Matěj Letó
Tödlicher Einfluss
Ein Influencer-Krimi
1
Erst als Nora Boldsen auf den Parkplatz des Duisburger Polizeipräsidiums fuhr, bemerkte sie ihre Nervosität. Jetzt am Vormittag hielt sich die Sommerhitze noch in Grenzen, trotzdem wurde der jungen Kriminaloberkommissarin aus Kerken plötzlich ziemlich warm. Erstaunt war sie nicht über ihre Aufregung, schließlich hatte sie bisher noch nie aus eigenem Antrieb das Präsidium gewechselt. Ihre erste feste Stelle im Bereich Todesermittlungen hatte Nora vor einem Jahr in Köln angetreten und war damit ihrem damaligen Freund Sebastian in die Domstadt gefolgt. Allerdings war sie dort nie so richtig angekommen.
Ein Grund dafür war die gemeinsame Wohnung, in der jede persönliche Note fehlte. Nora hätte das gerne geändert, doch die Vielzahl an Überstunden und nicht zuletzt Sebastians ausgeprägtes Desinteresse in Sachen Einrichtung hatten ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Bei ihrem Einzug hatte sie nur ihre Kleidung und die Dinge des alltäglichen Bedarfs mitgenommen, ihre restlichen Besitztümer blieben eingelagert bei ihren Eltern. Aus dem festen Vorsatz, immer mal wieder etwas mitzunehmen, war nichts geworden und dann hatte die Beziehung vor rund zwei Wochen ein abruptes Ende gefunden.
Dass Sebastian sie betrog, war das Eine. Dass er dabei offenbar nicht einmal versuchte, seine Affäre zu verstecken, das Andere. Nora hatte kurzerhand ihre Sachen gepackt, war erst zu ihrer Freundin Alissia gezogen und hatte zwei Tage später ziemlich spontan die Chance auf die neue Stelle genutzt. Duisburg kannte sie zwar kaum, aber womöglich hatte die kürzere Distanz zu ihrem Heimatort ihre Entscheidung unterbewusst begünstigt.
Nachdem sie jetzt etwas Zeit gehabt hatte, darüber nachzudenken, war sie sich mit dem Wechsel doch nicht mehr so sicher. Immerhin war das Image der Stadt nicht das beste. Aber nun gab es kein Zurück mehr. Nora manövrierte ihren Kleinwagen in eine freie Lücke und sah noch einmal prüfend an sich herunter. Sie trug modische Sneaker, Jeans und dazu ein T-Shirt mit passender Bluse. Erst hatte sie ein förmlicheres Outfit für den ersten Tag wählen wollen, aber dann hatte ihre Freundin sie überzeugt, ganz sie selbst zu sein. Eigentlich sah Nora das genauso, doch auch in diesem Punkt kamen ihr auf einmal wieder Zweifel.
Egal, dafür war es jetzt ohnehin zu spät. ‚Reiß dich zusammen‘, dachte Nora und gab sich einen Ruck. Sie schnappte sich ihre Tasche, stieg aus dem Auto, schlug die Fahrertür zu und marschierte entschlossen zum Eingang des Präsidiums.
Der ältere Pförtner blickte auf, als sie vor seinem Fenster auftauchte.
„Guten Morgen“, grüßte Nora und stellte sich im selben Atemzug vor. „Nora Boldsen. Ich soll hier heute meinen Dienst im KK 11 antreten. Herr Carstensen erwartet mich.“
„Ah, Frau Boldsen! Morgen!“, grüßte der Beamte freundlich zurück, stand auf und zeigte auf die Tür links von ihm. Er öffnete sie und hielt Nora lächelnd die Hand hin. „Freut mich. Bernd Talmann. Das war aber eine kurzfristige Anmeldung. Habe erst am Montag erfahren, dass Sie heute schon ankommen.“
„Ja, ich weiß. Es ging alles ziemlich schnell.“ Nora lächelte etwas nervös und warf dann einen Blick zur geschwungenen Treppe schräg hinter Talmann. „Wo finde ich denn den Herrn Carstensen?“
„Einfach die Treppe rauf in den ersten Stock und dann links. Melden Sie sich kurz bei der Frau Turm, die wird sich dann um Sie kümmern.“
„In Ordnung, vielen Dank!“
„Gerne, und willkommen bei uns.“
Nora stieg die Stufen hinauf. Der Wartebereich war noch menschenleer, die Glastüren zum angrenzen Korridor geschlossen. Links bestätigte ein Schild, das dort unter anderem die Büros des KK 11 zu finden waren. Nora öffnete die Glastür und stand nach ein paar Schritten schon vor dem Sekretariat, in dem laut Türschild Bettina Turm zu finden war. Auf Noras vorsichtiges Klopfen hin ertönte ein fröhliches „Herein“.
Am Schreibtisch saß eine freundlich lächelnde Mittvierzigerin, die ein buntes Kleid trug und offenbar einen grünen Daumen hatte. Nahezu jede freie Fläche in der Nähe der großen Fensterfront war von Blumentöpfen besetzt, einige Pflanzen präsentierten sogar farbenfrohe Blüten.
„Guten Morgen“, grüßte Nora. „Sind Sie die Frau Turm?“
„Ganz genau, und Sie sind die Frau Boldsen, nicht wahr?“
„Ja, die bin ich. Ich sollte mich bei Ihnen anmelden.“
„Schön, dass es so schnell geklappt hat! Setzen Sie sich doch, möchten Sie einen Kaffee? Der Chef ist nämlich noch nicht da.“
„Oh, keinen Kaffee, vielen Dank.“
„Ja, eigentlich ist es dafür auch schon wieder zu warm. Die Hitze momentan ist wirklich schlimm.“ Die scheinbar grenzenlos gute Laune der Sekretärin erhielt kurzzeitig einen Dämpfer. „Aber das ist ja immer noch besser als wenn es den ganzen Tag regnet.“ Schon strahlte sie wieder. „Wollen Sie vielleicht lieber ein Wasser oder Saft?“
Nora entschied sich für das Wasser und bekam es mit einem Stapel Unterlagen serviert.
„Wir können uns ja schon mal um den Papierkram kümmern“, schlug Bettina Turm vor. „Das hält ja am Anfang immer etwas auf.
„Gerne, das bringen wir lieber schnell hinter uns.“
„Das stimmt, aber es muss ja sein.“ Frau Turm nahm lächelnd die Papiere zur Hand. „Ach, Sie heißen mit zweitem Namen Alexandra? Meine jüngere Tochter auch.“
„Mit Zweitnamen?“
„Nein, nein, sie hat nur den einen.“ Frau Turm lachte auf. „Aber auch der wird meistens abgekürzt und alle nennen sie bloß Alex.“
„Wahrscheinlich kein seltenes Schicksal“, lächelte Nora.
„Das ist anzunehmen“, pflichtete Frau Turm fröhlich bei. „Na gut, zurück zur Bürokratie. Sonst schaffen wir das doch nicht, bis der Chef auftaucht.“
Tatsächlich klopfte es wenig später erneut an der Tür, die auch sofort schwungvoll von außen geöffnet wurde. Helmut Carstensen, Noras neuer Chef, trat ein.
„Guten Morgen, Frau Turm“, grüßte er ebenso energiegeladen wie seine Sekretärin. „Und Frau Boldsen, nehme ich an?“
„Guten Morgen, Herr Carstensen, Sie liegen völlig richtig“, übernahm die Sekretärin die Vorstellung.
„Schön, dass Sie’s so schnell geschafft haben.“ Carstensen reichte Nora die Hand. „Der bürokratische Teil ist schon erledigt?“
„Ja, Frau Turm hatte schon alles vorbereitet. Wir sind gerade damit durch.“
„Wunderbar, dann kommen Sie doch am besten direkt mit. Ein paar Details müssen wir ja trotzdem noch klären.“ Er wandte sich an seine Sekretärin. „Oder gibt es unverhoffte Termine, Frau Turm?“
„Nein, keine kurzfristigen Änderungen. Aber Sie möchten bitte den Kollegen Gerhardt zurückrufen, sobald Sie Zeit haben. Den vom KK 23. Und um zehn ist dann die Besprechung, wie immer.
