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Cantir konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal einen solch ungeheuren Hunger verspürt hatte. Es war jedenfalls schon eine Ewigkeit her, daß er feste Nahrung zu sich genommen hatte; dann öffnete er die Augen und beschloß aufzustehen. Er drückte den Knopf neben seiner Hand und mit einem leisen Zischen öffnte sich die Glaskuppel, unter der er gelegen hatte. Langsam, damit sich sein Kreislauf stabilisierte, setzte er sich auf und entfernte langsam die Kabel, die an den Computer angeschloßen waren, von seinem Körper. Dafür, daß er im Sport nicht zu den Besten seines Ausbildungsjahrgangs gehört hatte, fühlte sich Cantir erstaunlich schnell fit. Gemächlich stand er auf und ging in Richtung Küche. In dem sensorgesteuerten bläulich aufflackernden Licht erstrahlten zwölf leere weiße Stühle um einen kreisrunden weißen Tisch.

Und sofort war es wieder da: das grauenhafte Gefühl der Hilflosigkeit, die ihm die Grenzen seiner Selbst kalt und gnadenlos vor Augen führte. Die Bilder, die er verdrängt hatte, schoßen ihm ins Gehirn, und zwangen ihn, diesen Horror noch einmal zu durchleben:
Ein Meteoritenschwarm hatte überlebenswichtige Einheiten an der Aussenhaut des Schiffes zerstört und eine sofortige Reparatur erzwungen. Neun Mann waren beschäftigt, schnell und präzise zu arbeiten. Hochkonzentriert alle und gut aufeinander abgestimmt waren sie fast fertig, als nochmal und urplötzlich mittlere und große Gesteinsbrocken die Männer in Gruppen und einzeln vom Schiff fegte.


Kapitän Bchar handelte sofort, befahl Cantir auf den Steuerplatz und ging mit seinem ersten Offizier Lerx nach draußen, um den Kameraden zu helfen. Sie hatten eben die Raumanzüge angelegt und das Schott zur Luftschleuse geschlossen, als ein defektes Relais die Aussentürsicherung kurzschaltete, das Tor nach draußen plötzlich und ohne Druckausgleich aufriß und beide durch den Sog meilenweit in den Weltraum geschleudert wurden. Cantir schaffte es irgendwie, die Schleuse zu sichern und das Tor zu schließen. Dann machte er sich daran, seine Kameraden wiederzufinden. Vom ersten Arbeitstrupp, dessen war er sich bewußt, lebte niemand mehr. Mit der Aussenkamera hatten sie vorhin noch die am Schiff leer taumelnden Sicherungsseile gesehen, keinerlei Lebenszeichen auf den Körpermonitoren und auch die Funkversuche blieben unbeantwortet. Anders jetzt aber mit dem Kapitän und Lerx, dem ersten Offizier. Sie trieben irgendwo da draußen herum und schrien um Hilfe. Doch er konnte sie weder orten, noch an Bord nehmen. Die Sicherung zur Außenluke war zerstört. Verzweifelt bemühte er sich, Kontakt aufzunehmen, irgendwann wurden die Stimmen und Schreie leiser und verstummten dann ganz. Leere und Schweigen, nur das Rauschen des Lautsprechers und die rötliche Notbeleuchtung im Raumschiff. Cantir verlor vor Schmerz über den Verlust und dem dabei entstandenen Schock fast den Verstand.

Mit diesem flauen Gefühl stand er etwas verloren in der Küche und das Bewußtsein über seine Unfähigkeit schoß wieder brühendheiss in ihm hoch. Er war der Wissenschaftsoffizier an Bord und sicherlich eine Koriphäe in Flora, Fauna und Geschichte des Zielplaneten. Deshalb hatte man ihm auf der Raumfahrtakademie auch nur die Grundbegriffe über das Steuern eines Raumschiffs beigebracht. Nach dem schrecklichen Unfall seiner Kameraden mußte er sich deshalb mühseligst die notwendisten Dinge über das Bordhandbuch beibringen, kleinere Reparaturen machen, Notfälle üben, das Schiff von Hand steuern und sich mit dem Bordcomputer befassen. Zumindest konnte er weiterfliegen und die wissenschaftliche Seite der Mission zu Ende bringen.

Indem er sich über den Compuer ein Menue auswählte, wischte er damit die tristen Gedanken beiseite. Er entnahm das Essen der Speiseklappe und ging den kreisrunden Korridor entlang zum Planetarium, seinem bevorzugten Platz im Schiff. Cantir drehte den Sessel, setzte sich und unter der Betrachtung der vorbeifliegenden Sterne und Planeten und ließ er sich seine Mahlzeit schmecken. Nachdem er satt war, stellte er die leere Schale beiseite und positionierte den Stuhl in Komandoposition. Das Schiff bewegte sich unvermindert mit fünffacher Lichtgeschwindigkeit vorwärts. Plötzlich durchdrang ein schriller Warnton die Stille des Schiffs. Er legte seinen Arm in die vorgeformte Ausbuchtung der Armlehne und begann, mit dem Schiff zu kommunizieren. Seine Anfragen wurden eindeutig und spontan beantwortet: noch drei Stunden bis zum Ziel. Er konnte es nicht glauben: insgesamt vier Jahre war er jetzt unterwegs, und nach dem Verlust seiner Kameraden vor eineinhalb Jahren war er kurz davor gewesen, sich mit dem Schiff zu sprengen. Nur sein Überlebenswille und seine Neugier als Wissenschaftler waren stärker. Und jetzt?! Die Ankunft stand kurz bevor; die Reise zu den Ahnen ging zu Ende. Ein Schauer der Erleichterung lief ihm den Rücken hinunter.


Das Blinklicht holte ihn zurück in die Gegenwart, denn die Landephase begann. Das Schütteln zwang ihn, sich an den Haltegriffen festzuhalten. Er schaffte es noch, sich anzuschnallen, als das Rütteln langsam nachließ und er einen Blick durch die Frontscheibe werfen konnte.

Ganz in der Nähe schwebte ein kleiner Stern und rechts davon, noch klein, aber schon gut mit bloßem Auge zu erkennen, tauchte er auf: XA-3-1440, das Ziel der Mission. Nach eingehender Betrachtung erschien ihm der Name unpassend und er taufte den Planeten kurzerhand um in ENSA, was in seiner Sprache soviel bedeutete wie „blaue Hülle”. Und wirklich, von der in einiger Entfernung stehenden Sonne beschienen, sah es wirklich so aus, als ob der Planet in Gaze gehüllt war und darunter spiegelten sich alle vorstellbaren Blau-Schattierungen. Von diesem Farbenspiel überwältigt saß er noch eine Zeitlang. Es hieß, daß dort vielfältiges Leben existierte. Bei dem Gedanken, sich mit Grunzlauten verständlich zu machen oder, daß ihn beim Blick durchs Mikroskop eine Amöbe Willkommen hieß, mußte er grinsen.

Die Kontrolleuchte für die manuelle Steuerung blinkte auf und er schaltete um auf Autopilot. Dann fuhr er die Hitze-Schutzschilde aus und bereitete sich auf den Augenblick vor, in welchem das Schiff in die Umlaufbahn des Planeten einschwenkte. Jetzt ging alles rasend schnell; er stellte noch ein Pfeifen fest und verlor das Bewußtsein.


Beißender Geruch von austretenden Gasen und verschmorten Drähten drangen ihm in die Nase und weckten ihn. Mit Mühe gelang es ihm, sich loszuschnallen und er plumpste mit einem Aufschrei zu Boden. Die Kabine glich einem Trümmerhaufen und einige der herumliegenden Teile schienen ihn getroffen zu haben, denn er blutete aus mehreren Wunden. Sein Blick fiel noch auf das Loch im Rumpf und schemenhaft sah er eine Gestalt, als er erneut ohnmächtig wurde.

