos«, in dem die Verben sterben. Das »sonett in dem es nicht regnet / sonett aus dem es nicht schneit« ist ge¬radezu ein Ohrwurm. Wie gut, daß »Wort¬los« nicht wortlos ist, sondern Wortlos, also manches mit den Wörtern anstellt: sie ebenso ernst nimmt wie mit ihnen spielt, also lose mit ihnen ihrem jeweiligen Los nachgeht: »drei männer im nebel« – wunderbar.

Nicht nur das einzelne Gedicht ist Leseerlebnis: Die Gedichte in der sinn¬reichen Gesamtkomposition zu lesen ist anhaltender Genuß. Das Schwere leicht und luf¬tig zu gestalten ist Breuer vorzüglich gelungen. Es ist ein Vergnügen, sich lesend von Wort, Spiel, Sound und Rhythmus tragen zu lassen. Theo Breuer zählt zu den lyrischen Schwergewich¬ten, wobei seine Gedichte selbst nun wieder filigran, wort- und symbolverspielt mit feiner Ironie ein Lesevergnügen der besonderen Art sind:


leute

halten auch in düren
heute und in letzten tagen
morsche türen leere fenster

sehr geschlossen
noch wird · nicht einmal ·
mit pfeffer · geschossen

jedenfalls nicht hier
draußen im revier
[wespen bleischwer hinter borken]

bei schneefall treiben wir
zwischen eggen forken walzen
liegt ein hase mit der nase

fett im dreck
wir – – –
nichts wie · weg


Zu den Konstanten im frühen Werk gehört ein beinahe naiv ausgedrücktes Er¬staunen über die sowohl erhaben als auch gebrochen empfundene Natur und die geheimnisvollen Waldlandschaften der Eifel. Sein neuer Band ist ein beeindru¬ckendes Exempel für die vielfältigen Erkenntniswege der Literatur. Das dialekti¬sche Rauschen des Ei¬felwaldes, in dem aus Verwirrung die reine Luft der Klarheit wird. Dieser Wald¬läufer ist zum Glück nicht der letzte Mohikaner der Lyrik, er ist in Verwandtschaft zu sehen mit dem lyri¬schen Schelm Axel Kutsch, den sprach¬mächtigen Gedichten des Luxem¬burgers Jean Krier und er¬innern gleichzeitig an die durchdachte ungarhei¬nische Lyrik A. J. Weigonis.

Daß eines der ersten Gedichte in »Wortlos« »brinkman, blick« heißt, zeigt die Verbundenheit mit dem rheinordischen Vorreiter. Souverän knüpft Breuer in »an oskar p. – eine verinnerung« und anderen Gedichten an die litera¬rischen Avant¬garden des 20. Jahrhunderts an. Was im Lehrbuch steht, ist nur ein Aus¬schnitt aus der Literaturgeschichte. Lyrische Figuren haben ihr eigenes Le¬ben, auch ihre eigene Vorgeschichte. Sie schwingt mit in den Zeilen, grundiert die Handlungen. Theo Breuer komplettiert seine Vorstellung von der lyrischen Mo¬derne. Er ent¬wirft, basierend auf der Literaturgeschichte, eine Art von Lyrik, die über diese literarischen Vorlagen hinausreicht.

Die große Gabe von Theo Breuer ist es, das, was man liest, wie soeben gesche¬hen wirken zu lassen. Immer wieder gibt es diese prächtigen Mo¬mente in sei¬nen Gedichten, Szenen, die sich im Gedächtnis festsetzen, die nicht verlierbar sind – eine Art Triumph der Literatur. Um Max Bill zu paraphrasieren: Breuers Ge¬dichte sind »Gegenstände für den geistigen Gebrauch«.

Zusammenspiel

Theo Breuer ist geradeheraus, höflich und bescheiden, macht nicht viele Worte und hat einen feinen Sinn für Humor. Es scheint, als habe er einen Handfeger genommen und ein paar jargonverdächtige Wörter aus dem Literaturhaus her¬ausgekehrt. Hinfort mit der kitschigen Sehnsucht nach Dichternähe und noch einmal von vorn anfangen.