„Um den Rückruf kümmere ich mich im Anschluss. Prima, dann folgen Sie mir, Frau Boldsen.“
Carstensen führte Nora über den Flur und referierte dabei wie bei einer Städtetour.
„Hier vorne haben wir den Raum für Pressekonferenzen und hier ist der Pausenraum. Der Getränke-Automat ist super, der mit den Snacks spinnt aber ein bisschen. Dann sind hier noch die beiden Vernehmungszimmer und geradeaus ist mein Büro. Davor rechts herum geht’s zum Konferenzzimmer, da treffen wir uns nachher auch zur Besprechung. Ansonsten gibt es hier nur noch Büros, WCs und ein kleines Lager. Da können Sie sich eigentlich nicht verlaufen. Alles etwas kleiner als in Köln.“
„Ja, das Kölner Präsidium ist nahe an der Grenze zum Labyrinth“, bestätigte Nora. Sie hatte anfangs mehrere Tage gebraucht, um sich dort wirklich gut zurechtzufinden.
Carstensen betrat sein Büro und bot Nora einen der bequemen Besuchersessel vor seinem Schreibtisch an. „Was verschlägt Sie eigentlich zu uns? Es hieß, Sie hätten sich sehr kurzfristig für einen Wechsel entschieden?“
„Ja, das kann man so sagen. Es hatte primär private Gründe. Aber ehrlich gesagt hätte ich gar nicht damit gerechnet, dass meine Bewerbung akzeptiert wird. Ich bin ja noch nicht so lange dabei.“
„Naja, wie ich gehört habe, merkt man Ihnen das nicht unbedingt an“, meinte Carstensen anerkennend. „Erfahrung kommt ja mit der Zeit von allein und da hilft es, regelmäßig etwas Neues zu sehen. Was sagen die ganzen Coaches bei den Seminaren zur Persönlichkeitsentwicklung immer? Raus aus der Komfortzone.“
„Der Satz kommt mir bekannt vor“, sagte Nora amüsiert.
„Sehen Sie, dann scheint da ja tatsächlich was dran zu sein“, grinste Carstensen. „Aber wenn das alles so schnell ging, haben Sie überhaupt schon eine Unterkunft? Oder pendeln Sie? Es gibt hier ums Eck auch eine Pension, da könnten wir Sie sonst vorübergehend unterbringen.“
„Danke, aber das ist schon geregelt. Ich habe über zwei Ecken kurzfristig was für den Übergang bekommen.“
„Perfekt vorbereitet“, lobte Carstensen und griff zu einem Ordner. „Dann kommen wir mal zum dienstlichen Teil. Wir würden Sie vorerst dem Kollegen Berger zuteilen. Der ist auch ungefähr Ihr Jahrgang. Es sei denn, Sie würden lieber in Ruhe eine Wohnung suchen und kurzfristig Urlaub nehmen?“
Nora war verwirrt. „Äh, warum sollte ich?“
„Oh, hat man Sie nicht informiert? Eigentlich sollten Sie ja mit dem Kollegen Uwe Schmied zusammenarbeiten. Der hatte allerdings am Sonntag einen kleinen Unfall und ist jetzt erst einmal außer Gefecht.“
„Was denn für einen Unfall? Im Dienst?“
„Nein, keine Sorge“, winkte Carstensen ab. „Das war ausnahmsweise sein Privatvergnügen. Hobbyfußballer, umgeknickt, Bänderriss. Jetzt fällt er wohl für ein paar Wochen aus. Deshalb würden wir Ihnen anbieten, in der Zeit Urlaub zu nehmen. Falls Ihnen das lieber ist, als vorübergehend mit einem anderen Kollegen zu arbeiten.“
Nora wunderte sich über das ungewöhnliche Angebot und sah ihren neuen Chef skeptisch an. „Ehrlich gesagt habe ich jetzt irgendwie das Gefühl, dass Ihnen das lieber wäre.“
Carstensen hob abwehrend die Hände. „Nein, ganz und gar nicht. Ich wollte Sie nur fairerweise warnen, weil Berger ein bisschen kompliziert sein kann. Er hat eigentlich keinen festen Partner und unterstützt die einzelnen Teams nach Bedarf und vorwiegend im Bereich der Recherche. Er ist, sagen wir mal, etwas schwierig in zwischenmenschlichen Dingen.“
„Was heißt das konkret?“
„Er ist ein Einzelgänger, sehr introvertiert, lebt ein bisschen in seiner eigenen Welt. Die Arbeit im Außeneinsatz ist nicht so seine Stärke, aber bei Bedarf wühlt er sich stundenlang durch Unterlagen und Beweismaterial. Und immer erfolgreich. Wenn man mit ihm umzugehen weiß, funktioniert das sehr gut. Mit den meisten hier ist er inzwischen eingespielt, aber mit neuen Kollegen ist es am Anfang immer etwas kompliziert.“
„Okay“, sagte Nora mit leichtem Zögern. „Was bedeutet das für mich?“
„Inwiefern?“
„Heißt das, an mir bliebe dann auch nur Papierkram hängen? Ich habe nichts gegen Innendienst, aber ein wenig Abwechslung wäre schon ganz nett. Ich muss ja auch ein bisschen die Gegend kennenlernen.“
„Das gehört dazu“, versicherte Carstensen. „Machen Sie sich keine Sorgen. Wir werden Sie aber gemeinsam mit Berger nach Möglichkeit zunächst nur in übersichtliche Einsätze schicken. Er braucht immer etwas Planungssicherheit.“
„Klingt ja wunderbar“, sagte Nora sarkastisch. „Kann ich mich denn auf ihn verlassen?“
„Absolut“, versicherte Carstensen schnell. „Berger ist wahrscheinlich der loyalste Kollege, den Sie je haben werden.“
„Warum ist er dann ein Einzelgänger?“
„Er ist auch absolut ehrlich. Damit kommen die Leute nicht immer klar. Außerdem ist ihm die Einhaltung von Regeln sehr wichtig. Ist auch nicht so jedermanns Sache.“
„Ja, habe ich auch schon festgestellt.“ Nora dachte unwillkürlich an Sebastians Affäre. Sie gab sich einen Ruck. „Gut, wir können es ja mal versuchen. Auch wenn es so klingt, als würde das ziemlich anstrengend werden.“
„Da haben Sie ja schon was gemeinsam, das sagt Berger auch jedes Mal“, grinste Carstensen und beugte sich zu seiner Schreibtischschublade. Er zog eine bereits gebundene, blaue Krawatte mit aufgedruckten, gelben Quietscheenten darauf hervor und legte sie sich um den Hals. „Kommen Sie, ich stelle Sie beide einander vor.“
Während er sich erhob und Nora verständnislos auf die aggressiv gemusterte Krawatte starrte, setzte er ein aufmunterndes Lächeln auf. „Machen Sie sich keinen Kopf. Ist alles halb so wild.“
Carstensen öffnete die Tür seines Büros und hielt sie für Nora auf, die noch immer etwas verwirrt einen Moment brauchte, um ebenfalls aufzustehen und auf den Flur zu treten. Carstensen folgte ihr und führte sie denselben Weg zurück, auf dem sie auch hergekommen waren.
„Dieser seltsame Exzess modischer Kreativität gehört übrigens zu unserem Standardprogramm“, erklärte er, als Nora erneut verstohlen auf die Krawatte blickte. „Moment, bitte.“
Sie hatten gerade den Pausenraum erreicht und Carstensen wählte am Getränkeautomaten einen Kaffee. „Möchten Sie auch einen?“, fragte er.
