„Meinst du wirklich?“
Wer sollte ihm antworten? Er war allein. Hier oben.
Und auch hier drinnen war er allein – hier drinnen im Herzen. Vor langer Zeit hatte er es verschenkt und es wurde ihm zerbrochen. Vor langer Zeit hatte er ausgestreckt seine Hand. Doch sie wurde nur ergriffen, um sie weit fort zu schleudern. Weit fort von jeder Art von Vertrauen und Freundschaft. Weit fort in die Dunkelheit.
Und so führte dieser Weg hierher. Unweigerlich.
Schreie hatte er hinterlassen, da unten im Tal. Hilfeschreie, so einsam wie Narben. Tränen, so trocken wie Sand. Und auch jetzt konnte er nicht weinen, so kläglich sein Leben auch war.
Seine Beine bejahten die Frage, indem sie dem Abgrund näher kamen, doch seine Hände verneinten, indem sie sich an einen Ast klammerten.
Und er, dieser herzlose Mensch ohne Tränen und Flammen, atmete zwischen diesen beiden Antworten.
Wind pfiff. Sein Schädel dröhnte.
Ich sah ihm lange zu, wie er da kämpfte zwischen allen Stühlen und Möglichkeiten. Ich wusste, ich war seine letzte Rettung. Und ich flog auf ihn zu, und als eine starke Böe den Ast abknickte, war ich längst ein Teil von ihm. Ein Teil von mir. Endlich war diese Menschenhülle nicht mehr leer. Ich war sie.
Und ich hielt den Ast in beiden Händen, den Ast, der nicht mehr mit dem Stamm verbunden war. Ich ruderte. Die letzte Entscheidung wollte ich alleine treffen, ohne das Schicksal des Windes. Alleine. Allein.
Flügel schlugen. Ein Vogel landete relativ sanft auf einem dünneren Ast dieses Baumes. Landete und sah mir zu. Sah mich an. Interessiert. So als wolle er mich studieren.
Viel Zeit dazu würde er nicht haben.
Ein Windhauch erfasste mich und drückte meine Brust zurück zum Baumstamm. Doch als ich nach dem rettenden Baumstamm greifen wollte, spielte der Wind sein tödliches Spiel mit mir. Klopfte mir auf die Schulter. Drückte mich wieder fort vom Geäst und vom Leben. Ich ergriff etwas.
Und strauchelte.
Der Baum, er entfernte sich. Eben noch war er neben mir, doch bald schon war er über mir. Und ich war unter ihm. Stürzte.
Wie ein Vogel.
Ich - dieser Teil des Körpers, der ich war – schrie.
„Nein!“
Doch die Entscheidung war gefallen – im wahrsten Sinne des Wortes.
„Neeeeein!“
Doch der Wind hörte mich nicht und trug mich weiter auf meinem letzten Flug. Ich konnte ihn nicht kontrollieren. Ich wirbelte umher und konnte oben und unten nicht mehr unterscheiden. Ich wirbelte nach allen Seiten und meinte zu schweben. Zu fliegen. Immer im Kreis. Im Kreis.
Bis ich ein Gefühl für diesen Druck und diesen Sog bekam:
Ich stürzte. Wie ein Sack. Wie ein Mensch. Wie ein … Engel?
Gibt es sie? Wird es sie geben? Gibt es ein Sterben nach dem Tod? Gibt es …
Immer noch hatte ich meine Hände zu Fäusten geballt, denn ein Hoffnungsschimmer meiner Finger meinte immer noch, den Ast zu umfassen. Doch langsam begriffen auch sie: Dem war nicht so.
Ich besah sie mir einen Augenblick. Und fühlte: in der einen Faust hatte ich einen Gegenstand. Ich zwang mich, sie zu öffnen.
Ein Blatt war darin. Ein Blatt, beschrieben mit etwas, das wie Blut aussah.
Ich las, und lese noch immer:
„Lebe im Jetzt“
Ein Gruß aus einem fernen Ort. Aus dem Ort der vielen Möglichkeiten.
