Cover

Wer mit vielen Lebenden rechnet, sei gewarnt: Wettet nicht darauf! Und wer damit rechnet, dieses Buch sei definitiv Fiktion, der solle lieber erstmal zu den Sternen aufschauen!
Somit wäre das schon mal geklärt.

„Verdammt!“, stieß Raubina aus. Und das aus gutem Grund: Sie hatte sich verkalkuliert. Eigentlich wollte sie hereinspazieren, ihre Referenzen vorweisen und das ganze Geld der Bank abheben. Danach natürlich so schnell wie möglich wieder verschwinden. Zeit ist Geld.
Ihre Referenzen sollten ihre beiden Revolver sein, die sie gestern Abend wie üblich entladen hatte. Die Munition hatte sie natürlich wie üblich in den Safe zu Hause gelegt. Und nun stand sie da und diese Bankangestellte wollte ihr das Geld zuerst nicht geben, sondern sie in ein langes Gespräch verwickeln.
Soviel Geld wäre nicht da, war ihr Argument, doch das Gegenargument hieß: Revolver!

Drei Kunden dieser Bank meinten, dass das Gegenargument doch sehr gut sei, und Leben auch irgendwie wichtiger als Geld. Aber die Bankerin stand nur cool da und faselte und faselte.

„Verdammt! Halt die Klappe!“

Da Reden nicht half, entsicherte sie entnervt einen der beiden Revolver und zielte der Quasseltante auf die Brust: „Oder ich schieße!“

„Hach, das hat Ihre Vorgängerin auch gesagt. Und wissen Sie, wie schnell ich sie überreden konnte, lieber wieder abzuhauen? Ein paaaaaar Mininuten, mehr nicht! Ich hab ihr gesagt, dass…“

Dieser Satz stand mal so im Raum, als Raubinas Nerven ihren Zeigefinger verließen.
Shit!, war gleich ihr Gedanke, der Bluff ist durchschaut!
Sie überlegte sich, wie sie am einfachsten hier rauskam. Den Fluchtweg hatte sie zuvor wie immer schon ausgearbeitet: Hauptausgang raus, dann links, dann rechts, dann kommt sie sicher gut hier raus …

Doch sie blieb stehen und erneut entfuhr ihr ein: „VerDAMMT!“
Völlig zurecht. Wie angewurzelt, einer Statue gleich, sah sie die Bankerin an, die ihren Satz nicht vollendete. Stattdessen starrte auch sie ihr Gegenüber an und schwieg.
Zum ersten mal schwieg sie. Welch Erleichterung!
Sie fasste sich an die Brust wie bei der Nationalhymne und stand augenblicklich im Mittelpunkt des Geschehens.

*

Raubina überflog noch mal den gestrigen Abend: Sie hatte dreimal ins Schwarze getroffen, bevor sie die Flasche Weinbrand geleert hatte. Heute morgen war alles fein säuberlich aufgeräumt gewesen, sie hatte die Revolver genommen und …

*

Überlegen ging nicht. Sabina erzitterte beim Knall und drückte sofort den roten Knopf unter der Theke. Das Ladengitter begann sofort herunterzufahren.
Ein wenig zu spät erkannte Raubina die Situation und überließ dann die Bankerin sich selbst. Sie hastete auf den Ausgang zu. Das Gitter ratterte hinab und war schon halb geschlossen, als Raubina das Eingangsportal erreicht hatte. Sie überschlug im Kopf: Wenn sie sich hindurchrollte am Boden, dann würde es klappen. Also stürmte sie los – beide Revolver fest umklammert.
Irgendwas stach ihr ins Auge: Der Boden! Er war frisch gewischt worden. Sie erinnerte sich, dass auch eine Warnung am Eingang hing – zurecht. Und jetzt kam ihre Planung ins Straucheln. Sie stolperte ein paar Meter unbeholfen über die rutschige Fläche und fing sich dann wieder. Mittlerweile war das Gitter jedoch schon verdammt weit unten.
Diebe wurden aus Mut gemacht, so fasste sie allen zusammen, nahm Anlauf und warf sich im richtigen Augenblick zu Boden, um unter dem Gitter hindurch zu gleiten. Wie oft hatte sie schon das Glück gehabt, im letzten Augenblick zu entkommen?
Sie atmete aus und machte sich so flach wie möglich. Die Revolver ließ sie instinktiv los, als ob diese zu dick gewesen wären, um durch das Gitter zu kommen! Sie schepperten laut zu Boden und rutschten durch den Raum. Auch Raubina rutschte weiter und sah die Gitterstäbe unten immer näher kommen. Sie waren flach und abgewetzt vom täglichen Aufprall auf den Steinboden. Da dazwischen zu liegen könnte sehr ungemütlich werden. Was machen Helden in solchen Augenblicken? Sie schließen die Augen und schreien aus Leibeskräften:
„Aaaaaaaaaah“