„Nein, danke“, gab Nora zurück. „Kaffee ist eigentlich nicht so meins.“
„Dann werden Sie sich in der Hinsicht mit Berger gut verstehen. Rauchen Sie?“
„Nein. Keine Zigaretten, kein Alkohol.“
„Gleich noch zwei Pluspunkte“, sagte Carstensen lachend und fischte zwei kleine Becher mit Milch aus einem Korb neben dem Automaten. „Alles klar, wir können. Ihr Büro ist gleich hier vorn neben dem von Frau Turm.“
„Direkt das erste?“, fragte Nora.
„Genau“, nickte Carstensen. „Berger mag kurze Wege.“
„Natürlich.“
Die Milchglastür des besagten Büros war angelehnt. Carstensen klopfte dennoch zweimal kurz an, bevor er sie aufdrückte.
„Morgen, Berger!“, grüßte er, während er das Büro betrat und seinen Kaffeebecher auf das niedrige Regal direkt vor den beiden sich gegenüber stehenden Schreibtischen stellte. Dabei schob er ein kleines Radio beiseite, das genau mittig auf dem Regal stand. „Wie geht’s uns heute?“
Das Büro war im üblichen Rahmen möbliert, die beiden großen Schreibtische und das etwas höher aufragende Regal nahmen das Zentrum des Raumes ein. Auch hier ließ eine große Fensterfront viel Tageslicht herein und einige große Grünpflanzen verliehen dem Büro Farbe.
Rechts neben der Tür stand ein großes Regal mit Aktenordnern. Die linke Wand war offenbar zu einer riesigen, magnetischen Pinnwand umfunktioniert worden und zum größten Teil mit Zetteln, Fotos und Schriftstücken bedeckt. Vor dem Computer am rechten Schreibtisch saß Berger, den Carstensen gerade nach seinem Wohlbefinden gefragt hatte.
„Wie immer“, gab Berger kurz angebunden zurück, ohne von seinem Monitor aufzusehen.
„Gut so“, erwiderte Carstensen und winkte Nora näher heran. „Schauen Sie mal, gefällt Ihnen meine Krawatte? Die hat mein Sohn ausgesucht.“
Nun blickte Berger doch auf und musterte Carstensen, der die Milch aus den beiden kleinen Plastikbechern in seinen Kaffee kippte.
„In seinem Alter sind Gummienten vermutlich noch faszinierend“, antwortete Berger, während er beobachtete, wie Carstensen die Plastikbecher in den Papierkorb warf.
„Absolut“, stimmte Carstensen zu und grinste. „Jetzt sind mir halbe Hähnchen auch wesentlich lieber.“
„Als Muster auf Krawatten?“, fragte Berger und sah erneut zum Papierkorb mit den beiden Plastikbecherchen.
„Wenn Sie zufällig mal so eine sehen, sagen Sie mir Bescheid“, sagte Carstensen und zwinkerte Nora zu. „Aber genug aus der Welt der Mode! Das ist Frau Boldsen, Ihre neue Kollegin.“
Berger löste seinen Blick vom Papierkorb, als Nora einen Schritt auf ihn zuging.
„Hallo!“, sagte sie und hielt Berger die Hand hin. Der stand auf und drückte sie kurz. Er war mindestens einen halben Kopf größer als sie und schien mit seinem dunklem Hemd und der schlichten Chino-Hose ebenfalls einen legeren Modestil zu bevorzugen. Sein Körperbau wirkte sportlich und die Frisur sprach für den effizienten Charakter, den Carstensen ihm nachsagte.
„Hallo“, gab Berger zurück, während er ihrem Blick auswich und sich an einem sehr dezenten Lächeln versuchte. „Freut mich.“
Nora musterte ihren neuen Kollegen kurz. Berger wirkte zwar etwas unbeholfen, aber nicht unsympathisch.
„Das sieht man Ihnen gar nicht an“, meinte sie.
„Ich weiß.“
„Wie bitte?“
„Das höre ich in solchen Situationen häufig.“
„Aber nicht immer?“
„Die meisten Menschen sagen nichts, weil sie das für höflicher halten.“
„Und was ist Ihnen lieber?“
„Mir wäre es vor allem recht, wenn ich kurz die Plastikbecher von Herrn Carstensen in den eigentlich dafür vorgesehenen Mülleimer werfen könnte.“
„Aber sicher“, mischte sich Carstensen ein. „Entschuldigung. Ich vergesse das immer.“
Erneut zwinkerte er Nora zu, während Berger die Plastikbecher in einen zweiten Papierkorb neben dem ersten warf.
„Sie können sich ja dann mal in Ruhe kennenlernen“, schlug Carstensen vor und zeigte auf die gegenüberliegende Bürohälfte. „Frau Boldsen, dieser Schreibtisch gehört Ihnen. Wenn Sie etwas brauchen, wird Ihnen Herr Berger sicherlich behilflich sein können. Und er wird Sie dann auch über die aktuellen Ermittlungen in Kenntnis setzen.“ Er sah kurz auf seine Armbanduhr, nahm seinen Kaffeebecher und ging zur Tür. „In einer guten Stunde ist Besprechung, dann sehen wir weiter. Einverstanden?“
„Ja, danke“, gab Nora zurück. „Bis später.“
„Dann viel Spaß!“ Carstensen nickte noch einmal kurz, verließ das Büro mit einem strahlenden Lächeln und lehnte die Tür von außen wieder an.
„Das war neu“, murmelte Berger vor sich hin.
„Wie bitte?“, fragte Nora.
„Sonst sagt er nie ‚Viel Spaß‘“, erläuterte Berger. „Wissen Sie, was er damit meint?“
„Äh, nein. Sollte ich?“
„Ich dachte nur, das hätte eventuell mit Ihnen zu tun.“
„Ich kann nicht ganz folgen, glaube ich.“
Berger hielt kurz inne. „Oh, tut mir leid“, sagte er dann und blickte zum zweiten Schreibtisch hinüber. „Wollen Sie sich vielleicht erst setzen?“
„Ach so, klar.“ Nora ging um das Regal herum und rückte dabei das Radio wieder an seinen ursprünglichen Platz, was Berger interessiert zur Kenntnis nahm. Nora ließ sich ihm gegenüber in den überraschend bequemen Drehsessel sinken.
„Sie wollten mir das Theater gerade erklären?“, sagte sie mehr auffordernd als fragend.
„Korrekt.“ Berger setzte sich ebenfalls. „Jedes Mal, wenn ich neue Kollegen bekomme, macht Carstensen dasselbe. Er trägt eine Krawatte mit sehr ausgefallenem Muster, behauptet, sein Sohn hätte sie ausgesucht und fragt mich nach meiner Meinung. Dann bringt er irgendetwas in Unordnung und stellt mir den neuen Kollegen oder die neue Kollegin vor. Aber er hat noch nie ‚Viel Spaß‘ gesagt.“
„Da kann ich leider nicht weiterhelfen. Vielleicht war es einfach nur eine Floskel.“
„Ja, das würde es erklären.“
„Was erklären?“
„Dass ich es nicht verstanden habe.“
Nora sah Berger mit hochgezogenen Augenbrauen an, was allerdings keine Reaktion bei ihm hervorrief, weil er sich offenbar auf einen Punkt an der Magnetwand hinter ihr konzentrierte.
„Woran liegt das denn?“, fragte sie schließlich.