»Wortlos und andere Gedichte« ist ein geglücktes Zusammenspiel des Ly¬rikers Theo Breuer, des Verlegers und Lyrikers Peter Ettl und der feinen Linoldrucke des Künstlers und Künstlerbuchmachers Karl-Friedrich Hacker, das den Leser Seite für Seite sprachlos macht.


Atmen ∙ Perlen ∙ Sprudeln

In Das gewonnene Alphabet, dem im Oktober 2012 beim Pop Verlag in Ludwigsburg erschienenen Gedichtbuch, sucht Theo Breuer, so unerschrocken wie beredt, Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, auf allegorische Art und dichotomische Weise nach Spurenelementen dessen, was gemeinhin als ›Wahrhaftigkeit‹ in Leben / Streben / Poesie bezeichnet wird: so geht jeder / an sein geschäft. Dabei erweist er sich zum einen als poeta doctus, der alle ›un/möglichen‹ Einflüsse verwertet und weiterentwickelt, zum anderen verschreibt er sich dem Sichtbaren, den (bisweilen auch nackten) Fakten, den tausend und mehr ›Dingen‹, die wir ›Alltag‹, ›Existenz‹, ›Leben‹, ›ZeitGeist‹ nennen und denen er schreibend auf die Schliche kommen will: verdammich – jede antwort ist auch keine. Dabei spielt der Autor als Darsteller keine nach außen hin tragende Rolle – diese übernehmen antiheldische Protagonisten wie Bensch, Kraus, Peer Quer, denen sich, als antagonistische Amazone gleichsam, gelegentlich eine Mrs Columbo beigesellt –, er tritt nurmehr als nachgeordnetes Bewußtsein (von Erinnerung, enzyklopädischem Wissen) bzw. beschreibender Beobachter – scheibenspäher – in tunlichst hintergründige Erscheinung.

Mit jedem gelesenen Gedicht, jeder umgeschlagenen Seite nimmt sprachloses Staunen zu – der Autor und Herausgeber Axel Kutsch beschreibt die beim Lesen (und Schauen) gewonnenen Eindrücke so: Es ist von A bis Z ein Vergnügen, diese Gedichte zu lesen. Der alphabetische Fluß mit seinen vielen Alliterationen, Sprachspielen, verbalen Eigenwilligkeiten, originellen, ja, kühnen Wortschöpfungen, seinem immer wieder aufblitzenden Humor bietet ein erfrischendes Lektüreerlebnis. Diese Lyrik atmet, perlt, sprudelt, ist von quirliger Lebendigkeit.

Wendeltreppe

Theo Breuer weiß, daß die Verwendung vertrauter Vorlagen keineswegs das Gelingen sichert. Er hat die Lyrik nie mit dem bloß Schönen verwechselt. Das ›Ästhetische‹ hängt in den von ihm gemachten Versen eng mit dem Außergewöhnlichen, Unerhörten, Unwahrscheinlichen zusammen. Schauder, Schock und Schrecken sind wiederkehrende (auf den ersten Blick unauffällige) Begleiterscheinungen, die im Kosmos der Gedichte als zwischen sterbendem Eros und werbendem Thanatos, melancholischem Froh- und satirischem Schwermut schwingende Bilder wahrnehmbar werden: der wurm ist nah hier hilft wohl bloß noch ducken. Gleichsam auf doppelbödiger Wendeltreppe steigt Breuer tief und tiefer in die stolperfelder der Sprache, entdeckt immer neue Einschiebungen und Muster im Innern der Muster. Flankiert von poetischen Zitaten und angereichert mit Allusionen / Echos / Einsprengseln, scheint es, als läsen wir hier Palimpseste, jede Seite vielfach beschrieben. Der Inhalt ist codiert, die Sprache ein dichter Brombeerverhau.