Das Geräusch von prasselndem Feuer und der Wind, der durch das Gebüsch weckten ihn auf.

Er blickte auf die Sterne am Firmament, atmete tief durch und richtete sich mühsam auf.

Am Feuer sah er einen Mann in der Hocke sitzen, der sich in einem monotonen Gesang artikulierte. Dabei warf er in regelmäßigen Abständen eine Art von Pflanzen in die Flammen, so daß diese kleinen Partikel rot glühend in den Sternenhimmel gehoben wurden, wo sie eine Weile tanzten, bevor sie als weiße Asche wieder herabschwebten.

Der Mann bemerkte Cantirs Bewegung, nahm eine Fackel vom Feuer auf und ging zu ihm. Jetzt erst sah Cantir, daß er mit primitiven Pflanzenteilen verbunden worden war. Wütend wollte er sich die Teile wegreissen, doch der Fremde nahm beruhigend seine Hand. Er öffnete einen Verband und zeigte mit einem zufriedenen Grunzlaut auf die saubere und sichtlich heilende Wunde. Dann drehte sich der Mann um, ging zum Feuer, machte mit einem Stab ein Loch darin und holte einen länglichen Gegenstand heraus. Nachdem er ihn an einen Stein geklopft hatte, sprang dieser auf und der Fremde entnahm der schwarzen Hülle ein bräunliches Etwas, das mit Kräutern umwickelt war. Davon schnitt er mit einer Art Messer etwas ab, reichte es Cantir und ermunterte ihn mit einer einladenden Geste, es zu essen. Cantir biss nach anfänglichem Misstrauen hinein und stellte fest, daß es ihm mundete. Nach diesem einfachen, aber sättigendem Mahl trank er etwas Wasser, sank aber erschöpft wieder auf sein Lager, während der Fremde Wache hielt.

Die Sonne brannte auf den Planeten mit unbarmherziger Hitze und der Wind verstärkte das nur noch, anstatt zu lindern. Das gleißend helle Licht machte seinen Augen zu schaffen, dennoch öffnete er sie und sah in der Nähe den Fremden. Der stand, auf einen Stock gestützt, auf einem Bein, das andere hatte er angewinkelt. Ein Lendenschurz aus einem festen Stoff bedeckte den hageren Leib nur notdürftig. Um den Hals hing ihm eine Kette mit bunten Steinen und Knochenteilen. Erst jetzt fiel ihm die frappierende Ähnlichkeit mit seiner Rasse auf. Die Nase durchzog zwar ein länglicher Zahn, aber die wulstigen Lippen und die großen schwarzen Augen waren seinem Aussehen sehr ähnlich. Verstärkt wurde der etwas rohe Eindruck noch durch die Haare, die ihm in dichten, silbrig-schwarzen Locken das tiefbraune Gesicht umrahmten.

Der Fremde bedeutete ihm aufzustehen und zu ihm zu kommen. Die Schwerkraft machte ihm zwar zu schaffen, doch schaffte Cantir es, in kleinen Schritten auf ihn zuzugehen. Dann gab ihm der Mann einen Lendenschurz, und in Anbetracht der Tatsache, daß ihm sein Raumanzug in Fetzen vom Leib hing, schickte er sich an ihn anzuziehen.