„Hat Carstensen Sie nicht vorgewarnt? Das macht er doch sonst auch immer.“
„Er hat nur gesagt, dass Sie ein wenig introvertiert seien.“
„Sonst sagt er immer, ich sei schwierig.“
Nora überlegte kurz, verschränkte dann die Arme und beugte sich leicht nach vorn. „Ist das hier ein ziemlich seltsamer Test?“
„Nein, aber das fragen auch fast alle“, erklärte Berger abwesend. Dann blickte er doch noch einmal auf. „Ich weiß, dass die meisten Menschen mit mir nicht besonders gut klarkommen und es oft Missverständnisse gibt. Ich weiß auch, dass es an mir liegt und ich versuche, mich anzupassen. Aber das gelingt leider nicht allzu häufig. Wenn es da mal ein Problem gibt, sagen Sie es mir einfach. Ich nehme Ihnen das nicht übel.“
„Gut“, erwiderte Nora. „Da wäre nämlich schon was. Können wir das förmliche ‚Sie‘ vielleicht weglassen und uns duzen? Ich glaube, das macht die Zusammenarbeit angenehmer.“
„Ist es dafür nicht etwas zu früh?“, wandte Berger reflexartig ein, korrigierte sich jedoch umgehend wieder. „Also, normalerweise dauert das länger, aber ich denke, das lässt sich einrichten.“
„Sehr schön“, sagte Nora und reichte ihm quer über den Schreibtisch erneut die Hand. „Ich bin Nora.“
Berger war kurz irritiert. „Interessant“, sagte er dann nur, bevor er das angebotene Händeschütteln beantwortete und sich erneut an einer freundlichen Mimik versuchte.
„Warum interessant?“, fragte Nora verdutzt.
„Unsere Vornamen sind Ananyme. Ich heiße Aron. Mit einem A. Also Nora rückwärts und umgekehrt.“
„Echt?“ Nora lachte auf. „Na, das ist ja ein Zufall! Freut mich, Aron. Dann erzähl mal, was muss ich hier für den Anfang denn sonst noch so alles wissen?“
2
Eine Dreiviertelstunde später war Nora nicht nur dem anwesenden Teil der Belegschaft vorgestellt worden, sondern wusste auch, dass Aron sich gerade mit zwei Messerstechereien, einem ausgebrannten SUV und einem mit zwei Schusswaffen aufgegriffenen Drogendealer beschäftigte.
„Aber eigentlich sind die Fälle alle abgeschlossen“, beendete Aron seine Zusammenfassung. „Die Kollegen müssen nur noch die Berichte vervollständigen.“
„Und was machst du dann?“
Aron zeigte auf das Regal. „Ich sehe alte Akten ungelöster Fälle durch. Manchmal ergibt sich ein neuer Ansatz.“
„Also hast du gerade keine laufenden Fälle?“, fragte Nora. „Dann passt es ja, dass Herr Carstensen mich gefragt hat, ob ich nicht lieber erst mal Urlaub nehmen möchte.“
Aron überlegte kurz. „Verstehe.“
„Was?“
„Er glaubt, dass wir nicht miteinander klarkommen.“
„Wie kommst du darauf?“
„Die Quote ist erfahrungsgemäß nicht gut.“
„Dann weißt du aber auch, dass Statistiken nicht auf den Einzelfall anwendbar sind“, meinte Nora mit provokantem Grinsen. „Und ich bin ja schließlich hier und nicht im Urlaub, oder?“
„Ja, das stimmt. Guter Punkt!“
„So ist es doch gar nicht schlecht, um sich einzugewöhnen. Ein bisschen kontrolliertes Arbeiten für den Anfang, ohne das übliche Chaos. Aber für den Fall der Fälle, kannst du mir noch deine Nummer geben?“ Nora hielt ihr Smartphone hoch und zwinkerte Aron zu. „Man weiß ja nie, wann der erste Notfall eintritt.“
Aron nickte und diktierte seine Handynummer.
„Ich lasse mal eben klingeln, dann hast du meine auch“, griff Nora auf ein bewährtes Prinzip zurück. Ein digitaler Klingelton meldete sich aus Arons rechter Hosentasche und verstummte fast unmittelbar wieder, nachdem Nora aufgelegt hatte. Aron wiederholte die Nummer auf seinem Display laut und sah Nora dann fragend an. Offenbar konnte selbst Aron ihrem Gesichtsausdruck entnehmen, dass sie sich wunderte, welche Nummer es sonst hätte sein sollen.
„Ich wollte nur die Kausalität überprüfen“, erklärte er und tippte kurz auf dem Display herum, um den Kontakt zu speichern. Anschließend erhob er sich und steckte das Smartphone währenddessen wieder ein.
„Die Besprechung fängt gleich an. Kommst du mit?“
„Ja klar.“
Aron führte sie über den Flur und bog vor Carstensens Büro rechts ab. „Hier vorne links“, sagte er und Nora konnte durch die gläserne Wand sehen, dass einige ihrer neuen Kollegen bereits anwesend und in Gespräche vertieft waren. Aron drückte die Tür auf und ließ Nora den Vortritt. Sofort sah eine dunkelhaarige Kollegin Ende dreißig auf, die Nora noch nicht kennengelernt hatte. Sie stand sofort lächelnd auf und kam zur Tür.
„Hi“, sagte sie und hielt Nora die Hand hin. „Hab schon gehört, dass wir Verstärkung bekommen haben. Ich bin Daniela Römer.“
Nora stellte sich ebenfalls vor. „Stimmt, wir haben uns vorhin noch gar nicht gesehen. Freut mich!“
„Ja, ich hatte noch einen Termin am Gericht. Freut mich auch. Endlich wieder etwas mehr Frauenpower hier.“ Sie zwinkerte Nora verschmitzt zu, als sich am Tisch Gemurmel meldete.
„Dani, du vergisst schon wieder, dass mein Zweitname Maria ist“, warf Peter Neuberger ein, ein recht gemütlicher Hauptkommissar Anfang Fünfzig, der einen Kaffeebecher und eine Handvoll Kekse vor sich hatte. „Zählt das immer noch nicht als weibliche Qualität?“
„Nur auf dem Papier.“
„Na, immerhin.“
Daniela Römer lächelte und wandte sich wieder Nora zu, während Aron bereits am Konferenztisch Platz nahm.
„Wir sind hier übrigens alle per Du, falls Aron das nicht schon gesagt hat. Manchmal vergisst er das ja.“
„Ach, das hat sich quasi schon von selbst ergeben. Wir haben eine kurze Vorstellungsrunde gemacht. Zum Glück ist’s ja gerade einigermaßen ruhig.“
In dem Moment betrat auch Carstensen das Besprechungszimmer und schnappte den letzten Satz auf.
„Das hat sich möglicherweise gerade erledigt“, sagte er und nickte Nora dann freundlich zu. Die schrille Krawatte hatte er inzwischen abgelegt und wirkte wieder deutlich seriöser. „Sie haben sich schon alle kennengelernt?“
„Ja, zumindest in groben Zügen.“
„Gut, dann sind ja alle informiert.“ Carstensen wandte sich an alle Anwesenden. „Nur noch kurz meinerseits, Frau Boldsen war eigentlich als neue Partnerin für den Kollegen Schmied vorgesehen, aber der ist ja vorläufig außer Gefecht. Herr Berger wird sich daher erst mal um sie kümmern, sonst bleibt alles beim Alten.“
Er widmete sich kurz seinen Unterlagen. „Aber bevor wir anfangen: Wir haben gerade einen neuen Fall reinbekommen, eine junge Frau wurde mit Kopfverletzungen tot in ihrem Haus aufgefunden. Sieht nach Fremdverschulden aus. So wie ich das sehe, sind bis auf Berger und Boldsen gerade alle noch zumindest mit Papierkram aktiv in Ermittlungen involviert, korrekt?“
Aus einem kurz auflodernden Gemurmel konnte Carstensen mehr oder weniger klare Rückmeldungen entnehmen.
„Gut, dann kümmern Sie beide sich bitte darum. Tut mir leid, Frau Boldsen, dass wir Sie direkt ins kalte Wasser schmeißen müssen, aber der Anfangsverdacht muss natürlich schnellstmöglich überprüft werden. Ist das in Ordnung für Sie?“
„Klar, kein Problem“, stimmte Nora sofort zu.