Nährboden

Entgegen immer wieder gern proklamierten Verlautbarungen ist das Lesen von Gedichten keineswegs eine bedrohte Kulturform. Im Dasein des Verfassers und zahlreicher ihm bekannter Zeitgenossen ist sie allgegenwärtig: ein Tag ohne Gedichte? Undenkbar. Breuer, von literarischen Texten aller Orte und Zeiten beflügelter Ikarus, schreibt nicht nur präzise Poesie in vielerlei Idiomen (in denen beispielsweise dialektale oder englische Versatzstücken auftauchen): Er denkt über das suchstäbliche Schreiben von A bis Z hinaus, vertraut sondersamen Zeichen, die Tastatur und Bildschirm möglich machen, kombiniert, montiert, verquickt, läßt auf diese Art die eigene Sprache – lakonisch, parodistisch, übermütig – ›ertönen‹, bildhaft werden, die aus dem seit rund dreitausend Jahren rund um den blauen Planeten bestellten Nährboden aufsteigt: Wenn Theo Breuer Gedichte schreibt, dann schwingt die Geschichte der Lyrik mit (Christoph Leisten). Als selbstbewußter Leser begreift Breuer das Lesen von Literatur als (anhaltende) Affäre, als Erlebnis, als De- und Rekonstruktion der vom jeweiligen Buch vermittelten Eigenwelt. Das bedachte Vertrauen in diese Eigenwelt versteht er als selbst produzierten Vorschuß. Der unbedingte Glaube ans Ästhetische, an die Literatur und die Schönheit des Denkens macht Theo Breuer zu einem Intellektuellen, der dieses Wortes würdig ist.

Fragile Fragmente

Akribisch buchstabiert Breuer Das gewonnene Alphabet von A nach Z, von ausgekopft bis zypressenwolfsmilch. Oft holt er die Gegenstände ganz nah heran, beobachtet sie gleichsam unter dem Mikroskop der Sprache, die er als Präzisionsinstrument zum Einsatz bringt, so etwa die eine / blankgelbe ∙ blendend feine ∙ kleine mirabelle. Als listenreicher Chronist führt er, gewissenhaft und unterschiedslos, im Glossar sämtliche in den Gedichten verwendete Wörter auf. Bei aller stupenden Gelehrsamkeit fühle ich mich nirgends geschulmeistert oder bevormundet, finde (statt ›closure‹) offene Fläche / Freiraum für Assoziation und Zugabe. Aussage, Botschaft und Einfall hin, Gedanke und Idee her, auch in den beispielsweise politisch grundierten Gedichten stehen Sound und Wirkung des Wortes ›an sich‹ genauso im Vordergrund wie in den Sonetten, Centos, parlandonahen Versen oder teodadaistisch angeschmauchten Sequenzen: Mais Degas ce n’est pas avec des idées qu’on fait des vers c’est avec des mots (Stéphane Mallarmé). Dabei ist Breuer alles andere als ein lyrischer Reinheitsapostel, jedes Wort ist grundsätzlich fürs Gedicht zu gebrauchen, wird auf die Goldwaage gelegt, geschüttelt, auf Reimheitsgrad überprüft, poliert, paragrammiert, aus ›mausetot‹ wird lausetot.

Die Vielfalt der Formen und Schreibweisen, Stoffe und Themen lassen nahezu jedes Gedicht in gleichsam ›eigenwilliger‹ Art daherkommen: Was also liegt näher als die Schlußfolgerung, daß das Gedicht bestimmt, wo’s langgeht und welche Form es annimmt (und nicht der Autor, dessen unterschiedlichste Erfahrungen als hinsehender, mitfühlender, zuhörender Zeitgenosse gleichwohl in diesem so eigenen Ton durch die frei- oder festmetrischen Verse pulsieren). Theo Breuer bleibt auch bei schwerem Wetter der durch den Freiluftring tänzelnde Wortskerl, dessen 89 Gedichte mit abschließendem Glossar und Essay im vielfach variierten, konzeptuell angelegten gewonnenen Alphabet – abenteuerdurstig, filigran, symbolprächtig, visuell, wortschröpfend, zahlenspielerisch, in feine Ironie eingewoben – ein tiefgängiges Lesevergnügen der besonderen Art sind.

* * *

Theo Breuer, Das gewonnene Alphabet, 89 Gedichte von A bis Z ∙ Glossar ∙ Essay, 121 Seiten, Pop Verlag, Ludwigsburg 2012.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 28.10.2010

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /