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Ich hielt es einfach nicht mehr aus.
Wir fuhren gerade an irgendwelchem Grünzeug vorbei, als ich kurzerhand die Handbremse hochriss. Der Lada zuckte ein wenig, viel mehr passierte nicht. Henry, unser Fahrer, glotzte mich kurz hohl an und stieg fest auf die Bremse. Wir nickten ungewollt, dann drückte ich die Tür schwungvoll auf und bevor jemand etwas Sinnloses von sich geben konnte verschwand ich hinter dem nächsten Busch. Während ich mit dem, was von den zahlreichen Bieren des Abends übriggeblieben war den Boden düngte, blickte ich mit müden Augen über die Dächer der dem Park angrenzenden Mietshäuser auf in die klare Nacht. Dann erst bemerkte ich neben mir den Steinblock, aus dem jemand ein Kreuz mit einer daran baumelnden, traurig dreinschauenden Figur gemeißelt hatte. Und dann tat ich, was ich nicht lassen konnte.
"Oh Mann, du spinnst doch wohl!", tönte es aus dem Innern des Wagens, was so viel hieß wie, aber so etwas tut man doch nicht, da zieht man sich noch den Zorn Gottes zu.
Kirche und Eltern hatten es wirklich geschafft meinen netten Mitbürgern, Mitsäufern und ab und zu Freunden das Hirn, Herz und die Seele mit ihrem katholischen Aberglauben zu verseuchen. Der Motor heulte auf, ich zog mir gemütlich den Reißverschluss hoch und trottete auf die offene Beifahrertür zu. Die Reifen quietschten, mein Körper drückte sich wie der eines Copiloten beim Start eines Düsenjägers in den Sitz und in Sekundenschnelle befanden wir uns fünf Blöcke weiter. Keiner sagte ein Wort. Tom kicherte nur ununterbrochen vor sich hin und Karl schnarchte, Mischa, der auf dem Rücksitz zwischen den beiden kauerte, starrte katatonisch ins Nichts, und Henry am Lenkrad tat so, als ob er sich auf die Fahrerei konzentrieren würde, in Wahrheit aber hörte er nur die Musik, die aus den Lautsprechern krachte, sonst hörte er nichts. Wohlmöglich konnte er nicht einmal mehr richtig geradeaus sehen.
"Fast erwischt, mein Freund! Das war´s dann wohl, von wegen Hundegulasch am Sonntag", kommentierte ich und setze noch ein freudloses "Schade!" hinzu.
"Welcher Hund?", fragte er verholen zurück, ohne seinen Blick von der Straße abzuwenden.
Wen kümmerte es schon, und überhaupt, was kümmerte es uns. Es, das war nicht der Hund, nicht Henrys trunkene Kurzsichtigkeit oder die Pisse am Kreuz, es war das Leben, das wir so dünn wie nur möglich lebten. Ein glorreicher Haufen hatte ich um mich geschart, jeden Abend verbrachten wir wie den vorherigen, immer in den gleichen Kneipen, ein Bier nach dem anderen, literweise davon, und ansonsten herrschte Langeweile, die wir stets mit neuen, sei es auch noch so haarsträubenden Ausreden zu beschwichtigen versuchten. Alleine waren wir, wenn wir uns versammelten, einsam, wenn wir uns trennten. Auch das war uns einerlei, irgendwie. Und sollte am Horizont auch nur der Schatten eines Abenteuers, das unsere Lethargie stören konnte, vorbeihuschen, so flüchteten wir uns meistens so schnell wie möglich in die dunkelsten Eckkneipen dieser Stadt, die mein eigener grauer Planet war, und alles war wieder gut, alles wie es sein sollte. Ganz so hatte ich mir den Anfang der Mitte meines Lebens nicht vorgestellt, aber wer zählte schon die Stunden, Tage, Wochen, Jahre, wenn unnütze Zeit etwas war, von dem man viel zu viel hatte.