*

Währenddessen war Zusa auf die Knie gesunken und starrte immer noch stumm vor sich hin. Als sie Gefahr lief, nach hinten wegzusacken, eilte ihr Sabina entgegen und stützte sie. Ein paar Seekunden so dakniend und das gedankliche Chaos ordnend, plärrte sie dann ihre Kollegen an: „Hey, kommt her und helft mir!“
Wobei sie dann ein Wort anfügte, welches hier schon oft wiederholt wurde.
Kannst du dir nicht vorstellen welches, verdammt?

Nach dieser Zeit des Sich Fassens eilten die ersten Sabina zu Hilfe. Andere Mitarbeiter stürmten los in Richtung Ausgang, um dem Bankräuber das Handwerk zu legen.

Gemeinsam mit vier Kolleginnen legte Sabina die Verwundete auf den Rücken. Zusa röchelte und atmete schwer. Ihre Brust hob und senkte sich unter Zittern. Unter ihrer Hand, die sie immer noch wie zur Nationalhymne auf die Brust gepresst hatte, glänzte der schöne Anzug vor Nässe. Was sich ausbreitete. Und sich auf der Seite sammelte.

„Was … was sollen wir … tun?“

*

Eine Möglichkeit machte ihnen Raubina vor: „Aaaaaaaaaah!“
Was von einem „Plonk!“ beantwortet wurde.
Das Gitter war geschlossen. Und Raubina öffnete die Augen wieder, sah … Sterne!
Hui, war das irre, sie biss sich auf die Zunge: Ja, sie lebte noch, sie war hier und lag neben dem Gitter. Neben dem Gitter.
Hörte Rufen und Klacken. Menschen! Menschen rannten näher. Riefen irgendwas.
Raubina suchte ihre Revolver und fand sie zwischen all den Sternchen ein paar Meter weiter. Ja, da konnte sie sich spielend schnell hinüberrollen, und dann hätte sie Macht über all die Angreifer! Sie holte Schwung und rollte … wollte rollen. Wurde gehindert durch …
Sterne! Oh ja, Sterne und Schmerzen. Pulsierende Schmerzen, irre Schmerzen. Sie blickte sich nach dem Gitter um und betrachtete wie unter Drogen ihre linke Hand: Sie lag neben dem Gitter.
Die Stimmen wurden lauter.
Und der Schmerz auch. Ein zweiter Blick verriet ihr, dass fast alle Finger neben dem Gitter lagen. Der kleine Finger steckte zwischen einem Gitterstab und dem Steinboden fest. Er steckte nicht nur fest, sondern schien auch völlig zertrümmert.
Sie wiederholte ganz laut ein Wort, dass sie gerne von sich gab und soviel bedeutete wie: „Verflixt hoch sieben!“

Die Verfolgerin war so schlau, vor dem frisch gewischten Boden abzubremsen und langsam die Situation zu erfassen: Liegender Gegner, Waffen hier und dort auf dem Boden.

*

„Halt durch, Zusa, die Hilfe ist schon unterwegs“, beruhigte Sabina alle und sich selbst. Doch was sollten sie in der Zwischenzeit unternehmen? Verbinden? Stabile Seitenlage? Das Atmen fiel schwer. Und Blut sickerte auf den Boden. Es wurde also höchste Zeit, was zu unternehmen, egal was.
„Bringt mir den Erste-Hilfe-Kasten!“, herrschte Sabina in den Raum. Als wäre dieser Kasten so schwer, machten sich gleich zwei Mitarbeiter auf den Weg, ihn zu holen. Nicht jeder konnte mit dieser Art Stress gut umgehen. Noch dazu, weil Blut auf dem Boden glänzte.
„Halt … still …“
Einfacher gesagt als getan. Noch dazu, weil Zusa die Lage erfasste und noch ein paar letzte Worte krächzen wollte, doch sie brachte nichts heraus.

*

Raubina dafür umso mehr. Sternchen überall, und Schmerz und ferne Stimmen.

Ein zweiter Kollege gesellte sich zum Geschehen. Dieser wurde jedoch regelrecht vom glatten Boden glatt umgehauen und er rutschte mit Karacho aufs Gitter zu, und auf einen der beiden Revolver.