„Gut. Berger, wie sieht’s mit Ihnen aus?“
Aron brauchte einige Sekunden, um sich dann zu einem kurzen und alles andere als begeisterten Nicken hinreißen zu lassen.
„Wunderbar, dann haben Sie hier die Adresse und was bis jetzt bekannt ist.“ Carstensen reichte Nora ein äußerst dürftiges Protokoll. „Sie können sich meinetwegen schon direkt auf den Weg machen“, fuhr er mit einem auffordernden Lächeln fort, bevor er nach vorn zum Whiteboard ging und sich dem restlichen Team zuwandte. „Gibt es sonst Neuigkeiten? Noch irgendwelche Überraschungen?“
Während ihre Kollegen mehr oder weniger ausführlich Ihre Ergebnisse referierten, verließen Nora und Aron den Raum und schlossen die Tür hinter sich.
„Kennst du die Adresse?“ fragte Nora, während sie Aron das Stück Papier zeigte.
„Ja, das ist ungefähr zehn Minuten von hier. Wir können meinen Wagen nehmen.“
„Gerne, in meinem ist sowieso kein Platz“, gab Nora zurück, während sie zum Treppenhaus gingen. „Ich hatte noch keine Gelegenheit, zur Wohnung zu fahren. Hab also noch Gepäck und so im Auto.“
„Kommst du nicht aus Duisburg?“
„Nein, eigentlich aus Kerken. Bis gestern habe ich in Köln gearbeitet. Das ging alles ziemlich schnell.“
Auf dem Weg zum Parkplatz fasste Nora die Ereignisse der letzten Tage zusammen, die sie nach Duisburg verschlagen hatten, und verschwieg auch die privaten Gründe für ihren Wechsel nicht.
„Ich bin froh, dass ich überhaupt so kurzfristig an eine möblierte Wohnung gekommen bin. Und für fünfhundert warm kann man da, glaube ich, nicht viel falsch machen. Bin gespannt, wie’s dort aussieht“, schloss sie den kurzen Exkurs ab, als sie bereits im Auto unterwegs waren.
„Du hast die Wohnung noch nicht einmal gesehen?“ Für Aron schien das völlig unvorstellbar.
„Nur ein paar Fotos. Aber ich brauche ja nicht viel Platz und muss jetzt auch nicht übertriebenen Komfort haben.“
„Hm“, machte Aron, während er den Wagen sanft durch eine Kurve lenkte. „Wo ist die Wohnung denn?“
„Äh, irgendwo in der Nähe vom Bahnhof“, erklärte Nora und zog ihr Smartphone zu Rate. „Hier, Steinweg 7.“
„Oh“, kommentierte Aron die Adresse.
„Warum ‚Oh‘?“, fragte Nora skeptisch. „Stimmt damit was nicht?“
Aron überlegte kurz, bevor er sich vorsichtig äußerte. „Das ist nicht die schönste Ecke der Stadt.“
„Nicht die schönste Ecke“, wiederholte Nora und lachte kurz auf. „Nach dem, was ich bisher über dich gehört habe, und deiner kurzen Kunstpause zufolge, heißt das wahrscheinlich, dass es eigentlich sogar genau das Gegenteil ist, oder?“
Aron schien überrascht, dass sie direkt ins Schwarze getroffen hatte.
Nora bemerkte das sofort. „Tatsächlich so schlimm?“
„Nein, so war das nicht gemeint.“ Aron war sichtlich um eine Relativierung seiner Aussage bemüht. „Das ist nur … wenn man hier aufgewachsen ist, ist das nicht die Gegend, in der man unbedingt wohnen möchte.“
„Keine Sorge“, beruhigte Nora ihn. „Ich habe schon in Gegenden gewohnt, die gibt es hier wahrscheinlich gar nicht. Außerdem ist das ja schön nah am Präsidium und sowieso nur für den Übergang. Ich schaue mich noch in Ruhe nach etwas Langfristigem um.“
Kurzzeitig setzten sie die Fahrt auf der Koloniestraße schweigend fort, bis Nora wieder das Wort ergriff.
„Kannst du mir da eventuell ein paar Tipps geben? Also welche Gegend besser ist?“, fragte sie.
„Ja, sicher“, sagte Aron zögerlich. „Worauf legst du Wert?“
„Ach, eigentlich nur die üblichen Dinge. Einigermaßen bezahlbar natürlich. Zentrale Lage wäre schön, nur nicht allzu laut. Und vielleicht ein bisschen Grün in der Nähe.“
Aron nickte. „Gut, das sollte nicht so schwer werden. Wir sind übrigens gleich da, nächste Straße rechts.“
Nora hatte sich im Laufe des Gesprächs immer weniger auf den Weg konzentriert und blickte erst jetzt wieder bewusst aus dem Fenster. Offenbar waren sie in einem gehobenen Stadtteil gelandet. Die hohen Bäume ließen auf große Gärten schließen und tatsächlich bestätigte sich dieser Eindruck, als Aron den Wagen um die angesprochene Ecke lenkte.
Die Fahrzeuge der Spurensicherung standen einträchtig mit einigen Streifenwagen kreuz und quer vor einem großzügigen Anwesen. Auf der schmalen Fahrbahn hatte der Notarzt gehalten und blockierte dadurch den Großteil der Straße. Aron verzichtete auf das Risiko, den Wagen durch die schmale Lücke zwischen dem Rettungswagen und einer Hecke zu manövrieren und parkte bereits ein paar Meter vor den übrigen Fahrzeugen und dem gestreiften Absperrband. Das restliche Stück gingen sie zu Fuß.
Eine hohe Mauer säumte die Grundstücksgrenze zur Straße, doch eine vergitterte Pforte und ein ebenso gestaltetes Tor erlaubten den Blick auf eine Villa im modernen Stil. Das große, etwa vier Meter breite Tor lief in einer Führungsschiene hinter der Mauer und war ungefähr zur Hälfte geöffnet. Eine Mitarbeiterin des Erkennungsdienstes untersuchte es konzentriert und nahm Nora und Aron dabei überhaupt nicht wahr.
„Vielleicht sollte ich hier mal nach einer Wohnung gucken“, schlug Nora vor und blieb vor der Pforte stehen. Im Gegensatz zum Tor war sie jedoch verschlossen.
„Ziemlich teure Gegend“, stellte Aron fest. „Und voller Einfamilienhäuser. Ich glaube, hier gibt es keine Mietwohnungen.“
Nora nahm das amüsiert zur Kenntnis. „Das war ein Scherz“, erklärte sie geduldig. „Die Ecke hier könnte ich mir sowieso nicht leisten.“
Aron blieb eine Antwort erspart, weil ihnen ein Beamter in Uniform entgegen kam und ihn begrüßte.
„Aron, du hier. War der Schreibtisch doch mal zu langweilig?“
„Hallo“, grüßte Aron und gab ihm die Hand. „Carstensen konnte außer uns niemanden schicken. Das ist Nora Boldsen, die neue Kollegin. Und das ist Jan Goller, unser Spezialist für die Tatortsicherung.“
Da keinem von beiden klar war, wie genau Aron das meinte, übergingen sie dieses Detail und tauschten ebenfalls einen Handschlag aus.
„Freut mich“, sagte Goller. „Und, schon gut eingelebt?“
„Gerade erst angekommen“, winkte Nora ab. „Dafür war noch keine Zeit.“
„Verstehe“, grinste Goller und nickte Richtung Haus. „Die Pforte war abgeschlossen, aber das große Tor ist defekt. Der Schließmechanismus greift nicht mehr, die Sanitäter konnten es einfach aufschieben. Wollt ihr direkt mitkommen? Dann kann ich euch schon ein bisschen was sagen.“
„Gerne“, antwortete Aron stellvertretend und sie folgten Goller über den Weg am Haus vorbei, während er kurz und knapp die bisherigen Erkenntnisse zusammenfasste.