Wir erreichten meine Bude. Die obligatorische Einladung zu einem weiteren Bierchen wurde obligatorisch danklos abgelehnt. Genug getrunken hatten wir alle, im Grunde hatte inzwischen auch ich die Schnauze von all der Sauferei voll, aber ich wusste in meinem Leben nie, wann es an der Zeit war, Einhalt zu gebieten. Irgendwann einmal hörte alles auf und bis dahin ging es eben unaufhaltsam weiter, das war meine einfache und alles rechtfertigende Philosophie.
Vor mich hin murmelnd verabschiedete ich mich, kramte die Haustürschüssel aus der Hosentasche und stand kurz darauf inmitten meiner Wohnung, wo ich mit schiefem Kopf einträglich die schlafende Gestalt auf meinem Sofa musterte, ganz so, wie ein kleiner Junge, der nicht wusste, ob er das Eis, das ihm der fremde Onkel gekauft hat und das so lecker aussieht, auch wirklich annehmen soll. Tatsächlich war ich über Sophies Anwesenheit überrascht, zumal ich mich nicht daran erinnern konnte, ihr den Schlüssel zu der Bude gegeben zu haben, trotzdem tat ich so, als ob es normal war, dass sich eine hübsche junge Blondine auf meinen Polstern räkelte. Sie hatte sich in eine alte Wolldecke eingehüllt, von der ich hätte schwören können, dass ich sie irgendwann einmal während einer meiner trunkenen ‘Die-Welt-ist-schlecht’-Affären verbrannt hatte, aber das war wohl wiederum lediglich eine meiner trunkenen Fata Morganas. Jedenfalls war die Decke ein wenig verrutscht und am Ende des Sofas kamen ihre graziösen Füßchen zum Vorschein, während ich weiter oben den Ansatz ihres üppigen Busens ausmachen konnte. Das war ja fast so wie in diesem Film, dachte ich, irgend so einer Komödie, an die ich mich doch wirklich noch erinnern konnte, wo der Detektiv in sein Büro kommt und eine wohlgeformte Dame schlafend auf seiner schäbigen Liege vorfindet, und er nichts anderes in Sinn hat, als ihre Brüste, die angeblich verrutscht waren, wieder in Ordnung zu bringen. Aber das hier war kein Film, schon gar keine Komödie, und ich war kein Detektiv.
"Hallo, da bist du ja endlich!"
Sie hatte ihre großen Augen aufgeschlagen und blickte gähnend zu mir auf.
" Entschuldigung, fast hätte ich vergessen, dass wir seit zehn Jahren verheiratet sind, hier zusammenleben und du jeden Abend mit den Pantoffeln und dem Essen auf mich wartest."
Mir war nicht unbedingt nach Scherzen, ihr aber schien meine Ironie zu gefallen.
"Deine Pantoffeln konnte ich leider nicht finden", erwiderte sie spaßend mit weit ausgestreckten Armen, “und für ein Schlemmermahl beinhaltet dein Kühlschrank viel zu viel Flüssiges“.
Sie schüttelte sich.
"Sag mir, lässt du deine Tür eigentlich immer sperrangelweit offen? Hast wohl Angst, ein Einbrecher könnte dir dein wertvolles Schloss ruinieren!"
"Und du?", fragte ich zurück, "Läufst du immer aufs gerade Wohl in anderer Leute Wohnungen und knallst dich dort auf das Sofa, um dich auszuschlafen?"