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liebe

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„Verdammt“, entfuhr es dem Verfolger, der dem Gitter am Ausgang entgegenschlitterte. Er rechnete mit einem blauen Flecken, den er davontragen würde und schaffte es rechtzeitig, die Füße auszustrecken als Puffer. So übersah er doch glatt den Revolver, auf den er ebenfalls zusteuerte. Und er würde ihn …

Seine Kollegin erkannte die Situation und brüllte ihm erregt eine Warnung zu, doch die Warnung trug keine Früchte. So nahm sie selbst geistesgegenwärtig Kurs auf den zweiten Revolver.

Während der erste gerade wie eine Billardkugel angeschupst wurde und seinen Weg zu seiner Besitzerin antrat, bückte sich die Kollegin gerade nach dem zweiten Schießeisen und inspizierte es. Sie hielt zum ersten mal in ihrem Leben so etwas in der Hand. Irgendwo musste man das Ding doch erst entsichern, bevor man … ach ja, da …
Klack. Klack.

Sie sah auf und zielte auf die am Boden liegende Person: „Keine Bewegung!“

Nun registrierte sie, wie die Person dort unten ebenfalls einen Revolver in der Hand hielt: „Dito!“

Von ferne erklang das Heulen von Sirenen.

„Gaaaaanz langsam runter mit der Knarre!“, zischte Raubina, und ihre Kontrahentin befolgte den Befehl. Zumindest anfangs, doch nach wenigen Augenblicken kam der wache Verstand zurück und ließ sie die Waffe wieder auf die Zielperson richten: „Wieso sollte ich?“

Mist, die Überraschungsstrategie war fehlgeschlagen. Weshalb also sollte sie nun die Waffe niederlegen?

„Weil ich sonst schießen werde, und DAS willst du nicht!“
„Ich könnte genauso schießen, das wollen Sie AUCH nicht.“
„Wenn du damit leben kannst, auf einen Menschen geschossen zu haben?“
Die Frage nach einem Gewissen war immer gut, zumal sie selbst den Vorteil hatte, ein besseres zu haben bei dieser Sache. So sind Gauner nun mal.
„Glauben Sie mir: Das könnte ich. Wer meine Freundin erschießt, hat eine Kugel verdient!“

Dieses Gespräch könnte sehr nach Hinten losgehen, zumal Raubina nicht ganz klar war, ob sie beide Revolver noch geladen in den Schrank gelegt hatte, und auch nicht wusste, welcher der beiden Revolver der geladen war. Es war ein Spiel mit dem Feuer, oder den … Sternen, die sie vor dem aktuellen Geschehen sah. Blitze zuckten durch die Bildfläche. Flimmern überall. Aber sie erkannte die Umrisse der Gegnerin, nur das war momentan wichtig.

Das, und … Sirenen … Heulen … Kreischen … kam näher … und näher. Sie musste sich was einfallen lassen.

„Ich will niemanden erschießen, auch deine Freundin wollte ich nicht anschießen … das tut mir leid. Aber wenn ich muss, dann WERDE ich schießen, kapiert?“
Anscheinend waren die Argumente nicht verlockend genug. Tot würde sie sich nicht schnappen lassen wollen, deshalb setzte sie nun alles auf eine Karte, die einzige, die sie hatte:
Sie drückte ab.

*

„Wo ist die verfluchte Schere?“
Sabina kramte in diesem Verbandskasten und fand Heftpflaster, Mullbinden und Medikamente, eine Spritze sogar. Aber weder Schere noch Messer.
Ein Gaffer besorgte endlich eine stumpfe, rostige Schere, aber das war nun völlig egal. Sie hatte eine Mullbinde so gut und sachte es ging in die Wunde gelegt und schnitt sie ab. Den Rest der Binde band sie um Zusas Oberkörper. Vielleicht hielt die Binde dann besser. Aber sie merkte, dass durch jede Bewegung die Wunde größer wurde. Mittendrin brach sie ab und presste den Oberkörper halbherzig ab. Zu mehr fehlte ihr der Mut.

Zwei männliche Kollegen erwischten sich dabei, dass sie etwas zu offensichtlich auf die aufgerissene Bluse ihrer Kollegin starrten. Aufgerissen, um näher an die Wunde zu gelangen. Ja, sie hatte wirklich dieses Tatoo, von dem Alfredino immer schwärmte. Auf ihrer rechten Brust. Gleich neben … der Wunde.
Und da wichen diese männlichen Gedanken auch gleich dem Ernst der Lage und wurden zu Sorge, denn das Tatoo versank unter Blut. Mittlerweile schien es, als ströme alles Blut des Körpers aus diesem Einschussloch heraus. Und die Hand, die dieses Loch zuhielt, zitterte und triefte schon genauso vor Röte.