„Vor ungefähr einer Stunde hat ein Nachbar den Notarzt gerufen, weil die Mieterin der Villa hier regungslos auf der Terrasse lag. Sie heißt Desiree Stauder, wurde 24 Jahre alt und laut Nachbar war sie wohl Influencer. Was auch immer das ist. Klingt für mich nach Grippe“, meinte er grinsend.
„Das ist eine Form des Online-Marketings“, korrigierte Aron.
„Ich weiß, das war ein Scherz!“ Goller zwinkerte Nora zu und fuhr dann fort. „Als die Sanis angekommen sind, hat keiner auf ihr Klingeln reagiert, aber das Tor war wie gesagt defekt. Also sind sie rein und diesen Weg hier entlang zur Terrasse. Dort haben sie dann sofort gesehen, dass die Dame tot ist und zwar schon seit ein paar Stunden. So, ich muss noch mal nach vorn. Die Leiche liegt dort drüben.“
Mittlerweile hatten sie die Terrasse erreicht und standen vor einem weiteren Absperrband. Goller wies mit ausgestrecktem Arm zum Swimming-Pool. Die Ausmaße des Beckens boten fast genug Raum für eine mittelgroße Zweizimmerwohnung. Direkt am Rand lag die Leiche. Der Körper der jungen Frau war mittlerweile mit einem Tuch abgedeckt. Keine zwei Meter daneben kniete Niklas Jacobs, ein Mitarbeiter des Erkennungsdienstes, und packte eine Kamera ein.
„Hallo Niklas!“ grüßte Aron und machte ihn und Nora miteinander bekannt. „Dürfen wir uns schon hier umsehen?“
„Ja, klar“, nickte Jacobs. „Schutzkleidung ist in der Kiste da. Mit der Toten sind wir schon durch, die wird gleich abtransportiert. Frau Dr. Welke ist auch schon wieder weg und wartet darauf, dass wir sie zu ihr in die Rechtsmedizin bringen.“
„Wie sieht es mit Spuren aus?“
„Jede Menge, aber auf den ersten Blick keine richtig heiße. Das wird hier also noch ein bisschen dauern.“
Nora und Aron zogen ihre Schutzkleidung über und gingen dann vorsichtig näher, um sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Direkt neben der zugedeckten Leiche stand eine ausladende Sonnenliege unter einem schattenspendenden Schirm mit massivem Standfuß. Noras Blick blieb jedoch zunächst an einem weiteren Gegenstand hängen.
„Was hat denn der Mixer hier zu suchen?“, fragte sie und zeigte auf das am Boden liegende Küchengerät. Dessen Kunststoffbecher wies einen großen Sprung auf und war vom restlichen Gehäuse abgebrochen.
Der Erkennungsdienstler sah erneut auf. „Den Becher haben wir aus dem Pool gefischt. Müssen wir mal schauen, ob wir da noch was finden. Könnte nämlich die Tatwaffe sein.“ Er zeigte auf den Fuß des Mixers. „Schaut mal da genau hin. Aber nicht anfassen!“
Nora balancierte vorsichtig an der Toten vorbei, ging in die Knie und sah sich die als Sechseck geformte Bodenplatte des Geräts genauer an. „Ist das Blut?“
„Sieht ganz so aus, ja. Auf den ersten Blick passt die untere Kante auch ziemlich gut zu einer der beiden Kopfwunden am Schädel des Opfers.“
„Zwei Wunden?“, hakte Aron nach.
„Ja, eine vorne links, die andere am Hinterkopf. Moment, seht’s euch einfach selbst an“, sagte Jacobs. Er zog das Tuch etwas zurück und gab den Blick auf das Gesicht einer hübschen jungen Frau frei. Eine ziemlich heftige Platzwunde zog sich quer über die linke Seite der Stirn.
Nach einem knappen „Danke“ von Aron deckte Jacobs die Tote wieder zu. „Wir müssen das noch genauer untersuchen und rekonstruieren, aber es scheint so, als wäre sie frontal mit dem Mixer angegriffen worden und anschließend rückwärts mit dem Kopf auf den Boden geknallt.“
„Vermutungen zum Täterprofil?“, fragte Nora knapp.
„Kaum, bis jetzt. Wir können nach aktuellem Stand eigentlich nur deutliche kleinere Personen ausschließen. Der Schlag kam definitiv von schräg oben, aber Details wird euch die Rechtsmedizin nach der Untersuchung geben können.“
Aron nickte gedankenverloren. „Gibt es schon Vermutungen zum Todeszeitpunkt?“
„Gestern gegen Mitternacht, plus minus eine Stunde wahrscheinlich.“
Nora betrachtete den Mixer genauer und hakte noch mal nach. „Gibt es neben den Verletzungen am Kopf noch weitere?“
„Zumindest keine offensichtlichen. Die genaue Untersuchung machen die dann gleich in der Rechtsmedizin.“ Jacobs sah fragend auf. „Irgendein bestimmter Verdacht?“
„Nein“, winkte Nora ab. „War nur eine Routinefrage.“
„Die haben wir auch schon gestellt“, meldete sich Goller hinter dem Absperrband wieder zurück. „Es gibt ein paar neue Infos zur Toten und den Nachbarn hier. Interesse?“
„Klar, immer“, antwortete Nora und erhob sich wieder.
„Also, außer dem direkten Nachbarn hat keiner was gesehen. Der heißt übrigens Bernhard Baumann, ist Witwer, 68 Jahre alt. Der hat berichtet, dass die Dame hier häufig für ein paar Tage unterwegs war. Seit mindestens Sonntag war sie aber zu Hause und hat gestern auch diverse Personen zu Besuch gehabt. War wohl eine richtige Fotosession hier am Pool, das hat der Herr Baumann von seinem Balkon gesehen. Von da oben.“
Goller zeigte über die Hecke zum Nachbargrundstück.
„Am frühen Abend wurde es dann ruhiger, da war nur noch eine andere junge Dame dabei. Die ist gegen 19 Uhr gegangen, da ging der Nachbar nämlich gerade mit seinem Hund Gassi. Danach war die Tote wohl alleine hier, zumindest hat der Baumann nichts mehr von hier drüben gehört. Er hat allerdings auch erst heute Morgen wieder was gesehen, als er die Blumen auf dem Balkon gießen wollte. Da hat er die Frau Stauder hier liegen sehen und sofort den Notruf gewählt.“
„Dann gehen wir doch mal rüber zu ihm“, schlug Nora vor und streifte den Schutzanzug wieder ab. Aron folgte ihrem Beispiel.
„Im Moment ist er nicht da, hat einen Arzttermin“, durchkreuzte Goller ihren Plan. „Aber ab 15 Uhr hat er den ganzen Tag Zeit.“
„Gut, dann eben später. Wie sieht’s denn mit Angehörigen aus? Freunde, Geschäftspartner? Hat sich da noch keiner gemeldet?“, erkundigte sich Nora.
„Nein, nichts. Die Kollegen suchen drinnen schon nach einem Handy, Adressbuch oder entsprechenden Unterlagen.“ Goller deutete auf die Mitarbeiter, die gerade die Terrassentür unter die Lupe nahmen. „Wenn ihr auch rein wollt, müssen wir vorne rumgehen.“
„Gut, dann machen wir das.“
Vor der Haustür stießen sie fast mit zwei uniformierten Beamten zusammen. In ihrer Mitte führten sie einen mit Kamera und dazugehöriger Tasche behängten Mann ab. Er trug Jeans und ein Hemd im Military-Look. Dass ihn die beiden Polizisten fest im Griff hatten, hielt ihn nicht davon ab, Goller freudestrahlend zu begrüßen.