Ich ärgerte mich, über mich selbst, über meine Blödheit, die mich irgendwann einmal alle meine Wertsachen kosten konnte, obwohl es davon nicht gerade viele gab. Ich drehte mich schnell um die eigene Achse, fand meine Stereoanlage, die Plattensammlung, die Gitarre, nichts fehlte. Beruhigter und mit einem beschwichtigendem Schmunzeln auf den Lippen machte ich mich auf in die Küche, um zwei Bier zu holen, Sophie jedoch lehnte kopfschüttelnd ab und deutete auf die Flasche Whiskey auf dem Regal vor ihr. Ein Haufen Gläser mit wohlmöglich archäologisch wertvollen Fingerabdrücken stapelte sich in der Spüle, also griff ich nach einer der letzten sauberen Tassen in Schrank und ließ drei Eiswürfel hinein gleiten. Ihr die Flasche reichend fragte ich zögernd, was sie hierhergetrieben hatte, c in diesen gottverlassenen Stunden. Dabei fiel mir endlich auf, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Hübsche, vollbusige Frauen statteten mir schließlich nicht regelmäßig Mitternachtsvisiten ab, um ein Nickerchen zu machen und sich schließlich an meinem Whiskeyvorrat zu vergehen. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus, nahm einen langen Schluck aus der Tasse, dann war ihr Lächeln, das gerade noch ihr Gesicht verziert hatte, verschwunden. Ihr Blick blieb irgendwo in der Leere haften.
"Es ist nicht so sehr, was mich hierher getrieben hat“, stotterte sie, “sondern wer!"
"Oh Scheiße, was hat er den jetzt schon wieder angestellt?" fragte ich gespielt neugierig, denn ich wusste nur zu gut was kommen würde. Eine weitere Geschichte aus dem Buch der großen Untaten ihres, und meines, so bildete ich mir jedenfalls ein, Freundes Viktor. Viktor wäscht nicht ab. Viktor trinkt zu viel. Viktor nimmt Drogen. Viktor schläft mit einer anderen. Viktor dies, Viktor das, Viktor bösere Mann. Das Paradoxe an der Sache war, dass ich Viktor mochte, obwohl er sich meistens wie das überhebliche Arschloch aufführte, für das die meisten meiner Freunde ihn hielten. Und Sophie musste ihn mehr als nur mögen, da sie seit knapp drei Jahren nach jeder Streiterei immer wieder schluchzend in seine Arme zurückkehrte. Sie goss sich einen zweiten, noch größeren Schluck ein.
"Nichts hat er getan. Ich...ich habe mich dazu entschlossen, Schluss zu machen. Endgültig!"
Noch so ein bekannter Spruch. Das konnte eine lange Nacht werden. Jetzt erwartete sie von mir nachzubohren, das Problem bis auf den letzten Schmatzer durchzukauen. Ich entschloss mich aber erst in bequemere Klamotten zu schlüpfen und entschuldigte mich für eine Minute. Im Schlafzimmer entdeckte ich die Koffer. Das war etwas Neues.
Ich kam in Jogginghosen und barfuß zurück, ließ mich schlapp in den Sessel fallen, wobei ich wie ein faules Nilpferd, das sich gerade im schönsten Schlamm besudelte, ausschnaufte. Sophie saß noch immer unverändert auf der Couch, schaute mich verstohlen an, ein hilfloses Grinsen auf den Lippen. Und plötzlich überkam mich dieses Gefühl wieder, sie mir greifen zu müssen, meine Finger durch ihre blonden Locken wandern zu lassen und meine Lippen auf die ihren zu drücken. Eine Sekunde lang schnellte eine wohlige Wärme durch meinen Körper und dann verebbte das Gefühl so plötzlich, wie es mich überflutet hatte. Ich deutete auf die Tür, die zum Schlafzimmer führte.
"Falls du dir einbildest..."
"Nur für heute Nacht, bitte!", unterbrach sie mich in einem Ton, dem ich, wie sie nur zu genau wusste, nicht standhalten würde können, "Morgen fahre ich zu meinem Bruder, das habe ich mit ihm schon abgeklärt, und die Fahrkarte habe ich auch schon gekauft." Sophie bückte sich und tastete nach ihrer Handtasche, kramte daraus einen Umschlag hervor und hielt ihn mir unter die Nase.