„Fester!“, riet eine Dame aus der Kundschaft, „fester drücken!“

„Ich KANN nicht fester!“
„Doch, Sie KÖNNEN!“
„NEEEEIN!“

*

Ein Schuss knallte und hallte durch das hohe Gebäude, während die ersten Polizeiwägen quietschend anhielten. Die Sterne und Blitze verschwanden und machten einer Schwärze Platz. Der Schmerz verschwand und sie schwebte.
Das war ein schöner Ausflug ins Nirvana, doch dann kam die Realität zurück. Der Schmerz! Die Sternchen! Die Polizei!
Und der Schuss.
Der Revolver schepperte auf den Boden und der Kollege am Gitter verfluchte sich für das, was er angerichtet hatte. Und er verfluchte die Reinigungskraft, die ihn zu Fall gebracht hatte und somit die Situation auf die Spitze getrieben hatte … oder schlittern ließ.
Zusas Freundin sank ebenfalls auf die Knie und hielt sich den Bauch.
„Keine! Bewegung!“

Sie checkte ihre Lage ab und entdeckte entfernt Menschen stehen, keine Ahnung wie viele. Diese Schaulustigen nutzte sie nun für ihre Zwecke und befahl ihnen, sich am anderen Ende des Gitters zu sammeln, dort, wo der Pechvogel schon kauerte und sich grämte.
Die restlichen Personen hier in der Bank hatten Glück gehabt. Sie würden verschont bleiben. Aber diese paar Geiseln hatte sie ja zumindest.
Sternchen!
Wenn sie nicht vorher das Bewusstsein verlor.

Schmerz und Benommenheit durch Ignoranz zu beherrschen hatte sie schon früh gelernt. Schmerz war eine Empfindung, nichts weiter. Nichts Tödliches. Nicht Schmerz allein. Sie versuchte, ihn zu ignorieren. IGNORIEREN!
Das Programm ließ sich grade schlecht hochladen, da der Virus es verhinderte. Der Virus namens: SCHMERZ! Sie war nahe dran, die Beherrschung zu verlieren.

Draußen formierten sich die Bullen längst und waren auf alles gefasst. Nur nicht darauf, dass der Bankräuber im Gitter eingequetscht sein könnte. Wenn sie also alles umstellt hätten, würden sie das Gitter endlich wieder hochziehen, um einrücken zu können. Zwischen all dem Schwindel und Chaos im Kopf machte sie sich auf diesen Moment gefasst und strickte sich eine Strategie zurecht. Keine besonders schlaue zwar, aber dennoch eine Strategie. Das Spiel würde weitergehen.

Eine der Geiseln, Willip hieß sie, beobachtete die Bankräuberin haarscharf. Wie sie da so am Gitter lag und sich vor Schmerzen krümmte. Wie sie sich auf die Zunge biss und auf die Lippen und ein dünner Blutfaden ihr Kinn hinunterlief. Und eine Hand am Gitter, wie festgeklebt. Ja, sie war eingeklemmt. Diese blutrünstige Mörderin saß in der Falle. Lange würde sie diese Qualen nicht aushalten können. Sie brauchten also nur zu warten, und schon hätte das alles ein Ende. Ja, ein Hoffnungsschimmer war da!
Ein Hoffnungsschimmer, der von dem Polizeikommandanten jedoch jäh zerstört wurde:
„Alles bereit zum Einsatz?“

Jetzt oder nie musste sie die Situation retten: „NICHT HOCHFAHREN!“ plärrte sie in das disziplinierte: „BEREIT, CHIEF!“

„HALT!“, befahl dieser. Hatte er da nicht eben was gehört?

„NICHT HOCHFAaaaaaa…“
Ein Kopfschuss ließ diese Warnung unvollendet verklingen.
Die Kugel trat am Hinterkopf wieder aus und bohrte sich dann noch in den Schädel des dahinter stehenden Mannes, bevor sie zur Ruhe kam. Beide schwanden gleichzeitig aus diesem Leben.

Das war der Augenblick, den die Freundin von Zusa nutzte, um sich die Waffe wieder zu krallen, die vor ihr auf dem Boden lag. Jetzt oder nie! Hass hatte sich angestaut und genug Willenskraft, um dieses Monster von Killer sofort zu erschießen. Je länger sie wartete, umso mehr Blut verlor sie ja auch selbst. Wenn nicht bald ein Sanitäter hier aufkreuzte, würde sie keine Chance mehr haben, diese Bankräuberin zu stellen. Also: Jetzt oder niiiiiiiie!

