Jung brach der Tag an. Während ich die Studien Rainer Burgkhardts über das Herrschaftswesen in mich aufsog, verblasste langsam das Fackellicht in dem Arbeitszimmer und wich den warmen Strahlen der Frühlingssonne. Ich rieb mir die Augen. Dieses ermüdende Thema! Ein gutes Buch von Frederick Hunz oder eine Kriminalgeschichte von Bernhardt Streu wären bessere Lektüren gewesen. Doch von mir wurde erwartet, das Königshaus im Falle des Ablebens des Königs zu übernehmen und seine Regentschaft fortzusetzen. „Es wird Zeit, ich muss zur Prinzessin.“ Sie war mir schon lange versprochen. Die Zeit der Trauung rückte immer näher. Doch es war keine Zwangsehe. Sie ist der wundervollste Mensch, den ich je kennenlernen durfte. Braune, schulterlange Haare, sanft geschwungene Brauen, eine hohe Stirn und kluge grüne Augen prägten ihr perfektes Gesicht. Ein helles Lachen und Lächeln, welches den Morgen ankündigte. Der Duft nach frischen Blumen und Lavendel betörte mich immer wann ich mit ihr zusammen unterwegs war. Ich stand auf. Etwas wackelig auf den Beinen da ich die ganze Nacht gearbeitet hatte. Die einfallenden Sonnenstrahlen blendeten mich. In kürzester Zeit war ich auf dem Vorhof. Ein eiserner Reiter bildete den zentralen Punkt des Parks, von dem aus sternförmig Wege in alle Himmelsrichtungen abführten. Direkt vor mir schwang eine Tür auf. Der oberste Offizier der Streitkräfte kam zu mir. „Herr Prinz! Herr Prinz!“ stieß er atemlos hervor. „Es ist etwas Schreckliches passiert!“. „Nehmt Euch zusammen!“. maßregelte ich ihn. „Was ist geschehen?“. „Es ist der König, Herr!“. Ungeduldig zog er an meinem Arm. Ich sah ihn nachdenklich an. „Was ist nun passiert?“, fragte ich eindringlicher. „Er ist verschwunden! Unauffindbar! Überall haben wir nachgesehen, doch wir konnten ihn nicht finden! Es ist eine Katastrophe! Kommt mit und seht selbst.“ Zusammen gingen sie zum Thronsaal, den riesige wuchtige Eichentüren vom Gang der Vorhalle abgrenzten. Ich musste nicht lange herumfragen, um zu sehen was los war, denn es war unverkennbar. Eine violette Sense, deren Blatt an einem mit verzierten Knorpeln versehenen knorrigen Stab befestigt war, steckte bis zur Hälfte in dem harten Holz. Getrocknetes Blut benetzte den Boden und die Klinge und bildete groteske Muster auf den Fliesen und auf der Schneide. Doch Hauptaugenmerk war ein großes quadratisches Blatt Pergament, welches von der Sense an die Tür gepinnt wurde. In großen zackigen Lettern standen vier Zeilen darauf. Ich ging näher und erstarrte.
Der Reiter ist zwar weit geritten
Verdeckt und eisern mit Bedacht
Was er suchte, unbestritten,
Wird nun vom Tode weggemacht.