Ich schwieg, dann hauchte sie etwas, das wie zärtliches Bitte, Bitte klang. Natürlich würde ich sie bei mir übernachten lassen. Wenn es nach mir ging, konnte sie hier einziehen, mich heiraten, meine Kinder kriegen, tagtäglich das Essen machen und mir die Pantoffel anziehen. Diesen Luxus jedoch konnte ich mir nur leisten, wollte ich frühzeitig das Zeitige segnen. Denn da war Viktor. Ich mochte Viktor, und vielleicht er mich. Aber irgendwo, unter ganz bestimmten Umständen, hört selbst die größte Freundschaft auf. Außerdem war er eifersüchtig genug auf mich, so wie ich mich mit Sophie, seit ich sie kennengelernt hatte, verstand, konnten sich ein Mann und eine Frau eben nicht verstehen, ohne etwas miteinander zu haben, ohne miteinander zu bumsen. Und irgendwie hatte er sogar einen Punkt mit der Eifersucht, nur war sein Misstrauen mir gegenüber völlig sinnlos. Ich war mit meiner ritterlichen Dummheit nie der Typ gewesen, der sich an die Freundinnen seiner Freunde heranmachte. Seit der Sache mit Katrin vor einem Jahr hatte ich mich tatsächlich an gar keine Frau mehr herangemacht, war fast schon stolz darauf, wie ich es geschafft hatte, dem weiblichen Geschlecht in all der Zeit nicht mehr allzu nahe zu treten. Seitdem fühlte ich mich ausgewogen, selbstzufrieden und frei. Das Leben war kein zwischenmenschlicher Kriegsschauplatz mehr, die allgemeine Laune hing nicht mehr vom vorperiodlichen Befinden ab, ich konnte einkaufen, essen und trinken was, wann und wie viel ich wollte, zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten ausgehen oder den ganzen Tag im Bett verbringen, ohne das übliche Gezeter zu hören, ich sollte mich endlich einmal um den tropfenden Wasserhahn kümmern, das Wohnzimmer müsste auch einmal wieder gestrichen werden und die Schranktür knarrt immer so komisch. Seitdem liebte ich das Leben. Und seitdem langweilte mich zu Tode.
"Dann lass uns jetzt schlafen, du siehst müde aus und ich muss morgen früh aus den Federn, um meinen Zug zu erwischen, okay?"
Sie war aufgestanden und hatte ihren wundervollen Körper vor mir aufgebaut, fast mochte ich glauben, sie wollte mir zwischen die Schenkel greifen und ihre Zunge in meinen Mund drängeln.
"Willst du mir nicht erklären, wie es zu deiner Entscheidung gekommen ist?", fragte ich, die Nacht der langen Messer herbeiführend.
Sie stand weiter unbeweglich vor mir.
Nimm ihre Hand, zieh sie zu dir herunter, murmelte der Teufel, der ich sein wollte. Lass bloß die Finger weg, warnte der Ritter, der ich wahrlich war.
"Das ist der Witz an der Sache!", lispelte sie schließlich, "Ich bin mir selbst nicht im Klaren darüber, was in mich gefahren ist. Wenn ich dahinterkomme, lasse ich es dich wissen. Ich weiß nur, dass ich es ernst meine!", und um sich selbst noch einmal zu bestätigen, hängte sie ein knappes aber bestimmtes "Das war's!" an.
Ich hatte ihre Koffer gesehen. Sie heulte nicht, schrie nicht, war nicht verzweifelt oder angsterfüllt. Da war keine Enttäuschung, keine Hoffnungslosigkeit. Sie hatte ein beinahe unmerkliches Funkeln in ihren Augen, und damit hatte es sich auch schon. Ich wusste, dass sie es ernst meinte.