„Ah, Herr Goller. Sie habe ich gesucht. Können Sie mir schon was sagen?“
„Ist klar, Michels“, gab Goller zurück. „Verarschen kann ich mich alleine. Was haben Sie da drin zu suchen?“
„Na, Sie habe ich gesucht. Vorne am Tor war ja niemand und da dachte ich, Sie sind bestimmt im Haus.“
„Wir haben ihn im ersten Stock im Büro überrascht, als die Jungs vom ED gerade rein wollten“, berichtete einer der Uniformierten. „Er stand mit seiner Kamera an der Balkontür.“
„Danke“, sagte Goller. „Ihr könnt ihn ruhig wieder loslassen.“
Dann wandte er sich Michels zu. „Das Flatterband, das eindeutig darauf hinweist, dass hier der Zutritt verboten ist, ist Ihnen nicht aufgefallen?“
„Also, jetzt wo Sie’s sagen… Kommt nicht wieder vor“, versprach Michels scheinheilig und nestelte mit seltsamen Bewegungen an einem Fach seiner Kameratasche herum. Der Reißverschluss klemmte offenbar. „Aber wie sieht’s denn mit ein paar Infos zur Toten aus?“
Goller ignorierte die Frage und sah zu Nora.
„Das ist übrigens der Vincent Michels, Reporter vom West-Kurier. Den trifft man immer da, wo man ihn nicht braucht. Meistens an einem Tatort. Und er kapiert einfach nicht, dass man da nicht tun und lassen kann, was man will.“ Er warf einen Seitenblick auf die Kamera. „In der Regel tauchen wenig später auch Fotos vom Tatort im Internet und der Print-Ausgabe auf. Wobei natürlich keiner weiß, wo die herkommen.“
„Haben Sie hier etwa auch Fotos gemacht?“, mischte Nora sich prompt ein und zeigte auf die Kamera. „Die ist beschlagnahmt!“
„Was? Moment mal, so geht das nicht!“, protestierte Michels. Weil Goller nur amüsiert grinste, wandte er sich an Aron. „Sie können mir doch nicht einfach meine Sachen wegnehmen.“
Damit biss er jedoch auf Granit, Aron sah einfach wortlos an ihm vorbei.
„Also, her mit der Kamera“, forderte Nora. „Und mit allen Speicherkarten und was Sie sonst noch dabei haben.“
„Nein! Das kriegen Sie nicht. Sie können mir ja überhaupt nichts beweisen!“ Michels schien seine Überheblichkeit schnell wiedergefunden zu haben und setzte sich in Bewegung Richtung Straße. „Und in dem Artikel werden Sie garantiert nicht gut wegkommen, das kann ich Ihnen jetzt schon sagen.“
„Sie wollen nicht kooperieren?“ Nora folgte ihm genervt. „Gut, dann nehmen wir Sie halt direkt mit.“
Aron und Goller gingen ebenfalls hinterher, während Michels an der Mitarbeiterin vom Erkennungsdienst vorbei zu einem direkt links am Flatterband geparkten Wagen marschierte.
„Was wollen Sie denn machen?“ Der Reporter stieg aufreizend lässig in das Auto und packte seine Tasche samt Kamera auf den Beifahrersitz. Er beugte sich darüber zum offenen Fenster und grinste siegessicher.
„Wiedersehen, junge Frau“, lachte er spöttisch und griff zur Fahrertür. Dabei hatte er allerdings die Rechnung ohne Aron gemacht, der schon mit drei schnellen Schritten am Wagen war und Michels aus dem Sitz zerrte. Der Reporter setzte gerade zum erneuten Protest an, als er schon hart gegen Wagen prallte und nur einen kurzen Schmerzensschrei zustande brachte. Nun sah sogar die in ihre Arbeit vertiefte Erkennungsdienstlerin auf und die beiden auf der Straße positionierten Beamten kamen angelaufen. Nora signalisierte ihnen jedoch, sich zurückzuhalten.
Aron bemerkte davon nichts. Er hatte den Arm des Reporters fest im Griff und auf dessen Rücken gedreht. „Sie sind vorläufig festgenommen, wegen Hausfriedensbruch und Behinderung polizeilicher Ermittlungen.“
„Und Diebstahl“, ergänzte Nora. Sie hatte sich kurz ins Auto gebeugt und in das Fach an der Kameratasche gegriffen, an dem Michels herumgefummelt hatte. Nun hielt sie eine EC-Karte in der Hand, die laut Aufdruck der Toten gehörte. „Wie kommen Sie denn an diese Karte?“
„Sie können doch nicht einfach an meine Sachen!“ zeterte Michels. „Dafür brauchen Sie einen Durchsuchungsbefehl!“
„Das heißt Durchsuchungsbeschluss“, belehrte Aron. „Den brauchen wir nicht, wenn ein begründeter Verdacht auf eine Straftat besteht.“
„Sie dürfen das trotzdem nicht!“
„Jetzt pass mal auf, Kollege“, mischte Goller sich auch wieder ein. „Du betrittst hier wissentlich widerrechtlich einen abgesperrten Tatort, begehst einen Diebstahl und kommst uns auch noch blöde? Du hast ja schon eine Menge Mist gebaut, aber das ist sogar für deine Verhältnisse verdammt dämlich.“
„Ich will sofort meinen Anwalt sprechen!“ Mehr fiel Michels offenbar nicht mehr ein.
„Das rate ich Ihnen auch.“ Aron wandte sich an die beiden Beamten in Uniform. „Bringen Sie ihn bitte aufs Präsidium? Wir müssen uns da in Ruhe unterhalten.“
Nachdem Michels in einem der Kleinbusse verschwunden war und die Kollegen den Abtransport organisierten, hatte Aron noch eine Frage an Goller.
„Du bist doch noch einmal nach vorne gegangen. Stand Michels Wagen zu dem Zeitpunkt schon da?“
„Nein, der wäre mir aufgefallen. Aber ich frage zur Sicherheit die Kollegen. Moment!“
„Wir sehen uns mal drinnen um“, rief Nora ihm nach. Erneut legten sie Schutzkleidung an und traten ins Haus. Im Hausflur herrschte ziemliches Chaos, das im Wesentlichen aus einem Haufen Schuhe bestand. Sie flogen achtlos durcheinander und lagen kreuz und quer verteilt. Links ging ein kleines Gäste-WC ab, dahinter öffnete sich der Flur und wurde breiter. Eine Treppe mit offenen Stufen und gläsernen Seitenwänden führte dort nach oben.
Rechts lag eine Tür zur großzügigen Küche, die wiederrum in ein Esszimmer überging. Von dort gab es eine Tür zurück zum Flur und eine weitere zum Wohnzimmer, das auch direkt vom Flur erreichbar war. Nora und Aron warfen einen Blick in jedes Zimmer, bemerkten dabei aber nichts Ungewöhnliches. Desiree Stauder schien weder die Küche noch das Esszimmer besonders häufig genutzt zu haben. Im Wohnzimmer hingegen standen mehrere leere Flaschen und Gläser herum. Auf und neben dem riesigen Sofa türmten sich Versandkartons und Kleider neben noch mehr Schuhen.
„Was für ein Chaos!“ Nora schüttelte den Kopf. „Hier kann man sich doch unmöglich wohlfühlen.“
Aron nickte. „Und nirgendwo liegt ein Smartphone rum. Laut Statistik müssten wir sogar eher zwei finden.“
„Wieso genau zwei?“
„Menschen unter 30 Jahren nutzen eher ein Mobil- als ein Festnetztelefon. Und sie war offenbar beruflich selbständig tätig, wofür die meisten noch ein separates Handy nutzen.“
„Klingt logisch“, stimmte Nora zu. „Vielleicht oben auf dem Schreibtisch?“
Das Büro war in der oberen Etage direkt im ersten Raum hinter der Treppe untergebracht. Daneben lag das Schlafzimmer, an das sich ein großes Bad anschloss. Ein drittes Zimmer diente als begehbarer Kleiderschrank, hätte aufgrund seiner Ausmaße und der Fülle an Kleidungsstücken aber auch durchaus als kleine Boutique durchgehen können. Die letzte Tür führte zu einem weiteren, etwas kleineren Duschbad.