Aus einem inneren Entschluss heraus lief ich nach oben zur Prinzessin. Dort angekommen packte mich das nächste Entsetzen. Sie stand mit einem gut anzusehenden Jüngling im Zimmer und umgarnte ihn spielerisch mit verzückten Augen. Das Geschehen erstarrte mit meinem Eintreffen. Sie sah mich an. Ich starrte zurück. Dann lief ich weg. Sie rief mir noch etwas hinterher, doch ich hörte sie nicht. Sie fand mich kurze Zeit später in dem Kiefernhain, der an die Nordseite der Burgfront anschloss. Sanfte Lichter in kugelförmigen Glasgespinsten schafften eine träumerische Atmosphäre. Das Licht der Sonne traf auf die oberen Baumwipfel und die Strahlen zerbrachen zu einem freundlichen orangenen Glimmen. Die Luft war erfüllt vom Vogelgezwitscher und von dem Geruch nach Kiefernadeln, Harz und Moos. Es war ein Ort der Ruhe und Entspannung, wie ein kleines Paradies in einer lauten Welt. Sie setzte sich neben mich auf eine weiße Bank, die mit der Welt verschmolzen schien. Sie nahm meine Hand und ich ließ es zu. Sie erklärte mir das Geschehen. Sie hatte sich für ein Theaterstück angemeldet. Es hieß ‚Ausgelebt‘ und bestand aus fünf Akten mit insgesamt sechsunddreißig Kapiteln. Es handelte von einem bekannten Schriftsteller, der einen Fall aufzuklären versuchte. Dabei ging es um einen grausamen Mord, bei dem der Täter seine Leiche in eine Eisenfigur einarbeitete. Dabei spielte die Prinzessin eine Frau, die sich dem Tatverdächtigen annähern und umgarnen sollte, um Informationen für den Schriftsteller auszuspionieren. Unglücklicherweise bin ich in eben eine solche Probe hereingeplatzt und habe sie ernst genommen. „Ich liebe dich!“, sagte sie sanft zu mir, küsste mich und legte ihr schönes Haupt auf meine Schulter. Eine Zeit saßen wir da, schwiegen, lauschten, dann redeten wir wieder und schwiegen erneut, bis zu den frühen Abendstunden. Plötzlich ein gleißender Blitz. Ein Tumult am Schloss lenkte uns ab. Die Hölle schien durch die Erde emporgestiegen zu sein. Der Himmel verfärbte sich blutrot. Der Wald war nun nicht mehr freundlich und schön, sondern aggressiv und angsteinflößend. Ich nahm die Prinzessin bei der Hand und wir rannten ins Schloss. Hier herrschte das blanke Chaos. Panik erfüllte unsere Köpfe. Alles war auf den Kopf gestellt. Fenster waren versetzt in der Wand und verdreht, Türen hingen an den unmöglichsten Stellen, meist verdreht oder auf den Kopf gestellt, endeten an Mauern, vor gähnender Leere oder befanden sich plötzlich im Boden oder an der Decke. Räume waren schief und keineswegs mehr quadratisch, sondern krumm und widersetzten sich den Naturgesetzen, Möbel standen kreuz und quer im Raum, auf dem Boden oder hingen an der Decke, als ob die Schwerkraft ihren eigenen Willen entwickelt hätte. Treppen führten in die falschen Richtungen, waren grotesk abgewinkelt und die Höhen und die Ausrichtung der Stufen waren extrem verändert. Sie drehten sich spiralförmig oder endeten an Decken oder vor Abgründen. Alles wirkte so surreal, dass mir schlecht vom Anblick wurde. Ehe wir passende und passierbare Türen gefunden hatten, die zum Quell des Tumults führten war eine halbe Stunde vergangen. Überall war das gleiche Chaos zusehen. Im Innenhof hatten sich die Bewohner und Soldaten des Schlosses zusammengefunden. Außer einigen umgeknickten Laternenpfählen und einem Turm, der einen stolzen rechten Winkel aufwies, während er eine halbe Runde in sich selbst verdreht war, war hier alles halbwegs normal, verglichen mit dem Chaos im Inneren des Schlosses. Doch das war es nicht, was ich zuerst sah. Der eiserne Reiter war über und über mit Blut besprenkelt. Eine Sense war mit übernatürlicher Kraft durch die Brust des auf dem edlen Ross sitzenden Reiter gestoßen wurden, sodass sie am Rücken noch gut einen Meter herausragte. Ein weiterer Zettel auf dem Boden ließ nicht gutes heißen.
Hoher Hohn, vollendete Qual
Der Schatz liegt in dem Kreuz begraben
Holz auf Holz und Stahl auf Stahl
Wo Geister ihre Seelen haben.