Jetzt … habe ich nur noch eine einzige Möglichkeit. Und ich will ihr entfliehen, egal wohin. Doch was soll ich tun? Was soll ich tun?
„Wenn dieser Flug nur ewig wähnen würde!“
Der Wind und das, was meine Augen mir sagen, erzählen eine andere Geschichte. Eine Geschichte mit einem harten Ende.
Dort! Ich sehe einen Menschen. Einen Wanderer, der auf einem Stein sitzt und in die Wolken sieht. Jetzt sieht er nicht mehr in die Wolken. Sieht mich an. Springt auf. Reißt die Hände nach oben und will mir helfen.
Ich lächle: die erste Person seit Ewigkeiten, die mir helfen will! Und ich entferne mich. Und sie blickt mir nach. So lange und so intensiv, bis ein Windstoß auch sie über den Rand des Berges zerrt. Nur kurz ist sie aus meinem Sichtfeld. Bald schon erblicke ich sie wieder über mir.
Ja, es ist eine sie. Ihre Haare flattern im Wind. Und der Wind betont ihre Weiblichkeit.
Dieser Anblick bringt Ruhe in meinen Lebensflug. All meine Gedanken konzentriere ich auf diesen Körper: schön und frei.
Das Ende mag nahen: so bekümmert es mich nicht mehr so sehr.
Doch dann erhebt eine Wehklage sein Schwert: Was hätte dein Leben noch alles bringen können? Du hättest dieser schönen Frau auf dem Abstieg begegnen können! Das Gespräch deines Lebens hättet ihr führen können! Dein Herz hättest du ein wenig kitten können. Ein wenig heilen. Ein wenig spüren.
Das hättest du!
Das hätte ich!
Doch ich habe es nicht. Und Tränen schießen mir in die Augen, verlassen meinen Körper und schweben nach oben.
Die Frau streckt ihre Hände aus – nach den Tränen, wie ich mir einbilde. Sie bildet eine Faust, als hätte sie die Tränen aufgefangen, und dann berührt sie in einer vollkommen liebevollen Geste mit den Handflächen ihre Wangen.
Nie hatte ich solch ein Begehren in mir gespürt. Ich möchte meine Tränen sein. Ich möchte ebenfalls diese Berührung erleben. Ich möchte … erleben.
Ich möchte … leben!
Leben!
Ja, alles, was ich im Augenblick will, ist Leben!
Leben!
Es ist, als würde dieser Traum mit jeder Luftschicht ein Stück weit näher kommen. Diese Frau … kommt näher. Sie macht sich so schlank und luftwiederstandslos, wie sie nur kann. Dreht sich, tanzt im Wind auf mich zu.
Und ich lächle, als wäre dies alles nur ein Spiel oder ein Traum, aus dem ich erwache und mich dann ärgere, diesen Traum nicht bis zum Ende geträumt zu haben, bis zum bittersüßen Ende in der Umarmung … und dann …
Doch erwachen werde ich nicht, das ist mir und dem Adrenalin in mir klar.
Etwas schlägt ein. Ich werde aus der Bahn gerissen, fasse mir an die Brust und sehe, wie sich dort etwas rot färbt.
Ein Stein scheint zu zerbröckeln. Ich kneife die Augen zusammen: Kein Stein. Ein Vogel. Ein Vogel, dem soeben ein Flügel nicht nur brach, sondern durch die Spannung des Aufpralles auf meinen Körper aus den Angeln gerissen wurde.
Warum hat er meine Bahn gekreuzt?
Ich habe keine Erklärung, doch ich beobachte, wie der Vogel seine Lage erkennt und um sein Leben flattert, während er die Flugbahn ändert und mir auf meinem Weg hinab folgt.
Mir ist, als hätte die Frau dies beobachtet und wäre ausgewichen. Kann das sein?
Ach, wie gerne würde ich sie jetzt berühren können. Umarmen und gemeinsam fallen. Gemeinsam wäre es bestimmt viel geborgener als alleine.
Wie durch ein Wunder schlägt der verletzte Vogel meine Richtung ein. Ich bin wohl so etwas wie seine letzte Hoffnung: Wie bizarr!