„Ich schau mir mal das Schlafzimmer an“, schlug Nora vor. „Vielleicht hat sie im Bett ja Serien auf einem Handy oder Tablet geguckt oder Hörbücher gehört.“
„Gut, dann gehe ich ins Büro.“
Beide Räume besaßen eine Tür zum großen Balkon mit Blick auf den Pool. Die im Büro stand offen, im Schlafzimmer waren Türen und Fenster allerdings geschlossen.
„Habt ihr die Tür hier aufgemacht?“, fragte Aron die drei Erkennungsdienstler.
„Nein, die war schon offen. Wir haben mehrere Fingerabdrücke am Griff gefunden. Wenn die von dem Reporter auch dabei sind, war er das wohl. Der stand jedenfalls direkt daneben, als wir reinkamen. Ist er schon auf dem Weg zum Präsidium?“
„Ja, der dürfte mittlerweile unterwegs sein.“
„Gut, wir haben schon veranlasst, dass sie ihm die Abdrücke nehmen. Dann wissen wir, was er angepackt hat.“
Aron ließ seinen Blick durch den Raum wandern. Neben der Tür stand ein kleiner Tisch mit einem Multifunktionsgerät zum Drucken, Scannen und Kopieren. Der große Schreibtisch mitten im Raum war fast völlig leer, nur ein paar Briefe und ein Laptop lagen darauf. In den Regalen an der linken Wand standen vor allem Dekostücke herum, jedoch kaum Ordner oder sonstiges Büromaterial.
„Habt ihr die Unterlagen schon gesichtet?“
„Nein, so weit waren wir noch nicht. Ist es damit dringend?“
„Nein, das eilt nicht. Ich wundere mich nur, dass es hier so leer ist.“
Er warf einen Blick auf den Papierstapel. Zuoberst lag eine Notiz im Din-A5-Format. Eine Person mit schwungvoller Handschrift wünschte viel Spaß mit der neuen Sommerkollektion.
„Den Rechner habt ihr dann wahrscheinlich auch noch nicht untersucht?“
„Richtig. Dafür haben wir drei Smartphones gefunden. Leider alle ohne SIM-Karte, aber aus der oberen Preisklasse. Zwei sehen noch brandneu aus.“
„Habt ihr die eingeschaltet?“
„Nein, die KTU kümmert sich drum. Wegen der Datensicherung, falls die zurückgesetzt wurden. Sind schon eingetütet.“
„Gut. Gibt es hier oben Spuren im Zusammenhang mit der Tat?“
„Unwahrscheinlich. Der Fundort ist mit Sicherheit auch der Tatort.“
„Alles klar, danke. Lasst euch nicht stören, wir kommen später noch mal wieder.“
Im Schlafzimmer hatte Nora neben dem Bett mit ziemlich zerwühlten Laken ein Tablet gefunden, das aber allem Anschein nach lediglich zum Ansehen von Serien genutzt wurde.
„Das Ding war nur im Ruhemodus und nicht gesperrt, aber da ist bloß eine Streaming-App drauf“, erklärte sie. „Und der Kleiderschrank quillt über vor Klamotten. Mindestens die Hälfte davon hat sie wohl nie getragen. Da sind überall noch die Etiketten dran.“
„Dann wird das hier oben wohl noch etwas dauern“, überlegte Aron. „Sollen wir uns erst mal um Michels kümmern?“
In dem Moment kam Goller die Treppe hinauf. „Könnt ihr machen, ich halte euch auf dem Laufenden. Zum Beispiel darüber, dass die Leiche gerade abtransportiert wird. Fahrt ihr mit zur Obduktion?“
Aron schüttelte nur stumm den Kopf.
„Gut, dann gebe ich Peter Bescheid, dass er das übernimmt. Der hat bestimmt Lust.“
„Peter Neuberger?“, fragte Nora. „Macht ihm das besonders viel Spaß oder wie soll ich das verstehen?“
„Die Obduktion nicht.“ Goller grinste. „Aber die Rechtsmedizin ist in der Klinik und deren Cafeteria hat ein ziemlich gutes Mittagsmenü.“
„Essen nach einer Obduktion?“ Nora schüttelte den Kopf. „Da habe ich echt andere Sorgen.“
„Jeder hat so seine Art, das zu verarbeiten.“ Goller zuckte mit den Schultern. „Ach so, viel wichtiger: Michels ist erst nach uns angekommen, sagen die Kollegen. Er hat behauptet, dass er zum Nachbarn wolle. Anschließend hat er aber unbemerkt direkt am Tor geparkt und sich ins Haus geschlichen. Er kann also nur kurz hier oben gewesen sein.“
„Da wird dann wohl nicht viel dabei rumkommen“, wagte Nora eine Prognose. „Naja, dann hören wir uns jetzt mal an, was er selbst dazu zu sagen hat.“
3
Zwanzig Minuten später kehrten sie zum Kommissariat zurück. Als sie gerade den Flur zu ihrem Büro betraten, kam ihnen Carstensen mit zwei entschlossen dreinblickenden Anzugträgern entgegen.
„Die schon wieder“, stellte Aron genervt fest. Nora waren die Männer völlig unbekannt. Sie kam aber nicht dazu, eine Frage zu stellen.
„Frau Boldsen, haben Sie ein paar Minuten für uns?“ Carstensen schien etwas angespannt. „Die beiden Herren wollen Sie sprechen.“
„Worum geht’s denn?“
„Kommen Sie bitte mit?“ Der größere der beiden Männer schien nicht gewillt, die Unterhaltung auf dem Flur fortzusetzen. Nora sah kurz zu Aron, der ihr nur aufbauend zunickte. Also folgte sie den beiden und Carstensen zum Besprechungszimmer. Dort stellte der Größere sich im militärischen Stil vor. „Will. Der Kollege Gärtner. Interne Ermittlungen. Setzen Sie sich.“
Da Carstensen keinerlei Anstalten machte, eine entspannte Gesprächsatmosphäre zu schaffen, ignorierte auch Nora die unhöfliche Aufforderung.
„Schön“, erwiderte sie stattdessen und wiederholte ihre Frage, allerdings mit scharfem Unterton. „Also, worum geht’s?“
Carstensen ergriff das Wort. „Sie haben vorhin einen Herrn Michels verhaftet. Sein Anwalt hat sich bei mir über Ihren Kollegen Berger beschwert und will ihn wegen Körperverletzung anzeigen.“
Nora sah ihn zweifelnd an. „Nicht sein Ernst.“
Nun bemühte sich auch der zweite Anzugträger namens Gärtner um seine aktive Teilnahme. „Was ist heute bei Ihrem Einsatz passiert?“, fragte er.
Nora zuckte mit den Schultern. „Da ist ein Reporter aufgetaucht, der im Haus herumgeschnüffelt hat.“
„Sprechen wir hier vom Opfer des Vorfalls?“
„Wir sprechen von dem Typen mit schlechter Erziehung, der sich beschwert hat“, korrigierte Nora bestimmt.
„Achten Sie auf Ihren Ton, Frau Boldsen! Wie ist es zu seiner Verletzung gekommen?“
„Er hat keine Verletzung. Nachdem ich ihn vergeblich aufgefordert hatte, uns seine Ausrüstung zur Auswertung zu überlassen, wollte er flüchten. Da hat
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Matěj Letó
Bildmaterialien: Viktor Hanacek, picjumbo.com
Cover: Nightbird Design/Martin Sowa unter Verwendung eines Stockfotos von Viktor Hanacek, picjumbo.com
Satz: Nightbird Design/Martin Sowa
Tag der Veröffentlichung: 01.05.2020
ISBN: 978-3-7487-3891-6
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