Der Chief war unschlüssig. Eine Stimme war da, eine Stimme, die etwas geschrieen hatte. Und dann … kam unvermittelt der Schuss!
Ein Schuss! Sie mussten schnell handeln, um den bewaffneten Bankräuber zu erledigen!
„HOCHFAHREN!“
Das Gitter setzte sich in Bewegung, und Raubina genauso.

Den Bauchschuss Bauchschuss sein lassend, zielte die verwundete Angestellte auf die Mörderin und drückte ab!

Raubina hatte anderes zu tun, als dies zu bemerken. Sie rappelte sich auf und zielte auf das Grüppchen von ehemals Schaulustigen. Da ihr Blickfeld gerade sehr eingeschränkt war, stolperte sie über den Kopf einer am Boden liegenden Leiche. Durch diesen Kick verdrehte sich der Schädel so, dass beide Löcher gut sichtbar wurden. Einschuss. Ausschuss. Und … wäre es Wasser gewesen, hätte man diesen Anblick „Quelle des Lebens“ nennen können. So war es eben Blut und eine Geisel drehte sich um zum Kotzen. Sie bekam einen Schlag in den Nacken und sackte benommen – hoffentlich NUR benommen – zu Boden. Trotz Benommenheit konnte ihr Magen jedoch munter weiterspeien, dem Putzdienst zur Freude.

Nun hatte Raubina ihre Position: Sie verschanzte sich hinter dem Rücken der übrigen Geiseln und zielte gut sichtbar auf deren Köpfe.

Der erste Trupp vom Sonderkommando drang unter dem Gitter hindurch.

Sie sahen die am Boden kniende Bankangestellte, die mit einem Revolver auf die Gruppe von Geiseln zielte. Ihr Finger zuckte am Abzug, und mindestens drei Polizisten sahen hiermit das Leben aller Geiseln in Gefahr und streckten sie mit drei gezielten Kopfschüssen nieder.
In der Stille danach hörte man ein leises Klicken, als die vermeintliche Bankräuberin den Abzug durchdrückte.
Keine Munition.

Das Kommando sondierte weiter die Lage und machte hinter den Geiseln eine weitere Person mit Waffe aus. Spielzeugwaffe?
Sie überblickten den Haufen von Blutlachen und entschieden sich, DIESE Waffe ernst zu nehmen.

*

Daran taten sie gut. Draußen wurden weitere Kommandos für die Nachhut gegeben, während diese Vorhut sich rund um eine Ecke des Ausgangs postierte.

„WAFFEN runter, oder ich SCHIESSE!“
Nichts geschah. Eine Geisel war kurz vor einem Zusammenbruch, weshalb sie stotterte: „T-t-t-tuuuuun sie d-d-dassss, w-w-wass…“

Es war wohl ratsamer, auf Sicherheit zu gehen und die Lage ein wenig zu beruhigen: „WAFFEN RUNTER!“ befahl der Chief. Er hatte lange, blonde Haare.

„Was wollen Sie?“

*

Nachhause, ins Krankenhaus, weg …
Dass dieser beschissene Schmerz aufhört zu pochen und mich aufzufressen! Blitze!
„L-LEGT EURE WAFFEN AUF DEN BODEN!“
Um die Entscheidung zu beschleunigen, packte sie eine Geisel am Nacken und richtete das Schießeisen auf die Schläfe: „SOFORT!“

Ihr Wunsch wurde befolgt. Doch lauerten die gut ausgebildeten Kämpfer natürlich auf den richtigen Zeitpunkt, um weitere Waffen aus ihren Anzügen zu ziehen. Sie gehörten ja zu einer Sondereinheit, spezialisiert auf Überfälle dieser Art.
Hoffentlich merkten sie nicht, dass sie nur halb bei der Sache war, und zur anderen Hälfte ein heulendes, verletztes Kind.

4

Apropos Kind: Die Klasse 7c der Höherenschule gleich auf der anderen Straßenseite hätte gerade Geschichte, doch das Schauspiel unten hatte sofort ein paar Bengel vom Unterricht abgelenkt.
„Wer gab unserem Planeten den Namen WELD?“, war die letzte sinnvolle Frage zum Unterricht gewesen, dann quietschte und ratterte es und das Bankgebäude war abgeriegelt.
Natürlich klebten dann alle am Fenster, nur drei Streber saßen artig auf ihren Plätzen und wollten nichts weiter geklärt haben als die Frage, wer denn nun den Namen WELD eingeführt hatte.

Nach anfänglichem: „Seid doch bitte still! Setzt euch gefälligst auf eure Plätze!“ resignierte die Lehrerin Fräulein Chipeda ob der Situation. Sie ging über das Gaffen und Geplärr der Schaulustigen weiter der Frage nach, woher der Name WELD stammte.