Dann gingen beide zu einem in der Nähe stehenden Baum und ließen sich in dessen Schatten nieder. Und der Fremde begann in einer Sprache zu reden, die den Reisenden sehr an die Ursprache seines Volkes erinnerte. Kein Zweifel, hier hatte er einen Urahnen vor sich. Niemand hatte ihm diese Theorie abgenommen, die er in vielen wissenschaftlichen Arbeiten dargelegt und zu beweisen versucht hatte. Jetzt war es zu spät. Es gab keinen Weg zurück. Er hörte aufmerksam zu und erfuhr viel: vom weiten Horizont; den Herden, die das Stammesgebiet durchstreiften, von der Natur und seinen heilenden Kräutern; von der großen Mutter, auf der er lebte und von einem fernen Ort, von dem seine Vorfahren stammten. Auch hörte er von furchtbaren Kriegen, die über das Land gezogen waren; der letzte hätte beinahe das Ende des gesamten Planeten bedeutet. Auch war eine schreckliche Krankheit über sein Volk gekommen. Cantir erfuhr, daß der Fremde der Letzte seines Volkes war.

Die darauffolgenden Tage unternahmen sie Streifzüge in die nähere Umgebung. In der Ferne sah er eines Tages einen riesigen rötlichen Felsen. In der Legende von Cantirs Volk hieß es, daß ein Mahnmal als Erkennungszeichen auf einem fernen Planeten aus dem Boden geholt worden war. Der Fremde erzählte ihm, daß dies der heilige Stein seines Volkes sei und sie ihn am nächsten Tag besteigen würden.

Sie machten sich früh am Morgen auf, um in der Kühle des anbrechenden Tages schon die größte Strecke zurückgelegt zu haben. Es war mühsam, doch er wollte sich keine Blöße vor seinem Ahn geben und hielt mit der Geschwindigkeit des schweratmenden Fremden mit, als dieser plötzlich stehen blieb, sich umdrehte und mit einem fragenden Blick in den Augen in sich zusammensackte. Schnell war Cantir bei ihm, konnte aber nur noch den Tod seines Begleiters feststellen. Er hätte es erkennen können. Schon Tage zuvor war ihm der Haarausfall und die immer öfter einsetzenden Schwächeanfälle aufgefallen. Es war eine Art Strahlenkrankheit. Er konnte nicht mehr tun, als den Fremden unter losen Steinen zu begraben. Vor dem Grab stehend dankte er ihm still für seine Hilfe, bevor er sich auf den Weg machte, andere Lebewesen zu finden.

Er war zwei Sonnenaufgänge unterwegs, als er auf einen breiten Weg stieß. Dieser war anders als die, die er bisher auf diesem Planeten gesehen hatte. Er bestand aus schwarzem, harten Material und zog sich von Horizont zu Horizont, nur mittig unterteilt von hellen, in Abständen gehaltenen Streifen. Er war noch mit der Untersuchung des Weges beschäftigt, als ein peitschender Knall das Zirpen der Grillen durchbrach.

Das Projektil durchdrang seine rechte Schläfe und riss beim Austritt auf der linken Seite die Hälfte des Schädels mit.

Sein Körper zuckte noch, als ein Mann im silbrigen Anzug langsam vom Straßenrand herüberschlenderte und ihn mit dem Fuß umdrehte. Ein Zweiter und ein Dritter, jeweils mit einem Gewehr bewaffnet, kamen aus den Büschen gekrochen.

„Shit, so eine Sauerei. Er mußte wenigstens nicht leiden ...”. Damit gab er dem leblosen Körper einen Tritt. „Wärst´ bloß im Busch geblieben. Laßt uns endlich verschwinden. Ist zu heiß heute.”


Sie packten den leblosen Körper und warfen ihn auf den hinter dem Gebüsch stehenden Pickup. Dann stiegen sie ein und fuhren langsam auf dem vor Hitze flimmernden Highway in Richtung Norden davon.

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Das australische Innenministerium, Abteilung für atomare Kontamination, gibt bekannt:

Laut neuerster Meldung von Polizeibeamten ist heute Morgen der letzte kontaminierte Aboriginee rechtzeitig am Versuch gehindert worden, das strahlenverseuchte Gebiet in Südaustralien zu verlassen. Er mußte dabei notwendigerweise eliminiert werden. 16. Januar 2023

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 28.01.2009

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