Ich kramte eine zweite Bettdecke aus dem Schrank und stieg sachte neben sie ins Bett, versuchte jegliche Berührung mit ihrem Körper zu vermeiden. Ich wusste nur zu gut, was passieren konnte, sollte auch nur die kleinste Stelle ihrer Haut gegen die meinige stoßen, das war in dieser Situation nun wirklich nicht angebracht. Ich wagte es nicht einmal im schwachen Mondschein, der durchs offene Fenster lugte, ihre Konturen zu erhaschen, drehte ihr steif den Rücken zu und versuchte ins Reich der meist viel realistischeren Träume hinüberzugleiten. Zuerst erschien noch Viktors Bild, wie er lässig mit einer Schrottflinte in der Hand vor mir steht, in meinem Kopf, aber dann kam dank des Übermaßes an Alkohol der gerechte Schlaf schneller als ich mir es wünschen konnte über mich.
=2=
Das Läuten des Telefons hinterließ ein schrilles Echo in meiner noch dösenden Birne. Ich kramte meine Hände unter der Bettdecke hervor, tastete blind nach dem Apparat, hob ab, sagte aber nichts. Am anderen Ende krächzte eine böse, ungeduldige Stimme.
"Wo ist die Schlampe?"
"Wer? Woher soll ich das wissen?", fragte ich zurück und legte gleich daraufhin wieder auf, während ich beiläufig auf den kleinen Wecker mit den großen Glocken neben dem Bett schielte.
Eine fröhliche Sonne lachte mir durch das gardinenlose Fenster laut ins Gesicht. Die leisen Stimmen miteinander tuschelnder Nachbarn drangen an meine Ohren. Es konnte unmöglich drei Uhr morgens sein. Ich vergaß nur allzu oft, dass Batterien nicht ewig hielten und es neumodische Wecker gab, die man an Steckdosen anschließen konnte. Trotzdem glaubte ich zu träumen, blinzelte noch einmal durch das Fenster, um mich zu vergewissern. Schließlich drang der Duft von gebratenen Eiern an meine Nase. Erst dann bemerkte ich, dass sich noch ein anderes Wesen in meiner Bude befand. Und erst dann erinnerte ich mich.
Sophie stand in einem Morgenmantel, von dem ich hätte schwören können, dass ich ihn irgendwann einmal während einer meiner trunkenen ‘Die-Welt-ist-schlecht’-Affären zerfetzt hatte, im Türrahmen, wobei sie gewitzt mit der Spitze eines der größeren und schärferen Messer aus der Küche ihre Fingernägel zu säubern schien. Unter dem Morgenmantel schien sich kein anderes Kleidungsstück an ihren Körper zu schmiegen. Erneut ruckte etwas in mir. Warum eigentlich heiratete ich sie nicht, hier und jetzt? Warum eigentlich sollten wir keine Kinder machen, hier und jetzt? Unmittelbar nach diesen, jetzt irgendwie ganz und gar nicht mehr abwegigen Fragen erinnerte ich mich an den Anruf vor wenigen Sekunden. Mein Hirn lief sich langsam warm.
"Um wieviel Uhr geht dein Zug?", räusperte ich mit trockener Kehle und weit aufgerissenem Mund.
Sie fuchtelte mit dem Messer in Richtung Wecker.
"Dank dieses Dings da habe ich ihn verpasst. Und der nächste geht erst morgen wieder", sagte sie im Angesicht ihrer, unserer Lage relativ gelassen, fügte dann drängelnd hinzu: "Mache dir aber keine Sorgen, ich nehme mir ein Hotel für die Nacht."
Mein Kopf fiel schwer auf das weiche Kissen zurück, mein Blick verlor sich im Nikotingelb der Zimmerdecke.
"Bis dahin, Kaffee oder Tee?"
"Ein Glas Wasser, bitte. Mit Zyankali."
Ich wusste nicht mehr, ob ich lachen oder weinen sollte. Die Situation war grotesk und zugleich banal, im Grunde gab es diese Situation überhaupt nicht. Mein Hirn arbeitete wie sonst nie um diese Uhrzeit, fassbare Gedanken oder nützliche Vorschläge aber tauchten in all dem geistigen Wirrwarr nicht auf.