Eine Folie legte sie auf, die drei Beachter fand. Eine Frau in Kleidern, die vor Jahrmillionen mal modern gewesen sein könnten, erschien auf der Wand. Sie hielt ein Schwert in der Hand.
„Weiß jemand, wer dies ist?“, schrie Fräulein Chipeda über den aktuellen Lärm hinweg die drei Streber an.
Einer davon meldete sich in einer Seelenruhe, die einen Schlag weg hatte. Als er aufgerufen wurde, sagte er irgendwas, was im Lärm unterging.
Was er sagte, war: „Eroberin Attilly.“

Da sie es nicht verstand, schüttelte die Lehrerin den Kopf und schrie: „Nein es war Attilly. Und wisst ihr, was sie war?“

Der Lärmpegel war unerträglich, auch draussen fuhren jetzt Vans der Polizei vor. Alle redeten durcheinander.

Erneutes Melden, irgendeine Antwort, dann plärrte sie: „Nein, sie war Eroberin und wollte den ganzen Planeten einnehmen. Alle dachten, sie sei größenwahnsinnig, bis sie vor den Toren welcher Stadt stand?“

Niemand meldete sich, weil niemand die Frage verstanden hatte. Sie warf einen Blick nach draußen. Dort wurde das Gitter wieder hochgefahren und der erste Trupp drang in die Bank ein.
„VerDAMMT NOCH MAL!! RUUUUUUUUUHE!“
Ein paar Schüler sahen kurz in ihre Richtung, doch das Geschehen draußen war spannender.
Sie sahen zu, wie sich der zweite Trupp draußen formierte und stehen blieb. Nichts tat sich.

„RUUUUUUUHEEEE!“, versuchte sie alle zu beruhigen. Es bewirkte jedoch nur, dass sich einer dieser Kindergenies artig meldete, um irgend einen Stuss zu erzählen. Völlig von der Rolle und als letztes Hilfsmittel nahm sie einen Stuhl, schwang ihn in die Luft und schleuderte ihn gegen die Wand: „VERDAMMMMMMMT! RUUUUUUUUUUUUHeeeee! Oder ich …“
Ihre Stimme versagte, sie brachte nur noch ein Krächzen heraus. Doch der Stuhl hatte eine plötzliche Aufmerksamkeit nach sich gezogen, so dass seekundenlang eine völlige Stille eintrat, in die sie zittrig heiser krächzte: „… explodiere…“

5

Wieder einmal hatte sie sich in eine ausweglose Situation manövriert. Und war selber schuld, weil sie den glatten Boden nicht ernst genommen hatte. Schon oft hatte sie trainiert, so schnell wie möglich unter einem solchen Gitter wie diesem hier hindurchzugleiten, weshalb sie ihrer Sache vorher auch sicher war. Sie war topfit und jeder Bewegungsablauf saß, nur eben nicht auf diesem unkalkulierbaren, glänzend nassen Boden, der nun mehr vor Blutlachen und Erbrochenem glänzte als vor Wasser.

Nach dem Ärger über die Ausweglosigkeit folgte die bedingungslose Hingabe. Sie würde alles versuchen, um nicht geschnappt zu werden. Zuerst natürlich mit den Geiseln als Schutzschild. Doch spätestens in ein paar Minuten würden die Schmerzen so irre sein, dass sie verrückt würde. Also musste sie schnell vorausschauend denken. Fassen würde sie sich nie lassen. Für ein Leben im Gefängnis oder einer Folterzelle – ja, dort würde sie wohl hinkommen, in der Hoffnung, sie plauderte ein wenig aus dem Nähkästchen – war sie nicht geschaffen. Nie im Leben!

Geiseln hin oder her. Auf-Zeit-Spielen hin oder her: Sie hatte den Drang, dieses Schlamassel so schnell wie möglich zu beenden. Und da sie jeden Moment besinnungslos werden könnte, kam sie zu dem Kurzschluss, der ihr Leben veränderte.
Sie schnappte sich die erstbeste Geisel und schob sie vor sich her in Richtung Ausgang. Die Bullen machten den Weg frei. Sie trat ins Freie.
Ein letzter Blick hinauf zum Himmel, und dann würde ihr Lebensweg besiegelt sein.

