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London. Es ist Heiligabend. Der verdreckte Himmel war bereits stockdunkel und der typische Nieselregen durchnässte langsam aber sicher Emilys Mantel als sie auf der Suche nach dem letzten Geschenk durch die verwinkelten Gassen streift. Das Geschenk für ihre Schwester hatte sie ständig vor sich her geschoben. Warum sollte sie auch einer Person etwas schenken, der sie lieber etwas ganz anderes als ein Weihnachtsgeschenk geben würde?
Die Vorweihnachtszeit war bei Emily vor allem durch eines geprägt: Stress. Doch dieser haftete dieses Jahr noch hartnäckiger als sonst an ihren Versen. Selbst jetzt, in den letzten Minuten der Geschenkejagd, klebte er wie ein ekeliger Parasiet an ihr.
Sie lebte jetzt schon eine ganze Weile in London und dennoch, sie schaffte es immer wieder in den verwinkelten Gassen die Orientierung zu verlieren. So stand sie nun in einer kleinen Gasse umgeben von nassen Wänden und der Nacht. Die Geräusche des nächtlichen Treibens drangen angenehm gedämpft an ihre Ohren und nur Bruchstücke einer Sirene schafften es bis hierher.
Müde lehnte sie sich an eine Wand und atmete tief durch. Da entdeckte sie an der gegebnüberliegenden Hausmauer eine Feuerleiter. Zögerlich ging sie darauf zu und stief schließlich langsam die Treppe hinauf. Oben angekommen ergriff sie zitternd das letzte Stück Geländer und kletterte vorsichtig auf den Dachsims. Ängstlich tastete sie sich vor und setzte sich endlich.
Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Sog die kalte Winterluft ein. In dieser Höhe war der Geräuschpegel wieder angeschwollen und sie konzentrierte sich auf das beruhigend monotone Geräusch der vorbeifahrenden Autos.
Auf einmal spührte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Sie schreckte zusammen und riss die Augen weit auf. Das Adrenalin schoss ihr in den Kopf und sie spührte wie das Blut durch ihr Adern floss. Die Lichter und Geräusche drangen in enormer Intensität auf sie ein. Geblendet kniff sie die Augen ein wenig zusammen. Da erklang eine tiefe Männerstimme.
„Chérie, warum verbringt man Weihnachten nur alleine auf dem Dach?“
Die Stimme wirkte fast hypnotisierend auf Emily und sie entspannte sich wieder unter seiner Hand.
Sie meinte die Vibration seiner Stimmbänder in der Luft zu spühren und schloss kurz die Augen.
„Ich habe mich verlaufen“, hauchte sie.
„Auf dem Dach?“ Er lachte leise und beugte sich zu ihrem Ohr nach vorne.
„Ich möchte Abenteuer erleben“, flüsterte er.
Sie drehte sich um und sah sich einem jungen Mann gegebnüber. Sie suchte in seinem Blick nach einer bösen Absicht, vergebens.
„Was wollen Sie? Ich...“
Elegant ließ es sich neben ihr nieder und brachte sie so zum Schweigen.
„Bevor Sie weitersprechen, mein Name ist Jonathan.“ Er streckte ihr seine Hand entgegen. Emily blickte ihm in die Augen, ergriff jedoch die Hand nicht und sagte:
„Emily Nelson.“
Stille trat ein und beide beobachteten stumm das bunte Treiben der Stadt. Selbst Heiligabend schien die Stadt vor Leben zu sprühen.
„Warum sind Sie nicht bei ihrer Familie, Jonathan?“
Er blickte kurz auf die Straße und sprach dann:
„Jedes Jahr das Selbe. Oberflächliches Liebesgeheuchel und übertriebene Beschehrung“, er blickte sie von der Seite an, „ ich vermisse die Aufregung, die man als Kind schon Tage vor Heiligabend verspührt hat. Heutzutage ist ein für mich ein Tag wie jeder andere. Die Monotonie und Alltäglichkeit meines Lebens dröhnt mir gerade zu in den Ohren. Wann wäre ein besserer Tag das zu ändern als Heiligabend? Emily“, sagte er nach einer kurzen Pause, „ was suchen Sie wirklich auf dem Dach?“
Sie blickte in die Endlosigkeit des Himmels und versuchte sie zu begreifen. Ihr wurde schwindelig und sie blickte ihm in die Augen.
„Vielleicht Freiheit? Oder Abewechslung? Vielleicht suche ich ein Abenteuer wie Sie. Aber wissen Sie, eigentlich ist der Alltag ganz gemütlich. Eigentlich ist alles perfekt. Mein Mann stimmt mir in allem zu und meine Kinder schreiben gute Noten. Warum sollte ich etwas ändern?“
„Perfekt“, sagte er verächtlich und lachte leise, „ Das was sie beschreiben ist bloß die Perfektion, wie die Gesellschaft sie als diese bestimmt. Für viele ist es die Hölle. Sie leben doch bloß in einem gesellschftlichen Käfig. Sie lassen sich von Meinungen anderer und Werten beschränken. Ein Gefängnis, sie kennen es bloß nicht anders. Kommen Sie mit mir. Leben Sie. Erleben Sie Abenteuer. Liebes“, er wandte sich ihr zu, „ sie sind stark. Zeigen Sie Stärke!“
„Sie sind doch bloß eine Verführung-“
„Verführung, Chance, die Wahrheit, nennen Sie mich wie Sie wollen.“
Emilys Augen glitzerten und sie blickte zum Mond. Ein Lächeln spielte um ihre Lippen. Langsam stand Jonathan auf.
„Es ist Ihre Entscheidung.“
Er hielt ihr seine Hand hin. Emilys Lächeln breitete sich zu einem Lächeln aus.Voller Entschlossenheit stand die ziehrliche Frau auf und ergriff seine Hand.
„Lassen Sie uns richtig Leben.“
„Wie findet man sonst die Freiheit?“


London. Sonnenstrahlen kämpfen sich am ersten Weihnachtsmorgen durch die verdreckte Luft. Ein Telefon klingelt.
„Nelson?“
„Guten Morgen Mr. Nelson. Ich habe eine schlechte Nachricht für Sie...“


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Tag der Veröffentlichung: 27.12.2010

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