Sophie hatte sich aus dem Türrahmen gelöst und warf sich auf mich, wobei sich der Mantel ein wenig öffnete. Ich spähte verstohlen auf die weichen Rundungen ihres Busens, fing lautlos an, zu den Gott zu beten, an den ich nicht glauben wollte, dann schob ich sie sanft von mir, bevor ich zitternd aus den Laken flüchtete.
"Nun mach' aber mal halblang, du Angsthase. Viktor weiß nicht wo ich bin, und wird das so schnell auch nicht herauskriegen. Und selbst dann wird er dir kein Haar krümmen."
"Erinnerst du dich noch daran", sagte ich langsam, meine Nerven zusammenkramend, "meine liebste Sophie, wie er, nachdem du das erste Mal weggelaufen bist und ich dich wieder zurückbrachte, wie er, der liebe Viktor, mit einer Knarre in der Hand vor der Haustüre auf uns wartete?"
Mir wurde jetzt noch mulmig, wenn ich nur daran dachte. Dabei hatte ich mich damals so kühl wie ein tiefgefrorener Neandertaler verhalten, obwohl ich mir am liebsten in die Hosen geschissen hätte.
Sie lachte.
"Und was passierte danach? Alle drei haben wir uns nett zusammengehockt, eine Flasche Wodka niedergemacht und über die ganze Sache wie zivilisierte Menschen geredet."
Jetzt hatte sie wieder diesen Blick in ihren Augen.
"Dabei gab es nicht einmal etwas zu bereden! Außerdem ist dir Viktor heute noch dafür dankbar, dass du mich zu ihm zurückgebracht hast."
"Er ist mir wohl eher dafür dankbar, dass ich ihm die Arbeit abgenommen hatte, dich suchen zu müssen."
Kopfschüttelnd erhob sie sich und schlenderte mit dem Messer zwischen ihren Zähnen an mir vorbei zurück in die Küche. Ich zog ein Paar Hosen über und folgte ihr. Ein Korb mit frischen Brötchen stand auf dem Tisch, ein Glas Marmelade, ein Teller mit Wurst und durch den ganzen Raum schwebte dieser herrliche Geruch brutzelnder Eier. Ich wollte mir gerade einen Stuhl schnappen als das Telefon wieder klingelte. Sophie schaute verstohlen zu mir herüber, ich griff nach einem Brötchen und steckte mir ein Stückchen davon in den Mund, es klingelte noch ein, zwei Mal und dann kehrte wieder Ruhe ein. Sophie stand wie angewurzelt inmitten der Szenerie und fast glaubte ich einen Hauch Furcht über ihre Miene huschen zu sehen. In diesem Moment, so schien es mir, sah sie ein, dass das, was sie getan hatte, nichts mit den üblichen Streitereien zu tun hatte. Sie drehte sich wortlos um und nahm die Pfanne vom Herd. "Ich fahre dich", hörte ich eine mir wohlbekannte Stimme sagen.
Nicht, das ich schon genug in der Scheiße hockte, nein, jetzt setzte ich dem Narren, den ich nur zu gerne spielte, auch noch die Krone auf seine hohle Birne. In diesen Tagen dachte ich kaum über das, was ich so von mir gab, nach, nicht vorher und nicht im Nachhinein, bereute mein Tun und Lassen niemals, da es niemals weitläufige Konsequenzen mit sich zog. Mit meiner beinahe uneingeschränkten Dämlichkeit vertrug sich das bestens. Irgendwann musste ich mich eben damit abfinden, dass ich einer dieser Menschen war, die in alle möglichen Fettnäpfchen, die das Leben verstecke, traten. Und gerade jetzt schien dafür ein vorzüglicher Zeitpunkt.