*

Natürlich waren alle Schusswaffen auf sie fixiert. Eine einzige Unachtsamkeit, und sie würde durchlöchert sein, wie ein Schwarzer Käse – eine Delikatesse zwar, aber tot. Zum Glück konnte niemand die Sternchen sehen, die ihren Blick und Verstand vernebelten. Und dieses Pochen, das auf den ganzen Körper ausstrahlte, konnte sie auch nicht mehr ertragen. Und dieses schlechte Gewissen, das sie manchmal in ihren Träumen verfolgte und Kissen schweißdurchtränkt werden ließ. All das würde bald Vergangenheit sein. Die Zukunft lag vor ihr.
Ja, der Himmel. Er war so schön. Die Sonne blendete an einem der obersten Fenster der Schule nebenan. Sie sah all die Gesichter dahinter: Erwartungsvoll, neugierig. Ein paar auch erschrocken oder ängstlich. Alle so niedlich, wie Kinder eben sind.

Herita fühlte sich direkt angestarrt von dieser bösen Frau mit der Waffe und trat deshalb vom Fenster zurück. Niemand musste um Ruhe schreien, alle waren stumm und beobachteten gebannt das Geschehen.
Warum hatte sie die Frau so angestarrt? Warum? Herita entfernte sich vom Pulk und schlürfte rückwärts, bis sie die gegenüberliegende Wand erreichte. Dort blieb sie regungslos stehen und schloss die Augen.

„… explodierte …“, war das letzte gesprochene Wort in diesem Zimmer. Und es spukte in den Köpfen nach wie ein Fluch.
… explodierte …
Auf einmal drückte ihre Blase so was von stark, dass sie nicht anders konnte: Sie musste schnell aus dem Zimmer und aufs Klo. So schnell wie möglich!

*

Ja, Raubina registrierte dort oben ein Gesicht, das vom Fenster verschwand. Es war ein prägnantes Gesicht gewesen. Eines mit Charisma und Liebenswürdigkeit. Durch solche Gesichter würde die WELD vielleicht besser werden können.
Trotz all ihren beschissenen Sorgen und Gewalttätigkeiten war sie froh, dass dieses Gesicht dort oben sie nicht weiter beobachtete. Dieses Gesicht sollte so voller Hoffnung und Freude bleiben, wie es war. Nicht durch Angst und Gewalt zersetzt.
Sie sah die WELD nur noch verschwommen, also musste sie jetzt reagieren.
Jetzt!
Oder nie!

Sie schob die Geisel vor sich her. Hin zu einer schmalen Seitengasse. Logischerweise folgten ihr alle Polizisten in gewissem Abstand.

*

Sie konnte nicht wissen, dass die Spezialeinheit mit diesem Manöver gerechnet hatte. Er war ein genialer Fluchtweg, denn man verlor sich schnell in den kleinen und wirr angelegten Gässchen. Aus diesem Grund hatten sie vorher eine Einheit genau dort versteckt. Nun war ihre Zeit gekommen und sie konnten den Überraschungsmoment nutzen.

Auf Nahkampf war er programmiert, dieser schlanke, große Typ, der hinter ihr lauerte und ihr mit einem gezielten Stoß den Revolver aus der Hand schlug.

*

Alle atmeten auf und gingen zufrieden und glücklich nach Hause. Der Unterricht ging natürlich weiter mit einer riesengroßen Standpauke, dass man gefälligst auf seine Lehrerin zu hören hatte!
Natürlich überlebten alle wie durch ein Wunder, also alle, die noch lebten.

So oder so ähnlich hätte die Geschichte weitergehen können, doch niemand rechnete mit dem Überraschungsmoment des Zufalls: Der schlanke Typ hatte sich unbemerkt von hinten genähert und stand eine Seekunde vor dem Zugriff, da klirrte es in der Schule.

Glas splitterte. Die Fenster flogen raus. Und mit ihnen noch etwas. Ein ungeheurer Krach erfasste alles.
Das war der Moment, in dem Raubina die Geisel wegstieß, sich umdrehte, den verdutzten Nahkampfspezialisten mit einem Kinnhaken niederstreckte und in die Gasse lief. Der Lärm hinter ihr schwoll an. Diese Qualen brachten sie noch um.

*

Herita saß grad auf dem Töpfchen, als auch sie diesen ohrenbetäubenden Knall vernahm, er kam von allen Seiten. Von oben. Von unten. Vorne. Hinten.
Erschrocken zog sie die Hose hoch, ohne sich abzuwischen. Wollte so schnell wie möglich weg hier. War schon an der Tür, doch dann ging sie zurück, um runterzuspülen. Kurz Händewaschen. Und raus aus dem Klo!

Der Gang war leer wie zuvor. Sie rannte ihn nun wieder hinunter zu ihrem Zimmer, verschnaufte kurz davor, und dann trat sie ein: „Ich bin wieder …“

Sie war vielleicht wieder da, aber wo waren die andren? Der Wind blies durchs zersplitterte Fenster und wehte Blätter durch den Raum und hinaus. Hinaus …
Auf dem ganzen Boden waren Fetzen von … Kleidern … und … rotem … Fleisch?
Sie wandte den Blick ab in die Ferne. Das Fenstersims: blutverschmiert von oben bis unten.
Bewegte sich da etwas am Boden? Sie sah genauer hin, konnte aber nur Kleidung erkennen. Ein Röcheln.