Doch was bleibt mir übrig? Ich will nicht alleine sterben. Nicht alleine fallen. Also strecke ich meine Hände nach ihm aus. Eine kleine Ewigkeit. Doch es lohnt sich. Ich spüre etwas. Ich spüre … Gefieder. Und halte es so sachte wie möglich in meinen Händen. Es will mir entgleiten, zu klitschig ist der verwundete Körper. Doch ich schaffe es, ihn mit beiden Händen bei mir zu halten. Es ist mein. Es ist mein Trost.
Ich genieße diese Geborgenheit. Beide meinen wir, ineinander Schutz gefunden zu haben. Okay, so soll es denn sein.
Geborgen zu sterben ist viel besser, als in Panik zu zerschellen.
So schließe ich die Augen und spüre.
Ihn. Mich. Den Wind. Den Sturz.
Das Leben. Es zieht an mir vorbei. Meine erste Umarmung. Meine ersten Freunde. Meine erste Schule. Meine ersten Sorgen. Meine ersten Schläge. Meine ersten Narben. Mein erster Verlust. Mein erster Versuch. Meine letzte Hoffnung. Mein letzter Atemzug. Meine letzte Geborgenheit.
Dann werde ich gepackt.
*
Ob es Absicht ist oder nicht, ich reagierte intuitiv. Sprang diesem Menschen hinterher. Diesem Mann. Und er scheint nicht genau zu wissen, was mit ihm geschieht. Er kämpft mit jedem Atemzug … um sein Leben … um seinen Tod. Doch scheint tatsächlich das Leben die Oberhand zu gewinnen.
Gerne find ich seine Tränen auf. Sein Zeichen des Kampfes. Mit sich selbst.
Und wie auch immer dieser Flug ausgehen möge: diesen Kampf scheint er halbwegs zu gewinnen!
Und ich komme ihm immer näher. Anscheinend habe ich eine beruhigende Wirkung auf ihn, denn meine Nähe scheint ihm sehr tröstlich zu sein. Gerne ergriffe ich noch seine Hand in diesem Leben.
Gerne würde ich seine Hand über meine Wange fahren lassen. Meine Wange mit seinen salzigen, feurigen Tränen. Gerne würde ich …
Und so das Schicksal es will, ergreife ich sein Handgelenk. Er reißt die Augen wieder auf, als wäre er aus einem Fluch erwacht. Sieht mir in die Augen. Da ist soviel Leben darin, soviel Feuer. Und soviel Vertrauen.
Ich zerre seine Hand an meinen Körper und klammere mich an seinen Oberarm.
*
Ja, das ist ein Wunder! Das Ende meines Lebens werde ich mit dieser Frau zusammen verbringen. Und sie legt mir meine Hand auf ihre Brust! Wenn das nicht Erfüllung ist! Immer mehr will sie von mir. Immer mehr umfängt sie mich, bis wir in einer liebevollen Umarmung versinken.
*
Zu nahe schon bin ich dem Boden, doch anders hätte ich es nicht gewollt. Ein abenteuerliches Mädchen war ich ja schon immer. Da treibt dieser Flug es nur auf die Spitze. Ich umklammere ihn und bete.
Küsse diesen Fremden und reiße an der Leine.
*
Viel zu schnell sind wir. Viel zu nahe die Wiese. Und viel zu fern der Vogel des Todes. Doch wir … wir drei … werden mit aller Wucht in die Luft gezerrt. Das Mädchen drückt dem Mann fast du Luft weg. Doch es muss sein, denn nur so kann sie ihn bei sich behalten, während ihr Fallschirm sich öffnet.
*
Wird er überleben, der Vogel?
Rentiert es sich noch, seine Wunde zu versorgen?
Wird es ihr letzter Kuss gewesen sein?
Mag sich jeder ein Ende ausmalen, wie er es gerne hätte. Die Rechte dazu liegen bei der Fee der Phantasie, die über allem schwebt … und womöglich und hoffentlich auch in allem.
Texte: (c) Matthias Boner
Tag der Veröffentlichung: 07.11.2011
Alle Rechte vorbehalten