Ich rannte zur Prinzessin, die ein Stück entfernt stehengeblieben war. Sie versuchte sich abzureagieren, in dem sie einen Vers des Theaterstücks rezitierte. Wieder erstarrte er zu einer Salzsäule, zu oft, als dass er sich sie Anzahl hätte merken können. „Der Reiter steht das Siegel fällt, jetzt ist er selbst, wen er gestellt.“ Ein Geistesblitz durchfuhr mich. Reiter? Tod! Der Text, der Reiter, die Sense und das Blut. Grauenerfüllt drehte ich mich um. Der Reiter war kein Reiter. Es war der König, eingefangen in einer dicken Schicht Metall, eingeschlossen und durchbohrt von einer gut zwei Meter langen Sensenschneide. Es war eins zu eins aus dem Theaterstück kopiert. „Es geht um einen Schatz. Dieser befindet sich an der Kreuzung, bei der Stahl auf Holz trifft. Nein! Bei dem Kreuz, wo Geister ihre Seelen haben. Ein Friedhof, eine Gruft. Ein Kreuz. Die Kapelle!“ Ich hätte beinahe laut losgelacht. Es war so einfach. Ich nahm die Prinzessin bei der Hand und zog sie mit mir. Auf dem Weg erklärte ich ihr die Situation. In der Kapelle angekommen sah ich mich um. Der Altar fiel mir ins Auge, doch der bestand nur auf Holz, abblätternder Farbe und einigen heruntergebrannten Wachskerzen und Stäbchen, die das Gewölbe mit benebelnden Düften erfüllten. Dann sah ich es. Schräg über mir thronte die Orgel, ein gewaltiger Koloss aus Metall und Holz. Die Orgel war so gebaut, dass die metallenen Orgelpfeifen an waagerecht dahinter verlaufende Querbalken befestigt waren. Stahl auf Holz, gekreuzt. Das Heulen der Orgelpfeifen stellte die Schreie der Toten dar. Gemeinsam stürmten wir los. Plötzlich fiel mir ein weiterer Zusammenhang ein. „Sagt dir ‚Der letzte Ritt des Reiters‘ etwas?“, fragte ich sie. Sie nickte. „Das ist das finale Stück in meinem Theaterspiel.“ Ich nickte. Das dachte ich mir. „In der Originalfassung dieses Stücks, welches für die Orgel geschrieben wurde, wurde diese hier verwendet. Besonders ist, dass diese Orgel mehr Pfeifen hat als normale eigentlich ausgestattet sind. Einige der Pfeifen sind so groß, dass man die Töne nicht mehr hören kann. Im Originalstück wird im letzten Akkord, im Ausklang eine Note gespielt, die nicht zu hören ist. In deiner Variante des Stückes wurde sie weggelassen. Warum wohl?“ Wir waren an der Orgel angekommen. Ich wandte mich der Pfeife zu, zu der ich wusste, dass sie zu dem Ton gehörte. Eine verschraubbare Kappe verschloss sie. Ich wollte sie gerade aufdrehen, als ich einen Aufschrei hinter mir hörte. Ich drehte mich um. Zuerst gefror mir das Blut in den Adern, dann stieg die Panik hoch. Mein Körper blieb ruhig, bewegungsunfähig. Ich sah die Prinzessin in die Luft steigen. Dann explodierte ihr Körper. Das Blut spritzte an ausnahmslos alle Wände. Vom Körper war nichts mehr zu sehen. Dann ein Rucken und ich wurde nach oben geschleudert. Mit einem Aufprall, der alle Luft aus meinen Lungen presste schlug ich an der Decke auf. Stechende Nadeln in meinem Bauch, ein Schmerz, in einer Sekunde so unerträglich wie tausend Jahre Folter. Ich starb wie der König, von der Sense aufgespießt. Lass es endlich vorbei sein. Lass es aufhören. Die Zeit naht.
Als der befehlshabende Offizier die Kapelle betrat, war im Schloss alles beim Alten. Ein Aufblitzen hatte er gesehen, das wusste er noch ganz genau. Dann schien es, als sei nie etwas passiert. Keine Verzerrungen, keine Verschiebungen der Einrichtung, alles so normal, wie am Anfang des Morgens. Während in der Zeit des Chaos die Kapelle von ihm verschont wurde, war sie nun der Schauplatz des Mysteriums. Er ging auf die Orgelempore. Dort hing der tote Prinz, aufgespießt von einer Sense. Sein Blut tropfte monoton von der Decke auf den Boden. Von der Prinzessin fehlte jede Spur, jedoch war Blut an sämtliche Wände verteilt, als hätte jemand eine mit Farbe gefüllte Bombe gezündet. Augenscheinlich war es ihr Blut. Wer hatte die Macht einen Menschen ohne Überreste in tausend teile zu zerreißen und einen ausgewachsenen Mann an die Decke zu schleudern? Der Offizier hockte sich hin. „Weiß der Geier was hier passiert ist.“ Er steckte sich eine Pfeife an. Feine Rauchkringel traten daraus hervor. Er zog, und blies Ringe in die Luft. „Der Tod hat sie geholt. Und er kannte kein Erbarmen.“, sagte ein Soldat und beide blickten sie in die untergehende Sonne, der Zukunft entgegen.
Texte: Copyright by Adrian Remke
Bildmaterialien: http://www.holidaycheck.de/data/urlaubsbilder/images/41/1156705638.jpg
Tag der Veröffentlichung: 05.03.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für mein egozentrisches Ich.