Ihr Bruder!, fiel ihr ein, sie musste ins Zimmer nebenan und gucken, ob es ihrem Bruder gut ging!
Ein letztes Mal überflog sie den Boden unter sich und versuchte auf dem Rückweg, auf nichts Menschliches zu treten.

Türe schließen. Taps, taps, taps.
Kein Blick zurück. Nur nach vorne.
Zurückblickend hätte sie rote Schuhabdrücke am Boden gesehen – von einer Tür zur anderen.
So stand sie nun vor der Zimmertür der Klasse 8b und traute sich nicht, die Tür zu öffnen.
Hatte sie grad eben noch unter Schock gestanden, kamen ihr in diesem Augenblick all die Bilder hoch, die sie eben gesehen hatte:

Dieser gelbe Fetzen, der in ihrer Nähe gelegen hatte, gehörte zum T-Shirt von Seila!
Und dieser Kleiderhaufen, der sich … hatte er sich noch bewegt? … der … der gehörte doch Andr…
Nein! Das konnte nicht sein. Grad eben waren doch noch alle da. Und hatten aus dem Fenster gegafft wie die Blöden!
Grad eben! Und die Lehrerin hatte irgendwie versucht, alle zu bändigen, war dann ausgerastet und hatte dann gesagt:

„explodierte“

Ihr wurde übel und sie öffnete die Tür. Was sollte sie auch sonst tun?

*

Ein eifriger und durchtrainierter Polizist drehte sich kurz zuvor noch verwirrt und dann erschrocken zur Schule um. Ihm ging durch den Kopf: „Verflucht! Mein Kind ist da drin. Ich muss sofort dorth-“

Hier, mitten im Wort, wurde sein Gedanke unterbrochen von einem gewaltigen Knall. Und sein nächster Gedanke war:

*

Vor diesem letzten Gedanken zerplatzte er mit einem kräftigen Knall, dem helle, glitschige Töne nachschwangen. Sein Skelett wurde auseinandergerissen. Sein Oberkörper mit Kopf (hier wurde der letzte Gedanke dann wohl gedacht) verfing sich in einem nahegelegenen Baum. Sein Arm mit Hand und Gewehr dran machte sich auf einen Flug gegen eine Hauswand. Ein letzter Schuss wurde abgefeuert, bevor es das Gewehr zerlegte.

Dieser Schuss traf den Chief der zweiten Truppe im Oberarm, so dass dieser einen Angriff vermutete und in Richtung der schmalen Gasse feuerte. Dort traf er dann den sportlichen Typ, der mit bloßen Händen dastand und dieser kleinen Anekdote am Rande des Wahnsinns ein überraschendes Ende bereitete, indem er erst auf die Wunde starrte und dann ebenfalls explodierte wie Dynamit.

*

Ein paar schießwütige Polizisten waren drauf und dran, in den Explosionen ringsumher einen Angriff zu vermuten und wahllos in der Gegend herumzuballern. Doch sie waren auf vieles (wenn auch nicht auf dies) vorbereitet, weshalb sie auf Tauchstation gingen und am Boden lauernd nach dem Feind Ausschau hielten.

*

Raubina lief und lief und lief um ihr Leben. Doch am Ende – kraftlos wie ein alter, ausgelaugter Sack – strauchelte sie, verlor Orientierung und Bewusstsein und wurde gefangen. Ihr Gesicht verhedderte sich in etwas, das augenblicklich stärker war als sie. Wäre es ein Hohn auf die Menschheit, wenn sich dieses schwere Netz später als Spinnennetz herausstellen würde?
Ein Stich dieser auf Leben und Tod kämpfenden Spinne, und Raubina war ausgeknockt wie ein hilfloser Schmetterling.
Doch sie einer scharfen Kante entgegen. Einem Treppenabsatz vor einer Haustür.
Würde dies ihr ruhmloses Ende sein? Es hätte was tiefschwarzhumoriges: Allen Gefahren getrotzt, bis eine Spinne und eine Treppenabsatzkante sie erlegten! Har!

*

Aber was erzähle ich Ihnen! Fangen wir die Geschichte lieber am Anfang an:

(Vorgeschichte zu Weld 1)

Impressum

Texte: (c) Matthias Boner
Tag der Veröffentlichung: 08.08.2010

Alle Rechte vorbehalten

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