Sophie hatte einen Teller mit zwei Spiegeleiern vor mich gestellt und setzte sich stumm auf den Stuhl auf der anderen Seite des Tischs. Der Morgenmantel war wieder ordentlich geschlossen, aber ich wagte es trotzdem nicht, sie anzusehen. Vielleicht, hoffentlich hatte sie meine voreilige Bemerkung ja überhört.
Mit der Geduld eines fiebrigen Chirurgen sezierte ich die Eier, stach mit dem Messer mitten ins Gelbe, das sofort über den Teller lief. Ich fing ein bisschen davon mit der Gabel auf und leckte sie sofort schmatzend ab. Womit hatte ich das alles verdient? Ich war doch bloß ein ganz nett anzuschauender Landjunge, verloren in einer großen Stadt, ein stinknormaler Bierzapfer, tat nicht anders als Tausende andere hier auch, führte ein Leben ohne große Erwartungen, Hoffnungen oder sonstigem Kram, das dieses Leben angeblich so lebenswert machen sollte. Vielleicht hätte ich mein Elternhaus niemals verlassen sollen, hätte mir eine ordentliche Arbeit suchen sollen, mit neunzehn heiraten, zwei Kinder, ein nettes Einfamilienhaus, ein komfortables Auto, und noch eins für die Frau zum Einkaufen, einen Hund vielleicht, am Sonntag nach dem Gottesdienst zum Frühschoppen, und mit fünfundsechzig die dicke Rente einstreichen und auf der Haut liegen, bis sie vertrocknet.
Im wirklichen Leben hingegen hielt ich mich mehr schlecht als recht über Wasser, indem ich meinen Mitmenschen soviel Alkohol und mehr zukommen ließ, wie sie es sich leisten und vertragen, oder auch nicht, konnten, konnte eine Beiziehung kaum länger als ein Jahr in geregelten Bahnen halten, hasste Hunde und Sonntage, und in dreißig Jahren würde ich gerade einmal soviel Rente kriegen, dass sie knapp für ein Päckchen Tabak und eine Dose Bier alle vier Wochen reichte. Und ein Auto besaß ich auch nicht.
"Du hast keinen Wagen."
Ich mochte Sophies Art, in wenigen Worten dem Tagträumer, der ich nur zu gerne war, beizubringen, dass er ja ein gutes Herz hatte, nichtsdestoweniger wirklich ein großer Verlierer war, ohne es dabei böse zu meinen.
"Ich borge mir Bis. Mit dem sind wir schnell da."
Natürlich musste mir etwas sehr Geschicktes einfallen oder aber meine Schwester würde mir nie ihre Karre überlassen, zumindest nicht dafür, damit hunderte von Kilometern herunterzureißen um die Freundin eines Freundes zu entführen. Das mit der Wahrheit klappte eben meistens nicht so reibungslos, wie es mir unzählige nette Mitmenschen weißmachen wollten.
Mein verführerisches Gegenüber nahm einen Schluck aus ihrer Tasse und grabschte nach dem Salz.
"Wo ist deine Logik geblieben? Wenn du mich fährst, ziehst du dich noch mehr in die Scheiße. Dann hast du ein wirkliches Problem."
Sie griff nach dem Pfeffer.
"Nein, lass 'mal gut sein", fuhr sie fort, "Ich danke dir trotzdem. Gleich nach dem Frühstück packe ich meine sieben Sachen und verschwinde."
Sie legte ihren Kopf in die Hände und schenkte mir mit großen Augen einen Blick, der eine Geschichte von tausend wilden Abenteuern erzählte. Ich starrte hohl zurück, erkannte doch die Moral dieser Geschichte sofort: Komm, lass uns aufbrechen, ich zahle auch fürs Benzin!
Texte: Umschlag Gestaltung "Abendämmerung am Strand von Naxos" von Thomas Schönfeld
Tag der Veröffentlichung: 05.05.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
An all die wundervollen Menschen, die immer an den Schriftsteller in mir geglaubt haben und an all die wundervollen Menschen, die sich wohlmöglich in diesen Zeilen wiederfinden.